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Zeitung DVPB: Ökonomische Bildung ist Bestandteil gesellschaftswissenschaftlicher Allgemeinbildung .... 4 Schwerpunkt: Staatlichkeit im Wandel Interview Stephan Leibfried „Der moderne Staat ist für den Bürger zugleich treuster Freund und furchtbarster Feind“ ................ 7 Fachbeiträge Matthias Keese und Annika Meng Entwicklung und Wirkungszusammenhänge der Rentenversicherung in Deutschland .......................... 11 Stefan Selke Grenzen der Zivilgesellschaft ...................................... 15 Tim Engartner Wie hat sich der Staat in den letzten 20 Jahren gewandelt? .................................................................. 18 Didaktische Andreas Klee, Luisa Lemme und Andreas Lutter Werkstatt Wandel des Staates als Herausforderung für die Didaktik der Politischen Bildung .......................... 22 Verbandspolitische Ernüchterung: Rundschau Schleswig-Holstein: Landeszentrale bleibt! Aber Neuregelung mit Überraschungen .................. 26 Informationen, Planungen, Aktionen und Berichte: Brandenburg: Kooperation mit dem Landtag – sowie neuer Landesvorstand ...................................... 27 Bayern: Verbindlichkeit der Abiturprüfung in Sozialkunde erhalten! ................................................ 27 NRW: Bundeswehr in die Schule ... oder? DVPB-Vertreter im Hearing des Landtags ................ 28 Niedersachsen: Frühankündigung des „Tages der Politischen Bildung“ am 29.9.2011 ............................ 30 Hamburg: Zweiter Historisch-Politischer Marktplatz in Hamburg! ............................................ 30 Rheinland-Pfalz: Mündige Bürger!? – Zum Stellenwert Politischer Bildung .................................. 31 Thüringen: „Nachhaltige Klimapolitik als Thema für die Politische Bildung .............................. 31 Magazin Rezensionen ................................................................ 32 Vorschau/Impressum .................................................. 34 POLIS Report der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung Editorial Im Schatten der Verwerfungen an den in- ternationalen Kapitalmärkten und den Aus- wirkungen auf die Realwirtschaft scheint die Mär von der Allmacht des Marktes ent- zaubert – und der Staat wieder en vogue. „Der Staat, der lange als lästig galt, als Störenfried, der die Wirtschaft einengt, ist plötzlich wieder zum Garanten für Wohl- stand und wirtschaftliche Sicherheit ge- worden“, kommentierte Ulrich Schäfer un- längst in der Süddeutschen Zeitung. Wird die „Rückkehr des Staates“ aber dazu führen, dass die Bürger/innen wieder Ver- trauen in ihn fassen? Auf diese und ähnli- che Fragen versucht die vorliegende Aus- gabe der POLIS Antworten zu geben. Stephan Leibfried, Leiter des Sonder- forschungsbereichs „Staatlichkeit im Wan- del“ an der Universität Bremen, gibt in ei- nem ausführlichen Interview unter dem Ti- tel „Der moderne Staat ist für den Bürger zugleich treuster Freund und furchtbarster Feind“ Auskunft über unser ambivalentes Staatsverständnis. Annika Meng und Mat- thias Keese skizzieren den Wandel der so- zialen Sicherungssysteme, indem sie die Entwicklung des bundesdeutschen Ren- tensystems darlegen. Andreas Klee, Luisa Lemme und Andreas Lutter bereiten den Wandel des Staates im Rahmen der „Di- daktischen Werkstatt“ als Herausforderung für die politische Bildung auf. Die „Tafel- bewegung“ nimmt Stefan Selke, Autor des Bestsellers „Fast ganz unten“, als eine Sig- natur der Gegenwartgesellschaft in den Blick. Schließlich werden für diese Aus- gabe der POLIS eingeholte Statements pro- minenter Persönlichkeiten wie Ronald Po- falla und Heribert Prantl in einen überge- ordneten Kontext gerückt. Wir hoffen, dass die Vielschichtigkeit der in diesem Heft versammelten Beiträ- ge Ihnen als Leser/innen Anlass bietet, das Thema „Staat im Wandel“ sowohl in der politischen als auch in der ökonomischen Bildung aufzugreifen. Tim Engartner Heft 1/2011 polis_1_11_003_003_003_003.qxd 16.03.2011 07:59 Seite 1

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Zeitung DVPB: Ökonomische Bildung ist Bestandteil gesellschaftswissenschaftlicher Allgemeinbildung .... 4

Schwerpunkt: Staatlichkeit im Wandel

Interview Stephan Leibfried„Der moderne Staat ist für den Bürger zugleich treuster Freund und furchtbarster Feind“ ................ 7

Fachbeiträge Matthias Keese und Annika MengEntwicklung und Wirkungszusammenhänge der Rentenversicherung in Deutschland .......................... 11

Stefan SelkeGrenzen der Zivilgesellschaft ...................................... 15

Tim EngartnerWie hat sich der Staat in den letzten 20 Jahren gewandelt? .................................................................. 18

Didaktische Andreas Klee, Luisa Lemme und Andreas LutterWerkstatt Wandel des Staates als Herausforderung für

die Didaktik der Politischen Bildung .......................... 22

Verbandspolitische Ernüchterung:

Rundschau Schleswig-Holstein: Landeszentrale bleibt!Aber Neuregelung mit Überraschungen .................. 26

Informationen, Planungen, Aktionen und Berichte:

Brandenburg: Kooperation mit dem Landtag – sowie neuer Landesvorstand ...................................... 27

Bayern: Verbindlichkeit der Abiturprüfung in Sozialkunde erhalten! ................................................ 27

NRW: Bundeswehr in die Schule ... oder? DVPB-Vertreter im Hearing des Landtags ................ 28

Niedersachsen: Frühankündigung des „Tages der Politischen Bildung“ am 29.9.2011 ............................ 30

Hamburg: Zweiter Historisch-Politischer Marktplatz in Hamburg! ............................................ 30

Rheinland-Pfalz: Mündige Bürger!? – Zum Stellenwert Politischer Bildung .................................. 31

Thüringen: „Nachhaltige Klimapolitik als Thema für die Politische Bildung .............................. 31

Magazin Rezensionen ................................................................ 32Vorschau/Impressum .................................................. 34

POLISReport der Deutschen Vereinigungfür Politische Bildung

Editorial

Im Schatten der Verwerfungen an den in-ternationalen Kapitalmärkten und den Aus-wirkungen auf die Realwirtschaft scheintdie Mär von der Allmacht des Marktes ent-zaubert – und der Staat wieder en vogue.„Der Staat, der lange als lästig galt, alsStörenfried, der die Wirtschaft einengt, istplötzlich wieder zum Garanten für Wohl-stand und wirtschaftliche Sicherheit ge-worden“, kommentierte Ulrich Schäfer un-längst in der Süddeutschen Zeitung. Wirddie „Rückkehr des Staates“ aber dazuführen, dass die Bürger/innen wieder Ver-trauen in ihn fassen? Auf diese und ähnli-che Fragen versucht die vorliegende Aus-gabe der POLIS Antworten zu geben.

Stephan Leibfried, Leiter des Sonder-forschungsbereichs „Staatlichkeit im Wan-del“ an der Universität Bremen, gibt in ei-nem ausführlichen Interview unter dem Ti-tel „Der moderne Staat ist für den Bürgerzugleich treuster Freund und furchtbarsterFeind“ Auskunft über unser ambivalentesStaatsverständnis. Annika Meng und Mat-thias Keese skizzieren den Wandel der so-zialen Sicherungssysteme, indem sie dieEntwicklung des bundesdeutschen Ren-tensystems darlegen. Andreas Klee, LuisaLemme und Andreas Lutter bereiten denWandel des Staates im Rahmen der „Di-daktischen Werkstatt“ als Herausforderungfür die politische Bildung auf. Die „Tafel-bewegung“ nimmt Stefan Selke, Autor desBestsellers „Fast ganz unten“, als eine Sig-natur der Gegenwartgesellschaft in denBlick. Schließlich werden für diese Aus-gabe der POLIS eingeholte Statements pro-minenter Persönlichkeiten wie Ronald Po-falla und Heribert Prantl in einen überge-ordneten Kontext gerückt.

Wir hoffen, dass die Vielschichtigkeitder in diesem Heft versammelten Beiträ-ge Ihnen als Leser/innen Anlass bietet, dasThema „Staat im Wandel“ sowohl in derpolitischen als auch in der ökonomischenBildung aufzugreifen.

Tim Engartner

Heft 1/2011

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Bielefeld/Hannover. Die Debatte umeine angemessene Ausgestaltung derökonomischen Dimension gesellschafts -wissenschaftlichen Unterrichts in Di-daktik und Schulcurriculum ist in denzurückliegenden Monaten facettenrei-cher und differenzierter geworden: Po-sitionen und Gegenpositionen bekom-men zwar Konturen, aber die Kontro-versen bleiben vorerst im Bereichwis senschaftlicher und verbandlicherStatements. Bildungspolitische Konse-quenzen sind bislang nicht erkennbar.

Neuerlicher Auslöser der Diskussionum ein selbstständiges UnterrichtsfachWirtschaft an allgemeinbildenden Schu-len sind zwei Gutachten zu Bildungs-standards und zu Standards in der Lehrer-bildung von vier Professoren der Wirt-schaftswissenschaft und Wirt schafts - didaktik aus dem Oktober 2010 (H-C. Jun-geblod/B. Remmel/T. Retzmann/G. See-ber; siehe POLIS 4/2010, S, 4-5). DieseGutachten waren vom Gemeinschafts -ausschuss der Deutschen GewerblichenWirtschaft in Auftrag gegeben worden.Bereits im November 201O haben fünfandere Professoren einer „Initiative fürbessere ökonomische Bildung“ dann ineiner Kurzexpertise sehr kritisch zu die-sen Gutachten Stellung genommen (R.Hedtke/G. Famulla/B. Fischer/B. Weber/B.Zurstrassen: Für eine bessere ökonomi-sche Bildung. Bielefeld. Dezember 2010;im Internet unter: www.iboeb.org). Viel-leicht kann man die Kontroverse verein-facht auf die Formel bringen: „eigenstän-diges fachliches Ökonomie-Lernen“ ver-sus „Ökonomie als integraler Bestandteilsozialwissenschaftlicher Bildung“.

Die Initiative für eine bessere öko-nomische Bildung (iböb) wirft dem Kon-zept der Wirtschaftsverbände insbeson-dere vor, eine veraltete Vorstellung vomLernen zu vertreten und extrem wenigdazu beizutragen, reale wirtschaftlicheProbleme zu bewältigen. Es falle hinterden Stand der Wirtschafts- und Sozial-wissenschaften zurück und sei wissen-

schaftlich und politisch einseitig. „DieWirtschaftsverbände propagieren einPflichtfach Ökonomie und legen dafüreine fachwissenschaftlich, fachdidak-tisch, methodisch und pragmatisch de-fizitäre Konzeption vor. Ein Fach Öko-nomie nach den Vorstellungen der Wirt-schaftsverbände ist nicht sinnvoll, da eswesentliche Qualifikationskriterien öko-nomischer Bildung nicht erfüllt“, schriebtdie iböb. Und die Initiative setzt sichnachdrücklich für einen wissenschaftli-chen und politischen Pluralismus in derökonomischen Bildung ein.

Ein wichtiges Anliegen des Gegen-gutachtens ist es, in die ökonomische Bil-dung wirklichkeitsbezogen die Wirt-schaftswelten und Alltagssituationen vonreal existierenden Konsumentinnen, Be-rufswählerinnen, Auszubildenden, Er-werbstätigen, Unternehmerinnen und An-legerinnen einzubeziehen. ÖkonomischeFragen sollen in gesellschaftliche, politi-sche und kulturelle Kontexte eingebettetwerden.

Aber auch die Argumentation derKurzexpertise ist in Fachkreisen nichtohne Kritik geblieben. So hat die Ho-norarprofessorin für Didaktik der So-zialwissenschaften an der Ruhr-Univer-sität Bochum Dr. Annette Kammertönsin einem bislang unveröffentlichten Ma-nuskript die Auffassungen des iböb-Ge-gengutachtens als „schwer nachvoll-ziehbare Kritik“ bezeichnet; es müsstenvon dieser Seite nicht nur allgemein ge-haltene, sondern konstruktivere Vor-schläge zur Unterrichts- und Fachge-staltung gemacht werden.

Im Februar 2011 hat nun der Bun-desvorstand der Deutschen Vereinigungfür Politische Bildung eine Stellung -nahme veröffentlicht, die unhintergeh-bare pädagogische und didaktische Kri-terien in dieser Auseinandersetzung mar-kiert und sich weitgehend der Kurz -ex pertise in der Kritik an den beiden Gut-achten anschließt (siehe den Text auf dernächsten Seite). vO

4 polis 1/2011

ZE

ITU

NG Kontroverse um ökonomische

Allgemeinbildung

DVPB-Bundesvorstand bezieht Position

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„Praxisforschung nutzen – Politi-sche Bildung weiterentwickeln“

Bildungspraxis, Forschung undPolitik im Dialog

Berlin. Demokratie braucht politischeBildung – so lautet die Kampagne, dieder Bundesausschuss Politische Bildung(bap) im Sommer 2010, angesichts be-denklicher Weichenstellungen der Spar-politik, startete und die mittlerweile viel-fältige Unterstützung findet. Der Kon-sens über die Notwendigkeit dieserBildungsaufgabe ist breit verankert, diefachliche Debatte zu ihrer Umsetzungwird, gerade in der außerschulischen Sze-ne der Jugend- und Erwachsenenbildung,intensiv geführt. Mangelware ist dage-gen, wie jetzt eine Fachtagung am 14./15.Dezember 2010 in Berlin belegte, die sys -tematische Nutzung empirischer Bil-dungsforschung für die Qualitätssiche-rung und Fortentwicklung der pädagogi-schen Praxis. Um hier Abhilfe zu schaffenhatte der bap vor zwei Jahren, gemein-sam mit dem Arbeitskreis deutscher Bil-dungsstätten (AdB) und gefördert vomBundesministerium für Bildung und For-schung (BMBF), das Forschungsprojekt„Praxisforschung nutzen – Politische Bil-dung weiter ent wickeln“ in Gang gesetzt.Ziel des Projekts, das von der Erzie-hungswissenschaftlerin Dr. Helle Becker(Essen) geleitet wurde, war die Gewin-nung und Nutzbarmachung empirischerErkenntnisse für die außerschulische po-litische Bildung.

Die gut besuchte Fachtagung brachteWissenschaftler, Praktiker und Bildungs -verantwortliche ins Gespräch, an demsich auch Vertreter aus Politik und Ver-waltung, so aus dem Bundeministeriumfür Familie, Senioren, Frauen und Jugend(BMFSJ) oder dem Kuratorium der Bun-deszentrale für politische Bildung (bpb),beteiligten. Der Präsident der Bundes-zentrale, Thomas Krüger, betonte dabeidie Notwendigkeit, dass Bildungsarbeitals Anwalt eines zivilgesellschaftlichenBedarfs an Diskus sions-, Kon sultations-und Mobilisierungsforen offensiv agie-ren müsse. Worin dieser Bedarf im Ein-zelnen besteht, welche Motive bei der(Nicht-)Teilnahme eine Rolle spielen, wievon der Politik abgeschreckte Bevölke-rungskreise aus der Reserve zu lockensind und welche Wirkungen sich in dem

5polis 1/2011

Zeitung

Stellungnahme der Deutschen Verei-nigung für Politische Bildung (DVPB)zum Gutachten „Ökonomische Bil-dung an allgemeinbildenden Schu-len“ des Gemeinschaftsausschussesder deutschen gewerblichen Wirt-schaft (Oktober 2010, Autoren: Thomas Retzmann, Günther Seeber,Bernd Remmele, Hans-Carl Jonge-bloed)

Das Gutachten ist ein Beitrag zur Dis-kussion um ökonomische Bildung. Esknüpft an die neueren Ansätze umKom petenzen und Bildungsstrukturenan, ist sprach lich elegant formuliert undformal ansprechend. Trotzdem lehntdie Deutsche Vereinigung für PolitischeBildung (DVPB) das Gutachten ab. Eini-ge Gründe dafür sind:

Die DVPB hebt hervor, dass das Verbän-degutachten keinen allgemeinbilden-den Unterricht im Auge hat. Stattdes-sen wird eine einzige Perspektive – dieder nutzenkalkulierenden Ökonomiemit ihrem Effizienzkriterium – auf ei-nen einzigen Gegenstand – nämlichwirtschaftliche Situationen – ange-wandt. Behauptet wird, dass damitnicht nur der Kompetenzbereich Ent-scheidung und Ra tio nalität (gemeint istlediglich Zweckrationalität) des Einzel-nen, sondern auch die Kompetenzbe-reiche Beziehung und Interaktion sowieOrdnung und System an gezielt würden.Die sozialen Beziehungen werden aufökonomische Austauschbeziehungenreduziert, die politische Ordnung wirdlediglich ökonomisch aus einer einzigenPerspektive beurteilt und gestaltet (dieumgekehrte Blickrichtung fehlt übri-gens).

Die Engführung in dem Gutachtenüberlässt die schwierigste Bildungsauf-gabe den Lernenden, nämlich die un-terschiedlichen Sphären von Gesell-schaft, Wirtschaft und Politik in einemZusammenhang zu sehen und wechsel-seitig zu beurteilen. Dies macht aber ei-nen Kern von Allgemeinbildung, die füralle Schü ler und Schülerinnen zu for-dern ist, aus. Zwar werden in dem Gut-achten große Begriffe der philosophi-schen und pä da gogischen Tradition be-nutzt (Mündigkeit, Tüchtigkeit, Ver -antwortung), sie werden aber in kleinerMünze geliefert und werden den nor-mativen Ideen inhaltlich nicht gerecht.

Die Engführung in dem Gutachtenlegt die Erklärung durch die Interessender Auftraggeber des Gutachtens nahe.Ihre Sicht der Dinge schlägt sich in demGutachten nieder. Verblüffenderweisefehlt in dem aktuellen Gutachten jederHinweis auf die Finanzkrise und ihreandauernden Folgen. Das Versagen glo-baler Akteure und Instanzen, das Feh-len in ternationaler Regulierungen, dieHilf losigkeit der Wirtschaftswissen-schaften – solche Aspekte spielen indiesem Entwurf einer von den Auftrag-gebern als „besser“ apostrophierten

ökonomischen Bildung keine Rolle. Aufwelche Realität bezieht sich eine solchedidaktische Akzentuierung?

Ökonomische Bildung ist ein wichti-ger und unverzichtbarer Bestandteilder Allgemeinbildung! Wenn sie ihrenspezifischen Beitrag zu einem besserenVerständnis der gesellschaftlichen Rea-lität und einer reflektierten und selbst-bestimmten Mitgestaltung des gesell-schaftlichen Zusammenlebens einlösenkönnen soll, darf sie ihr Curriculumaber nicht monodisziplinär aus denWirtschaftswissenschaften ableiteten.Vor allem muss sie diejenigen Grundsät-ze und Leitideen anerkennen, die fürdas Selbstverständnis aller etabliertengesellschaftswissenschaftlichen Unter-richtsfächer konstitutiv sind, weil ihreBerücksichtigung auf Ebene des Unter-richts der Logik der freiheitlich demo-kratischen Grundordnung entsprichtund eine zentrale Voraussetzung fürderen Fortbestehen und Weiterent-wicklung darstellt.

Insbesondere• müssen kontroverse Sichtweisen (aus

Gesellschaft und/oder Wissenschaft)auf einen Unterrichtsgegenstandeinbezogen werden,

• ist zu berücksichtigen, dass wissen-schaftliche Theorien bzw. Modelle(ne ben einem Verständnis ihrer in-neren Logik) von den Lernenden im-mer auch auf ihre spezifischen An-nahmen und ihre Reichweite zu prü-fen sind und

• ist anzuerkennen, dass die pädago-gische Zielperspektive der Mündig-keit auch und gerade impliziert, dasssich die Beurteilung gesellschaftli-cher Realität (oder ihrer wissen-schaftlichen Deutung) durch die Ler-nenden ergebnisoffen vollzieht undhinsichtlich ihrer Richtung einzigund allein den normativen Leitlinienzu unterwerfen ist, die mittels dervom Grund gesetz garantiertenGrundrechte gesetzt werden.

Eine ausführliche inhaltliche Kritik amGutachten „Ökonomische Bildung anallgemeinbildenden Schulen“ wirddurch die Kurzexpertise „Für eine bes-sere ökonomische Bildung!“ geleistet(November 2010, Autoren: ReinholdHedtke, Gerd-E. Famulla, Andreas Fi-scher, Birgit Weber, Bettina Zurstras-sen).

Hannover, den 11.02.2011

Für den Bundesvorstand der DVPB

Prof. Dr. Dirk Lange (Bundesvorsitzender)

Prof. Dr. Sibylle Reinhardt (2. Bundesvorsitzende)

Dr. Thomas Simon (2. Bundesvorsitzender)

Marga Kempe (Schatzmeisterin)

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breiten Veranstaltungsspektrum der ex-perimentierfreudigen außerschulischenBildung erzielen lassen, war zentraler Ge-genstand des bap-Forschungsprojekts wiedes Fachgesprächs in Berlin.

Helle Becker machte dabei deutlich,dass die Vorstellung von zielstrebig her-stellbaren Bildungsresultaten an der Rea-lität der Bildungspraxis vorbeigeht – unddass sie auch im Widerspruch zum Leit-bild des mündigen Aktivbürgers steht. Diepolitische Bildungsaufgabe ist nicht an ei-nem Output zu messen, aber sie ist zwei-fellos wirkmächtig, wie sich oft in der le-bensgeschichtlichen Reflexion zeigt: Po-litische Bildung kann in biographischpassenden Situationen entscheidende An-stöße geben, sie kann Lust auf Verände-rung machen – nicht nur im Blick auf kon-krete Vorgänge und Vorhaben, sondernauch beim Selbstkonzept der Teilnehmer,die sich auf einmal als kompetente odergefragte Akteure erleben. Das „Interesseam Neuen“ ist demnach ein wichtiges Teil-nahme-Motiv, das gerade die innovati-onsbereite Jugend- und Erwachsenenbil-dung wecken oder aufgreifen kann.

Die Diskussion der Ergebnisse wurdein Berlin mit der generellen Frage nacheinem zeitgemäßen Theorie-Praxis-Ver-hältnis verbunden. Wichtig sei, so der

Konsens, ein hierarchisierendes Verhält-nis von Anweisung oder Zulieferung, aberauch die Vorstellung administrativ ange-ordneter Kontrolle zu überwinden, um zueiner wirklichen Zusammenarbeit zu ge-langen. Auf der Ta gung wurden dazu vie-le Anregungen gegeben und auch weite-re Forschungsvorhaben, so von Prof.Achim Schröder (Darmstadt) und Prof.Helmut Bremer (Duisburg-Essen), vor-gestellt. Für einen Forscher-Praktiker-Dialog ist, wie das bap-Projekt erbrach-te, auf Seiten der Bildungspraxis durch-aus Anschlussfähigkeit gegeben, dennhier existiert ein breites Bemühen um Do-kumentation und Reflexion der eigenenTätigkeit. Lothar Harles, Vorsitzender desBundesausschusses, hielt daher in seinemÜberblick fest, dass das Projekt, dessenErgebnisse Anfang 2011 veröffentlichtwerden, einen wichtigen Beitrag dazu lei-sten könne, die „verborgenen Schätze“der Praxisforschung zu heben.

Kontakt: bap-Geschäftsstelle, Arbeits-kreis deutscher Bildungsstätten, Mühlendamm 3, 10178 Berlin,Tel. 030/40040100, E-Mail: [email protected], Homepage:www.bap-politischebildung.de.

bap

Thomas Goppel will Direktor derAkademie für Politische Bildungin Tutzing werden

München. Die renommierte Akademiefür Politische Bildung am StarnbergerSee sucht einen neuen Direktor. Der bis-herige Amtsinhaber – Prof. Dr. HeinrichOberreuter – ist im Hauptamt Professorfür Politikwissenschaft an der Univer-sität und geht zum Herbst 2011 in Ru-hestand. In der Ausschreibung hieß es:„Gesucht wird eine angesehene, in For-schung und Lehre ausgewiesene Per-sönlichkeit.“ Kurz vor Bewerbungs-schluss hat sich ein bekannter Politikerin die Reihe der 31 Bewerberinnen undBewerber eingereiht.

Dr. Thomas Goppel, Sohn des ehe-maligen Bayerischen Ministerpräsiden-ten Alfons Goppel, war nahezu 40 Jah-re Mitglied der Landtags, 15 Jahre inverschiedenen Ministerämtern Mitgliedder Landesregierung und zwischen 1999und 2003 auch Generalsekretär der CSU.Bei der letzten Kabinettsbildung wurdeer nicht mehr berücksichtigt. Aus denReihen der Opposition im Landtag wur-de die Bewerbung kritisiert; Goppel ha-be keinerlei wissenschaftliche Verdiens -te und suche sich lediglich ein „Aus-tragsstüberl“. Die Süddeutsche Zeitungkommentierte dies: „Tatsächlich hatGoppel keine Qualifikation in Forschungund Lehre vorzuweisen, aber dies ist lautAkademiegesetz auch nicht zwingendvorgeschrieben.“ (SZ v. 28.02.11)

vO

polis 1/2011

Zeitung

Dr. Thomas Goppel, geb. 1947, von 2003– 2008 Bayerischer Staatsminister fürWissenschaft, Forschung und Kunst

Kuratorium der Bundeszentralefordert Stopp der Kürzungen fürdie Politische Bildung

Berlin. Mit einer Entschließung mit demTitel „Demokratie braucht politischeBildung“ vom 24. Februar 2011 hat dasKuratorium der Bundeszentrale für po-litische Bildung (bpb) die Bundesre-gierung aufgefordert, im Entwurf desBundeshaushalts 2012ff. auf die ge-planten Kürzungen im Bereich der po-litischen Bildung zu verzichten. Der Ap-pell des Kuratoriums richte sich auchan die Bun destagsabgeordneten imHaushaltsausschuss. Stärkung nichtSchwächung der politischen Bildungliege im ureigensten Interesse der Poli-tik. Denn Demokratie als „offenste undmenschenfreundlichste aller Staatsfor-men“ müsse tagtäglich neu gelehrt undgelernt, gestaltet und bewahrt werden.

Mit dieser Entschließung reagiert dasKuratorium auf die empfindlichen Kür-zungen bei der bpb im Haushaltsjahr

2011 und die Kürzungsansätze in denFolgejahren. Mit einer Fortsetzung die-ser Kürzungsmaßnahmen in den kom-menden Jahren drohe dem gesamtenNetzwerk der politischen Bildung eineZerreißprobe. Über 400 freie Einrich-tungen erhalten zurzeit aus dem Haus-halt der bpb substanzielle Fördermittelfür ihre laufende Bildungsarbeit. Siewären damit unmittelbar von den Kür-zungsvorhaben betroffen. Der Bildungs -bereich ist von allen Sparmaßnahmenausgenommen und wurde 2011 sogarum 7,2 Prozent erhöht. Dazu sollte auchBildung für politische Teilhabe gehören.

Im Kuratorium der bpb sind alle Frak-tionen des Deutschen Bundestages ver-treten. Es besteht aus 22 Bundestagsab-geordneten. Den Vorsitz hat Ernst-Rein-hard Beck, CDU/CSU, inne. SeineStell vertreterin ist Daniela Kolbe, SPD.Nähere Informationen sowie der Text derErklärung unter: http://www.bap-politi-schebildung.de/DE/2856/Aktuelles.php.

bap

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Herr Prof. Leibfried, Sie beschäftigensich seit vielen Jahren mit dem Wan-del des Sozialstaates. In Ihrem Buch„Transformationen des Staates?“schreiben Sie: „Der moderne Staat istfür den Bürger zugleich treusterFreund und furchtbarster Feind.“ Wasmeinen Sie damit?

Der moderne Staat ist der treuste Freunddes Bürgers, weil er breiten Schichten

der Bevölkerung erst das Bürgersein er-möglicht. Der typische liberale Bürgerdes 19. Jahrhunderts war finanziell un-abhängig und hatte gerade auf Grundseiner Ressourcen Zeit und Möglichkeit,sein politisches Interesse zu verfolgen.Nicht umsonst hatte Bismarck auch fürden Reichstag zunächst durchgesetzt,dass den Abgeordneten keine Diäten ge-zahlt wurden – das allein wirkte schonals sozialer Filter. Dem hat der Wohl-fahrtsstaat massiv abgeholfen: er gab„Otto Normalverbraucher“ weit mehrChancen der Selbstverwirklichung. Dasses immer noch oder immer wieder Pro-bleme gibt, spricht nicht gegen diesenErfolg.

Furchtbarster Feind ist der Staat demBürger vor allem deshalb, weil er in denletzten Jahrzehnten massiv Machtmittelangehäuft hat, die den Bürger in seinenpersönlichen Rechten empfindlich be-schränken können. Das gilt nicht nur fürPolizei, Geheimdienste und die vielenSicherheitsgesetze der letzten Jahre, son-dern fängt – was gerne vergessen wird– schon dort an, wo der Staat etwa Nor-men für eine „angemessene“ Pflege fest-legt oder wo er eigentlich ihre Umset-zung kontrollieren müsste. Schon da tref-fen wir schnell auf grundsätzliche Fragender Menschenwürde.

Wie hat sich der Sozialstaat Ihrer Meinung nach seit seiner Etablierungin der Bismarck-Zeit entwickelt?

Diese „Riesenfrage“ lässt sich am be-sten in drei Teilen beantworten:

Erstens: Der Sozialstaat hat sich seitBismarck vertieft und verbreitert, d. h.er hat an Eingriffstiefe, Eingriffsbreiteund Verantwortung zugenommen. Heu-te sind zwei große Tanker unterwegs, die

7polis 1/2011

„Der moderne Staat ist fürden Bürger zugleich treusterFreund und furchtbarsterFeind“Interview mit Stephan Leibfried zum Wandel des Sozialstaates

Prof. Dr. Stephan Leibfried ist Inhaber derProfessur für politische Soziologie mit denSchwerpunkten Politikfeldanalyse und So-zialpolitik an der Universität Bremen. Seit2004 ist er Mitglied der Berlin-Branden-burgischen Akademie der Wissenschaften.2007 erhielt er den ersten Preis der FritzThyssen Stiftung für sozialwissenschaftli-che Aufsätze. In den Jahren zuvor erhielter zahlreiche Einladungen zu Forschungs-aufenthalten, u. a. nach Cornell, Harvard,Berkeley, Stanford und an die LSE.

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8 polis 1/2011

Interview

zwischen sich einen kleineren Frachtereingeklemmt haben. Mit dem einengroßen sozialpolitischen Tanker sind dieSozialversicherungssysteme und die ein-schlägigen finanziellen Hilfen gemeint,also der umfangreiche Transferbereich;der andere umfasst die vielfältigen so-zialpolitisch wirksamen Marktinterven-tionen, die von der Arbeitszeitregelungbis zum Mutterschutz, von der Eltern-zeit bis hin zu verbraucher- und teilweiseauch umweltschutzpolitischen Maßnah-men reichen. Der Frachter dazwischensteht für die Bildungspolitik, die in derBundesrepublik sozialpolitisch viel zuschwach ausgeprägt ist, weil sie die Auf-stiegsmobilität in der Gesellschaft gera-de nicht befördert; auch fiskalisch wirddieser Frachter vom Tanker Sozialver-sicherungsstaat an die Seite gedrängt.

Zweitens hat sich der Sozialstaat seitBismarck zunächst bis 1945 auf natio-nal autonomen Eigenwegen entwickelt,so dass wir heute mindestens vier un-terschiedliche Gruppen von Wohl-fahrtsstaaten, vor allem aber nationaleUnikate vorfinden. Das hat im Wesent-lichen mit den jeweiligen innenpoliti-schen Machtverhältnissen und Macht-kompromissen zu tun, die in Skandina-vien anders ausgesehen haben als inItalien oder in der Schweiz.

Drittens schließlich ist der Sozialstaatin den letzten 35 Jahren erheblich unterDruck geraten – die Stichworte Globa-lisierung, Standortwettbewerb oder de-mographischer Wandel bezeichnen nurdie sichtbarsten Trends, die für diesenDruck verantwortlich gemacht werdenbzw. dafür verantwortlich sind. Die dar-auf erfolgten Reaktionen der Sozial-staaten lassen sich kaum auf einen ge-meinsamen Nenner bringen. Wir seheneine Anlagerung neuer gesellschaftlicherAkteure an den Staat und ihre Einbin-dung in seine Funktionserfüllung. Wirbemerken aber auch verstärkte staatli-che Einflussnahme, so z. B. mit der Kran-kenversicherungsreform in den USA. Ingeringerem Umfang schlagen Interna-tionalisierungstendenzen durch; sie kon-zentrieren sich vor allem auf den zwei-ten Tanker, den Interventions- und Re-gulierungsstaat, der auch der Euro päi-sierung weit stärker unterliegt.

Was wir sehen, gibt jedoch dem Be-griff Wohlfahrts„staat“ eine neue Be-deutung. Nicht dass der klassische Na-

tionalstaat sich aufgelöst oder an Be-deutung verloren hätte. Aber er kannschon lange nicht mehr die nötigen in-terventions- und sozialpolitischen Ent-scheidungen autonom treffen, ge-schweige denn alleine alle üblich ge-wordenen Leistungen erbringen. DerStaat hat Gesellschaft bekommen.

Wenn Sie drei politische Entschei-dungen nennen sollten, die die Reformder sozialen Sicherungssysteme maß-geblich beeinflusst haben, welchewären das?

Die Frage ist schwer zu beantworten,weil es gerade bei der Sozialpolitik meistnicht die „großen Entscheidungen“ wa-ren, die den Charakter der Politik be-stimmt haben, sondern der nicht endenwollende Strom an Reform, Reform derReform und Ergänzung der Reform derReform. Hier höhlt der stete Tropfen denStein – etwa bei der nie enden wollen-den Gesundheitsreform. Ich will die Be-deutung etwa der Hartz-Gesetze nichtkleinreden, aber für den Charakter derdeutschen Sozialpolitik waren bei-spielsweise die vielen Urteile des Eu-ropäischen Gerichtshofes zu Gleich-stellungsfragen – Defrenne1 und folgende– mindestens ebenso Trendsetter wie dieGroße Rentenreform Adenauers 1957.

Und vielleicht ist eine der großen Ent-scheidungssphären ganz versteckt: DiePrivatisierung des Staats der Daseins-vorsorge, der sich um Gleichheit, umUmverteilung „in der Fläche“ kümmer-te, so bei Verkehrs-, Telefon-, Wasser-und Stromanbindung. Dieser Staat wur-de in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hundert der „Bruder“ des Sozialversi-cherungsstaates. Ihn hat man aber seitden 1970er Jahren immer mehr ver-nachlässigt und abgebaut.Und manche maßgeblichen Lagen ver-bergen sich heute den Zeitgenossen ganz.Ein Viertel der Kriegsziele der AtlantikCharta von 1941, die Roosevelt undChurchill formulierten, waren sozialpo-litischer Natur. Sogar der Begriff „soci-al security“, den Sie ganz selbstver-ständlich in Ihrer Frage verwenden,stammt daher!

Sie haben es eingangs bereits ange-deutet: „Globalisierung“ und „demo-graphischer Wandel“ werden häufig

als Sachzwänge dargestellt, wegen de-rer der Sozialstaat modernisiert wer-den muss. Inwieweit ist diese Argu-mentation stichhaltig?

Von Sachzwang spricht man in den So-zialwissenschaften, wenn zwei Dingezusammenkommen: eine strukturelleRahmenbedingung wird faktisch un-ausweichlich und eine Entwicklung lässtsich einem bestimmten Akteur und sei-nem politischen Willen nicht mehr zu-ordnen. Globalisierung ist insofern zueinem erheblichen Teil tatsächlich Sach-zwang geworden. Sie wirkt über diver-se Kanäle strukturell auf Politik und Ge-sellschaft ein. Und sie ist in ihrer heuti-gen Form einem Akteur nicht mehrursächlich zurechenbar. Allerdings kamsie keinesfalls aus dem Nichts: Am An-fang standen neben technologischen Ent-wicklungen auch politische Entschei-dungen, wie etwa die Marktliberalisie-rungen von Margaret Thatcher undRonald Reagan zu Beginn der 1980erJahre. Und wie die Zeit von 1914 bis1960 gezeigt hat, kann eine Epoche derGlobalisierung auch für Jahrzehnte ab-gebrochen werden.

Der demographische Wandel ist indiesem Sinn sogar noch mehr Sach-zwang, weil bei dieser Entwicklung et-liche unverbundene Dinge zusammen-wirken: Individualisierung, Leistungs-druck, falsche politische Entscheidungen,aber auch bessere Berufschancen fürFrauen, die Einführung der Empfäng-nisverhütung, bessere Gesundheitsver-sorgung, weniger schwere körperlicheArbeit, gesünderes Essen und manchesmehr. Vieles davon war gewollt und überlange Zeit angestrebt, anderes kam hin-zu, auch aus Unvermögen oder falscherPolitik, aber einem bestimmten politi-schen Akteur ist das nicht zuzuschrei-ben und auch „der Staat“ kann nicht ein-fach für mehr Geburten sorgen. Letzt-lich kann er nur bestimmte Rahmenbe -dingungen (anders) setzen.

Allerdings zeigt der demographischeWandel, dass die Bewertung des Ge-schehens – als Glück oder Unglück, alsSachzwang oder als Geschenk des Him-mels – ganz im Auge des Betrachtersliegt: Nehmen wir die als Leistungskür-zung bekämpfte Rente mit 67 und einenjüngst erschienen Tagungsbericht in derFAZ vom 22.11.2010 (Jürgen Kaube und

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Interview

Reinhard Müller, „Krise! Welche Kri-se?“, S. 10): „Demographie ist ein Ge-schenk.“ Wenn Deutschland sich etwaan Dänemark orientierte, „können wiruns den Sozialstaat leisten.“ In Däne-mark wird zwei Jahre länger gearbeitetund die jungen Leute starten zwei Jah-re eher in den Beruf. Börsch-Supan hobhervor, dass die „aktive Zeit“ des Men-schen immer länger dauere. Wenn mandie steigende Lebenserwartung in Re-chung stelle und berücksichtige, wanndie Rente mit 67 in Kraft trete, dann ar-beiteten die Menschen künftig weniger,nicht länger.

Was sind Ihrer Meinung nach diedrängendsten Probleme in der Sozial -politik, die es zu lösen gilt?

Auch diese Frage lässt sich kaum kurzund knapp beantworten, denn gerade inder Sozialpolitik spielte und spielt dassubjektive Problemempfinden eine großeRolle. Wenn etwa die Arbeitgeber ver-langen, dass die Hartz IV-Sätze gekürztwerden sollen, mag das etwas damit zutun haben, dass sie keine höheren Löh-ne zahlen wollen. Es hat jedoch auch et-was mit gegensätzlichen normativen Vor-stellungen darüber zu tun, was „gute So-zialpolitik“ leisten soll. Diese normativenVorstellungen sind stark subjektiv be-stimmt und nicht nur vom Geldbeutel,also dem eigenen finanziellen Interessediktiert. Versucht man trotzdem eine Ant-wort zu geben, dann stehen meines Er-achtens folgende Probleme hierzulandevordringlich zur Lösung an:

Da wäre, erstens, die immer weiterauseinanderklaffende Einkommenssche -re zu schließen. Man muss mit Erschre -cken sehen, wie nicht nur in relativen,sondern auch in absoluten Zahlen die so-ziale Schichtung immer zerklüfteter aus-fällt, also die Abstände zwischen denSchichten immer größer werden. Undwas mich besonders nach denklich macht:Diese Schichtung vernichtet nicht nurdie sozialen und politischen Beteili-gungschancen vieler Menschen, sondernsie wird auch in enormem Umfang ver-erbt. Wir haben trotz der hohen Sozial-ausgaben des Staates in Deutschland ei-ne denkbar geringe Aufstiegsmobilität.Klassenlagen verfestigen sich also heu-te wieder anstatt wenigstens über die Ge-nerationen hinweg aufgebrochen zu wer-

den. Zusätzlich frappiert auch, dass dar-an eine einfache Erhöhung und Verbrei-terung von Transferzahlungen kaum et-was ändert – ein „allgemeines Grund-einkommen“ pflegt also eher illusorischeReformlandschaften. Viele Menschenstecken so tief in Problemen, dass Geldalleine nicht einmal eine Hoffnung aufBesserung bringt. Zweitens war Bildungin den meisten westlichen Ländern ei-nes der wesentlichen Instrumente, umsoziale Mobilität zu ermöglichen. Dochzeigt die bundesdeutsche Bildungspoli-tik hier verheerende Ergebnisse. UnserBildungssystem zementiert sozialeSchichtung anstatt sie durchlässiger zumachen. Das haben auch die jüngstenPISA-Daten von Dezember 2010 wie-der gezeigt. Ferner ist es ein Problem,dass die 50 Prozent der Staatseinnah-men, die den Bundesanteil an allenStaatseinnahmen ausmachen, nur zumverschwindend geringen Teil in For-schung und Bildung fließen (dürfen) –und das seit der Föderalismusreform IIsogar noch weniger –, die Länderhaus-halte jedoch strukturell damit überfor-dert sind, diese Herausforderungen zubewältigen. Das Ergebnis kann dennauch nicht überraschen: im OECD-Ver-gleich investiert Deutschland anteils-mäßig deutlich weniger Bruttoinlands-produkt in Bildung als etwa Südkorea.Das ist ein unmöglicher Zustand.

Wir haben, drittens, vergessen, dassSozialpolitik nach wie vor Klassenpoli-tik ist und nicht etwa Kultur- oder Inte-grationspolitik oder globale Humanka-pitalbildung. Nicht bildungsunwilligeAusländer sind unser primäres Problem,sondern die davor liegende, tief veran-kerte Unfähigkeit der deutschen Gesell-schaft, genug soziale Mobilität zu er-möglichen. Das gilt für die in braunenIdeen schwelgenden ost- und westdeut-schen Jugendlichen ebenso wie für dieso genannten Ausländer der dritten Ge-neration. Die Skandinavier sind hier nichtdeshalb weiter, weil sie keine Parolenvom „Kampf der Kulturen“ oder ähnli-chen populistischen Unsinn kennen, son-dern weil ihre Wohlfahrtsgesellschaftensoziale Mobilität stärker ermöglichen alsdies bei uns der Fall ist.

Aber Sozialpolitik kann sich ja nichtin der Förderung sozialer Mobilitäterschöpfen. Noch in der zweiten Hälf-

te des 20. Jahrhunderts reichte dieVerantwortung des Staates von Bil-dung und Umweltschutz über Straßen-bau und Gesundheitssystem bis zuBahn, Post und Telekommunikation.Nun heißt es immer häufiger „Privatgeht vor Staat“. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

In den letzten vierzig Jahren gab es vielHin und Her in den ordnungspolitischenVorstellungen über den Staatseingriff indie Gesellschaft. Noch die 1970er Jah-re waren durch die keynesianische Glo-balsteuerung geprägt. Gleich darauf wur-de es uns in den 1980er und vor allemin den 1990er Jahren nahe gebracht, derStaat sei das Problem und nur privateAktivität sei hilfreich. Das wurde 2001zunächst im Sicherheitsbereich und zu-letzt auch im Wirtschafts- und vor allemim Staatsfinanzbereich wieder über denHaufen geworfen. Der Staat ist zurück– jedenfalls scheint es so. Schauen wirgenauer hin, sind mindestens drei Ein-schränkungen zu machen:

So vollzog sich der massive Wandelhin zu den Privaten in den 1980er Jahrennicht aus ideologischer Verbohrtheit oderwider besseres Wissen – auch wenn dasheute gern behauptet wird, so nach demMotto, „hätten wir nur in den 1970er Jah-ren nichts geändert, so wären uns all dieKrisen erspart geblieben“. Ausgangs-punkt des Wandels war die Krise der staat-lichen Daseinvorsorge: Leistungsein-schränkungen, Kostenexplosionen undInnovationshemmnisse. Oder glaubt je-mand ernsthaft, wir hätten mit der Deut-schen Bundespost und ihren Fernmelde -ämtern einen boomenden Handymarktheutiger Größenordnung hinbekommen?

Privatisierung heißt aber nicht Ent-staatlichung. Auch das ist ein großes, gernkolportiertes Missverständnis. Der Staathat in der Daseinvorsorge in größeremUmfang Organisationsverantwortung pri-vatisiert, vermochte jedoch gleichzeitigmeist seine Entscheidungsverantwortungmassiv zu stärken, Regulierungsbehör-den wie die Bundesnetzagentur, das Ei-senbahnbundesamt oder die Bundesan-stalt für Finanzdienstleistungsaufsichtaufzubauen, deren Zuständigkeiten im-mer mehr gestärkt und auch noch supra-national, also in der EU, koordiniert wur-den. Insofern gilt: Ja, die Telefonie wirdheute als privater Markt angeboten. Die

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10 polis 1/2011

Interview

Bedingungen, zu denen dieser Marktfunktioniert (oder eben auch nicht funk-tioniert, wie z. B. bei der gebietsmono-polartigen Stromversorgung in Deutsch-land), schreibt aber der Staat vor. Wennman die Lage der öffentlichen Güter heu-te bewertet, muss man also genauer hin-schauen und sich davor hüten, pauscha-le Behauptungen aufzustellen. Vermut-lich hat sich im Großen und Ganzen inder öffentlichen Daseinsvorsorge die An-gebotsvielfalt an öffentlichen Dienstlei-stungen massiv erhöht und hat sich dieQualität in mancher Hinsicht verbessert,in anderer Hinsicht ist sie gleich geblie-ben, manches ist aber auch schlechter ge-worden. Was sich aber vor allem geän-dert hat, ist das Gefühl der Bürger überdie Sicherheit dieser Dienstleistungen:Geht etwas schief, reißen etwa Winter-stürme die Strommasten um, so rufen dieBürger sofort nach dem Staat, der das Pro-blem beheben soll.

Und hier liegt vermutlich die Krux.Der Bürger ruft in seiner Not nach demStaat, ihm antworten jedoch mitunter ganzandere als der Angerufene – etwa der pri-vate Stromversorger, der europäische Ge-setzgeber oder aber die deutsche Regu-lierungsbehörde plus allerlei Stimmen ausBundes- und Landesregierungen, Parla-menten und Parteien, Verbänden und In-teressengruppen. Das überblickt der Bür-ger aber nicht mehr. Eine neue Rundum-Unsicherheit ist die Folge.

Welche Chancen und Risiken sehenSie in der Privatisierung des Renten-und Gesundheitssystems?

Noch so eine riesige Frage, als wäre ichder große Manitu. Dazu nur drei Be-merkungen:

Erstens, schon das zuvor Gesagte hatgezeigt, dass die Begriffe „Privatisierung“und „Verstaatlichung“ irreführend sind.Kein alter OECD-Staat hat sein Renten-und Gesundheitssystem privatisiert. Unddie USA, die das privateste Gesundheits -system besessen haben, haben dort so-eben den staatlichen Einfluss erheblichverstärkt. Richtig ist allerdings, etlicheStaaten sahen sich aufgrund unterschied -licher Entwicklungen – wieder Globali-sierung, demographischer Wandel usw.– gezwungen, für ihre Sozialsysteme neueEin - nahmen zu erschließen beziehungs-weise die Leistungen zu kürzen. Beim

Rentensystem ist das dann beispielswei-se dadurch passiert, dass man mit „Rie-ster“ und Rürup“ die private Vorsorge alszusätzliches Element eingeführt hat, da-mit die Rentenlücken hinfort nicht all zugroß werden. Gleichzeitig aber fördertder Staat diese „private“ Vorsorge mit er-heblichen Steuersubventionen, so dassauch hier die Rede von Entstaatlichungfehl geht. Nahe liegend wäre der folge-richtige für ihn der kostensenkende undlückenschließende nächste Schritt, dieprivate Lückenschließung für alle obli-gatorisch zu machen!

Zweitens: Der Kern der Diskussionder letzten Jahrzehnte geht hier also nichtum privat versus staatlich (obwohl dasoft behauptet wird), sondern, erstens, umden Umfang der sozialen Absicherung– alle, wie in Skandinavien; nur die ab-hängig Beschäftigten, wie in Deutsch-land; oder nur die, von denen andereglauben, dass sie es nötig haben, wie bis-her im Gesundheitssystem der USA –,sowie, zweitens, um die Verteilung vonKosten und Nutzen, wobei sich in allenSystemen politisch einflussreiche Lob-bygruppen gebildet haben – Pharmain-dustrie, Versicherer, Ärzte, Kranken-häuser etc. Was aus einem solchen In-teressengeflecht als Politikergebnisherauskommt, hat dann leider oft wenigmit angemessener Problemlösung zu tun.

Drittens und kurzum: Es geht weni-ger um Chancen und Risiken von Pri-vatisierung im Bereich von Renten oderGesundheit, sondern um unterschiedli-che Kosten-Nutzen-Verteilungen in di-versen Reformprozessen. Zählt man dannnoch – wie bereits erwähnt – hinzu, dassin der Gesellschaft höchst unterschied-liche normative Vorstellungen über „guteSozialpolitik“ bestehen, so sind alle der-artigen Einschätzungen mit großer Vor-sicht zu behandeln.

Auch wenn Sie nicht der große Ma-nitu sind und vermutlich auch nur be-dingt über prophetische Gaben ver-fügen, gestatten Sie mir doch eine letz-te Frage: „Wer Visionen hat, solltezum Arzt gehen“, lautet ein bekann-tes Zitat von Altbundeskanzler Hel-mut Schmidt, das allerdings auchmanchem österreichischem Bundes-kanzler zugeschrieben wird. Gibt esdennoch Visionen, die Sie für die Zu-kunft des Sozialstaates haben?

Helmut Schmidt hat manchen prägnan-ten Spruch getan, nicht umsonst nannteman ihn in den 60er Jahren „Schmidt-Schnauze“. Mit dem Satz über Visionenund Arztbesuche wird er aber vermut-lich ebenso falsch verstanden wordensein wie mit seinem Spruch, ihm seienfünf Prozent Inflation lieber als fünf Pro-zent Arbeitslosigkeit. Ich glaube, dassman in den letzten Jahren den Sozial-staat – positiv wie negativ – viel zu sehrals sprichwörtlichen Reparaturbetriebdes Kapitalismus angesehen hat. Daswar aber immer schon zu wenig. Der So-zialstaat muss ein soziales Netz span-nen, um Lebensrisiken und Statuspas-sagen seiner Bürgerinnen und Bürger ab-zusichern. Aber er muss noch etwas weitWichtigeres leisten, was wir in Deutsch-land seit Bismarcks Revolution von obengern vergessen: er muss die Grundlagenfür gesellschaftliche und politische Be-teiligungsfähigkeit sowie für soziale Mo-bilität legen. Nur dann verkommt er nichtzur bloßen Reparaturwerft des SchiffsKapitalismus. Und gerade hier ernüch-tert die deutsche Bilanz. Wenn 80 Pro-zent der Akademikerkinder Abitur ma-chen, aber nur 20 Prozent der Kinder ausFamilien von Nichtakademikern, dannist das eine Quote, die schon das preußi-sche Gymnasium am Ende des 19. Jahr-hunderts in etwa erreichte. Wie soll mandarauf stolz sein? Keine Sozialstaatsvi-sion in Deutschland ist dringlicher, wich-tiger und angebrachter als diese!

Das Interview führte Tim Engartner.

Anmerkung

1 Zu Beginn der 1970er Jahre beganndie belgische Stewardess Gabrielle De-frenne ihren gerichtlichen Feldzug ge-gen die Diskriminierung von Frauenim Arbeitsleben. Sie klagte beim Eu-ropäischen Gerichtshof gegen die Re-gelung, dass sie als Stewardess alters-bedingt einige Jahre früher aus demaktiven Flugdienst ausscheiden mussteals ihre männlichen Kollegen. Zwarverlor Defrenne ihren ersten Rechts-streit gegen die belgische Fluggesell-schaft „Sabena“, aber zusammen mitder Unzufriedenheit und dem Protestder damals aufkeimenden Frauenbe-wegung rüttelten die Rechtsfragender Stewardess die Europäische Kom-mission wach, die schließlich mehrereRichtlinien zur (arbeitsrechtlichen)Gleichstellung der Frau vorbereitete.

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Die Alterssicherung stellt in vielen mo-dernen Sozialstaaten nicht nur eine dertraditionsreichsten und quantitativ wich-tigsten Säulen der Sozialversicherungdar. Sie ist zugleich der sozialpolitischeBereich, der am stärksten durch den de-mografischen Wandel herausgefordertwird. Deutschland bildet dabei keineAusnahme. Die Geschichte der deut-schen Rentenversicherung beginnt imJahr 1889. Das sogenannte Gesetz zurInvaliditäts- und Alterssicherung dientejedoch eher der finanziellen Absiche-rung im Invaliditätsfall als im Alter. Zu-dem sollte die aufstrebende Arbeiterbe-wegung geschwächt werden. Adressatwar zunächst nur die gehobene Arbei-terschicht, die ab dem 16. Lebensjahrversicherungspflichtig wurde. Nach 30Jahren Anwartschaftszeit und ab dem70. Lebensjahr wurde ein Rentenan-

spruch erworben, was angesichts einerim Vergleich zu heute deutlich niedri-geren Lebenserwartung selten zutraf.

Grundsätzliche Idee einer solchenVersicherung ist die Absicherung gegenzwei Risiken: Erstens können Älterenicht in gleichem Umfang wie Jüngereeiner Erwerbstätigkeit nachgehen; die-sen Einkommensverlust gilt es zu ver-sichern. Zweitens deckt die Versiche-rung das Langlebigkeitsrisiko ab. Be-reits von Beginn an wurden die Rentendurch einen Staatszuschuss und eine pa-ritätische Beitragsfinanzierung von Ar-beitern und Arbeitgebern finanziert. Bei-de Merkmale haben sich im Grundsatzbis heute bewahrt. Im Jahr 1911 wurdenauch Angestellte in die Rentenversiche-rung einbezogen. Gleichzeitig wurde dieAltersgrenze auf 65 Jahre gesenkt understmals eine Witwenrente eingeführt,

11polis 1/2011

Entwicklung und Wirkungszusammenhängeder Rentenversicherung in Deutschland

von Matthias Keese und Annika Meng

Matthias Keese und Annika Meng sind Wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl fürFinanzwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. In ihrer Forschungsarbeit be-schäftigen sie sich mit verschiedenen Aspekten des demografischen Wandels, etwaSparverhalten, Pflege und Alterssicherung.

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12 polis 1/2011

Fachbeitrag

eingeführt. Der Kreis der Versichertenwurde sukzessive weiter ausgedehnt,etwa um Landwirte (1957) und Hand-werker (1960). Die hohen Wachstums-raten im Zuge des deutschen Wirt-schaftswunders gingen mit einem star-ken Anstieg der Nettoverdienste einher.Dies führte dazu, dass die Rentenan-sprüche allgemein stark anstiegen unddie nun wieder teilhabeäquivalente Aus-gestaltung des Versicherungssystemsdie Einkommenssicherung im Alter fürweite Teile der Bevölkerung tatsäch-lich erfüllte.1

Prinzip des Umlagesystems

Im Jahr 1957 wurde das Umlagesystemvollständig eingeführt.2 Dabei werdendie Beitragszahlungen der sozialversi-cherungspflichtig Beschäftigten nicht ineinem Kapitalstock angelegt (wie imKapitaldeckungsverfahren), sondern di-rekt an die aktuelle Rentnergenerationausgezahlt. Damit kommt der interge-nerationellen Umverteilung eine zen-trale Rolle zu. Das wesentliche Merk-mal des Umlagesystems ist, dass derRentenanspruch der heute Beschäftig-ten durch die zukünftige Generation ge-deckt werden muss. Diese Generationarbeitet heute noch nicht oder ist nochnicht einmal geboren. Dies stellt eineimplizite Staatsschuld dar, bestehendaus einem zukünftigen Rentenanspruch.Durch die nun großzügigere Ausgestal-tung des Systems erhielt die damaligeRentnergeneration ein Einführungsge-schenk in Form von Rentenzahlungen,

die Arbeiterinnen allerdings nur erhiel-ten, wenn sie selbst berufsunfähig wa-ren.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurdendie Vermögensbestände der Rentenver-sicherung angesichts der hohen Nach-kriegsinflation praktisch wertlos. Nacheiner kurzen wirtschaftlichen Erholungwurden die Leistungen infolge der Welt-wirtschaftskrise im Jahr 1929 im Ver-gleich zur Vorkriegszeit gekürzt. DieAntragsteller mussten höhere An-spruchsvoraussetzungen erfüllen undwurden einer Bedürftigkeitsprüfung un-terzogen. Unter der Herrschaft der Na-tionalsozialisten in Deutschland dehn-te sich der Kreis der Versicherten wei-ter aus, so dass auch Selbständige derVersicherungspflicht unterlagen. DieVersicherten mussten sich um die„Volks gemeinschaft“ verdient gemachthaben und erhielten lediglich eine nied-rige Fürsorgeleistung, falls die Unter-stützung durch die eigene Familie nichtausreichte. Im Gegensatz dazu bietet dieheutige Rentenversicherung (wie schonin der Weimarer Republik) eine teilha-beäquivalente Leistung im Versiche-rungsfall, d.h. ein Versicherter, der re-lativ höhere Beiträge an die Versiche-rung entrichtet hat, erhält einen An -spruch auf eine relativ höhere monat-liche Rente.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wur-de die Rentenversicherung wieder inden Zustand der Weimarer Republikzurück versetzt. Zusätzlich wurden dieRenten ab 1949 an die Lohn- und Prei-sentwicklung gekoppelt. 1950 wurdedie paritätische Finanzierung wieder

für die sie selbst keine Beiträ-ge im gleichen Umfang geleis -tet hatte.3

Grundsätzlich eignet sich einUmlagesystem auch zum so-zialen Ausgleich. Allerdings istein derartiges Prinzip der intra-generationellen Umverteilungin der deutschen Rentenversi-cherung nur schwach ausge-prägt. Zu den auffälligsten Aus-nahmen gehören die Anrech-nung von Erziehungs- undHochschulausbildungszeitenoder die Übernahme von Ren-tenbeiträgen für Arbeitslosedurch die Bundesagentur für Ar-beit. Man kann diskutieren, ob

solche Maßnahmen Versicherungscha-rakter haben oder ob sie nicht stattdes-sen versicherungsfremde Leistungendarstellen. Häufig wird der hohe Bun-deszuschuss aus Steuermitteln (jährlichüber 30% des Gesamtbudgets der Ren-tenversicherung4) mit der Existenz sol-cher Leistungen begründet.

Anstelle der starren Altersgrenze von65 wurden im Rentenreformgesetz von1972 flexible Altersgrenzen eingeführt.Eine derartige Verringerung oder Flexi-bilisierung des Renteneintrittsalters oh-ne Abschläge führt (ebenso wie eineAusdehnung des Versichertenkreises)stets zu einem Anstieg der implizitenStaatsverschuldung, da der Anspruchs -erweiterung keine Beiträge in der Ver-gangenheit gegenüber stehen, die heu-tigen Beitragszahler aber implizit das-selbe Anspruchsniveau in der Zukunfterwarten.5

Die Höhe der individuellen Rente be-rechnet sich aus dem individuell erziel-ten sowie dem durchschnittlichen jähr-lichen Erwerbseinkommen aller Versi-cherten. Daraus werden die individuellenEntgeltpunkte errechnet, die dann mitdem aktuellen Rentenwert multipliziertwerden. Damit ist das Rentenniveau(Lohnersatzrate) nicht gesetzlich fest-gelegt.

Entgeltpunkte und Rentenwert

Das Rentensystem des Jahres 1972 warüberaus großzügig ausgestaltet. So be-lief sich die Lohnersatzrate auf unge-fähr 70% des Nettolohns eines versi-

Eigene Darstellung nach Statistisches Taschenbuch 2010. Angaben in % des Brutto inlandsprodukts.Bis 1990 früheres Bundesgebiet einschließlich Berlin (West).

Abb. 1: Sozialleistungsquote für Alters- und Hinterbliebenenrente

1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005

13,00

12,50

12,00

11,50

11,00

10,50

10,00

9,50

9,00

8,50

8,00

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cherungspflichtig Beschäftigten mit 45Beitragsjahren (sogenannter Eckrent-ner). Ein vorzeitiger Renteneintritt nach35 Jahren (Männer) bzw. 15 Jahren(Frauen) wurde nicht mit einer negati-ven Anpassung der Renten bestraft. Zu-dem war es sehr leicht, Berufsuntätig-keits- oder Erwerbsminderungsrente zuerhalten, die zur häufigsten Rentenzu-gangsform wurden. Auch der Übergangvon Arbeitslosigkeit in Rente war starkvereinfacht. Zahlreiche ältere Arbeit-nehmer gingen in den 1980er Jahren miteiner Kombination aus Abfindungen undArbeitslosengeldansprüchen in den Ru-hestand. Hinzu kam, dass immer mehrVersicherte von den Möglichkeiten dervorgezogenen Altersrente Gebrauchmach- ten. Die Sozialausgaben stiegenim Zuge dieser Entwicklungen stark an.6

Seit 1976 traten verstärkt systemischeSchwierigkeiten der Rentenversicherungzu Tage. Durch die Kopplung an die Brut-

tolohnentwicklung ist das Umlagever-fahren abhängig von der Entwicklung desArbeitsmarktes und durch den interge-nerationellen Aspekt abhängig von derdemographischen Entwicklung. Steigen-de Arbeitslosigkeit und ein steigenderRentnerquotient begannen die Finanzie-rung des intergenerationellen Umlagesys -tems zu gefährden. Allerdings beinhaltetauch das Kapitaldeckungsverfahren de-mographische und finanzielle Risiken.7

Eine letzte große Erweiterung des Ver-sichertenkreises erfuhr die Rentenversi-

cherung im Zuge der Wiedervereinigung.Die Renten in der DDR dienten nur zurAbsicherung des Existenzminimums undhatten einen deutlichen Abstand zum Ar-beitseinkommen. Zum Zeitpunkt der Wie-dervereinigung erreichten die Renten imDurchschnitt 37% des Niveaus eines west-deutschen Eckrentners. Bis zum Jahr 2000wurden die Leistungen entsprechend an-gepasst. Aufgrund der höheren Anzahl anArbeitsjahren ist die durchschnittlicheRente eines ostdeutschen bis heute höherals die eines westdeutschen Rentners (vorallem bei Frauen).8 Eine weitere folgen-reiche Maßnahme nach der Wiederver-einigung war die großzügige Anwendungvon Frühverrentungsmöglichkeiten. Da-mit entgingen zwar zahlreiche ältere Be-schäftigte drohender Arbeitslosigkeit,wurden aber zu Leistungsempfängern derRentenversicherung.9

Infolge der Rentenreformen 1992 und1999 wurden die Leistungsvorausset-

zungen erhöht.Eine frühere In-anspruchnahmevon Altersrenteführt seitdem zudeutlichen Ab-schlägen in derRente. Gleich-zeitig werdendie flexiblen Al-tersgrenzen bis2017 schritt-weise angeho-ben.10 Damitwird das Sys -tem verstärkt anden Beitrags-einnahmen undnicht haupt -säch lich an denerworbenen im-pliziten Ansprü -

chen ausgerichtet. So wurden seit den1990er Jahren Korrekturfaktoren einge-führt, die den steigenden Ansprüchenentgegenwirken.11 Die Umstellung derBruttolohnindexierung auf eine Aus-richtung an den Nettolöhnen korrigier-te erstmals die dynamische Rentenent-wicklung der Rentenformel von 1957.Dadurch erhöht sich die heutige Rentenicht mehr automatisch mit den Beitrags-und Steuererhöhungen.12

Einen deutlichen Einschnitt stellte zu-dem die Riester-Reform im Jahr 2001 dar.

Erklärte Ziele der Reform waren die lang-fristige Stabilisierung der Beiträge unddes Rentenniveaus sowie die Ausweitungprivater Altersvorsorge. Eine wichtigeMaßnahme stellte die Anpassung der Ren-tenformel dar. Erstens bezieht sie jetztVeränderungen im Beitragssatz zur Ren-tenversicherung mit ein. Zweitens berück-sichtigt sie, dass Arbeitnehmer verstärktprivate Altersvorsorge aufbauen sollen(sogenannte Riester-Treppe).13 Im Er-gebnis schlagen sich steigende Belastun-gen für die Einzahler in einer geringerenLohnersatzrate für die jetzigen Leistungs -empfänger nieder.

Private Altersvorsorge

Die private Altersvorsorge wird durchZulagen und Steuervergünstigungen ge-fördert (sogenannte Riester-Förderung).Förderberechtigt sind dabei u.a. Arbeit-nehmer, Beamte, Arbeitslose sowie dieEhepartner von Riester-Sparern. Um dievolle Riester-Förderung zu erhalten,muss ein gesetzlich festgelegter Anteilvom Einkommen im Riester-Vertrag ge-spart werden. Im Ergebnis soll die Al-terssicherung von einer Säule (umlage-finanzierte Renten versicherung) auf dreiSäulen (zusätzlich die betriebliche unddie private Altersvorsorge im Kapital -deckungs verfahren) ausgedehnt werden.

Im Jahr 2004 wurde mit dem Nach-haltigkeitsfaktor, der das Verhältnis zwi-schen sozialversicherungspflichtig Be-schäftigten und Rentnern berücksichtigt,erneut die Rentenformel modifiziert.Auch diese Maßnahme dämpft den An-stieg des Renten niveaus.

Ein letzter wichtiger Baustein derRentenpolitik des vergangenen Jahr-zehnts ist die Einführung der Rente mit67. Ab 2012 wird das Eintrittsalter fürdie abschlagsfreie Altersrente schritt-weise erhöht und liegt ab dem Jahr 2029bei 67 Jahren. Ein weiterer Korrektur-faktor in der Rentenformel sorgt dafür,dass der Beitragssatz bis 2030 nicht über22% des sozialversicherungspflichtigenBruttoeinkommens ansteigt.14 Diese Fak-toren führen, dem Gedanken des Umla-gesystems folgend, auch für zukünftigeGenerationen zu Senkungen der Lohn-ersatzrate.

Das deutsche Rentensystem war inden letzten Jahrzehnten deutlichen Än-

Fachbeitrag

13polis 1/2011

Verhältnis von Rentnern und sozialversicherungspflichtig Beschäftig-ten in %. Renten wegen Alters ohne Erwerbsminderungsrenten. Oh-ne Beschäftigte bzw. Entgelte für eine Berufsausbildung oder wäh -rend Rentenbezug oder einer Beschäftigung mit Entgelt in der Gleit-zone oder Altersteilzeit be schäftigung sowie ohne geringfügigeBeschäftigung. Eigene Darstellung nach Daten der Deutschen Ren-tenversicherung.

Abb. 2: Entwicklung des Rentnerquotienten

80

70

60

50

40

30

20

10

0

1983 1988 1993 1998 2003 2008

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derungen unterworfen, wobei die Re-formdynamik in den letzten Jahren zu-genommen hat. Dabei dient jede neueReform auch der Evaluation voraus ge-gangener Veränderungen. Aber inwie-weit wurden die erhofften Ziele erreicht?Welche Entwicklungen erfordern wei-tere Anpassungen?

Was die Reformschritte des vergan-genen Jahrzehnts angeht, kann man ei-nerseits durchaus von Erfolgen sprechen.Dies gilt beispielsweise für die Beitrags-stabilisierung oder den Anstieg des Ren-tenzugangsalters.15 Andererseits bleibenaber zahlreiche offene Fragen. Erstenssagt die Zahl der abgeschlossenen Ries -ter-Verträge (13,8 Millionen Verträge16)nichts über den Erfolg der Förderung pri-vater Altersvorsorge aus. Interessant istviel eher, ob die Steuermittel für Zulagenund Sonderausgaben - abzug überhaupteffektiv eingesetzt werden und tatsäch-lich zu einer erhöhten Ersparnis geführthaben. Empirische Untersuchungennähren deutliche Zweifel daran.17

Zweitens ist das Vertrauen in die pri-vate Altersvorsorge keinesfalls unge-trübt. So wurden bereits bis Ende 2007knapp eine Million Riester-Rentenver-sicherungsverträge wieder gekündigt.18

Zudem sehen sich die Anbieter der Kri-tik intransparenter Vertragskonditionenund hoher Kosten ausgesetzt.19

Drittens stellt sich die kritische Fra-ge nach der konsequenten Umsetzungder beschlossenen Reformschritte. Zwarkönnen verschiedene Faktoren in derRentenformel zu Leistungs kürzungenführen. Jedoch wurden diese dämpfen-den Faktoren mehrfach aufgeschoben.

In den Jahren 2005 und2006 verhinderte eineSchutz klausel eine Ren-tenkürzung. In den Jah-ren 2008 und 2009 wur-den durch Aussetzender Riester-Treppe au -ßer planmä ßige Rente-nerhöhungen durchge-setzt (Stichwort Ren-tengarantie). EineNachholung der dämp-fenden Faktoren stehtnach wie vor aus.20

Auch die Diskussionüber die Aufweichungoder gar Aussetzung derbereits beschlossenen

Rente mit 67 weist in diese Richtung.Vor dem Hintergrund einer alterndenWählerschaft ist zweifelhaft, ob die aus-gesetzten Reformschritte überhauptnachgeholt werden.

Sicher ist, dass die umlagefinanzier-te Rentenversicherung auch zukünftigeine zentrale Rolle für die Alterssiche-rung in Deutschland spielen wird. IhreFunktionsfähigkeit zu bewahren, be-deutet aber, sie zum einen an den Her-ausforderungen des demografischenWandels auszurichten und die erforder-lichen Anpassungen zum anderen voneiner langfristigen Perspektive aus kon-sequent umzusetzen.

Anmerkungen

1 Lampert, H. und Althammer, J., 2004.Lehrbuch der Sozialpolitik. Heidel-berg: Springer.

2 Börsch-Supan, A. und Wilke, C., 2003.The German Public Pension System:How it Was, How it Will Be. MEA Dis-cussion Paper #34.

3 Blankart, C., 2008. Öffentliche Finan-zen in der Demokratie. München:Vahlen.

4 Institut der deutschen Wirtschaft (Hrsg.),2010. Deutschland in Zahlen 2010. Köln:Institut der deutschen Wirtschaft Köln.

5 Vgl. Anm. 3.6 Arnds, P. und Bonin, H., 2003. Frühver-

rentung in Deutschland: Ökonomische Anreize und institutionelle Strukturen,in M. Herfurth, M. Kohli und K. F. Zim-mermann, (Hrsg.), Arbeit in einer al-ternden Gesellschaft, Leske + Budrich,Leverkusen, 65-91.

7 Vgl. Anm. 3.8 Vgl. Anm. 1.9 Vgl. Anm. 6.10 Vgl. Anm. 2.11 Der aktuelle Rentenwert wird heute

mittels der Rentenformel im § 68 SGBVI (5) berechnet.

12 Vgl. Anm. 3.13 Vgl. Anm. 2.14 Vgl. Anm. 3.15 Schnabel, R., 2008. Agenda 2010 und

Rentenpolitik – Große Erfolge unddrohende politische Risiken. Viertel-jahreshefte zur Wirtschaftsforschung77 (2008), 1, 98-107.

16 Bundesministerium für Arbeit und So-ziales (Hrsg.), 2010. Riester-Rente kri-senfest: 222.000 neue Verträge imzweiten Quartal 2010. Download:http://www.bmas.de/portal/47356/2010__08__11__riester.html.

17 Corneo, G., Keese, M. und Schröder,C., 2009. The Riester Scheme and Pri-vate Savings: An Empirical Analysis Ba-sed on the German SOEP. Journal ofApplied Social Science Studies(Schmollers Jahrbuch) 129(2), 321-332.

18 Bundesministerium für Arbeit und So-ziales, 2008. Antwort der Bundesregie-rung auf die Kleine Anfrage der Abge-ordneten Christine Scheel, IrmingardSchewe-Gerigk, Dr. Gerhard Schick,weiterer Abgeordneter und der Frakti-on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Ver-braucherschutz bei der gefördertenAltersvorsorge. BT-Drucksache 16/11194. Download: http://dipbt.bundes-tag.de/dip21/btd/16/111/1611194.pdf.

19 Oehler, A., 2009. Alles „Riester“? DieUmsetzung der Förderidee in der Pra-xis; Gutachten im Auftrag des Ver-braucherzentrale Bundesverbandes.Download unter http://www.vzbv.de/mediapics/altersvorsorge_gutachen_oehler_12_2009.pdf.

20 Schnabel, R.. Rentengarantie – Verratan den Arbeitnehmern. FOCUS-MoneyOnline vom 17. Mai 2009. Download:http://www.focus.de/finanzen/alters-vorsorge/tid-14232/rentengarantie-verrat-an-denarbeit nehmern_aid_398284.html.

14 polis 1/2011

Fachbeitrag

Eigene Darstellung. Quelle: Statistisches Bundesamt, BMAS, Deutsche Rentenversicherung Bund.

Abb. 3: Entwicklung des nominalen Rentenniveaus

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1970 1976 1982 1988 1994 2000 2006

Bruttorentenniveau Nettorentenniveau vor Steuern

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Tafeln sind die prominentesten Vertre-ter von Lebensmittelausgaben, die sichseit rund 18 Jahren in Deutschland sys -temartig entwickelt und verbreitet ha-ben. Niemand weiß gegenwärtig, in wel-che Richtung sich das etablierte Systemvon inzwischen rund 900 Tafeln und ei-ner unbekannten Anzahl tafelähnlicherEinrichtungen („Brotkorb“, „Martinsla-den, „Caritsatt“ usf.) entwickelt.

Bei Tafeln erhalten Menschen, diezunächst ihre Bedürftigkeit nachwei-sen müssen, Lebensmittelspenden. Die-se stammen zumeist aus Spenden vonLebensmittelgroß- und Einzelhändlern,zunehmend aber auch aus spendenfi-

nanzierten Zukäufen. Die direkt ge-spendeten Lebensmittel sind – folgt mandem Selbstbild der Tafelakteure – nochverzehrfähig, stehen aber kurz vor demAblauf des Mindesthaltsbarkeitsdatumsoder haben Schönheitsfehler. Sie wer-den daher von „normalen“ Kunden imSupermarkt nicht mehr akzeptiert.

Die Tafeln verbreiteten sich seit ih-rer Erstgründung 1993 rasch, der An-stieg ist seit der Einführung von „Hartz-IV“ 2005 signifikant (vgl. Abbildungen1 und 2). Tafeln sind eine Mode, derBoom der Tafelbewegung hat zu einerauf den ersten Blick fast flächen-deckenden Versorgung mit Tafeln inDeutschland geführt.

Dieser Blick ist jedoch trügerisch.Tatsächlich existieren gravierende re-gionale Disparitäten. Tafeln werdenmeist dort eröffnet, wo sich Menschenfinden, die Tafeln gründen wollen undkönnen, d.h. über Ressourcen wie Zeit,Geld oder Kontakte verfügen. Sie ent-stehen häufig nicht dort, wo sie ge-braucht werden, d.h. dort wo hohe Ar-beitslosigkeit herrscht, sondern in ver-gleichsweise prosperierenden Regionen(vgl. Abbildungen 3 und 4).

Was bedeutet diese Entwicklung?Fest steht jedenfalls eines: Die Tafel-bewegung darf nicht von der Sozial-staatsentwicklung getre nnt betrachtetwerden (vgl. Butterwegge 2010, Grot-tian 2010). Tafeln sind eine Signaturder Gegenwartsgesellschaft und kön-nen als Prototyp eines Freiwilligen-staates verstanden werden (Selke 2010:322ff.). Es kommt zu grundlegendenGrenzverschiebungen, die im vorlie-genden Beitrag skizziert werden. Da-bei wird ein kritischer Blick auf die In-stitutionalisierung einer bürgerschaft-lichen Bewegung geworfen, die in denletzten Jahren mit positiven Attributengeradezu überhäuft wurde, z.B. „Größ-te soziale Bewegung“, „Aushängeschildbürgerschaftlichen Engagements“ und„Ausdruck zivilgesellschaftlicher Ver-antwortung“.

Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung von Tafeln

Der rasante Ausbau des Tafelsystemskann nur verstanden werden, wenn dieEinbettung in die kommunitaristisch ge-prägte Debatte zum Thema „Bürgerge-sellschaft“ Berücksichtigung findet (vgl.Molling 2009: 157ff., Molling 2010:57ff.). Die zentrale Forderung hierbei istdie Rückbesinnung auf die Gemeinschaftals Gegenentwurf zum radikalen Indi-vidualismus des Liberalismus.

Die Tafelbewegung wird meist ambi -valent eingeschätzt. Der enorme Anstiegder Nachfrage nach Tafeln infolge derZusammenlegung der Arbeitslosen- undSozialhilfe (Stichwort: Hartz-IV) führ-te im Jahr 2005 dazu, dass die gesell-schaftliche Funktion und Bedeutung ih-rer Arbeit zunehmend kritisch hinter-fragt wurden. Steigende Armut undsinkende sozialstaatliche Leistungenließen den Verdacht aufkommen, dassdie allgegenwärtigen Schlangen vor denAusgabestellen Ausdruck sozialpoliti-scher Versäumnisse sind und das Enga-gement der Tafelhelfer die sozialen Ein-schnitte lediglich abfedert, ohne die stei-gende Armut nachhaltig zu bekämpfen.Mit der Sozialreportage „Fast ganz un-ten“ (Selke 2008) kam es zu einem Pa-radigmenwechsel in der Wahrnehmungder Tafeln. Der damit ausgelöste Dis-kurs kreist um die von Lorenz (2010:13) auf den Punkt gebrachte Frage, obdie Tafeln eine zeitgemäße Form vonSolidarität zum Ausdruck bringen oderob sie eine private und zivilgesell-schaftlich effiziente Lösung für Proble-me sind, die sozialstaatlich nicht mehrgelöst werden können respektive sollen.

Veränderte Motivstruktur desEhrenamts

Die Kritik am Tafelsystem geht von ei-ner grundsätzlichen Ambivalenz zwischenSozialstaat und Barmherzigkeit aus. Statt

15polis 1/2011

Grenzen der ZivilgesellschaftDie Tafel-Bewegung in Deutschland

von Stefan Selke

Prof. Dr. phil. Stefan Selke lehrt Soziolo-gie an der Hochschule Furtwangen Uni-versity sowie an der Universität Karlsru-he. Daneben ist er als Autor und Publizistzu medien- und gesellschaftskritischenThemen tätig. Nach der Veröffentlichungder ersten soziologisch-analytischen Re-portage über Tafeln mit dem Titel „Fastganz unten” initiierte er das Onlinepor-tal www.tafelforum.de.

Fachbeitrag

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Fachbeitrag

16 polis 1/2011

sichtliche und we-niger offensichtli-che Aspekte ge-trennt behandeltwerden (vgl. Sel-ke 2008: 202ff.).Offensichtlich istetwa die Tatsache,dass die meistenTätigkeiten, diebei Tafeln anfallen(Lebensmittel be-sorgen, sortieren,lagern etc.) nurvom Umfang,nicht aber vomPrinzip her unbe-kannt sind. Für dievielen Helfer/in-nen ist es zudem leicht, sich in einer Be-wegung zu engagieren, die einen derartpositiv besetzten Imagefaktor aufweist.Neben diesen offensichtlichen Gründenfür den Erfolg der Tafeln ist aus sozio-logischer Perspektive ein wesentlicherErfolgsfaktor die scheinbar unangreif-bare Legitimation der Tafeln über eineninstitutionalisierten Rationalitätsmythos(vgl. Selke 2010). Von Rationalitäts-mythen kann man dann sprechen, wennes einen regelhaften Zusammenhangzwischen sozial konstruierten Zielen unddarauf ausgerichteten Mitteln gibt. ImFall der Tafeln besteht das Ziel im Po-stulat der Verbindung einer ökologischenund einer sozialen Idee, d.h. der Um-verteilung überflüssiger Lebensmittelan Bedürftige. Als Mittel wurde dasmeist auf ehrenamtliches Engagementbasierende Freiwilligensystem der Ta-feln etabliert, das seine Legitimitätprimär aus dem „Wegwerftabu“ für Le-bensmittel und der zeitgeistkonformenIdee privat organisierter Wohlfahrt imKontext einer Zivilgesellschaft bezieht.Der Erfolg der Tafeln lässt sich daherprimär als Ergebnis sozialer Er-wünschtheit und Ausdruck einer zeit-gemäßen Chiffre des Sozialen klassifi-zieren, bei dem es um die gesellschaft-liche Konstruktion von Postulatensozialer Erwünschtheit über die Wir-kung bzw. den Erfolg von Tafeln geht.

Das System der privaten Fürsorgeund der Markt der Hilfsbereitschaft inder Form der Tafeln kann seine Legiti-mation und Motivation aus diesem Ra-tionalitätsmythus beziehen. Aufgrund

einer systematischen Darstellung der kri-tischen Dimensionen (vgl. dazu aus-führlich Selke 2009 u. 2010) soll hier ex-emplarisch die Konvergenz zweier Trendsin den Blick genommen werden: der ver-änderten Motivstruktur im Ehrenamt unddes Rationalitätsmythos der „guten Tat“.

Wie zahlreiche empirische Studienzum Ehrenamt und eigene Daten aus ak-tuellen Forschungsprojekten zu Tafelnzeigen, orientieren sich freiwillige Hel-fer zunehmend an selbstwertdienlichenMotiven (Spaß, Sinnstiftung und Gefühl,gebraucht zu werden), an der Idee prag-matischer Sofort-Hilfe sowie einer fle-xiblen Projekthaftigkeit ihres Engage-ments. In den Hintergrund geraten hin-gegen nachhaltige konzeptionelle undsozialpolitische Interventionen. Die Fol-ge dieser (strukturell) veränderten Motiv -lage ist eine Volatilität des Helfens. Denndie bei Tafeln von Freiwilligen geleiste-

te Hilfe ist – trotz aller Professionalisie-rungsmaßnahmen – eben nicht in ver-lässliche (z.B. sozialstaatliche) Struktu-ren eingebunden. Es kommt zu einerVerwechslung zwischen Aktivismus undUrsachenbekämpfung.

Fragt man nach den Gründen für denErfolg der Tafeln, dann müssen offen-

des generalisierbaren Charakters dieserRationalitätsmythen werden alle For-men von Relativierungen, insbesonde-re das Sprechen über Alternativen, weit-gehend ausgeschlossen. Der sozial kon-struierte Rationalitätsmythos wurdetreffend von der ehemaligen Schirm-herrin des Bundesverbandes „DeutscheTafel e.V.“ zusammengefasst: „Tafelnsind ein Erfolgsmodell.“ Die ebenfallsgerne wiederholte Aussage des Bun-desverbandes „Wir versorgen 1 MillionMenschen“ in Verbindung mit der häu-fig zitierten Aussage „Wir möchten amliebsten, dass wir bald überflüssig sind“zeigt, dass sich die Tafelaktiven der Pa-radoxie ihres eigenen Tuns nicht hin-reichend bewusst sind.

Grenzen des Erfolgs von Tafeln –Zur Zukunft des Sozialstaats

Die Tafeln sind als Notlösung erfolg-reich – nicht aber als Lösung für das Ar-mutsproblem in einem reichen Land.Über den Rationalitätsmythos kommtes systematisch zur Instrumentalisierungbürgerschaftlich Engagierter, die denWeg zu einem „Minimalstaat“ (Butter-wegge 2010: 77ff.) vorbereiten. Diesführt gleichzeitig zur Normalisierungstatt zur Skandalisierung von Armut,dem Ausbau einer selbstbezüglichen Hil-feindustrie und der Etablierung vonscheinnormalen sozialen Mikrokosmen(Göring-Eckardt 2010: 151).

Zwar bringen Tafeln prototypisch ei-ne zeitgeistkonforme Form von Solida-

ArmenspeisungWie haben die „Tafeln“ sich vermehrt?

Abbildung 1: Die Entwicklung der Lebens-mitteltafeln in Deutschland – Eine karto -grafische Darstellung

Quelle: Bundesverband Deutsche Tafel e. V.,http://www.tafel.de, Stand: Juni 2008Quelle: ZEIT Magazin, Daten-BV

Abbildung 2. Die Entwicklung der Lebensmitteltafeln in Deutsch-land – Eine Säulendiagrammdarstellung

Quelle: Bundesverband Deutsche Tafel e. V., http://www.tafel.de

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Fachbeitrag

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Abbildung 4: Der Tafel-Versorgungsgrad

Baden-Württemberg

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Entwurf: Timo SedelmeierQuelle: Bundesverband Deutsche Tafel e.V.

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Entwurf: Timo SedelmeierQuelle: Bundesverband Deutsche Tafel e.V., Statistisches Bundesamt

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Abbildung 3: Die Tafel-Dichte

rität zum Ausdruck. Die Privatisierungelementarer Daseinsfürsorge im Systemder Tafeln zeigt jedoch, wie es zur unin-tendierten Übernahme von Verantwort-lichkeiten für die elementare Exis -tenzsicherung kommen kann (Selke2010a). Wenn Autoren wie z. B. Kro-nenberg (2010) vorschlagen, den Bür-gersinn zur Absicherung des Gemein-wohls gar in den Mittelpunkt allerBemühungen zu rücken, dann wird hiereine elementare Grenzverschiebung deut-

lich: Die schleichende Umwertung soli-darischer Praktiken durch zivilgesell-schaftliche Akteure, die, von Rationa-litätsmythen der „guten Tat“ motiviert,an der Etablierung einer „Freiwilligen-Gesellschaft“ mitarbeiten. Es steht zu be-fürchten, dass in dieser Gesellschaft mit-telfristig aus der staatlich garantiertenExistenzsicherung ein auf Willkür undInstabilität beruhendes privates Versor-gungssystem für die Mitbürger am unte-ren Rand der Gesellschaft wird.

Tafeln sind damit das Symptom ei-nes „New Public Managements“ ohneGarantien für die Adressaten der dortengagiert geleisteten Hilfe. Hierdurchverschieben sich die Grenzen zwischensozialstaatlicher Absicherung und pri-vatem Almosenwesen. Die empirischfundierte Dekonstruktion dieser Grenz-verschiebung und ein breiter gesell-schaftlicher Diskurs über die konkretenFolgen dieses gesellschaftlichen Wan-dels stehen allerdings noch aus.

Literatur

Butterwegge, Christoph (2010): Gerech-tigkeit auf dem Rückzug. Vom bism-arckschen Sozialstaat zum postmoder-nen Suppenküchenstaat? In: Selke,Stefan (Hg.): Kritik der Tafeln inDeutschland. Standortbestimmungenzu einem ambivalenten sozialen Phä-nomen, Wiesbaden, S. 73-89

Göring-Eckardt, Katrin (2010): Warum sol-len Tafeln politisch unterstützt wer-den? In: Lorenz, Stephan (Hg.), Tafel-Gesellschaft. Zum neuen Umgang mitÜberfluss und Ausgrenzung, Bielefeld,S. 137-151

Grottian, Peter (2010): Die Arbeitslosig-keit und die Tafeln gleichzeitig ab-schaffen! Eine realistisch-unrealisti-sche Utopie. In: Selke, Stefan (Hg.),

Kritik der Tafeln in Deutschland. Stan-dortbestimmungen zu einem ambiva-lenten sozialen Phänomen, Wiesba-den, S. 309-313

Kronenberg, Volker (2010): Patriotismus2.0. Gemeinwohl und Bürgersinn inder Bundesrepublik Deutschland,München

Lorenz, Stephan (2010) (Hg.): TafelGesell-schaft. Zum neuen Umgang mit Über-fluss und Ausgrenzung, Bielefeld

Molling, Luise (2009): Die Tafeln und derbürgerliche Diskurs aus gouvernemen-talistischer Perspektive. In: Selke, Ste-fan (Hg.), Tafeln in Deutschland. As -pek te einer sozialer Bewegung zwi-schen Nahrungsmittelumverteilungund Armutsintervention, Wiesbaden,S. 157-172

Molling, Luise (2010): Befördete dieneuere Arbeitsmarktpolitik den Erfolg

der Tafeln? In: Lorenz, Stephan (Hg.),TafelGesellschaft. Zum neuen Umgangmit Überfluss und Ausgrenzung, Bie-lefeld, S. 57-68

Selke, Stefan (2008): Fast ganz unten.Wie man in Deutschland durch dieHilfe von Lebensmitteltafeln sattwird, Münster

Selke, Stefan (2009) (Hg.): Tafeln inDeutschland. Aspekte einer sozialenBewegung zwischen Nahrungsmittel-umverteilung und Armutsinterventi-on, Wiesbaden

Selke, Stefan (2010) (Hg.): Kritik der Ta-feln in Deutschland. Standortbestim-mungen zu einem ambivalenten so-zialen Phänomen, Wiesbaden

Selke, Stefan (2010a): Die Existenzsiche-rung wird privatisiert. In: neue caritas.Politik. Praxis. Forschung, Heft 6, S.17-19

w

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„Wie hat sich der Staat Ihrer Meinungnach in den letzten 20 Jahren gewan-delt?“ So lautete die Frage an die auf denfolgenden Seiten abgebildeten Persön-lichkeiten. Ihre Aussagen verdeutlichen,wie unterschiedlich – und mitunter ge-gensätzlich – Wahrnehmung und Wer-tung der Zeitgeschichte ausfallen kön-nen und welche Zugänge es für eine un-terrichtliche Umsetzung des The men fel-des „Staatlichkeit im Wandel“ gebenkann.

Ronald Pofalla, Chefs des Bundeskanz -ler amts und Bundesminister für besonde-re Aufgaben, identifiziert die Wiederver-einigung Deutschlands als die entschei-dende politische Zeitenwende der beidenvergangenen Jahrzehnte. Er lobt die fried-liche „Freiheitsrevolution“ von 1989 undmahnt Zuversicht bei der Bewältigung dergegenwärtigen Aufgaben an.

Heribert Prantl, der seit 1995 das Po-litikressort der Süddeutschen Zeitungverantwortet und für seine Veröffentli-chungen u.a. mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Kurt-Tucholsky-Preis ausgezeichnet wurde, widmet sichdem in den letzten beiden Jahrzehntengewachsenen Demokratieverdruss. Erverweist auf die rückläufige Wahlbetei-ligung, diagnostiziert aber zugleich ei-ne „Entgrenzung“ der Politik, indem erdie Entstehung einer modernen Zivil-und Protestgesellschaft im Zusammen-hang mit den Debatten um „Stuttgart 21“und die „Sarrazin-Thesen“ ausmacht.

Der unlängst zum zweiten Mal mitdem Thyssen-Preis ausgezeichnete „Eli-tenforscher“ Michael Hartmann führt inseinem mit „Elitäre Rekrutierung despolitischen Spitzenpersonals“ über-

schriebenen Statement aus, dass sich diesoziale Rekrutierung der politischen Eli-ten massiv gewandelt habe. War der An-teil der aus Bürger- oder Großbürgertumstammenden Kabinettsmitglieder schonunter der rot-grünen auf ca. 50 Prozentangestiegen, erreichte er in der erstenRegierung Merkel sogar einen Anteilvon zwei Dritteln.

Christoph Butterwegge, Politikwis-senschaftler an der Universität zu Köln,fokussiert auf (s)ein zentrales For-schungsfeld: die Sozialstaatsentwicklung.Seine Feststellung, dass sich der Sozial-versicherungsstaat zum Fürsorge-, Al-mosen- und Suppenkü chen staat gewan-delt habe, stellt in gewisser Weise dasKondensat seiner beiden jüngsten Büchermit den Titeln „Krise und Zukunft desSozialstaates“ sowie „Armut in einem rei-chen Land“ dar.

Der Direktor des Instituts der deut-schen Wirtschaft Köln, Michael Hüther,erkennt die Finanz- und Wirtschaftskri-se als „spontane Unordnung“, die Zwei-fel an dem Koordinationsmechanismusvon Märkten geschürt hat. Er argu men -tiert, dass die Verwerfungen an den in-ternationalen Kapitalmärkten sowohl ei-nem fragwürdigen staatlichen Regelwerkals auch einer (zu) beschränk ten Hand-lungskompetenz der Finanzaufsicht ge-schuldet seien.

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Wie hat sich der Staat in den letzten 20 Jahren gewandelt?Vielfältige Antworten auf eine zentrale politisch-ökonomische Frage

von Tim Engartner

Dr. Tim Engartner ist Akademischer Ratam Lehrstuhl für Wirtschaftswissenschaf-ten und Didaktik der Wirtschaftslehre ander Universität Duisburg-Essen.

Fachbeitrag

Die Wiedervereinigung Deutschlands

„Die Wiedervereinigung Deutschlands ist heute wie vor20 Jahren ein Grund zur Freude. Die Überwindung derTeilung und Konfrontation hat für alle Deutschen Freiheitund Selbstbestimmung gebracht. Das Grundgesetz und dieSoziale Marktwirtschaft, die beiden zentralen Pfeiler un-serer Gesellschaft, haben sich nicht zuletzt beim Zusam-menwachsen der beiden unterschiedlich geprägten TeileDeutschlands in den letzten 20 Jahren bewährt. Heute sindwir reicher an gemeinsamer Geschichte und gemeinsamenErfahrungen. Der Mut der Menschen zur Freiheitsrevolu-tion in Ostdeutschland hat dafür die Türen geöffnet.Deutschland profitiert heute als Wachstumslokomotive in Europa ganz entscheidend vonden tiefgreifenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modernisierungsschüben seitder Wiedervereinigung. Wir dürfen und werden uns auf diesen Erfolgen nicht ausruhen.Die Erfahrungen der letzten 20 Jahre bestärken uns vielmehr, auch die aktuellen Heraus-forderungen, die sich aus der demografischen Entwicklung, aus dem Klimawandel undder Globalisierung ergeben, als Chancen zu begreifen und mit Zuversicht zu gestalten.“

Ronald Pofalla bekleidet seit Oktober 2009 das Amt des Chefs des Bundeskanzleramtsund ist zusätzlich Bundesminister für besondere Aufgaben im Kabinett Merkel II. Von2004 bis 2005 war er stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktionsowie von 2005 bis 2009 Generalsekretär der CDU.

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19polis 1/2011

Fachbeitrag

Bilder des Staates

Wie die Statements in den grau hinter-legten Kästen zeigen, variiert die Wahr-nehmung des Staates immens. Immerhäufiger wird der Staat als eigen willigerLeviathan wahrgenommen, der seineBürger/innen mit übergebührlich hohenSteuern und Sozialabgaben drang saliert,unternehmerische Tätigkeit erschwertoder den Datenschutz zu Gunsten vonGoogle, Facebook und Telekommuni-kationsanbietern aushöhlt.

Das mit dem Fall des „Eisernen Vor-hangs“ eingeläutete Ende der System-konkurrenz sowie die Globalisierungder Waren-, Dienstleistungs- und Kapi-talmärkte veränderten die ökonomischenRahmenbedingungen, die politischeGrundhaltung und schließlich auch dieAkzeptanz der noch immer zuvorderstnationalstaatlich verfassten Wirtschafts-und Sozialsysteme. Mitunter wird voneiner Transformation des keynesiani-schen Staates in einen „schumpeteria-

nischen Leistungsstaat“ (Bob Jessop)gesprochen. Die Öffnung der Märkteund die verschärfte Konkurrenz auf Sei-ten der Unternehmen wie auch auf Sei-ten der Arbeitnehmer/innen haben ins-besondere mit Blick auf die Steuer- undSozialsysteme einen Benchmarking-Pro-zess ausgelöst. Historisch tradierte Merk-male des Steuer- und Sozialsystems –wie etwa dessen paritätische Finanzie-rung durch Arbeitgeber und Arbeitneh-mer – stehen seither zur Disposition.

Seit den 1990er-Jahren wurden die„Pathologien politischer Steuerung“ (FritzScharpf) intensiv diskutiert, so dass sichdie Anschauungen über den Staat vom„Sicherheits- und Vorsorgestaat“ in Rich-tung von zunehmender „Freiheit“ und„Selbstverantwortung“ der Bürger/innenverschoben. Sicht- und spürbarer Aus-druck dieses Wandlungsprozesses ist u.a.der ungebrochene Trend in Richtung Pri-vatisierung: Immer mehr Schwimmbä-der, Krankenhäuser, Seniorenheime undWasser-, Klär- oder Elektrizitätswerkewerden dem Markt überantwortet. Pri-vatisiert werden aber zunehmend auchSchulen, Universitäten, Teilbereiche derArmee sowie Luft- und Raumfahrt-behörden. Dabei begründet man die pro-fitorientierte Ausrichtung der vormals

Demokratie an der Wahlurne?!

„Die Zahl der Leute, welche die Demokratie nur für eine Ki-ste halten, hat abgenommen. Die Kiste ist 90 Zentimeter hoch,35 Zentimeter breit und hat oben einen Deckel mit Schlitz. Al-le paar Jahre, in Deutschland immer an einem Sonntag, kom-men viele Leute zu diesen Kisten. Die Kiste heißt „Urne“, al-so genauso wie das Gefäß auf dem Friedhof, in dem die Aschevon Verstorbenen aufbewahrt wird. Das ist ein sehr irreführenderName, denn die Demokratie wird ja an diesen Wahltagen nichtverbrannt und beerdigt; sie wird, wenn man es pathetisch sa-gen will, an diesen Tagen neu geboren.

Demokratie darf sich nicht allein auf die Wahltage konzentrieren. Demokratie ist eineVeranstaltung, die an jedem Tag stattfindet. Dieses Bewußtsein verändert Staat und De-mokratie. Es ist dies ist ein neues bürgerliches Bewußtsein, das sich allenthalben in Volks-begehren (Schule, Rauchverbot), im Widerstand gegen Großprojekte („Stuttgart 21“) oderauch in der schier entfesselten Zustimmung zu Sarrazin äußert.

Die moderne Zivil- und Protestgesellschaft erhitzt und informiert sich im Internet, dortkonstituiert und organisiert sie sich, dort findet sie Zuspruch, verschafft sie sich Exper-tenwissen. Sie wird diskussionsfähig und streitbar – also politisch. Sie macht aber danndie Erfahrung, dass sie an Grenzen stößt, dass sie über ihre Kreise nicht hinaus dringt. Sietrifft auf die klassisch repräsentative Politik, die ihr wenig Gehör schenkt und ihr keinenZutritt gewährt. Bei den engagierten Bürgern wächst daher ein Zorn, der über die gewohntePolitikerkritik und Parteienverachtung hinausgeht. Andererseits wächst bei den Partei- undRegierungspolitikern der Zynismus, weil sie alles, was die Bürger jetzt kritisieren, längstdurchgesprochen, abgestimmt, genehmigt und erklärt zu haben glauben. Es wird gelingenmüssen, den Zorn und den Zynismus zu mildern.“

Heribert Prantl leitet seit 1995 das Politikressort der Süddeutschen Zeitung. Bevor ersich der Publizistik verschrieb, war er als Richter und Staatsanwalt an verschiedenenbayerischen Amts- und Landgerichten tätig. Für seine Veröffentlichungen wurde ermehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Geschwister-Scholl-Preis, dem Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik und mit dem Erich-Fromm-Preis.

Elitäre Rekrutierung des politischen Spitzenpersonals

„Eine der bemerkenswertesten Veränderungen, die der deut-sche Staat in den letzten zwei Jahrzehnten erlebt hat, be-trifft die soziale Rekrutierung seines politischen Spitzen-personals. Über ein halbes Jahrhundert galt die Regel, dassdie Mitglieder der Bundesregierung zu über 60 Prozent ausden breiten Mittelschichten und der Arbeiterschaft kamenund nur zu einem guten Drittel aus dem Bürgertum. Großbürgerkinder bildeten eine selte-ne Ausnahme. Das hat sich binnen weniger Jahre dramatisch geändert. Stieg der Anteil deraus Bürger- oder Großbürgertum stammenden Kabinettsmitglieder schon unter der rot-grü-nen Bundesregierung auf ca. 50 Prozent an, erreichte er in der ersten Regierung Merkel so-gar einen Anteil von zwei Dritteln, darunter mit de Maiziere, von der Leyen und zu Gut-tenberg auch drei ausgesprochene Großbürgerkinder. Nach der Wahl 2009 veränderte sichdie Gesamtrelation zwar nicht, die Zahl der Arbeiterkinder sank aber von vier auf nur nocheinen, ein historischer Tiefstwert, während sich gleichzeitig das Gewicht der Großbürger-kinder noch einmal deutlich erhöhte. Ihre Zahl blieb mit drei zwar gleich, sie leiten nunaber, und das gab es zuvor auch noch nie, drei der zentralen Ministerien, das des Inneren,das der Verteidigung und das für Arbeit und Soziales.“

Prof. Dr. Michael Hartmann ist Professor für Soziologie an der Technischen UniversitätDarmstadt. In seinen Büchern „Eliten und Macht in Europa. Ein internationaler Ver-gleich“, „Elitesoziologie. Eine Einführung“ und „Der Mythos von den Leistungseliten“dokumentiert er die Ergebnisse seiner langjährigen Forschungstätigkeit. Unlängst wur-de er zum zweiten Mal mit dem Thyssen-Preis für den besten sozialwissenschaftlichenAufsatz ausgezeichnet.

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Fachbeitrag

meist gemeinwirtschaftlich organisiertenBereiche mit der Notwendigkeit, die Ef-fizienz zu steigern, Synergieeffekte zu er-zielen und Organisationsstrukturen zu„verschlanken“.

Vielschichtigkeit der „Sozialen Frage“

Zuletzt haben die Verwerfungen an deninternationalen Kapitalmärkten gezeigt,welche Krisen „entbettete Märkte“ (KarlPolanyi) durch ihre (Dys-)Funktiona-litäten erzeugen können. Die volkswirt-schaftlichen Krisensymptome werdenjedenfalls noch lange Zeit sicht- undspürbar bleiben – in Form anhaltend ho-her Arbeitslosenzahlen, abgeschwäch-ter Wachstumsraten sowie haushalteri-scher Engpässe auf allen gebietskörper-schaftlichen Ebenen. Mit diesen Heraus -forderungen werden sich künftig insbe-sondere die Sozialsysteme konfrontiertsehen. Im Rahmen der Debatte um de-ren „Modernisierungsbedarf“ sehen sichdiejenigen, die an sozialpolitischen Er-rungenschaften festhalten, dem Vorwurfausgesetzt, als rückständige Traditiona-listen einer antiquierten politischenAgenda nachzuhängen. Denn in der Tathat der „Standort Deutschland“ durch

den verschärften internationalen Wett-bewerb aufgrund vergleichsweise hoherArbeitskosten, Sozialstandards und -be-lastungen an Boden verloren.

Die „Soziale Frage“ stellt sich aberheutzutage nicht mehr nur in den „klassi-schen“ Politikbereichen wie der Arbeits-markt- und der Sozialpolitik. Mehr dennje richtet sich das sozialpolitische Inter-esse in einer alternden Gesellschaft wieder unsrigen auf den Gesundheitssektor.Die Frage, wie in einer Gesellschaft Ge-sundheit gefördert und Krankheit versorgtwird, hat sich zu einer vordringlich sozi-alpolitischen entwickelt. Dies zeigt dieDebatte um die „Anatomie des Gesund-heitssystems“, deren Reformierung sichim Spannungsfeld zwischen den Model-len „Bürgerversicherung“ und „Gesund-heitsprämie“ (vormals: „Kopfpauschale“)bewegt. Und auch das Bildungswesenwird zunehmend als ein Gesellschaftsbe-reich verstanden, der dem Bereich der So-zialpolitik zuzurechnen ist. Dabei wird u.a. disku tiert, ob die seit vielen Jahren be-schworene Bildungsoffensive als „All -zweck waffe“ im Kampf gegen Armuttaugt.

Einige der in den Statements lediglichangestoßenen Aspekte lassen sich im Un-terricht gewinnbringend thematisieren,geben sie doch wegweisende Antwortenauf die Frage, wie sich der Staat in denletzten 20 Jahren gewandelt hat.

Vom Wohlfahrts- zum Wohltätigkeitsstaat

„Der gesellschaftliche Umbruch in Ostmitteleuropa sowiedie deutsche Vereinigung bildeten eine historische Zäsurder Staatsentwicklung: Fast scheint es so, als sei dem So-zialstaat nach dem „Sieg über den Staatssozialismus“ derKrieg erklärt worden. Seither wandelt sich der Sozialver-sicherungsstaat zum Fürsorge-, Almosen- und Suppen-küchenstaat. Perspektivisch droht unser Gemeinwesen ineinen Wohlfahrtsmarkt sowie einen Wohltätigkeitsstaat zuzerfallen: Auf dem Wohlfahrtsmarkt kaufen sich Bür-ger/innen, die es sich finanziell leisten können, soziale Sicherheit (z.B. Altersvorsorgedurch Versicherungspolicen der Privatassekuranz). Dagegen stellt der „postmoderne“ So-zialstaat nur noch euphemistisch „Grundsicherung“ genannte Minimalleistungen bereit,die Menschen vor dem Verhungern und Erfrieren bewahren, überlässt sie ansonsten je-doch der Obhut karitativer Organisationen und privater Wohltäter/innen. Die ehrenamtli-che Tätigkeit bei den „Tafeln“, Spenden für wohltätige Zwecke und das Stiftungswesenhaben offenbar gerade deshalb wieder Hochkonjunktur, weil man den Sozialstaat demon-tiert und dafür Ersatzinstitutionen braucht. Soziales, Bildung und Kultur dürfen aber nichtvon der Spendierfreude privater Unternehmen, Mäzene und Sponsoren abhängig werden.“

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zu-letzt sind seine Bücher „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ sowie „Armut in einemreichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird“ erschienen. Darin kriti-siert er den „Um- und Abbau des Sozialstaates“.

wNur in der Krise ist der Staat gefragt

„Die große Finanz- und Wirtschaftskrise, die als spontaneUnordnung grundlegende Zweifel an dem Koordinations-versprechen unserer kollektiven Systeme begründete, hatdamit auch die Struktur der Staatstätigkeit akzentuiert. Zumeinen ist deutlich geworden, dass der starke Staat seineQualität und seine Leistung vor allem durch kluge undsanktionsbewehrte Regeln unter Beweis stellt. Beides warfragwürdig, denn die Finanzmarktkrise offenbarte Lückenin und Fehlsteuerung in gut gemeinten Regelwerken eben-so wie die beschränkte Handlungskompetenz der Finan-zaufsicht. Zum anderen erlebten wir, dass mit dem Kri-senhandeln der Staat seine Funktion als Versicherung ge-gen große und unkalkulierbare Risiken, die weder für den einzelnen noch über Märkteabzusichern sind, effizient erfüllen musste. Das ist gut gelungen. Krisenpolitik gehört –freilich als nur temporäre, gelegentlich zu erfüllende Aufgabe – zu den Staatsfunktionen.Erfolgreiche Krisenpolitik setzt aber vor allem achtsame Regulierungspolitik und stetigeFinanzpolitik in der Normalität voraus. Insofern begründet die Krise insbesondere die Her-ausforderung, in ruhigen Zeiten auf fiskalische Überdehnung zu verzichten und nachhal-tig auf Investitionen zu setzen. Diese Botschaft ist noch nicht bei allen angekommen.“

Prof. Dr. Michael Hüther ist Direktor und Mitglied des Präsidiums des Instituts der deut-schen Wirtschaft Köln. Außerdem ist er Honarprofessor an der European BusinessSchool in Oestrich-Winkel. Darüber hinaus ist er Mitglied im Vorstand der Atlantik-Brücke, im Verwaltungsrat des TÜV Rheinland Berlin Brandenburg Pfalz e.V., im Auf-sichtsrat der Georgsmarienhütte GmbH sowie der Allianz Global Investors und im Kura-torium der Friedrich und Isabel Vogel-Stiftung.

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Befunde zur Alltagswahrnehmung vonStaatlichkeit lassen erahnen, dass diesesich noch aus dem „Goldenen Zeitalterdes Staates“ der 1960er und 1970er Jah-re speisen. Aktuelle Forschungsergeb-nisse – hier vor allem im Rahmen desSFB 597 „Staatlichkeit im Wandel“ ander Universität Bremen – zeigen aller-dings, dass Staatlichkeit sich durch fort-dauernde und komplexe Prozesse derPrivatisierung und/oder Internationali-sierung wandelt (vgl. Genschel & Zangl2008). Aus der Perspektive der Politi-schen Bildung muss der wissenschaft-lich konstatierte Wandel des Staates alsParadigmenwechsel verstanden werden,der es nötig macht, Staatlichkeit diffe-

renzierter als bisher zu betrachten. Ziel-setzung muss es sein, bei LernendenKompetenzen anzubahnen, die es ihnenermöglichen, den „gewandelten und sichstetig wandelnden Staat“ verstehen (Se-hen), beurteilen (Urteilen) und mitge-stalten (Handeln) zu können. Die schu-lische politische Bildung steht hierbeivor der komplexen Herausforderung dasThemenfeld „Staat“ didaktisch neu zurekonstruieren sowie gegebenenfalls be-reits vorhandene Überlegungen in Formvon Lehr- und Lernmaterialien zu über-denken. Hierzu sollen nachfolgend er-ste Hinweise gegeben werden.

Dimensionen von Staatlichkeitund ihr Wandel

Als Bezugspunkt der Analyse des Wan-dels dient der in den OECD-Ländern der1960/70er Jahre vorherrschende demo-kratische Rechts- und Interventionsstaat(im Folgenden DRIS). Dieser war in sei-ner „Blütezeit“ in Bezug auf die Ent-scheidungs- und Organisationsverant-wortung für die Erbringung normativerGüter, wie Sicherheit, Freiheit oder Mit-bestimmung, nicht nur letzt-, sondernnahezu alleinverantwortlich. Diese Al-leinverantwortlichkeit scheint dem Staat– bei Betrachtung der letzten Dekadenseiner Entwicklung – zusehends abhan-den zu kommen. Genauer beschriebenwerden kann der sich vollziehendeWandlungsprozess des DRIS entlang vonvier Dimensionen von Staatlichkeit (Res-sourcen, Recht, Legitimation, Interven-tion) und der darin zu erbringenden nor-mativen Güter (Sicherheit, rechtlicheGleichheit und Freiheit, demokratischerSelbstbestimmung, soziale Sicherungund Ausgleich) sowie durch die Be-trachtung zweier Entwicklungsebenen

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Wandel des Staates als Herausforderung für die Didaktik der Politischen Bildung

Von Andreas Klee, Luisa Lemme, Andreas Lutter

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Dr. Andreas Klee ist Professor für Poli-tikwissenschaft und ihre Didaktik undLeiter der Arbeitsgruppe „Staatswandelund Politische Bildung“ im Rahmen desSonderforschungsbereichs „Staatlichkeitim Wandel“ an der Universität Bremen.

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moderner Staatlichkeit: räumlich (na-tional-international) und modal (staat-lich-private) (vgl. Leibfried et al. 2004:6ff.; Genschel, Leibfried & Zangl 2006:4f.).

Die Analyse staatlichen Wandels ent-lang dieser Parameter orientiert sich we-sentlich an drei Leitthesen (vgl. Gen-schel, Leibfried und Zangl 2006: 7ff.),die zwischenzeitlich durch erste Ergeb-nisse geschärft werden konnten (vgl.SFB 597 2009): Die Verlagerungstheseging von der Annahme aus, dass sich dieVerantwortung des DRIS gegenüber derErbringung normativer Güter schritt-weise zu Gunsten internationaler undprivater Akteure verschiebt. Hier wurdefestgestellt, dass sich dieser Wandel nicht,wie ursprünglich erwartet, in erster Li-nie als Verlagerung von Verantwortungaus dem Staat heraus in neue interna-tionale und/oder private Strukturen jen-seits des Staates, sondern als Anlagerungneuer Strukturen um den Staat herumvollzieht. Der Staat bleibt für die Er-bringung normativer Güter zentral undscheint dabei auch vorerst unersetzlich.

Im Rahmen der Korridorthese wur-de angenommen, dass sich der jeweili-ge politische Gestaltungsspielraum derStaaten verengt. Diese Konvergenzpro-zesse resultieren aus Privatisierung undInternationalisierung, die zur Erbringungder normativen Güter in den OECD-Staaten gleichermaßen erfolgen. Die Er-gebnisse hierzu divergieren. Auf der mo-dalen Achse kommt es zu der erwarte-ten Annährung, gleichwohl aber nichtauf der räumlichen Achse (vgl. SFB 5972009). D. h. die Verantwortungsvertei-lung zwischen staatlichen und privatenAkteuren ist bezüglich der Erbringungnormativer Güter im Staatenvergleichangenähert, bezüglich der Verteilungzwischen nationalen und internationa-len Akteuren kam es jedoch zur gegen-läufigen Entwicklung.

Schließlich ging die Zerfaserungs -these davon aus, dass die Entwicklun-gen innerhalb der vier verschiedenen Di-mensionen weder gleichförmig nochgleichgerichtet voranschreitet. DieseThese konnte belegt werden. Der DRISzerfasert, aber er bleibt dennoch zentral:„Um den DRIS herum haben sich seitden 1970er Jahren zusätzliche, teils kom-plementäre, teils konkurrierende nicht-staatliche Strukturen angelagert, in de-

nen Verantwortung für die Erbringungnormativer Güter übernommen wird“(SFB 597 2009). Wenn auch Entschei-dungs- und Organisationsverantwortungnicht mehr allein beim Staat liegen, blei-ben sie dennoch an ihn gekoppelt. DieLetztverantwortung liegt weiter beimDRIS.

Aus politikdidaktischer Perspektivemuss der fachlich konstatierte Wandelvon Staatlichkeit als einschneidende Ent-wicklung ernstgenommen werden. DasKernkonzept Staatlichkeit leistet einenBeitrag für die Erklärungs- und Refle-xionsfähigkeit im gesellschaftlich-poli-tischen Bereich (vgl. Lange 2008: 251).Reflektierte Anspruchs- und Loyalitäts-vorstellungen über die Rolle und denWandel von Staatlichkeit müssen als ei-ne Voraussetzung für die politische Ori-entierung und Teilhabe angesehen wer-den. Um diesem Bildungsauftrag di-daktisch und methodisch gerecht zuwerden, wird im Folgenden die Erhe-bung der im Alltag vorhanden Vorstel-lungsbilder von Lernenden (und in ei-nem weiteren Schritt auch der Lehren-den) zum Gegenstand „Staatlichkeit“ alsnotwendig angenommen und als Aus-gangspunkt der didaktischen Struktu-rierung (Werkstatt) dieses Themenfel-des etabliert.

Hinweise zu politischen Vorstel-lungsbildern von Staatlichkeit

Erste Annahmen zu politischen Vorstel-lungsbildern von Staatlichkeit lassen sichUntersuchungen entnehmen, die unteranderem die Erwartungen von Lernen-den an den Staat und das Vertrauen vonJugendlichen in staatliche Institutionenabbilden. So stellt etwa die von der In-ternational Association for the Evalua-tion of Educational Achievement (IEA)1999 durchgeführte Civic Education Stu-dy (CES) diesbezüglich fest, dass Auf-gaben, wie die Bereitstellung von Bil-dungseinrichtungen, die Reduzierungvon Einkommensungleichheiten und dieKontrolle über Preisbildung eindeutigim Verantwortungsbereich des Staatesverortet werden (vgl. Torney-Purta u.a.2001: 70). Diese „verantwortungsüber-tragende Rollenzuschreibung“ an denStaat wird durch Ergebnisse der Shell-Jugendstudien von 2006 und 2010 be-

stätigt. Diese dokumentieren zudem ei-ne Differenzierung hinsichtlich der Be-wertung einzelner staatlicher Akteure.So ist „das Vertrauen gegenüber unab-hängigen staatlichen Institutionen, wieetwa Polizei, Gericht oder der Bundes-wehr, […] bei Jugendlichen überdurch-schnittlich ausgeprägt. Der sichtbar wer-dende Vertrauensverlust richtet sich viel-mehr an die Parteienpolitik und damitnatürlich auch anderen Repräsentanten“(Schneekloth 2010: 142). Diese „hoheErwartungshaltung vs. niedrige Ver-trauenswürdigkeit – Konstellation“ deu-tet insgesamt auf mehrdeutige und zuTeilen brüchige Vorstellungsbilder hin(vgl. hierzu auch Weißeno u.a. 2010: 96).Eine genauere Bestimmung dieses Ef-fekts steht bislang allerdings noch aus.Diese könnte mit folgenden Thesen an-gestrebt werden.

Die Polarisierungsthese nimmt an,dass die Lernenden ganzheitliche konsi-stente Vorstellungen zu Staatlichkeit ent-wickeln. Sie untergliedert sich in zweiUnterthesen. Die Monopolisierungsthe-se nimmt diesbezüglich an, dass der Staatdie Institution darstellt und darstellen soll-te, die über die alleinige Verantwortungverfügt. Demgegenüber steht die Mar-ginalisierungsthese, die davon ausgeht,dass Schüler veränderte Anspruchs- undLoyalitätsvorstellungen entwickelt ha-ben, die privaten Akteure oder soziale Be-wegungen zunehmend „politisieren“ unddadurch staatliche Herrschaft als rand-ständig erachten. Diese angenommenenVorstellungsbilder verleiten zu unter-komplexen Zuschreibungen von Hand-lungsmöglichkeiten und irrealen Erwar-tungshaltungen an staatliche Akteure undInstitutionen. Sie lassen eine differen-zierte Wahrnehmung moderner Staat-lichkeit vermissen und tendieren zur Bil-dung von Voraus- oder Vorurteilen.

Die Fragmentierungsthese liegt querzu den zuvor entwickelten Hypothesen.Sie nimmt an, dass Vorstellungen vonStaatlichkeit bereichsspezifisch ausdif-ferenziert sein können. Dadurch entste-hen brüchige Vorstellungsbilder, die so-wohl monopolisierende als auch mar-ginalisierende Staatszuschreibungenbeinhalten. Beide Pole bleiben als ge-genläufige Erklärungskonzepte neben-einander bestehen und beeinträchtigendas Verstehen und Beurteilen von Staat-lichkeit.

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Didaktische Werkstatt

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Politikdidaktische (Entwicklungs-)Aufgaben

Die zuvor dargestellten Ergebnisse undAnnahmen haben Konsequenzen für dieDidaktik der Politischen Bildung. Wasdie erworbenen Erkenntnisse zur Wand-lung des Staats für politisches Lehrenund Lernen bedeutet, bildet allerdingsein Desiderat. Die diesbezüglich anste-henden Aufgaben sind

• die Anregung einer Theoriedebatteüber die didaktische und methodischeRelevanz des Phänomens „Staats-wandels“,

• die Entwicklung und Erprobung vonForschungsmethoden zur Diagnosevon lernrelevanten Vorstellungsbil-dern im Kontext „Staatswandel“,

• die Evaluation von bestehenden Bil-dungsmaterialien im Kontext der Be-funde zum „Staatswandel“,

• die Entwicklung von Bildungsmate-rialien und Bildungsangeboten imLern-Kontext „Staatswandel“.

Werkstatt: Die Planung vonStaatlichkeit im Wandel als Lern-Kontext

Nachfolgend soll exemplarisch illustriertwerden, welche Konsequenzen aus demzuvor Aufgezeigten für die unterrichtli-che Strukturierung des Gegenstandsbe-reichs „Staat“ entstehen könnten.

Ausgangspunkt dieser vorläufigenÜberlegungen bilden die entwickeltenhypothetischen Vorstellungsbilder, dienachfolgend als exemplarischer Aus-gangspunkt für die Entwicklung von Pla-nungsfragen für den Politikunterricht an-genommen werden. Im Rahmen des Vor-stellungsbilds „Monopolisierung“ könn -ten nachfolgende Alltagskonzepte an-genommen werden:– Der Staat besitzt das Herrschafts-Mo-

nopol.– Der Staat ist der zentrale Akteur beim

Herstellen von persönlicher und so-zialer Sicherheit.

– Der Staat ist der zentrale Akteur zurFörderung einer positiven wirt-schaftlichen Entwicklung.

Hieran anknüpfend erfolgt die Struktu-rierung der wissenschaftlichen Erkennt-

nisse aus der Perspektive der Vermittlung.Ziel dieser Analyse ist es, den Gegen-standsbereich so zu strukturieren, dassdie vorliegenden fachlichen Aussagenpointiert dargestellt werden können unddie wesentlichen Inhalte erhalten bleiben.Im Hinblick auf den Lern-Kontext „Staat-lichkeit“ tritt wie zuvor aufgezeigt hier-bei vor allem die Figur des Wandels inden Vordergrund. Exemplarische lernre-levante Fachkonzepte könnten sein:

– Der Staat ist einer von vielen Akteu-ren, die Herrschaft ausüben.

– Nicht-staatliche Akteure gewinnen anEinfluss.

– Die Internationalisierung und Priva-tisierung von Herrschaft nimmt zu.

Aus der Zusammenschau der (ange-nommenen) alltäglichen und fachlichenPerspektiven auf Staatlichkeit kristalli-siert sich die didaktische Unterrichtsfi-gur der Dissonanz heraus. Die Vermitt-lung zwischen den Fachthesen und hy-pothetischen Vorstellungsbilder desAlltags wird daher als zentrale Aufgabebei der Strukturierung des Unterrichtsangenommen. Damit ist die Zielsetzungverbunden, didaktische und methodischeAnsatzpunkte für die Didaktisierung derrelevanten fachlichen Erkenntnisse undalltagsweltlichen Zuschreibungen zu

identifizieren. Geleitet wird dieses Vor-gehen durch die nachfolgend darge-stellten Planungsfragen:

• Welche Korrespondenzen zwischenfachlichen Erkenntnissen und le-bensweltlichen Vorstellungen könnenaus der Perspektive der Vermittlungidentifiziert werden?

• Durch welche Spezifika kann das Ver-hältnis von Vorstellungen und poli-tikwissenschaftlichen Erklärungs-konzepten im Kontext Staatlichkeitcharakterisiert werden?

• Können bereichsspezifische Ge-meinsamkeiten und Begrenztheitenim Verhältnis von Vorstellungen undfachlichen Erkenntnissen herausge-arbeitet werden?

• Welche förderlichen und hinderlichenVorstellungen im Hinblick auf dieVermittlung von Staatlichkeit könnendabei expliziert werden?

Die vorherigen Planungsschritte mündenin der Frage nach der geeigneten Gestal-tung einer Lernumgebung. Zielsetzungist es dabei, die vorhandenen Vorstellun-gen transparent zu machen und ihre Re-levanz für das Verstehen (Sehen), Beur-teilen (Urteilen) und Mitgestalten (Han-deln) auszudeuten (s.o.). Bezüglich derIdentifikation geeigneter Strategien für

Luisa Lemme ist wissenschaftliche Mitar-beiterin des Sonderforschungsbereichs„Staatlichkeit im Wandel“ an der Univer-sität Bremen und Mitglied der Arbeits-gruppe „Staatswandel und Politische Bil-dung“.

Dr. Andreas Lutter ist Akademischer Ratfür Politikwissenschaft und ihre Didaktikund Mitglied der Arbeitsgruppe „Staats-wandel und Politische Bildung“ im Rah-men des Sonderforschungsbereichs„Staat lichkeit im Wandel“ an der Univer-sität Bremen.

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Didaktische Werkstatt

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eine Förderung des avisierten Lernerfolgswerden hier Conceptual Change Theori-en vorgeschlagen (vgl. Nussbaum & No-vick: 1982), die zu handlungsleitendenFragen umgeformt werden können:

• Welche Unterrichtsmaterialien und -methoden ermöglichen es, Eigen-heiten und Unterschiede zwischenfachlichen und alltäglichen Vorstel-lungsbereichen zu kontrastieren?

• Welche Unterrichtsmaterialien und -methoden können Alltagsvorstel-lungen zu Tage fördern und darin vor-handene Gemeinsamkeiten zwischenfachlichen Vorstellungen und Schüler-vorstellungen als Brücken zum Ver-ständnis nutzen?

• Welche Unterrichtsmaterialien und -methoden können Widersprüche zwi-schen lebensweltlichen und wissen-schaftlichen Vorstellungen in größe-ren Zusammenhängen auflösen?

• Welche Unterrichtsmaterialien und -methoden ermöglichen es Schülern,

ihre alltagsweltlichen Vorstellungenim Hinblick auf deren Relevanz fürdie Wahrnehmung von Staatlichkeitzu reflektieren.

Literatur

Genschel, Philipp/Zangl, Bernhard (2008)Transformations of the State – FromMonopolist to Manager of PoliticalAuthority, TranState Working PapersNr. 76, Bremen.

Genschel, Philipp/Zangl, Bernhard (2007)Die Zerfaserung von Staatlichkeit unddie Zentralität des Staates. In: Aus Po-litik und Zeitgeschichte 20-21/2007,10-16.

Lange, Dirk (2008) Kernkonzepte des Bür-gerbewusstseins – Grundzüge einerLerntheorie derpolitischen Bildung. In:Georg Weißeno (Hg.) Politikkompe-tenz – was Unterricht leisten kann,Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwis-senschaften, 245-258.

Leibfried, Stephan/Zürn, Michael (2006)Transformation des Staates, Frank-furt/M.: Suhrkamp Verlag.

Nussbaum, Joseph/Novick, Shimson(1982). Alternative frameworks, con-

ceptual conflict, and accommodation:Toward a principled teaching strategy.In: Instructional Science, 11, 183-200.

Schneekloth, Ulrich (2010) Jugend undPolitik: Aktuelle Entwicklungstrendsund Perspektiven. In: Shell Deutsch-land Holding (Hg.) Jugend 2010,Frankfurt/M.: Fischer Verlag.

Sfb 597 „Staatlichkeit im Wandel“ (2009)Der Wandel von Staatlichkeit – ersteErgebnisse Abrufbar unter:http://www.sfb597.uni-bremen.de/pa-ges/forForprogrammErgebnisse.php?SPRACHE=de (Zugriff: 08.01.2001).

Shell Deutschland Holding (Hg.) Jugend2010, Frankfurt/M.: Fischer Verlag.

Shell Deutschland Holding (Hg.) Jugend2006 : eine pragmatische Generationunter Druck , Frankfurt/M.: FischerVerlag.

Torney-Purta, Judith/Lehmann, Rainer/Oswald, Hans/Schulz, Wolfram (2001)Citizenship and Education in Twenty-Eight Countries: Civic Knowledge andEngagement at Age Fourteen, Amster-dam: IEA.

Weißeno, Georg/ Detjen, Joachim/Juchler,Ingo/Massing, Peter/Richter, Dagmar(2010) Konzepte der Politik. Ein Kom-petenzmodell, Schwalbach/Ts.: Wo-chenschau Verlag.

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Das lange Ringen um den Erhalt unddie organisatorische Zuordnung derLandeszentrale für Politische Bil-dung (LZPB) in Schleswig-Holsteinwurde im Dezember 2010 entschie-den. Das Parlament hat einstimmigeine Neuregelung beschlossen, dieam 1. Januar 2011 in Kraft getretenist: Die LZPB bleibt als Einrichtungerhalten, sie wird aber personell ver-kleinert, erhält eine neue Leitungund soll ihr Aufgabenprofil überar-beiten.

Institutionell wird die Landes-zentrale dem Landtag zugeordnet.Die Leitungsstelle, die seit langerZeit unbesetzt war, wird eingespart.Sie wird von der Leiterin des Refe-rats Öffentlichkeitsarbeit des Land-tags, Annette Wiese-Krukowska, inPersonalunion wahrgenommen.

Die LZPB bleibt aber unabhän-gig und behält eigene Mittel und Stel-len – allerdings in reduziertem Umfang.Ein Kuratorium unter dem Vorsitz desLandtagspräsidenten, dem Vertreter/in-nen aller Fraktionen und der Bildungs-träger angehören, wird die Arbeit derLZPB lenken und überwachen. Inhalt-lich wird sich die LZPB darauf konzen-trieren, politische Bildungsarbeit inSchleswig-Holstein zu vernetzen, Bil-dungsangebote zu koordinieren und aufaktuelle Problemfelder zu fokussieren.Eine wesentliche Rolle wird dabei eineverstärkte Internetpräsenz spielen. Stu-dienreisen und Bücherverkauf werdennicht im bisherigen Umfang weiterge-führt werden können.

Der Beschluss des Landtags beendetein lange andauerndes Ringen um dieZukunft der LZPB.

Zeitweilig war die Existenz der LZ-PB in Frage gestellt. Landesrechnungs-hof und Bildungspolitiker hatten die Ef-fektivität der LZPB in ihrer bisherigen

Arbeitsweise in Frage gestellt. Der Lan-desverband der DVPB hatte sich stetsöffentlich und in vielen Gesprächen mitder Landesregierung und Abgeordnetenaller Parteien für den Erhalt einer unab-hängigen und arbeitsfähigen LZPB ein-gesetzt.

Die personellen Einsparungen bei derLandeszentrale sind schmerzhaft undsehr bedauerlich; ihre Unabhängigkeitscheint uns durch die Zuordnung zumLandtag jedoch nicht gefährdet.

Wir begrüßen den Erhalt der Lan-deszentrale und erwarten weiterhin ei-ne fruchtbare Zusammenarbeit.

Prof. Klaus-Peter Kruber,Landesvorsitzender

Schleswig-Holstein der DVPB

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Verbands-

politische

Rundschau

Analysen Positionen InformationenDiskussionen

zur Arbeit der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung

polis 1/2011

Schleswig-Holstein

Neuregelung mit Überraschungen!

Entscheidungen zur Landeszentrale für Politische Bildung Schleswig-Holstein

Ernüchterung:

Annette Wiese-Krukowska, Referatsleiterin fürÖffentlichkeitsarbeit des Landtages, in Perso-nalunion neue Leiterin der Landeszentrale

Foto: Privat

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27polis 1/2011

· Informationen · Planungen · Aktionen · Berichte ·

Bayern

www.dvpb-bayern.de!) als beson-ders skandalös empfunden werden.

2. Mitgliederwerbung inder zweiten Phase derLehrer/innenausbildung

Vorstandsmitglied Studien direk torBernhard Hof ist mit einer Ideezur Mitgliederwerbung in derzweiten Phase der LehrerIn nen -ausbildung in die Offensive ge -gan gen. Für Referendare soll inKooperation mit der Akademie fürPolitische Bildung Tutzing einFortbildungsangebot ent ste hen,mit dem der Landesverband Kon -takt zu Junglehrinnen und -leh rernaufnimmt. Bei den baye rischenSeminarlehrern gebe es nach Aus -kunft von Bernhard Hof eine posi-tive Resonanz auf diese Idee. Des -halb wurden auf der Sitzung deserweiterten Vor stands, die am 21.Januar in Tut zing stattfand, ersteorganisatorische und kon zeptio -nelle Vor be reitungen besprochen.Weil für diese Offensive auch dieAt trak tivität des Standorts Tutzingge nutzt werden soll, will sich Dr.Schröder mit AkademiedirektorProf. Oberreuter ins Benehmensetzen, um einen passenden Ter -min zu finden.

Dr. Rappenglück wird die kon-zeptionelle Betreu ung der Fort bil -dung übernehmen. Dabei wurdevorgeschlagen, den Hallenser Po -litik di daktiker Prof. Andreas Pet rikfür die Vor stel lung seines „Dorf -grün dungs projekts“ zu gewinnen.

PD Dr. Armin Scherb,Landesverbandsvorsitzender

Bayern

1. Verbindlichkeit derAbitur prüfung fürSozialkunde musserhalten bleiben!

Der Bayerische Landesverbandhat sich mit einem Antrag auf Er -hal tung der Abiturpflicht für So -zial kunde an das Kultusminis te -rium gewandt. Als nicht hin nehm -bar em pfunden wird die der zeitigeRegelung, wonach im Kombi na -tions fach Geschichte/ So zialkundebei der Abiturprü fung einseitig dasFach Sozial kun de abgewählt wer-den kann.

Die Aussicht, dass das FachSozialkunde abgewählt werdenkann, entwertet den Unterricht imFach bereits während des 11. und12. Schuljahrs. Zahlreiche Schü lerspekulieren darauf, dass sie dasFach ohnehin abwählen werden.Sie geben sich daher im Un terrichtund bei den Prüfungen im FachSozialkunde nur wenig Mühe.

Da die Schulaufgaben imKom binationsfach Geschichte/So zialkunde gemeinsam gehaltenund die Gesamtnoten der beidenFächer anteilig berechnet werden,kalkulieren viele Schüler damit,dass sie eventuelle schlechte No -ten im Fach Sozialkunde durchbessere Noten im Fach Ge schichtekompensieren können. In einerAbiturprüfung hat das ab gelegteFach Sozialkunde für sie dann oh-nehin keine Bedeu tung mehr.

Diese rechtliche Diskrimi nie -rung des Faches Sozialkunde mussangesichts der vor Kurzem vorge-legten desaströsen Befunde zurLage der Politischen Bildung inBayern (Vgl. ausführlich unter

Verband

1. Politik(er)ferne Jugendoder jugendfernePolitik(er)? Kooperation mit demBrandenburgischen Landtagerfolgreich fortgesetzt

Mehr als 80 Teilnehmerinnen undTeilnehmer aus den Bereichen derschulischen und außerschulischenPolitischen Bildung beteiligtensich am 15. November 2010 an derTagung „Politik(er) ferne Jugendoder jugendferne Politik(er)?“, zuder der DVPB-LandesverbandBrandenburg in Kooperation mitdem Branden burgischen Landtagnach Pots dam eingeladen hatte.

Bereits die musikalische Er öff -nung durch die Rapper von High -tek Music (www.hightek-music.de), die Kostproben aus ihrem ers -ten Album „Falscher Stolz“ präsen-tierten, zeigte auf eindruckvollerWeise das gesellschaftliche En ga -gement junger Branden bur ger. Mitselbst arrangierten Songs, die sichvor allem durch an spruchs volle ge -sell schafts kritische Texte auszeich -nen, verdeutlichten die jungen Mu -siker, die das Be rufliche Gym na si -um des Georg-Mend heim-Ober stu -fenzentrums in Ora nienburg besu-chen, ihr besonders ausgeprägteszivilgesell schaft li ches Engage -ment. Mit ihren gelungenen Kom -po sitionen setzt sich Hightek Mu -sic nicht nur für den Ausbau demo-kratischer Struk turen ein, sondernunter stützt auch nachhaltig mit ih-rer Musik die Aktivi tä ten ihresOber stufen zentrums als „Schuleoh ne Rassis mus – Schule mitCoura ge“.

Nach den Grußworten derLand tagsvizepräsidentin GeritGro ße und von Manfred Walhornvom Ministerium für Bildung, Ju -gend und Sport eröffnete derDVPB-Landesvorsitzende DieterStarke die Tagung.

Bereits das Im pulsreferat „Ju -gend in Bran den burg 2010“ vonDietmar Sturz be cher vom Institutfür angewandte Familien-, Kind -heits- und Ju gend forschung (IFK)e.V. regte zu kontroversen Wort -mel dungen an. Be son ders die zahl-reichen jungen Teil nehmer/innenzeigten auch wäh rend der Diskus -sionsrunde mit den bildungspoliti-schen Spre che r/innen der Land -tagsfraktionen sehr deutlich, dassvon Politik ver drossenheit jungerMenschen in Brandenburg keineRede sein kann. Obwohl sich nur

wenige junge Brandenburgerinnenund Brandenburger an politischePar teien binden wollen, sehen sieoptimistisch in die Zukunft undlas sen ein hohes zivilgesell schaft -liches Engagement erkennen.

Nach der Mittagspause suchtenJugendliche, Politiker/innen undpolitische Bildner/innen in drei pa -rallelen Workshops ge meinsamnach Möglichkeiten, wie das Ver -hältnis von Jugend und Politik ver-bessert werden kann. In einerIdeen werkstatt zeigten die Teilneh -mer/innen Wege auf, wie schuli -sche politi sche Bildung politischesInteresse und politische Betei li -gung för dern kann. Möglichkeitender außerschulischen politischenBildung thematisierte der zweiteWorkshop und untersuchte Pro jek -te der Demokratiepädagogik undder Beteiligung von Jugend lichenin Schule und Kommune (Klassen -rat, Service-Learning u.a.). DenKern des dritten Work shops bilde-te eine Gesprächs run de mit Vertre -ter/innen des Lan des schülerrates,Mitgliedern der Jugendverbändeder Parteien und jungen Landtags -abgeordneten zur Frage „Was be -wegt junge Leute, sich politischund/oder bürger schaftlich zu enga-gieren?“

Die Ergebnisse der Work shopswurden am Ende der Ta gung imPlenum diskutiert und inzwischenden bildungs po li ti schen Spreche -rinnen und Spre chern der Land -tags fraktionen als Anregungen zuVerfügung ge stellt.

2. Neuer Landesvorstand

Im Anschluss an die Tagung imLandtag fand eine Mitglieder ver -sammlung des DVPB-Landes -verbandes Brandenburg statt.Diese wählte folgenden neuenLandesvorstand:Dieter Starke (1. Vorsitzender) /Dr. Rosemarie Naumann (2. Vor -sitzende)/Michael Fardun (Schatz -meister)/Dr. Martina Panke (Bei -sit zerin)/Frauke Schmidt (Beisit ze -rin)/Heidelind Uhlig (Beisitzerin)

In seiner konstituierenden Sit zunghat sich der Landesvorstand auf er-ste Schwerpunkte seiner künftigenArbeit verständigt:▪ Mitarbeit an der Überar bei tung

des Rahmenlehrplans Poli ti -sche Bildung der Se kun dar -stufe II/gymnasiale Ober stufe(Anpassung der gültigen Rah -

Brandenburg

darstufen I und II“ im ers tenHalbjahr 2011 in Zusam men -arbeit mit dem LISUM Berlin-Brandenburg

▪ Teilnahme an einer Anhörungder Enquete-Kommission desLandtages „Aufarbeitung derGeschichte und Bewältigungder Folgen der SED-Diktaturund des Übergangs in einen de-mokratischen Rechtsstaat imLand Brandenburg“ zum The -ma „Untersuchung der Inhaltedes Schulunterrichts zur DDR-Geschichte und zur Geschichteder Deutschen Einheit bzw. zurUnterrichts praxis“

Dieter Starke

menlehrpläne im Hinblick aufdie neue Zeitstruktur)

▪ Beteiligung an der Tagung„Oberstufenzentren für De -mokratie, Vielfalt und Respekt– Prävention von Rechts ex tre -mismus und Rechts po pu lis musin der Beruflichen Bildung inBerlin und Bran denburg“ inKo operation mit dem LISUMBerlin-Branden burg und derRegionalen Ar beitsstelle fürBildung, Inte gration und De -mokratie (RAA) e.V.

▪ Durchführung einer Fort bil -dungsveranstaltung zum The -ma „Interaktive Smartboards“im Politikunterricht der Se kun -

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Verband

polis 1/2011

Nordrhein-Westfalen

1.Bundeswehr in die Schule ... oder?

Vorstandsmitglieder desDVPB-Landesverbandes NRWals Sachverständige im Rah-men einer öffentlichenAnhörung des Ausschussesfür Schule und Weiterbildungam 12.01.2011 im Landtag NRW

Hintergrund:Das Ministerium für Schule undWeiterbildung (MSW) des Lan -des Nordrhein-Westfalen hat imOktober 2008 eine Kooperations -vereinbarung mit der zuständigenWehrbereichsverwaltung II derBundeswehr abgeschlossen.

Folgende Hauptaspekte wer -den in dieser Vereinbarung alsZiele formuliert:

1. Intensivierung der Zusam -men arbeit im Rahmen der Po -litischen Bildung im Bereichder Sicherheitspolitik

2. Einbindung von Jugend offi -zie ren in die Aus- und Fortbil -dung von Referendaren undLehrkräften

3. Teilnahme von Lehrern undBediensteten der Schulver -wal tung an Seminaren derBundeswehr zur Sicher heits -politik und Besuch von Ein -richtungen

4. Veröffentlichung von Bil -dungs angeboten der Bundes -wehr in Onlinemedien desMSW bzw. der Bezirks-Re -gie rungen

5. regelmäßige Gesprächs kon -takte

6. jährliches Berichtswesen derJugendoffiziere ans dasMinisterium.

Die Fraktion DIE LINKE hatteim September 2010 einen Antrageingebracht, das Kooperationsab-kommen des MSW mit der Wehr -bereichskommando II aufzukün-digen. Begründung:

„Die Kooperationsvereinbarungzwischen Schulministerium undBundeswehr räumt der Bundes -wehr vielfältige Möglichkeitenein im Unterricht und in der Aus-und Fortbildung von Lehrkräften.

Anderen Organisationen, diesich mit sicherheitspolitischenoder friedenspädagogischenKon zepten beschäftigen, stehendiese Möglichkeit nicht frei.

Die kostenfreie Bewerbungvon Fortbildungen der Bundes -wehr oder anderer Bildungs an -gebote der Bundeswehr legt denSchluss nahe, dass MinisterinSommer während ihrer Amtszeitdie Lehrkräfte insbesondere aufAngebote der Bundeswehr, aberweniger auf Angebote andererTräger hinweisen wollte.“

(Drucksache 15/131)

Verfahren:Der zuständige Ausschuss – A 15Schule und Weiterbildung – hatzu einer öffentlichen AnhörungSachverständige (u.a. Vertreterder DVPB-NRW e.V., GEW-NRW, DFG-VK, Bundeswehr -vertreter, Ex-General, AktionWeißes Friedensband e.V. u.a.)eingeladen und vorab um die Be -antwortung von Fragen gebeten.

(Frageliste und Stellung nah -men unter: http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/GB_I/I.1/Ausschuesse/A15/Anhoerungen_Ausschuss_fuer_Schule_und_Weiterbildung.jsp (Stand: 3.2.2011).

Die Erläuterung der Grundpo -si tion der DVPB-NRW e.V. –Rück griff auf eine Stellungnahmeaus dem Jahre 2009 zum Ko ope -rationsabkommens und aktuellePositionsbeschreibung aufgrundder Frageliste des Ausschusses –wurde von den Vorstands mit glie -dern Ulrich Krüger (Vorsitzen -der), Helmut A. Bieber (Ge -schäfts füh rung) und Prof. Dr.Bettina Zur strassen vorgetragen.Die DVPB-NRW e.V. hat in ihrerZeitschrift „Politisches Lernen“und den fach internen E-Mail brie -fen dar über berichtet.

Neben der Beantwortung der13 Vorab-Fragen vertraten dieEx perten der DVPB in den Ge -sprächsrunden jene Grundforde -rungen, die der Landesverbandschon 2009 dem MSW mitgeteilthatte,

„dass nicht nur der Bundes wehrein gewichtigen Stellenwert bei In -formation und Darstellung sicher-heits- und friedens poli ti scher Fra -gestellungen in Schule und Unter -richt zukomme. Ebenso sei Ver tre -tern von Friedensini tia tiven undanderen zivilen Orga ni sationenGe legenheit zu geben, zu Fragender Kriegs- und Kon flikt verhütungin Schule und Un ter richt zu in for -mieren und Stel lung zu beziehen.Dies sei alleine schon wegen desNeu tra li täts gebotes („Beu tels ba -cher Konsens“) geboten.

Neben der verfassungs mä ßi -gen Stellung der Bundeswehr undihrer Bündnisverpflichtungenkönne und solle das Grundrechtder Kriegdienstverweigerungnach Art. 4.3 GG und in diesemZusammenhang der Zivildienstals Alternative zum Wehrdienst inSchule und Unterricht zur Spra -che kommen. Auch dies sei fürdie Politische Bildung alleineschon wegen des Neutralitäts ge -botes unabdingbar.“

Die DVPB-NRW vertrat fernerdie Forderung an die Mitgliederdes Ausschusses, mit einer Er -wei terung der Kooperations ver -einbarung die Schulen ausdrück-lich darauf hinzuweisen und ih -nen zu empfehlen, Vertreter vonFriedensorganisationen, Ange hö -rige ziviler Aufbau- und Entwick -lungsprojekte und anderer nicht-militärischen Einrichtungen indie schulische Politische Bildungeinzubeziehen. Diesen Organisa -tionen ist es auch zu ermög li -chen, über die zuständigen Stel -len des Ministerium Aus-, Fort-und Weiterbildungsangebote zuveröffentlichen und entsprechendtätig zu werden. Im Sinne desNeu tralitätsgebotes bietet sichzwingend an, eine Kooperations -vereinbarung nicht nur mit derBundeswehr, sondern auch mitzivilen friedenspolitischen Or -ganisationen abzuschließen.

Fazit:Seit vielen Jahren gab es erstmalswieder eine Gelegenheit, Themenschulischer Politischer Bildung imparlamentarischen Raum sichtbarzu machen und zu diskutieren.

Die Vertreter des DVPB-Lan -desverbandes nahmen währendder Anhörung im Schulausschussdie Gelegenheit wahr, auf die La -ge der Politischen Bildung in denSchulen des Landes hinzuweisen.Deutlich waren die Worte, „dieLage der Politischen Bildung anunseren Schulen ist nicht nur pre -kär, sie ist katastrophal“.

Die Reaktionen von Mit glie -dern aller im Schulausschuss ver-tretenen Parteien zeigten, dassdies nun (endlich) deutlicherwahr genommen wird. In vieleninformellen Gesprächen nach derAusschusssitzung konnte noch -mals auf die Defizite hinge wie -sen werden: Unterrichtsausfall,fachfremder Unterricht sowie derWegfall fachlicher Fortbildungführen zu einer einmaligen Ku -mu lation von Problemen, welchedie Qualität der Politischen Bil -dung und der entsprechenden Fä -cher – stärker als alle anderenFächer – ernstlich gefährden.

Der Ausschuss wird Anfang Märzeinen Beschluss fassen. DieDVPB-NRW e.V. wird berichten!

Duisburg, im Januar 2011Für den Landesvorstand der

DVPB NRW e.V.Ulrich Krüger, Helmut A. Bieber,

Prof. Dr. Bettina Zurstrassen

P.S. Eine zwischenzeitlich durch-geführte (nicht repräsentativeUmfrage in den Studien semi na -ren) zeigte, dass landesweit 23Veranstaltungen unter Betei li -gung der Jugendoffiziere derBundeswehr stattgefunden haben.

In einem Schreiben an die bil-dungspolitischen Sprecher derLandtagsfraktionen wurde deut -lich hervorgehoben, die Neube -setzung des Referates PolitischeBildung im Ministerium fürSchule und Weiterbildung auchals ein Zeichen zu nutzen, diepersonellen Ressourcen zu stär -ken und nicht kurzfristigen Haus -haltsersparnissen zu opfern!

2.Leistung und Demokratie– Fordern und Fördern in der politisch-ökonomi-schen Bildung

Landesforum der DVPB NRWe.V. am 3.11.2010 in Duisburg

„Leistung und Demokratie“ –bei de Begriffe werden ständigbemüht, wenn es um unsere Ge -sellschaft geht. Doch wie verhal-ten sie sich zueinander? Ist eineDemokratie eine Leistungs ge -sellschaft, in der ausschließlichLeistung über den Aufstieg ent -scheiden darf – und nicht Her -kunft, Stand, Geschlecht oderReligion? Muss dann nicht auchder Weg zu Bildungsmöglich kei -ten und Aufstiegschancen für allegleichermaßen möglich sein? IstDemokratie noch die Herrschaftdes ganzen Volkes oder sind wir– angesichts des Parteien- undPolitikverdrusses weiter Teile derBevölkerung – auf dem Weg ineine Elitendemokratie? Wie sehrmuss man, gerade auch in der po-litisch-ökonomischen Bildung,fördern und fordern, um poli ti -sche Mündigkeit und Engage -ment auf breiter Basis zu er rei -chen? Mit den unterschied lichs -ten Aspekten dieses Themen kom -plexes befasste sich der Landes -verband Nordrhein-Westfalen derDVPB auf dem gemeinsam mitder Landeszentrale für politischeBildung ausgerichteten Lan des -forum am 3. November 2010 inDuisburg.

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Verband

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ren. Fragen wie „Mit welchenKompetenzprofilen sollen dieStu dierenden in das Praxis semes -ter starten, um es erfolgreichdurchlaufen zu können? Welchebesonderen Anforderungen sindaus Sicht der Politischen Bildungan die Ausbildung im Praxis se -mester zu stellen?“

Arbeitsgruppe 2: Kompetenzorientierung – eineneue Herausforderung für diePolitische Bildung

In einem mediengestützten Vor -trag zeigt Dr. Andrea Szukala –Universität Bielefeld – Aspekteauf, die als eine neue He rausfor -derung für die sozialwis sen -schaft liche Bildung durch dieKom petenzorientierung gesehenwerden können.

Die kritische Diskussion – vorallem von Verantwortlichen, diean der Ausbildung des „Nach -wuchses“ beteiligt sind, lässt sichwie folgt zusammenfassen: Diederzeit dominante neuere Bil -dungs forschung geht freilich aus-schließlich empiristisch vor undlegt durch immer neue Testungvon SchülerInnen, Aufgaben undLehrerInnen wissenschaftlicheTeilbefunde vor, die dann al ler -dings noch nicht einmal in taugli-che Strukturmodelle von Kompe -tenzen umgesetzt werden können:Es fehlen dazu die schlüssigentheoretischen Konzepte zum Leh -ren und Lernen im Fach. DiesesDefizit ist beinahe ausschließlichder fachdidaktik wissenschaft li -chen Forschung im Feld anzu -krei den. Die aktuelle Auseinan -dersetzung der Politikdidaktik umBasiskonzepte des Faches ist indiesem Zusammenhang ein be -merkenswerter Beispielsfall.

Währenddessen machen sichdie Schulen auf den Weg, dieChancen der Kompetenz orien tie -rung auszuloten und kreativ zunutzen. Dazu müssen fachdidak-tisches Wissen und Können ausder Prä-Kompetenzära nicht überBord geworfen werden. DieChan cen der Kompetenz orien tie -rung liegen in der Entrümpelungvon Stoffkatalogen und in vielenpositiven Impulsen, die für dieDiagnose, Planung, Prozess ge -stal tung und Evaluation von Un -ter richt gesetzt werden können

Arbeitsgruppe 3: Heterogenität als Chance für diePolitische Bildung; Fördern undFordern im sozial wissen schaft -lichen Unterricht

Der Workshop zeigte einen mög-lichen Ansatz, wie kompetenzori-

Die 200 Teilnehmer – das In -teresse war in diesem Jahr beson-ders groß – erlebten nach der Be -grüßung durch den Landesvor sit -zenden Ulrich Krüger einen en ga -gierten Vortrag des Elite for schersProf. Dr. Michael Hart mann (TUDarmstadt) über den Mythos derChancengleichheit: Eine starkeSelektion im Bildungssystem wieim Berufsleben sorge in Deutsch -land dafür, dass besonders fürFüh rungskräfte in deutschenGroß unternehmen nicht allein dieLeistung, sondern die Herkunftmit ihrem entsprechenden Habitusentscheidend sei – eine Entwick -lung, die sich noch verstärkt hätte.

Der 2. Fachvortrag von Prof.Dr. Helmut Bremer, der den Zu -sammenhang von sozialer Her -kunft und erfolgreicher Schul -lauf bahn bildungssoziologischnäher ausleuchten sollte, entfielleider krankheitsbedingt. PD Dr.Klaus-Peter Hufer (Arbeits grup -pe Politische Bildung an der Uni -versität Duisburg-Essen) sprangkurzfristig ein und trug pointierteThesen vor, die die Ursachen derBildungsarmut, die zunehmende„Ökonomisierung des Sozialen“und die Kompetenzwende kri -tisch hinterfragten.

Um eine Bewertung und not-wendige Schlussfolgerungen ginges in der anschließende Podiums -diskussion; neben Prof. Dr. Hart -mann, PD Dr. Klaus-Peter Hufer,Prof. Dr. Bettina Zurstrassen,Hans-Joachim von Olberg (Mo -deration) und Ulrich Krüger aufdem Podium brachten sich auchviele Teilnehmer und Teilneh me -rinnen ein, die aus unterschiedli-chen Handlungsfeldern der politi-schen Bildungsarbeit kamen.

Der über viele Jahre bewährteTagungsablauf bot am Nach mit -tag in verschiedenen Arbeits grup -pen die Möglichkeiten zur inhalt-lichen Vertiefung und kritischenWertung neuer ausbildungsdidak-tischer Anforderungen und un -terrichtspraktischer Projekte, wiedie folgende Übersicht zeigt:

Arbeitsgruppe 1: „Praxissemester“ –Anforderungs profil an PolitischeBildner

Referenten: Edwin Stiller –MSW; Prof. Dr. Bettina Zur -strassen – Ruhr-Universität-BochumDas Praxissemester als ein neuesElement der Lehrerausbildungstellt neue Anforderungen an dieVerknüpfung der universitärenAus bildung mit der stärker unter-richtspraktischen Ausbildung anden Schulen und Studien semi na -

entierter Unterricht in hetero ge -nen Lerngruppen umgesetzt wer-den kann. Die Referenten – Hel -mut Vietze – StudienseminarHamm, Dr. Heike Hornbruch –Studienseminar Leverkusen –zeigten an Beispiele auf, wieDifferenzierung im Unterricht inunterschiedlichen Niveaustufenüberprüft und deren Umsetzunganhand praktischer Beispiele re -flektiert werden kann. Beispieleeiner Klasse 6 in Politik-Wirt -schaft wurde jeweils als Re fe -renz objekte anschaulich darge -stellt. Die in kleinen Arbeits grup -pen diskutierte (Leit)Frage wardie nach der optimalen Förderungund Forderung der Schüler undSchülerinnen im sozialwis sen -schaftlichen Unterricht. Dass mitdem Thema dieser Arbeitsgruppeein wichtige „Sollstelle“ sowohlin der 2. Ausbildungsphase wieauch in der Fortbildung offen -sicht lich wurde, zeigte das grund-legende Interesse von Ar beits -grup penteilnehmern, im Nach -gang in einer BSCW-unter stütz -ten Arbeitsgruppe mit den Re fe -ren ten weiterzuarbeiten.

Arbeitsgruppe 4: Demokratie stärken - vomUmgang mit Rechtsextremismus

Der Referent – PD Dr. Klaus-Peter Hufer – ist einer der pro fi -liertesten Kenner der Materie indiesem Bereich. In einer zwei -stündigen Arbeitsgruppe könnenerfahrungsgemäß nur grund le -gen de Fragen und Problem ange-rissen werden wie z.B. „Kannman mit Bildung überhaupt ge -gen Rechtsextremismus und diemit ihm einher gehenden Symp -tome gesellschaftlicher Anomiewie Fremdenfeindlichkeit, An ti -semitismus, Verklärung bzw. Re -lativierung des National sozia lis -mus, Diskriminierung von gesell-schaftlichen Minderheiten wir -kungsvoll aktiv werden? Wenn ja,wie: eher unmittelbar intervenie-rend oder indirekt präventiv? AnLiteratur zur Einschätzung, Be -schreibung, Quantifizierung undHandreichungen, hand lungs -orien tierten Empfehlungen undStrategien zur Auseinan derset -zung mit dem Rechtsextremismusinsgesamt und speziell der NPDmangelt es nicht. Welchen Bei -trag kann Politische Bildung lei-sten? Doch ist Bildung überhauptdas richtige Betätigungsfeld – zu-mal in Zeiten neoliberaler Ge -samt durchdringung der Ge sell -schaft auch die Bildungsbereichedem Diktat ökonomischer Nütz -lichkeit unterworfen werden?“Das vielfach erprobte Umset -

zungs konzept gab den Teil neh -mern die Möglichkeit, theore -tisch-analytische Anmerkungenauch praktisch an einem Fall bei -spiel und Rollenspiel zu prüfen.Während die fachliche Kompe -tenz der Lehrpersonen für einen„guten Politikunterricht“ unstrit-tig ist, wurde über die möglichen„pädagogische Konsequenzen“kontrovers diskutiert. Insgesamtein Thema, das in der metho -disch-didaktischen Umsetzungund der Qualität des Referentenempfohlen werden kann für dieSchul- und/oder Studienseminar -entwicklung.

Arbeitsgruppe 5: „Ökonomische Kontro versenspielerisch erfahren“

Anknüpfend an curriculare Vor -gaben ( „Wie funktioniert dieMarktwirtschaft? – Wettbewerb,Verteilung und Kartellbildung)stellte der Referent – AndréSchlüter, Köln – ein unterricht -liches „Spiel“konzept („Class -room-Experiment“) für ökonomi-sches Lernen vor, das in wesentli-chen Teilen aktiv simuliert wur -de. Lernmöglichkeiten, Lern zu -wachs bei den Lernenden, Aus -wertungsfragen, Grenzen im derunterrichtlichen Umsetzung wur-den produktiv diskutiert.

Die Teilnehmer haben dieThesen- und Materialpapiere derReferenten und Referentinnen inForm einer Tagungsmappe erhal-ten. Die Mitglieder haben Zugriffüber die Homepage www.dvpb-nw.de (Mitgliederbereich).

Eine Buchausstellung derführenden Verlage im Bereich derPolitischen Bildung rundete dasGesamtarrangement, welches vonder Landeszentrale für politischeBildung unterstützt wurde, ab.

Die im Anschluss stattgefundeneJahresmitgliederversammlung be-schäftigte sich u.a. mit dem Ar-beitsbericht des Landes vor stan -des, einem mehrheitlichem Be -schluss zur Erhöhung des Mit -gliedsbeitrages von 38,00 € auf42,00 € für die Vollmitgliedschaftund der Festlegung weitererArbeitsschwerpunkte.

Duisburg, den 12.02.2011

Landesvorstand der DVPB- NRW e. V.

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Verband

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Verband

1. Zweiter Historisch-Politischer Marktplatz inHamburg

Am 20. November fand in derbundeseigenen Otto-von-Bis -marck-Stiftung in Friedrichsruhder „II. Historisch-Politische-Marktplatz“ statt. Auf der eintäti-gen Tagung, die in einer Koope -ration des Politik- und Geschichts - lehrerverbandes Hamburg mitdem Ernst-Klett-Verlag organisiertwurde, konnte wiederum ein brei-tes Angebot an Informationen undpraktischen Anregungen vermitteltwerden.

Es gab intensive und kontro -verse Diskussionen und nicht zu-letzt dienten Kaffeepausen undMittagessen dem Erfahrungs aus -tausch der fast 30 Teilnehme rin -nen und Teilnehmer.

Das Programm begann mit ei-nem anregenden Kurzreferat derMuseumspädagogin Katja Gos -dek zur Entwicklung der Klei -dungskultur im 19. Jahrhundert.

Im Anschluss stellten AxelKu kuk und Theresia Kirchgäßner,beide Jugendoffiziere der Bun -des wehr, das Planspiel POL&IS(Politik & Internationale Sicher -heit) vor, in dem Schülerinnenund Schüler Weltpolitik live erle-ben und gestalten können.

Nach der Mittagspause folgteDr. Sönke Zankel, Gymnasial leh -rer in Uetersen, mit einem span -nenden Einblick in die Planung

Hamburg

Niedersachsen

Niedersächsischer Tag derPolitischen Bildung am29.9.2011

„Das Elend der Politischen Bil -dung“ war der Titel der bayri schenVerbandszeitschrift „ForumPolitikunterricht“ – Ausgabe3/2010. In Niedersachsen blühtdie Politische Bildung und brauchtsich durchaus nicht zu verstecken!Allerdings ist sie trotzdem oftnicht sichtbar und es wird oft nichtso ganz klar, wo denn überall diezivilgesellschaftlichen und staatli-chen Projekte, Maßnahmen undAktionen, Kon gresse undFortbildungen stattfinden und wermit welchem Erfolg teilnimmt.

Allein im Jahr 2010 sindgleich mehrere Veranstaltungen

auf Grund zu geringer Teilneh -merzahlen abgesagt worden, ob -wohl Bedarf besteht. Und diessind nur die Veranstaltungen, dieder DVPB bekannt gewordensind. In den Gesprächen mit denbildungspolitischen Spreche rin nenund Sprechern der Fraktio nen desLandtags hat dieser Pos ten der un-koordinierten und fehlgesteuertenPolitischen Bildung zuletzt deut -lich an Gewicht ge wonnen. Esstellt sich die Frage, ob die Viel -falt der Politischen Bildung in denBereichen schulischer Projekt ar -beit mit non-for malen Bildungs an -bietern, Fort bildung von Lehr -kräften und Er wachsenenbildungim größten Land Norddeutsch -lands zu un übersichtlich gewordenist, um allen Interessierten das

können sowie eine Diskussionum Qualitätsstandards zu führen.

Eines der wichtigsten An ge -bote für die Politische Bildung inNiedersachsen stellt der jährlicheTag der Politischen Bildung dar.Diesmal wird die Vielfalt undKontroversität der (werdenden)Weltmacht „China!“ fachlich be-leuchtet und in ihrer didaktischenKonsequenz diskutiert.

Wir rechnen hierzu am 29.Sep tember d.J. in Hannover er -neut mit ca. 130 Teil nehme rin nenund Teilnehmern.

Auch Sie sind willkommen!Bitte merken Sie den Termin jetztschon vor!

Markus W. Behne,Erster Vorsitzender des

Landesverbandes Niedersachsen

richtige Angebot zur passendstenZeit anbieten zu können.

Sicher kann nicht von einemWildwuchs gesprochen werden.Förderung mit Landesmittelnoder direkte Angebote der Mi nis -terien und Behörden führen aberin die Debatte des effizientenEinsatzes von Steuermitteln.Diese Debatte steht erst am An -fang und ist folglich nicht einfachzu entscheiden. Die DVPB ist alszivilgesellschaftliche Initiativeohne Daten nicht zur Übersichtim Stande. Besser wäre die Lage,wenn eine Institution ver gleich -bar den Landeszentralen für poli-tische Bildung in allen anderenLändern eine Koordinierung undSteuerung sicher stellen könnte.Dies würde sowohl die DVPB indie Lage versetzen, die Lage be-urteilen zu können, als auch dieeigenen Mitglieder kompetentüber Angebote unterrichten zu

und Durchführung eines Schul -projektes zu „Uetersen im Na tio -nalsozialismus“, aus dem mittler-weile zwei Bücher hervorgegan-gen sind.

Dann ging es mit Dr. Andreasvon Seggern, Museumspädagogein der Otto-von-Bismarck-Stif -tung, wieder in das 19. Jahr hun -dert, konkret zu den Tausendenvon Huldigungsbriefen an Bis -marck, die im FriederichsruherArchiv lagern. Unter dem Motto„Helden: verehrt – verkannt –vergessen“ hat ein LeistungskursGeschichte des Otto-Hahn-Gym -nasiums Geesthacht fast 700 da-von transkribiert und ausgewertetund so einen ersten Preis im Ge -schichtswettbewerb des Bun des -präsidenten gewonnen.

Im Anschluss stellten EvaLindemann und Ulrike Sparr dasBuch „ ‚und nicht zuletzt Ihrestille Courage‘. Hilfe für Verfolg -te in Hamburg 1933 bis 1945“vor . Hier werden die Erinnerungan mehr als ein Dutzend unter -schiedlichster Helferinnen undHelfer bewahrt und aufbereitet,die durch ihr mutiges Handelnvon 1933 bis 1945 Verfolgten inHamburg geholfen haben.

Nach einer Kaffeepause führteDr. Rüdiger Fleiter, Redakteurdes Ernst-Klett-Verlages, dieTeil nehmerinnen und Teilnehmerin die Werkstatt eines „Schul -buch machers“. Dort zeigte er ankonkreten Beispielen, wie Kom -pe tenzorientierung, Individua li -

sierung und – vor allen Dingen –Anschaulichkeit und Motivationin die Entwicklung neuer Schul -bücher einfließen.

Abschließend informierte seinKollege Dr. Stephan Schmal überKontinuitäten, Veränderungenund Innovationen durch die neu-en Oberstufen-Kerncurricula inNiedersachsen.

Das Schlusswort hatte einerder Initiatoren: Ulrich de Vriesverkündete mit Freude, dass derIII. Historisch-Politische-Markt -platz am 5. November 2011 statt-finden werde.

2.Mitgliederversammlung

Während der Tagung fand eineMitgliederversammlung desHam burger Geschichts- und Po -litiklehrerverbandes statt. In de -ren Mittelpunkt standen zumeinen die inhaltlichen Planungendes Verbandes für das Jahr 2011,zum anderen wurden die Bera -tun gen über die Mitgliedsbeiträgewiederaufgenommen, die bereitsauf der Mitgliederversammlungam 25. Februar begonnen hatten.Schließlich wurde einstimmig oh-ne Enthaltungen beschlossen, denjährlichen Mitgliedsbeitrag abdem Jahr 2011 auf 27,50 Europro Mitglied zu erhöhen. Refe -ren darinnen und Referandarezahlen im ersten Jahr ihrer Mit -gliedschaft keinen Beitrag.

Diese nicht wünschenswerte,aber leider notwendige Erhöhungbegründet sich aus der Ein nah -men/Ausgabenrechnung. DerVerband der Lehrer für Ge -schichte und Politik Hamburg hatpro Mitglied Fixkosten von 7Euro an die beiden Dachverbände(Verband der GeschichtslehrerDeutschlands / Deutsche Verei -nigung für Politische Bildung)abzuführen und weitere 10 EuroJahreskosten für das Abonnementvon „Geschichte für heute“. DerJahresbeitrag von 20 Euro ist alsobis auf eine kleine Differenz von3 Euro pro Mitglied bereits festgebunden. Damit ist es nichtmög lich, anfallende weitere Kos -ten wie Bankgebühren, Porto,Organisation, die Kosten unseresInternetauftrittes und die Durch -führung von Veranstaltungen zubezahlen.

Außerdem wurden zwei klei-nere Satzungsänderungen be -schlossen, die die Beschluss fä -higkeit des Vorstandes und dieWahl von Delegierten für dieHistorikertage und Dele gier ten -versammlungen der DeutschenVereinigung für Politische Bil -dung betrafen. Die vollständigenAnträge und Protokolle könnenauf unserer Homepage abgerufenwerden.

Dr. Helge Schröder

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Verband

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Mündige Bürger!? – ZumStellenwert PolitischerBildung in Rheinland-Pfalz

Podiumsdiskussion am 24.Januar 2011 in Mainz;

Der DVPB-LandesverbandRhein land-Pfalz führte in Koope -ration mit dem Institut für Politik -wissenschaft der UniversitätMainz am 24. Januar 2011 einePodiumsdiskussion durch zumThema:

„Mündige Bürger!? – ZumStellenwert Politischer Bildungin Rheinland-Pfalz – heute undin Zukunft“

Ziel der Veranstaltung war für dieDVPB, den Blick auf die Politi -sche Bildung in Rheinland-Pfalzzu schärfen und als Fachverbandden Mitgliedern und allen In te r -essierten ein Forum zu bieten, ummit Akteuren und Entscheidungs -trägern der Politischen Bildung inRheinland-Pfalz ins Gespräch zukommen.

Drei Landtags ab geordnete,Heribert Heinrich (SPD), NicoleMors blech (FDP) und Do rotheaSchäfer (CDU), der Direktor derLan des zentrale für Politische Bil -dung Rheinland-Pfalz, Dr. DieterSchiff mann, der Po li tik wissen -schaft ler Pro fessor Dr. Ulrich Sar -cinelli (Univer si tät Koblenz-Lan -dau) sowie Daniel Köbler, Spit -zen kan di dat von Bündnis 90/ DieGrü nen erklärten sich bereit, zu -nächst im Ge spräch mit dem Mo -derator der Po diums diskussionDr. Tho mas Simon (Zwei ter Bun -desvor sitzender der DVPB) undan schließend in der Dis kussionmit dem Ple num ihre Po sitiondar zulegen und zu den FragenStellung zu beziehen.

In den einführenden Grußwor -ten zur Eröffnung der Abend ver -anstaltung im Senatssaal der Uni -versität Mainz, zu der der gesamteDVPB-Landesvorstand und mehrals 60 interessierte Bürgerinnenund Bürger gekommen waren,ver wiesen die DVPB-Landes -vorsit zende Bettina Anslinger-Weiss und Prof. Dr. Ruth Zim -mer ling vom Institut für Politik -wissenschaft der UniversitätMainz auf die große BedeutungPolitischer Bildung in der Demo -kratie: „Demokratisches Bewusst -sein stellt sich nicht von selbstein, sondern muss stets aufs Neuewachsen und gefördert werden.Man wird nicht als Demokrat

bzw. als Demokratin geboren,man entwickelt sich dazu!“, so dieDVPB-Landesvorsitzende.

Die überaus spannende Po -diumsdiskussion, die weit überzwei Stunden das Interesse derZuhörer gewinnen konnte, wurdebereichert durch engagierte Fra -gen und Statements aus dem Ple -num an das Podium. Bei den Po -diumsgästen herrschte Einigkeitin der Feststellung, dass unsereDemokratie vor großen Heraus -forderungen steht, auf die Ant -worten gefunden werden müssen.In diesem Zusammenhang wurdeinsbesondere der Blick auf dieHerausforderungen des digitalenZeitalters gerichtet, welches durcheine neue Kommunikationskulturgeprägt ist und in welchem dieBürgerinnen und Bürger moderneAngebote und neue Beteiligungs -möglichkeiten erwarten, so bei -spielsweise Prof. Sarcinelli. DieVorzüge digitaler Medien solltendeutlich stärker für die PolitischeBildung genutzt werden.

Deutlich kam während derDis kussion von verschiedensten

Seiten zum Ausdruck, dass dasBe dürfnis nach einer Stärkung derPolitischen Bildung in Rheinland-Pfalz groß ist. Von Seiten der Po -litik wurde an die Bürgerinnenund Bürger der Appell gerichtet,Angebote zur Politischen Bildungstärker zu nutzen. Heribert Hein -rich (SPD) formulierte u.a. denWunsch, dass die Schulen die An -gebote der Politik deutlich stärkernutzen sollten, um die PolitischeBildung der Schülerinnen undSchüler zu befördern. Außerdemverwies der Landtagsabgeordnete

der SPD auf die tragende RollePolitischer Bildung bei der Inte -gration von Bürgerinnen und Bür -gern. Dr. Dieter Schiffmannmachte als Direktor der Landes -zentrale für Politische BildungRheinland-Pfalz (LpB) daraufaufmerksam, dass die Angeboteder LpB überwiegend von densog. „Aktivbürgern“ genutzt wür-den, die nur ein Teilsegment derGesellschaft darstellen. Auf deranderen Seite seien die Erwar tun -gen der Politik an die LpB als„Re paraturbetrieb“ außerordent -lich hoch, zum Teil zu hoch, soder Direktor der LpB.

Nicole Morsblech (FDP)brachte u.a. zum Ausdruck, dasssie sich mehr „mündige Bürger“wünsche, die sich in der Demo -kratie engagieren und den Po li -tikern bei kontroversen Projektenund Entscheidungen ein kritischesFeedback geben. Bei klar um -rissenen Projekten, wie z.B.Stuttgart 21, könnte sie sich eineStärkung direktdemokratischerElemente sehr gut vorstellen, sodie bildungspolitische Sprecherinder FDP. Daniel Köbler, Spitzen -kandidat von Bündnis 90/DieGrü nen bei der LTW 2011 inRheinland-Pfalz, sprach sich u.a.

für eine Herabsetzung des Wahl -alters auf 16 Jahre aus. Ins beson -dere an den Schulen wünscht ersich eine stärkere Demokrati sie -rung und größere Eigenver ant -wortung. Das Fach Sozialkundebezeichnete er als „Dreh- undAngelpunkt“ Politischer Bildungan der Schule und forderte dessenStärkung. Die aktuelle Entwick -lung in der Oberstufe hinsichtlichdes Stellenwerts Politischer Bil -dung kommentierte er kritisch.

Alle Podiumsvertreter – par -teiübergreifend – waren sich

einig, dass der Stellenwert desFaches Sozialkunde in der Schulegestärkt werden müsse, dass So -zialkundeunterricht auch frühereinsetzen sollte, beispielsweisenicht erst in Klasse 9 am Gymna -sium. Diese Position wurde insbe-sondere von der AbgeordnetenDorothea Schäfer (CDU) unter -strichen, die sich außerdem dafüraussprach, Jugendliche im Sozial -kundeunterricht stärker an kom -munalpolitische Themen heranzu-führen und den Sozialkunde un -terricht insgesamt praxisorientier-ter zu gestalten, beispielsweisegegenüber Politkern stärker zuöffnen.

Von Prof. Sarcinelli wurde u.a.der deutliche Appell an Ent schei -dungsträger formuliert, für einesolide Politische Bildung Sorgezu tragen, das Profil des FachesSozialkunde zu schärfen und dasFach Sozialkunde nicht zum „Ge -mischtwarenladen“ werden zulassen.

An die Politik wurde von Sei -ten der Zuhörer mehrfach deutlichder Appell gerichtet, kritischeStimmen der Bürgerinnen undBürger ernst zu nehmen, zuzu -hören und aufzunehmen, verbun-den mit dem Hinweis, dass die

Glaubwürdigkeit der Politiker lei-de, wenn einerseits die Absichtgeäußert werde, Politische Bil -dung in der Schule deutlich zustärken und andererseits Chancennicht ausreichend genutzt werden,um dies auch in der Realität um -zusetzen.

Bettina Anslinger-Weiss,DVPB-Landesvorsitzende

Rheinland-Pfalz

Rheinland-Pfalz

Die Teilnehmer der Podiumsdiskussion (v.l.n.r.): Daniel Köbler (B90/Die Grünen), Dorothea SchäferMdL (CDU), Dr. Dieter Schiffmann (LpB Rhein land-Pfalz), Dr. Thomas Simon (DVPB), Prof. Dr. UlrichSarcinelli (Universität Koblenz-Landau), Nicole Morsblech MdL (FDP), Heribert Heinrich MdL (SPD).

Foto: Björn Kilian, DVPB

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Verband

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1.Podiumsdiskussion„Nachhaltige Klimapolitikals Thema für diePolitische Bildung“anlässlich der JenaerGespräche zur PolitischenBildung 2010

Im Rahmen der traditionsreichenVeranstaltung der „Jenaer Ge -spräche zur Politischen Bildung“fand am 16. November 2010 einePodiumsdiskussion zum Thema„Nachhaltige Klimapolitik alsThema für die Politische Bil dung“statt.

Zu den Teilnehmern des Po -diums gehörten Prof. Dr. LotharViereck-Götte (FSU Jena, Institutfür Geowissenschaften), ThomasKoch (Thüringer Ministerium fürLandwirtschaft, Forsten, Umweltund Naturschutz), Dr. FrankAugsten (Mitglied des ThüringerLandtages Fraktion Bündnis90/Die GRÜNEN) und MatthiasStüwe (Mitglied des Stiftungs -vorstandes, KlimaschutzstiftungJena – Thüringen). Vor einem ge-mischten Publikum, das nicht nuraus Lehrern und Studenten, son -dern erfreulicherweise auch ausinteressierten Schülerinnen undSchülern bestand, wurden nichtnur aktuelle Themen der Umwelt-und Klimapolitik diskutiert, son -dern auch deren Bedeutung fürdie Politische Bildung hinter fragt.Nach einem einleitenden Gruß -wort von Prof. Dr. Carl Deich -mann, seinerseits Lehr stuhl in ha -ber der „Didaktik der Politik“ ander FSU Jena, führte ToralfSchenk, der die Diskussion mode-rierte, mit einer emotional pa -cken den, aber ebenso informat i -ven Vi deopräsentation in denThe men schwerpunkt an diesemAbend ein.

Nachhaltigkeit und Klima alsThema der Politik

Die Diskussion startete daraufhinmit ersten Eingangsstatements derPodiumsgäste zur Bedeutungnach haltigen Handelns in unsererGesellschaft. Schnell gelangtendie Diskutanten dabei an einenPunkt, in dem Einigkeit darüberbestand, dass Nachhaltigkeitwich tig sei für das erfolgreicheFortbestehen der menschlichenZivilisation. Auf die Frage, wieman diese definieren und – vielwichtiger – in ein praktisches (po -litisches) Handeln umsetzen kön-

ne, blieben die Teilnehmer jedochzunächst eine Antwort schul dig.Somit kristallisierten sich in die -sem ersten Gesprächs abschnittvor allem die wissen schaftlicheKon troversität und die emotionaleBe setztheit des The mas heraus.Diese beiden Be reiche warennicht zu letzt auch für die poli ti -schen Aus einan der setzungen ver-antwortlich, die an diesem Abendzwischen den Po diumsteil neh -mern geführt wur den. Die klima-politische Debatte dürfe aller -dings nicht, so die Mei nungMatthias Stüwes, als isoliertesProblemfeld innerhalb eines Lan -des diskutiert werden, sondern siemuss insbesondere in ihren po -litischen Entscheidungen zu glo -ba len Lösungen führen (man ver-wies im diesem Zusam men hangvor allem auf die erfolg rei che,weltweite Zusammenarbeit in derBekämp fung des Ozonlochs).Nichts desto trotz obliege die Be -deutung nachhaltigen Handelns,und hierin waren sich alle Dis ku -tanten einig, nicht zuletzt auch inder Verant wor tung eines jedeneinzelnen Men schen. Das indivi-duelle Be wusstsein hierfür zuschaf fen, müsse nun vor allemdurch die schulische und außer -schulische politische Bildungs ar -beit geleistet werden, deren Be -deu tung im nachfolgenden Ge -sprächsabschnitt erörtert wurde.

PolitikdidaktischeKonsequenzen:Wissenschaftsorientierungund Kontroversität

Im Zentrum der Diskussion standdabei die Frage, wie weit Poli ti -sche Bildung bei der Behandlungdes Themas gehen darf: SollenSchülerinnen und Schüler bewus-st unter der Inkaufnahme einseiti-ger wissenschaftlicher Positions -vermittlung zu einer klimabewus-sten und/ oder ökologischen Wer -tehaltung erzogen werden odersolle es dem kritischen Urteils ver -ständnis eines jeden Einzelnenüberlassen sein, ein Urteil zu fäl-len? Eine schwierige Frage, derenBeantwortung sich die Teilnehmereinerseits unter dem Verweis aufdie didaktische Entscheidungs -freiheit des Lehrers entzogen. An -dererseits plädierten manche Dis -kussionsteilnehmer, wie zumBeispiel Prof. Dr. Viereck-Götte,für ein klares und pointiertes Po -sitionsbekenntnis auf Basis derrealen und – seiner Meinung nach– unbestreitbaren wissenschaftli-chen Fakten. In diesem Rahmendürfe die wissenschaftliche Klar -heit nicht durch die politischeAus einandersetzung, die mit ver -

antwortlich für ein Infor mations -defizit der Bevölkerung sei, „zer-redet“ werden. Abhilfe schaffenur eine Umweltbildung durchWissenschaftlerinnen und Wis -senschaftler vor Ort, d.h. anSchulen in einem gemeinsamenAustausch zwischen Lehrern/-in-nen und Schülern/-innen. ZuRecht wiesen jedoch einige Dis -kutanten und im späteren Verlaufauch Gäste aus dem Publikumdarauf hin, dass eine Wissen -schafts orientierung der Politi -schen Bildung eine kontroversepolitische Behandlung nichtzwangsläufig ausschließen müsse.Ganz im Gegenteil gelte es imSinne eines kritischen politischenBewusstseins die Deutungs an -sprü che der Politik im Umgangmit diesem Thema zu hinter fra -gen, die wissenschaftlichen Fak -ten zu kennen und daraus hervor-gehend zu eigenen politischenErkenntnissen und Einsichten zugelangen. Nur so könne das The -ma einer nachhaltigen Umwelt -politik auch im Sinne einer demo-kratischen Wertehaltung behan -delt und letzten Endes in eine ent-sprechende klimabewusste, politi-sche Handlungsfähigkeit von denLernenden umgesetzt werden.

Dennis HaukLandesvorstand DVPB

Thüringen

2.Ankündigungen undEinladungen desLandesverbandesThüringen:

1. „Jenaer Gespräche zurPolitischen Bildung“

am Donnerstag, dem07.04.2011, zum Thema:Politische Bildung imEuropäischen Kontext

Eine Kooperationsveranstaltungdes Landesverbandes der DVPBThüringen, der Landeszentrale fürPolitische Bildung Thüringen,dem Thüringer Institut für Lehrer -fortbildung, Lehrplanentwicklungund Medien (ThILLM) und derProfessur für Didaktik der Politikan der Friedrich-Schiller-Uni ver -sität JenaReferent: Dr. Christian Schmidt Wann?: 18.30 s.t. Wo?: HS 9, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Carl-Zeiss-Straße 3

2. Politischer Stammtisch mitder Ausländer beauf tragtendes Landes Thüringen

Der für den 08.12.2010 vorge -sehene und witterungsbedingtverschobene politische Stamm -tisch mit der Ausländer beauf -tragten des Landes Thüringen,Petra Heß, findet noch im Früh -jahr 2011 statt. Zum Thema „In te -gration – ein Problem in Thürin -gen?“ referiert die Ausländer be -auftragte in der IGS „Grete Un -rein“ in Jena und stellt sich in derDiskussion den Fragen der Gäste.Über den genauen neuen Terminwerden die Landesmitglieder derDVPB rechtzeitig per Mail unddie Öffentlichkeit über die Presseinformiert.

3. Tag der Politik wissenschaft undPolitik didaktischesSymposium am 9. Juni 2011an der FSU Jena

Wie auch in den vergangenenJahren wird der diesjährigeLehrerpolitiktag im Rahmen desTages der Politikwissenschaftendurchgeführt. Ausrichter ist tradi-tionsgemäß das Institut fürPolitik wissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena, das amDonnerstag, dem 9. Juni 2011zum Politikdidaktischen Sympo -sium einlädt. Dieses steht unterdem Thema: „Beobachtung undEvaluation von Sozialkunde un -terricht in Theorie und Praxis“.Die Organisatoren der Koopera -tions veranstaltung, Landes zen -trale für politische Bildung Thü -ringen, Professur für Didaktik derPolitik an der FSU, Thillm undder Landesverband der DVPBThüringen freuen sich auch indiesem Jahr wieder zahlreiche po-litische Bildner zu den zahlrei -chen Vorträgen und Diskus sions -runden im Rahmen des Sympo -siums begrüßen zu können.

Toralf Schenk, ZweiterVorsitzender des

Landesverbandes der DVPB Thüringen

Thüringen

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Erwartungen an eine gerechte Politik

Silvia Krömmelbein u. a. (Hg.):Einstellungen zumSozialstaat. Band I, Opladenund Farmington Hills: VerlagBarbara Budrich 2007, 209 S.,19.90 EURO; Oliver Nüchter u. a. (Hg.):Einstellungen zumSozialstaat. Band II, Opladenund Farmington Hills: VerlagBarbara Budrich 2008, 189 S.,16.90 EURO*)

Um verlässliche Antworten auf dieFrage zu geben, ob die im Schat tender Wirtschafts- und Finanzmarkt -krise sicht- und spürbar gewordene„Rückkehr des Staates“ dazu füh -ren wird, dass die Bürger/innenwie der Ver trauen in ihn fassen,bräuchte es prophetische Gaben.Eine trag fähige Prognose aber lässtsich zumindest wagen, wenn manauf Daten zurückgreift, wie sie Ro -land Bieräugel, Wolfgang Glatzer,Silvia Krömmelbein, Oliver Nüch -ter, Alfons Schmid und FlorianSchipperges mit ihrer zweibändi -gen Untersuchung „Einstellungenzum Sozialstaat“ vorgelegt haben.Die in den Jah ren 2007 und 2008vorgelegte, mit zahlreichen auf -schluss reichen Abbildungen verse-hene Studie gibt Aufschluss darü-ber, welche sozialpolitischen Zie leund Prin zipien in der Be völ ke rungUnter stützung finden, mit welchenGe rechtigkeitsvorstellun gen derenHaltung verbunden ist und wie dieeigene soziale Lage wahrge nom -men wird. Die Bände basie ren aufrepräsentativen tele foni schen Be -fragungen von 2.500 Be fragten ausden alten und 2.506 aus den neuenBundesländern, was erkennen läs-st, dass insbe son dere die zwischenStralsund und Plauen vorherr -schen den Ein stellungen zum So -zialstaat für die Studien leiter vonInteresse sind.

Bundesweit verspürtesGerechtigkeitsdefizit

Ein zentraler Einflussfaktor auf so-zialstaatliche Einstellungen unddie Akzeptanz von Reformen sinddie Vorstellungen über die Legiti -mität sozialer Ungleichheit und diesich daraus speisende Ein schät -zung, ob eine Maßnahme sozialgerecht ist oder nicht. Vor diesemHintergrund geht das Autorenteamim vierten Kapitel des ersten Ban -des unter der Überschrift „Gerech -

tigkeit und soziale Ungleichheit“der Frage nach, wel che Vorstel lun -gen von Ge rech tigkeit hinsichtlichder objektiven, weitgehend mess -baren Ein kommens- und Vermö -gens unter schiede bestehen undwelche Ein schätzungen sich vordem Hinter grund der eigenen Le -bens situa tion ergeben. „Etwa dieHälfte der Menschen sieht Ein -kom mensun ter schiede als durchdas Leis tungs-, Motivations- undMarkt prinzip legitimiert an. Ein -kom mens- und Prestige unter schie -de sind nach Meinung von 55 Pro -zent der Befragten notwendig, umMenschen zu persönlichen Leis -tun gen zu motivieren. Rund einDrit tel lehnt diese Begründung fürsoziale Ungleichheit ab. Dennochkann in den Augen der MehrheitVerteilungsgerechtigkeit erst durchstaatliche Interventionen in markt-wirtschaftliche Vertei lungs ergeb -nisse hergestellt werden.“ (I, S. 61)46 Prozent der Befragten gaben an,„dass große Gewinne nicht zumWohlstand aller beitragen“, wenn-gleich die Zustim mungsraten fürstaatliche Inter ven tionen, „die überdie soziale Bedarfsabsicherungdurch Um verteilung hinaus rei -chen“, rück läufig sind (I, S. 66 u.69). Die Einschätzung der subjek-tiven Verteilungsgerechtigkeit fällthingegen mehrheitlich positiv aus:„56 Prozent sehen die eigene Par -tizipation am Wohlstand min des -tens als gerecht an. Die wirt schaft -liche Lage bewerten im Westen 60Prozent der Befragten als gut, imOsten circa. die Hälf te.“ (I, S. 61)

Ausgesprochen auf schluss reichist in diesem Zusammen hang einanderes Ergebnis der Studie: „DieVorstellung, dass harte Arbeit zumReichtum führt, wird (…) nur voneiner knappen Mehrheit geteilt,wo mit die ei gentlich am stärkstenerwünschte Verteilungsregel diezweitgeringste Bedeutung hat.“ (II,S. 44) Die systemische Verken nungder Leit idee „Jeder verdient, was erver dient“ ist insofern als zentraleTriebfeder für das emp fun deneGerechtigkeitsdefizit anzusehen.Dass die über den Markt ver mit tel -te Primärverteilung ein landesweitempfundenes Ge rechtig keits defizithervorruft, hatte bereits die imSom mer 2007 von der Wo chen -zeitung „Die Zeit“ in Auftrag gege-bene Umfrage zu Ta ge gefördert,deren Ergebnisse einen tragfähigenErklärungsansatz für den in derBundesrepublik seit einiger Zeit zubeobachtenden „Links ruck“ lie -fern. Wenn 60 Pro zent der Unions-

und 76 Pro zent der SPD-Anhängerder Auf fassung sind, dass die Re - gierung dem Leit bild der sozialenGe rech tig keit nur unzureichendnac h kom me, liegt es nahe, von ei-ner fest im gesell schaftl ichen Be -wusstsein veran kerten Gerech tig -keitslücke zu spre chen – zumal dieUmfrage erbrachte, dass diesesEmpfinden von einer Mehrheit derBesser ver dienenden geteilt wird.

Warum aber ist das Gerech tig -keitsempfinden einer breiten Be -völkerungsmehrheit geschwun -den? Einen zentralen Erklä rungs -ansatz liefert die Tatsache, dass dieVerteilungsgerechtigkeit als einstunumstößliches Leitmotiv sozial -staatlicher Politik im medialenDis kurs ins Wanken geraten und

von zahlreichen Vertretern ausPolitik und Wirtschaft durch dasPrinzip der Beteiligungs ge rech tig -keit abgelöst worden ist – davonausgehend, dass der Zu gang zuBib liotheken, Theatern und Mu -seen in der Wissens ge sellschaftentscheidender sei als die gerechteVerteilung der materiellen Res -sour cen. Unter Verweis darauf,dass ein „(Verteilungs-) Kampf derGenerationen“ um die knappenHaushaltsmittel ent brannt sei, wur-de das Postulat der sozialen Ge -rech tigkeit schließlich auch vonder rot-grünen Bundes re gierungdurch den Begriff der „Genera tio -nengerechtigkeit“ substituiert.

Hohe Akzeptanz der sozialenSicherungssysteme

Die einzelnen Sicherungssystemeerhalten signifikant unterschiedli-chen Zuspruch (vgl. Graphik II, S.172). Mit einer Zustimmungsrate

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RezensionenNeue Literatur – kurz vorgestellt

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Magazin

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von 68 Prozent genießt die ge setz -liche Krankenversicherung dasgröß te Vertrauen, wenngleich die-ses durch das Gesundheits mo der -nisierungsgesetz 2004 unter miniertwurde und durch die Vereinheit li -chung der Beitrags sätze auf 15,5Prozent zum 1. Ja nuar 2009 aber-mals gelitten haben dürfte. Da ge -gen sind die Zustim mungsratenzur Pflege versi che rung mit 50 Pro -zent und zur ge setz lichen Renten -versicherung mit nur 34 Prozentvon 2005 auf 2006 konstant ge -blieben. Letzeres war angesichtsder mitunter populistisch geführtenDebatte nicht unbedingt zu erwar-ten: So wurde das lohn- und bei -tragsbezogene Umlageverfahren inder Gesetz lichen Renten versiche -rung häufig zum Auslaufmodellerklärt, das Kapitaldeckungs prin -zip hingegen als vermeintlich „de-mografieresistent“ geradezu glori-fiziert. Ob wohl Neoliberale wieReiner Hank, Leiter des RessortsWirt schaft bei der Frankfurter All -ge meinen Sonntagszeitung undAu tor des im Jahre 2000 erschie -ne nen Buchs „Das Ende der Gleic -hheit“, unentwegt eine Beschrän -kung auf den „Kernsozialstaat“fordern, der nur noch dann tätigwerden solle, wenn für Risiken„auf privaten Kapital- und Ver si -cherungsmärkten eine effizienteVorsorge nicht möglich ist“, mussder Zuspruch zur Arbeitslosen ver -sicherung mit 48 Prozent und fürdie Unfallversicherung mit 63 Pro -zent doch nach wie vor als rechtgroß interpretiert werden.

Fazit

Den Ergebnissen der Studie bleibtzu wünschen, dass sie sich ihrenWeg in Richtung politische Ent -scheidungsträger(innen) bahnen,damit das, was Heribert Prantl,Leiter des Ressorts Innenpolitikbei der Süddeutschen Zeitung, un-längst in seinem Beitrag „Die ewi-ge Suche nach der Gerechtigkeit“formuliert hat, auch im politischenRaum Mehrheiten findet: „DerSozialstaat ist der Handausstreckerfür die, die eine helfende Handbrauchen. (…) Der Sozialstaat gibtden Armen nicht nur Bett undDach, sondern ein Fortkommenaus der Armut. Das Übel, das man-che Leute ein schlechtes Lebenführen, besteht nicht darin, dassandere Leute ein besseres Lebenführen. Das Übel besteht darin,dass schlechte Leben schlechtsind.“ (19.11.2008, S. 26) Wennsich – wie die Studie ausweist – ei-ne wachsende Zahl von Bundes -bürger(inne)n um den ihnen zuste-henden Anteil am Wohlstand ge -bracht fühlt, leidet darunter nichtnur die Akzeptanz des Sozial staa -tes, sondern auch die Demokratie.

Tim Engartner

*) siehe auch: Oliver Nüchteru. a. (Hg.): Einstellungenzum Sozialstaat. Band III,Opladen und FarmingtonHills: Verlag Barbara Budrich2009, 118 S., 12.90 EURO

POLIS 2/2011Diagnose, Leistungsmessungund Kompetenz(erscheint am 1.7.2011)

POLIS 3/2011Politische Bildung untererschwerten Bedingungen(erscheint am 1.10.2011)

POLIS 4/2011Was hält die Gesellschaft nochzusammen?(erscheint am 22.12.2011)

POLIS 1/2012Außerschulische Lernorte(erscheint am 1.4.2012)

VORSCHAU

Liebe Leserinnen und Leser,haben Sie Wünsche und Vorschläge für zukünftige Heftthemen?Unten auf dieser Seite finden Sie die Heftplanung für 2010 und2011. Wollen Sie selbst einen Beitrag schreiben? Reizt es Sie auf ei-nen bereits erschienen Beitrag zu antworten? Oder: Möchten Sieeinfach nur Ihre Kritik an einem veröffentlichten Artikel übermit -teln? In jedem Fall: Schreiben Sie an die Redak tion: 36100 Petersberg, Igelstück 5a, [email protected].

POLISReport der Deutschen Vereinigung für Politische BildungHerausgegeben von der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung durch den Bundesvorsitzenden Prof. Dr. Dirk Lange(www.dvpb.de) 15. Jahrgang 2011

Leitende RedakteurinDr. Martina TschirnerIgelstück 5a36100 PetersbergTel.: 0661 9621133

VerlagWochenschau VerlagDr. Kurt Debus GmbHAdolf-Damaschke-Straße 1065824 Schwalbach/Ts.www.wochenschau-verlag.de

RedaktionDr. Martina Tschirner (V.i.S.d.P.)Dr. Tim EngartnerPD Dr. Klaus-Peter HuferDr. Herbert KnepperProf. Dr. Dirk LangeHans-Joachim von OlbergProf. Dr. Bernd OverwienPD Dr. Armin Scherb

Verantwortlicher Redakteur für diese AusgabeDr. Tim Engartner

Verantwortlich für die Verbandspolitische RundschauDr. Herbert Knepper

HerstellungSusanne Albrecht-Rosenkranz, Opladen

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ISSN: 1433-3120, Bestell-Nr.: po1_11

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