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Gottfried Benn Wo keine Träne fällt I Untröstlichkeiten , in Sagen frühmenschlich strophischer Schau hört man von Geistern, die tragen den Mond, die Matte, den Tau, in Felsen legen sie Teiche, auf Schlünde Palmen und Wein, und hüllen in Zauberreiche die trauernden Völker ein. II Untröstlichkeiten , beschwören mit Tanz und Maskenschar, Trommeln und Rindenröhren und die Fichte im Haar beschwören die Stämme, die Rassen Dauer des süßen Scheins und erhoffen Erlassen der Gesetze des Seins. III Doch da an einer Warte von Zucht und Ahnen alt lehnt eine flügelharte unsägliche Gestalt, ihr Blick, der Licht und Sterne und Buch und Zirkel hält, der sieht in eine Ferne, wo keine Träne fällt. IV Das ist die letzte Sphäre, ein Hoch- und Hafenland, da wächst die schwerste Ähre von jeder Glut gebrannt, sie wächst nicht um zu leben, so singt der Ährenwind, sie wächst sich zu ergeben, wenn es der Genius sinnt: V Unsterblichkeit. Nelly Sachs Ich sah ihn aus dem Haus treten Ich sah ihn aus dem Haus treten das Feuer hatte ihn angebrannt

Poesie IIIdeg 2014 1945-2000.pdf

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  • Gottfried Benn

    Wo keine Trne fllt

    I

    Untrstlichkeiten , in Sagen frhmenschlich strophischer Schau

    hrt man von Geistern, die tragen

    den Mond, die Matte, den Tau,

    in Felsen legen sie Teiche,

    auf Schlnde Palmen und Wein,

    und hllen in Zauberreiche

    die trauernden Vlker ein.

    II

    Untrstlichkeiten , beschwren mit Tanz und Maskenschar,

    Trommeln und Rindenrhren

    und die Fichte im Haar beschwren die Stmme, die Rassen

    Dauer des sen Scheins

    und erhoffen Erlassen

    der Gesetze des Seins.

    III

    Doch da an einer Warte

    von Zucht und Ahnen alt

    lehnt eine flgelharte

    unsgliche Gestalt,

    ihr Blick, der Licht und Sterne

    und Buch und Zirkel hlt,

    der sieht in eine Ferne,

    wo keine Trne fllt.

    IV

    Das ist die letzte Sphre,

    ein Hoch- und Hafenland,

    da wchst die schwerste hre

    von jeder Glut gebrannt,

    sie wchst nicht um zu leben,

    so singt der hrenwind,

    sie wchst sich zu ergeben,

    wenn es der Genius sinnt:

    V Unsterblichkeit.

    Nelly Sachs

    Ich sah ihn aus dem Haus treten

    Ich sah ihn aus dem Haus treten

    das Feuer hatte ihn angebrannt

  • aber nicht verbrannt

    Er trug eine Aktentasche aus Schlaf

    unter dem Arm

    darinnen war es schwer von Buchstaben und

    Zahlen

    ~ine ganze Mathematik -

    In seinem Arm war eingebrannt:

    7337 die Leitzahl

    Diese Zahlen hatten sich miteinander

    verschworen

    Der Mann war Raumvermesser

    Schon hoben sich seine Fe von der Erde

    Einer wartete oben auf ihn

    um ein neues Paradies zu erbauen

    ,,Aber warte nur - balde ruhest du auch -".

    Paul Celan

    Todesfuge

    Schwarze Milch der Frhe wir trinken sie abends

    wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts

    wir trinken und trinken

    wir schaufeln ein Grab in den Lften da liegt man nicht eng

    Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt

    der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete

    er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rden herbei

    er pfeift seine Juden hervor lt schaufeln ein Grab in der Erde

    er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

    Schwarze Milch delltr Frhe wir trinken dich nachts

    wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends

    wir trinken und trinken

    Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt

    der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete

    Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lften da liegt man nicht eng

    Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt

    er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau

    stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf

    Schwarze Milch der Frhe wir trinken dich nachts

    wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends

    wir trinken und trinken

    ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete

    dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

    Er ruft spielt ser den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland

    er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft

    dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

    Schwarze Milch der Frhe wir trinken dich nachts

    wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland

    wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken

    der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau

    er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau

  • ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete

    er hetzt seine Rden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft

    er spielt mit den Schlangen und trumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland

    dein goldenes Haar Margarete

    dein aschenes Haar Sulamith

    Gnter Eich

    Pfannkuchenrezept

    Die Trockenmilch der Firma Harrison Brothers,

    Chikago,

    das Eipulver von Walkers, Merrymaker & Co,

    Kingstown, Alabama,

    das von der deutschen Campfhrung nicht

    unterschlagene Mehl

    und die Zuckerration von drei Tagen

    ergeben, gernischt mit dem gut gechlorten Wasser des

    Altvaters Rhein,

    einen schnen Pfannkuchenteig.

    Man brate ihn in der Schmalzportion fr acht Mann

    auf dem Deckel einer Konservenbchse und ber

    dem Feuer

    von lange gedrrtem Gras.

    Wenn ihr ihn dann gerneinsam verzehrt,

    jeder sein Achtel,

    oh dann sprt ihr, wenn er auf die Zunge zergeht,

    in einer ppigen Sekunde das Glck der geborgenen

    Kindheit,

    wo ihr in die Kche euch schlichet, ein Stck Teig zu erbetteln in der Vorweihnachtszeit,

    oder ein Stck Waffel, weil Besuch gekomrnen war am

    Sonntagnachmittag,

    sprt ihr in der schnell vergangenen Sekunde allen

    Kuchenduft der Kinderjahre, habt noch einmal fest gepackt den Schrzenzipfel der Mutter,

    oh Ofenwrme, Mutterwrme, - bis ihr

    wieder erwacht und die Hnde leer sind

    und ihr euch hungrig anseht und wieder

    mrrisch zurckgeht ins Erdloch. Der Kuchen

    war auch nicht richtig geteilt gewesen und immer

    mu man aufpassen, da man nicht zu kurz kommt.

    Inventur

    Dies ist meine Mtze,

    dies ist mein Mantel,

    hier mein Rasierzeug

    im Beutel aus Leinen.

    Konservenbchse:

    Mein Teller, mein Becher,

    ich hab in das Weiblech

    den Namen geritzt.

  • Geritzt hier mit diesem

    kostbaren Nagel,

    den vor begehrlichen

    Augen ich berge.

    Im Brotbeutel sind

    ein Paar wollene Socken

    und einiges, was ich

    niemand verrate,

    so dient es als Kissen

    nachts meinem Kopf.

    Die Pappe hier liegt

    zwischen mir und der Erde.

    Die Bleistiftmine

    lieb ich am meisten:

    Tags schreibt sie mir Verse,

    die nachts ich erdacht.

    Dies ist mein Notizbuch,

    dies meine Zeltbahn,

    dies ist mein Handtuch,

    dies ist mein Zwirn.

    Latrine

    ber stinkendem Graben,

    Papier voll Blut und Urin,

    umschwirrt von funkelnden Fliegen,

    hocke ich in den Knien,

    den Blick auf bewaldete Ufer,

    Grten, gestrandetes Boot.

    In den Schlamm der Verwesung

    klatscht der versteinte Kot.

    Irr mir im Ohre schallen

    Verse von Hlderlin.

    In schneeiger Reinheit spiegeln

    Wolken sich im Urin.

    Geh aber nun und gre

    die schne Garonne

    Unter den schwankenden Fen

    schwimmen die Wolken davon.

    Bertolt Brecht

    Erinnerung an die Marie A.

    An jenem Tag im blauen Mond September

    Still unter einem jungen Pflaumenbaum

    Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe

    In meinem Arm wie einen holden Traum

    Und ber uns im schnem Sommerhimmel

    War eine Wolke, die ich lange sah

    Sie war sehr wei und ungeheuer oben

    Und als ich aufsah, war sie nimmer da.

  • Seit jenem Tag sind viele, viele Monde

    Geschwommen still hinunter und vorbei.

    Die Pflaumenbume sind wohl abgehauen

    Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?

    So sage Ich dir: Ich kann mich nicht erinnern

    Und doch, gewi, ich wei schon was du meinst.

    Doch ihr Gesicht, das wei ich wirklich nimmer

    Ich wei nur mehr: ich kte es dereinst.

    Und auch den Ku, ich htt ihn lngst vergessen

    Wenn nicht die Wolke dagewesen wr

    Die wei ich noch und werd ich immer wissen

    Sie war sehr wei und kam von oben her

    Die Pflaumenbume blhen vielleicht noch immer

    Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind

    Doch jene Wolke blhte nur Minuten

    Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.

    Der Radwechsel

    Ich sitze am Straenhang.

    Der Fahrer wechselt das Rad.

    Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.

    Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.

    Warum sehe ich den Radwechsel

    mit Ungeduld?

    Die Lsung

    Nach dem Aufstand des 17. Juni

    Lie der Sekretr des Schriftstellerverbands

    In der Stalinallee Flugbltter verteilen

    Auf denen zu lesen war, da das Volk

    Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe

    Und es nur durch verdoppelte Arbeit

    Zurckerobern knne. Wre es da

    Nicht doch einfacher, die Regierung

    Lste das Volk auf und

    Whlte ein anderes?

    Wolf Biermann

    In China hinter der Mauer

    Wo wird das Volk wie Vieh regiert

    Verdummt, entmndigt und kastriert

    Damit es schuftet und pariert

    und wo liegt auf der Lauer

    Der Brokratenschutzverein

  • Sperrt gute Kommunisten ein

    Wenn sie nicht halleluja schrein??

    In China! In China!

    In China, hinter der Mauer

    Wo glotzt des Fhrers Fratze, wo

    Dich an in jedem Dreckbro

    In Kneipen, Straen und im Zoo

    und lchelt slich sauer? ?

    Sein Foto findest du en gros

    In jeder Zeitung sowieso

    Und darum auch auf jedem Klo

    In China! In China!

    In China, hinter der Mauer

    Wo pinkelt sich der Kunstverein

    Selbstkritisch an das linke Bein

    Muss dabei Hosianna! schrein

    Wo blaut der Himmel blauer??

    Und wo, in welchem Trauerstaat

    Ist in den Knsten s und fad

    Der Optimismus obligat??

    In China! In China!

    In China, hinter der Mauer

    Sag blo mal einen wahren Satz

    Dann kriegst du einen vor den Latz

    Die Freiheit ist ein toter Spatz

    verfault im Vogelbauer

    Und wo, mein Freund, wirst du geschasst

    Hat man ein Spitzel aufgepasst

    Und wo verfaulst du dann im Knast??

    In China! In China!

    In China, hinter der Mauer

    Wo herrscht die In-qui-si-ti-on

    Der Revolution zum Hohn

    Auf mittelalterlichem Thron

    und lgt tagtglich schlauer

    Den weisen greisen Volkspapa

    Wo preist man ihn und sein ZK

    (das immer seiner Meinung war)??

    In China! In China!

    In China, hinter der Mauer

    Karl Marx, der Revolutionr

    Hat groes Glck: Er lebt nicht mehr

    Denn wenn er heut am Leben wr

    - Genosse meiner Trauer -

    Dann lebte er nicht lange mehr

    Man zge ihn aus dem Verkehr

    Nun rat mal: Wo?? das ist nicht schwer:

  • In China! In China!

    In China, hinter der Mauer

    Karl Mickel,

    Die Elbe

    Schwarz die Elbe, Schwemmholz rammt das Ufer

    Regenben treffen graue Eisschollen

    Die Bschung ist befestigt, Stein an Stein

    Granit und Porphyr von Dresden bis Hosterwitz

    Kein Brocken ohne Inschrift, Initialen

    Gespeerte Herzen, Hhne auf der Stange

    Kratzen sich ein von Dresden bis Hosterwitz.

    Die Rillentiefe mit des Mdchens Keuschheit

    Und Furcht oder Dauer der Fesselung:

    Mit lockern Knien die Frauen zwischen Nummer

    Und Nummer zwischen Gras und Heu, die Sieger

    Eilen, den Triumpf in Stein zu metzen

    Die Pause fr die Nachwelt nutzend: kenne

    Nun den Gleichen wieder! find die Gleiche!

    Aus Seufzern Kssen Worten Ein Geflster

    An Einem Ufer gleich jung alle Vter

    Und Mtter Shne Tchter von Dresden bis Hosterwitz

    Im drren Weinberg von den schwarzen sten

    Truft der Regen wie ein Schwarm von Kirschblten:

    So sah ich das. Jedoch das exponierte

    Material reicht weiter. Mnner, Frauen

    Vernetzt gekoppelt, schlagen Wellen, Flu

    Neben dem Flu, der Verkehrsstrom

    Reit, der Interruptus auf der Strae

    Und die Menge, wenn zwei Autos sich

    Vernichteten, kreist um die Leere

    Wie der Strom ums Aug des Strudels wirbelt.

    Umgekehrt. Hier eine liegt am Boden

    Gespickt rundum, und Reisig kerbt die Hfte

    Dann ziehen ihre Blicke aus der Leiche

    Passanten. Glimmend um die Trmmer

    Kreist das Volk von Weixdorf bis Pesterwitz

    Sanft wie die Berge neben dem Flu

    (Czechowski) kriechen Bestien in die, aus dem

    Zoo, bei Kindern, nach dem Angriff

    Achselhhlen. Und Berufsverkehr

    Heit, da Der mit Jenem, Der mit Dieser

    Es (Sein Wesen) treibt, und jedes Menschs

    Verrichtung, wenn nur eines, und nicht sofort

    Ein anderes die Lcke, wie es, besser

    Oder schlechter, ist, fllt, fllt, nicht wre:

    Vgl. auch den Kommentar zu Pindar

    Von Hlderlin, Belebendes (Kentauren)

    Volker Braun

  • Das Eigentum

    Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.

    KRIEG DEN HTTEN FRIEDE DEN PALSTEN.

    Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.

    Es wirft sich weg und seine magre Zierde.

    Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.

    Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wchst.

    Und unverstndlich wird mein ganzer Text

    Was ich niemals besa wird mir entrissen.

    Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.

    Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.

    Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.

    Wann sag ich wieder mein und meine alle.

    Rainer Kunze

    Die Mauer

    Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht,

    wie hoch sie ist

    in uns

    Wir hatten uns gewhnt

    An ihren horizont

    Und an die windstille

    In ihrem schatten warfen

    Alle keine Schatten

    Nun stehen wir entblt

    Jeder Entschuldigung

    Ingeborg Bachmann

    IN APULIEN

    Unter den OIivenbaumn schttet Licht die Samen aus,

    Mohn erscheint und flackert weder,

    fngt das l und brennt es nieder,

    und das Licht geht nie mehr aus.

    Trommln in den Hhlenstdten trommeln ohne Unterla,

    weies Brot und schwarze Lippen,

    Kinder in den Futterkrippen

    will der Fliegenschwarrn zum Fra

    Km die Helle von den Feldern in den Troglodytentag,

    knnt der Mohn aus Lampen rauchen,

    Schmerz un Schlaf ihn ganz verbrauchen,

    bis er nicht mehr brennen mag.

    Esel stnden auf und trugen Wasserschluche bers Land,

  • Schnre stickten alle Hnde,

    Glas und Perlen fiir die Wnde -

    Tr im klingenden Gewand.

    Die Madonnen stillten Kinder und der Buffel ging vorbei,

    Rauch im Horn, zur grnen Trnke,

    endlich reichten die Geschenke:

    Lammblut, Fisch und Schlangenei.

    Endlich malmen Steine Frchte, und die Krge sind gebrannt.

    l rinnt offnen Augs herunter,

    und der Mohn geht trunken unter,

    von Taranteln berrannt.

    Erklr mir Liebe

    Dein Hut lftet sich leis, grt, schwebt im Wind,

    dein unbedeckter Kopf hat s Wolken angetan,

    dein Herz hat anderswo zu tun,

    dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein,

    das Zittergras im Land nimmt berhand,

    Sternblumen blst der Sommer an und aus,

    von Flocken blind erhebst du dein Gesicht,

    du lachst und weinst und gehst an dir zugrund,

    was soll dir noch geschehen

    Erklr mir, Liebe!

    Der Pfau, in feierlichem Staunen, schlgt sein Rad,

    die Taube stellt den Federkragen hoch,

    vom Gurren berfllt, dehnt sich die Luft,

    der Entrich schreit, vom wilden Honig nimmt

    das ganze Land, auch im gesetzten Park

    hat jedes Beet ein goldner Staub umsumt.

    Der Fisch errtet, berholt den Schwarm

    und strzt durch Grotten ins Korallenbett.

    Zur Silbersandmusik tanzt scheu der Skorpion.

    Der Kfer riecht die Herrlichste von weit;

    htt ich nur seinen Sinn, ich fhlte auch,

    das Flgel unter ihrem Panzer schimmern,

    und nhm den Weg zum fernen Erdbeerstrauch!

    Erklr mir, Liebe!

    Wasser wei zu reden,

    die Welle nimmt die Welle an der Hand,

    im Weinberg schwillt die Traube, springt und fllt.

    So arglos tritt die Schnecke aus dem Haus!

    Ein Stein wei einen andern zu erweichen!

    Erklr mir, Liebe, was ich nicht erklren kann:

    sollt ich die kurze schauerliche Zeit

    nur mit Gedanken Umgang haben und allein

    nichts Liebes kennen und nichts Liebes tun?

    Muss einer denken? Wird er nicht vermisst?

    Du sagst: es zhlt ein andrer Geist auf ihn...

    Erklr mir nichts. Ich seh den Salamander

    durch jedes Feuer gehen.

  • Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.

    Rmisches Nachtbild

    Wenn das Schaukelbrett die sieben Hgel

    nach oben entfhrt, gleitet es auch,

    von uns beschwert und umschlungen,

    ins finstere Wasser,

    taucht in den Fluschlamm, bis in unsrem Scho

    die Fische sich sammeln.

    Ist die Reihe an uns,

    stoen wir ab.

    Es sinken die Hgel,

    wir steigen und teilen

    jeden Fisch mit der Nacht.

    Keiner springt ab.

    So gewi ists, da nur die Liebe und einer den andern erhht.

    Hans Mgnus Enzensberger

    Der Untergang der Titanic - Zwlfter Gesang

    Von diesem Augenblick an verluft alles planmig.

    Der sthlerne Rumpf vibriert nicht mehr, still

    liegen die Maschinen, lngst sind die Feuer gelscht.

    Was ist los? Warum machen wir keine Fahrt? Man lauscht.

    Drauen im Korridor werden Rosenkrnze gemurmelt.

    Die See ist glatt, schwarz, glasig. Mondlos die Nacht.

    Oh, es ist nichts! Es ist nichts zerbrochen an Bord,

    keine Vase und kein Champagnerglas. Man wartet

    in kleinen Gruppen, wortlos, geht auf und ab,

    im Pelz, im Schlafrock, im Overall, man gehorcht.

    Jetzt werden Taue aufgerollt, Planen fortgezogen

    von den Booten, Davits ausgeschwenkt. Es ist,

    als htten die Passagiere Tabletten geschluckt. Dieser Mann z. B.,

    der sein Cello hinter sich herzieht ber das endlose Deck,

    man hrt, wie der Sporn an den Planken kratzt,

    immerzu kratzt, kratzt und man fragt sich: Wie

    ist das nur mglich? Ah! schau! eine Notrakete! Aber es ist nur ein schwaches Zischen, schon verpufft

    am Himmel, im Widerschein die Gesichter blulich und leer.

    Still stehen Liftboys, Masseusen und Bcker Spalier.

    Auf der California, einem alten Kahn, zwlf Meilen weiter,

    dreht sich in seinem Bett der Funker um und schlft ein.

    Achtung Achtung! Frauen und Kinder zuerst! Wieso eigentlich? Antwort: We are prepared to go down like gentlemen. Auch gut. Sechzehnhundert bleiben zurck. Die Ruhe an Bord ist unvorstellbar. Hier spricht der Kapitn. Es ist genau zwei Uhr, und ich befehle: Rette sich wer kann! Musik!

  • Zur letzten Nummer erhebt der Kapellmeister seinen Stock.

    Ernst Jandl

    wien : heldenplatz

    der glanze heldenplatz zirka

    versaggerte in maschenhaftem mnnchenmeere

    drunter auch frauen die ans maskelknie

    zu heften heftig sich versuchten, hoffensdick

    und brllzten wesentlich.

    verwogener stirnscheitelunterschwang

    nach nten nrdlich, kechelte

    mit zu-nummernder aufs bluten feilzer stimme

    hinsensend smmertliche eigenwscher.

    pirsch!

    dppelte der gottelbock von Sa-Atz zu Sa-Atz

    mit hnig sprenkem stimmstummel.

    balzerig wrmelte es im mnnechensee

    und den weibern ward so pfingstig ums heil

    zumahn: wenn ein knie-ender sie hirschelte.

    Friederike Mayrcker

    Manchmal bei irgendwelchen zuflligen Bewegungen

    manchmal bei irgendwelchen zuflligen Bewegungen

    streift meine Hand deine Hand deinen Handrcken

    oder mein Krper der in Kleidern steckt lehnt fast ohne es zu wissen

    einen Augenblick gegen deinen Krper in Kleidern

    diese kleinsten beinahe pflanzlichen Bewegungen

    dein abgewinkelter Blick und dein Auge absichtlich ins Leere wandernd

    deine im Ansatz noch unterbrochene Frage wohin fhrst du im Sommer

    was liest du gerade

    gehen mir mitten durchs Herz

    und durch die Kehle hindurch wie ein sszes Messer

    und ich trockne aus wie ein Brunnen in einem heiszen Sommer

    Ein Gleiches

    der weisze

    Seidenspitz auf der

    Fensterbank; ich, ihn umhalsend,

    mit Vaters Mtze, die fllt

    mir tief ins Gesicht; daneben

    im violetten und weiszen

    Rschenkleid die schne

    Groszmutter, lchelnd beim Magnesiumlicht des Vaters zucken wir alle

    zusammen; begraben

    alle, ich

    lebe

    Ulla Hahn

  • Anstndiges Sonett Schreib doch mal ein anstndiges Sonett St. H.

    Komm bei dich fest ich halte nichts

    vom Nippen. Dreimal am Anfang kss

    mich wo's gut tut. Miss

    mich von Mund zu Mund. Mal angesichts

    der Augen mir Ringe um

    und lass mich springen unter

    der Hand in deine. Zeig mir wie's drunter

    geht und drber. Ich schreie ich bin stumm.

    Bleib bei mir. Warte. Ich komm wieder

    zu mir zu dir dann auch

    ganz wie ein Kehrreim schner alter Lieder

    Verreib die Sonnenkringel auf dem Bauch

    mir ein und allemal. Die Lider

    halt mir offen. Die Lippen auch.

    Rolf Dieter Brinkmann

    Die Orangensaftmaschine

    dreht sich & Es ist gut, da der Barmann

    zuerst auf die nackten Stellen eines

    Mdchens schaut, das ein Glas kalten

    Tees trinkt. "Ist hier sehr hei,

    nicht?" sagt er, eine Frage, die

    den Raum etwas dekoriert,

    was sonst? Sie hat einen krftigen

    Krper, und als sie den Arm

    ausstreckt, das Glas auf

    die Glasplatte zurckstellt,

    einen schwitzenden, haarigen

    Fleck unterm Arm, was den Raum

    einen Moment lang verndert, die

    Gedanken nicht. Und jeder sieht, da

    ihr's Spa macht, sich zu bewegen

    auf diese Art, was den Barmann

    auf Trab bringt nach einer langen

    Pause, in der nur der Ventilator

    zu hren gewesen ist wie

    immer, oder meistens, um

    diese Tageszeit.

  • Friedrich Christian Delius

    Chinesisch Essen

    Ja Ente mit Mandeln oder Krabben ssauer

    Acht Kostbarkeiten Schwein scharf gebackene Nudeln

    Heut essen wir besser chinesisch als

    Neunhundert Millionen Chinesen

    Ja Gensse hren nicht auf

    Wir haben die volleren Mgen die besseren Informationen:

    Die Fische streben weg Das Fleisch wird vergiften

    Herr Ober noch pfel mit Honig

    Ja satt auf den Sthlen und der Hunger

    So weit von uns weg wie ein benachbarter Erdteil

    Wir stellen uns ein auf Morcheln Algen Bambussprossen

    Auf Kmpfe um Ententeiche und Gromarkthallen

    Wir fressen ihnen den Reis weg die Hirse die Nsse

    Und sie merken es nicht

    Ja mit Messer und Gabel der Kampf gegen die bloen

    Hnde

    Bis wir fallen Das letzte Gefecht mit

    Fleischfressenden Pflanzen

    Konkrete Poesie

    wolke wolke

    wolkewolkewolkewolke

    wolkewolkewolkewolke

    wolkewolkewolkewolke

    wolke wolke

    B B

    L Lb

    I I l t z

    T T i

    Z Z tz

    Eugen Gomringer

    kein fehler im system (3)

    kein system im fehler

    kein system mir fehle

    keiner fehl im system

    keim in systemfehler

    sein kystem im fehler

    ein fehkler im system

    seine kehl im fyrsten

    ein symfehler im sekt

    kein symmet is fehler

  • sey festh kleinr mime

    Aras ren

    Die Fremde ist auch ein Haus Kopie eines von Emine geschriebenen Briefes

    an den trkischen Generalkonsul in Berlin

    und an den Berliner Innensenator:

    Sehr geehrte Herren,

    wenn ich etwas Falsches schreibe, verzeihen Sie mir

    dieses Falsche, aber nehmen Sie mein Schreiben trotzdem an.

    Weil ich im Pa meines Vaters stehe,

    passierc mir alles, was meinem Vater passiert,

    von der Steppe angefangen, die er hinter sich herschleift,

    seit nmlich (wie ein Mann im Flugzeug erzh1te)

    zu Ende der fnfziger Jahre ein Bagger in die Steppe

    kam und anfing, den Boden aufzuwhlen.

    Hinter dem Bagger erschien eine Strae, die Fremde begann.

    Die Fremde begann schon in der Heimat, aber mein Vater

    nannte sie Deutschland.

    Ich nenne sie jetzt Trkei.

    Als ich herkam, war ich fnf Jahre alt.

    Seit zehn Jahren bin ich hier, meine Brder

    sind in Berlin geboren.

    Wo ist jetzt meine Frernde, wo meine Heimat?

    Die Fremde meines Vaters ist meine Heimat geworden.

    Meine Heimat ist die Frernde meines Vaters.

    Streichen Sie bitte meinen Namen

    im Pa meines Vaters

    Ich mchte einen eigenen Pa in der Tasche haben.

    Wer mich danach fragt, dem will ich

    ehrlich sagen, wer ich bin,

    ohne Scham, ohne Furcht

    und fast noch ein bichen stolz darauf,

    Das Jahrhundert, in dem ich lebe,

    hat mich so gemacht:

    geboren 1963 in K.ayseri,

    Wohnort: Berlin-Kreuzberg.

    Emine

    Alev Tekinay

    Dazwischen

    Jeden Tag packe ich den Koffer

    ein und dann wieder aus.

    Morgens, wenn ich aufwache, plane,

    plane ich die Rckkehr,

    aber bis Mittag gewhne ich mich mehr

    an Deutschland.

  • Ich ndere mich

    und bleibe doch gleich

    und wei nicht mehr,

    wer ich bin.

    Jeden Tag ist das Heimweh

    unwiderstehlicher,

    aber die neue Heimat hlt mich fest

    Tag fr Tag noch strker.

    Und jeden Tag fahre ich

    zweitausend Kilometer

    in einem imaginren Zug

    hin und her,

    unentschlossen zwischen

    dem Kleiderschrank

    und dem Koffer,

    und dazwischen ist meine Welt.

    Gino Chiellino

    gegen meine Fremde hat die Nachbarin

    gegen meine Fremde hat die Nachbarin

    den Hof mit Chrysanthemen verndert

    das unsagbare Gelb der Sterne

    der Einbildung

    man knne dem anderen den Weg weisen

    zwischen Rapsfeldern und der Kindheit

    sich die Fremde nehmen

    weil der gelbe Wucher

    nicht mehr die Blume der Toten ist

  • Ulrike Draesner

  • Bas Bttcher