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Porquetor, der Stählerne

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ATLAN 10 – Porquetor, der Stählerne

Nr. 309

Porquetor, der Stählerne von H. G. Francis

Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt und nicht bereinigt worden. Der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederauf-getauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan, Lordadmiral der USO, und Razamon, der Berserker – er wurde beim letzten Auftau-chen von Atlantis oder Pthor von den Herren der FESTUNG auf die Erde verbannt und durch einen »Zeitklumpen« relativ unsterblich gemacht – sind die einzigen, die den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Leiter der Invasion ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Allerdings verlieren die beiden Männer bei ihrem Durchbruch ihre gesamte Ausrüstung. Und so landen Atlan und Razamon – der eine kommt als Späher, der andere als Rächer – nackt und bloß an der Küste von Pthor, einer Welt der Wunder und der Schrecken. Ihre ersten Abenteuer bestehen sie am »Berg der Magier«. Ihr weiterer Weg führt sie über die »Straße der Mächtigen« zu den Seelenhändlern und der Stadt der Roboter. Jetzt, als der Arkonide und der Pthorer auf dem Weg durch den Blutdschungel sind, be-gegnet ihnen PORQUETOR, DER STÄHLERNE ...

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ATLAN 10 – Porquetor, der Stählerne

Die Hauptpersonen des Romans: Atlan und Razamon – Die beiden Un-sterblichen auf gefahrvollen Pfaden. Fenrir – Der Riesenwolf wird Atlans neuer Weggefährte. Porquetor – Der Stählerne wird zum Zer-störer. Troton und Dadan – Zwei Kämpfer gegen die Feste Grool

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1.

Atlan blieb stehen und hob warnend die

rechte Hand. Razamon schloß zu ihm auf und blickte ihn

fragend an. »Hörst du nichts?« fragte der Arkonide. Seitlich von ihnen raschelte etwas im Blut-

dschungel. Die beiden Männer verhielten sich völlig still. Als gedämpfte Schrittgeräusche hörbar wurden, legte Razamon Atlan die Hand auf den Arm.

»Das hört sich an, als ob da ein Reiter kommt«, meinte der Arkonide.

Einige Äste brachen. Dann teilte sich das Gebüsch, und ein Reiter kam daraus hervor. Atlan hielt verblüfft den Atem an. Der Mann auf dem Pferd trug eine Ritterrüstung. Er sah aus, als sei er direkt aus einem Bild Dürers herausgestiegen. Das Visier war geschlossen, so daß nicht zu erkennen war, wer in der Rüs-tung steckte. An der Seite trug der Reiter ein langes Schwert, das in einer geschmückten Scheide steckte. Riesige Sporen zierten die Füße. In der rechten Hand hielt er ein zweites Schwert, das er locker über den Hals des Rappen gelegt hatte. Neben seinem linken Bein ragte ein Stahlspeer empor, der an der Spitze mit einer roten Fahne versehen war.

Das Pferd war mit einer schimmernden Kettendecke gepanzert, die auch Hals und Kopf umfaßte, die Augen, die Nüstern und das Maul allerdings freiließ.

Atlan trat zwei Schritte auf den Unbekann-ten zu, als er seine erste Überraschung über-wunden hatte.

»Hallo, Rittersmann«, sagte er in deutscher Sprache. Als der Reiter darauf nicht reagierte, wiederholte er seine Worte in englisch und französisch, jedoch ohne Erfolg.

Der Ritter führte sein Pferd dicht an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Erst etwa zehn Meter weiter hielt er es kurz an. Der rechte Arm fuhr hoch. Das Schwert blitzte in der Sonne. Er hieb es gegen einen armdicken Ast und durchtrennte ihn mit einem Schlag. Ge-schickt fing er ihn danach auf und pflückte eine apfelähnliche Frucht davon ab. Dann ließ er den Ast fallen, schlug das Visier hoch und biß von der Frucht ab. Danach ließ er diese ins Gras fallen, schloß das Visier, trieb sein

Pferd mit den Sporen an und ritt wortlos da-von.

Razamon fluchte. Atlan drehte sich zu ihm um. »Kannst du mir sagen, wer dieser seltsame

Vogel war?« fragte er. Doch dann biß er sich auf die Lippen. Er trat auf Razamon zu. »Was ist los mit dir?«

Razamons Gesicht hatte sich verzerrt. Seine Augen waren fast geschlossen. Plötzlich stürmte er an Atlan vorbei. Er eilte zu der Stelle, an der die apfelähnliche Frucht im Gras lag. Er nahm sie auf und drehte sie in seinen Händen.

»Was ist denn?« fragte Atlan. »Hast du Hunger?«

Er ging zu ihm. Razamon hielt ihm schwei-gend die Frucht entgegen. Deutlich zeichne-ten sich die Spuren der Zähne des Unbekann-ten darin ab.

Plötzlich fuhr Razamon herum und schleu-derte die Frucht mit voller Kraft gegen einen Baumstamm. Sie platzte auseinander.

»Du kennst den Knaben also«, stellte Atlan fest. »Nun gut. Wer ist es?«

Razamon antwortete nicht. »Porquetor war es nicht«, sagte der Arko-

nide. »Vielleicht sein Bruder?« Razamon ging nicht auf diese scherzhaft

gemeinten Worte ein. Er zog die Sehne seiner Skerzaal bis fast an die Spannbügel hoch und ließ sie wieder frei, so daß sie singend zu-rücksprang. Dann drehte er sich um und ging mit weitausgreifenden Schritten davon.

»Na schön«, sagte Atlan. »Du willst nicht antworten. Auch nicht weiter schlimm.«

Er grinste und folgte Razamon. Das Ge-heimnis des Ritters interessierte ihn zwar, er sah es jedoch nicht als so wichtig an, daß er sofort eine Antwort haben wollte. Anderer-seits nahm er es auch nicht auf die leichte Schulter. Die heftige Reaktion Razamons zeigte ihm, daß sein Begleiter mit dieser Be-gegnung nicht gerechnet hatte, und daß er sie psychisch erst bewältigen mußte.

Er behielt einen Abstand von etwa fünf Me-tern bei, um Razamon zu zeigen, daß er ihn in Ruhe lassen wollte.

Die beiden Männer bewegten sich im nörd-lichen Randgebiet des Blutdschungels in Richtung der Feste Grool voran. Atlan hoffte,

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einen Blick auf diese Feste werfen zu können, wenn sich hin und wieder das Dickicht lichte-te, aber er wurde enttäuscht. Mehr als ein schemenhaftes Gebilde konnte er nicht erken-nen, da die Luft diesig war, und sich die A-benddämmerung herabsenkte. So war auch die Entfernung bis zur Feste nur schwer abzu-schätzen.

Einige Male blickte Atlan in den Himmel hinauf, und er fragte sich, warum er keine Luftfahrzeuge sah. Wo blieben die Aufklä-rungsgleiter? Weshalb suchte man nicht nach ihm? Gelang es den Mutanten nicht, durch den Energieschirm zu kommen, der Atlantis gegen die Außenwelt abriegelte? Das war kaum denkbar, da dieser Schirm von außen auf Atlantis projiziert wurde, so daß jederzeit eine Strukturlücke geschaffen werden konnte. Atlan hielt es jedoch für möglich, daß be-stimmte Kräfte auf der Insel etwas von innen gegen den Energieschirm gestellt hatten. Nur in einem solchen Fall war erklärbar, weshalb Hilfe von außen ausblieb.

Längst mußten die Sicherheits- und Ab-wehrdienste auf seine Aktivitäten auf der In-sel aufmerksam geworden sein. Von den Sa-telliten aus wurde die Erde ständig überwacht. Objekte von einer Größe von zehn cm an konnten einwandfrei ausgemacht und identifi-ziert werden.

Das bedeutete, daß man außerhalb von At-lantis wußte, was hier geschah. Man konnte seine Spur exakt verfolgen. Man war über seine enormen Schwierigkeiten informiert. Dennoch geschah nichts zu seiner Entlastung.

Atlan hatte keine Erklärung dafür. Er schreckte aus seinen Gedanken auf, als

Razamon stehenblieb. Im gleichen Moment vernahm er ein drohendes Knurren aus dem Gebüsch zu ihrer Seite. Unmittelbar darauf brachen einige Äste, und ein großes Tier flüchtete ins Dickicht.

Razamon zuckte mit den Schultern und ging weiter. Doch schon nach wenigen Schrit-ten blieb er erneut stehen. Dieses Mal hörte Atlan ein eigenartiges Winseln. Irgend etwas scharrte über den Boden.

»Was ist das?« fragte er. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete Ra-

zamon. »Komm. Wir gehen weiter.« »Ich werde nachsehen.«

Mit seinem Schwert schob Atlan einige Äs-te zur Seite. Dann arbeitete er sich Schritt für Schritt voran.

»Sei vorsichtig«, sagte Razamon hinter ihm. »Es kann eine Falle sein.«

Atlan blieb stehen. Aus dem Dickicht her-aus blickten ihn zwei gelblich schimmernde Augen an.

»Fenrir«, sagte er. »Da liegt der Wolf.« Er wollte weitergehen, doch Razamon riß

ihn zurück. Zentimeter von Atlans Gesicht entfernt schnellte ein weißes Band sirrend in die Höhe und verharrte federnd über seinem Kopf. Einige Zweige, die von ihm zerschnit-ten worden waren, fielen auf den Boden her-ab.

»Das war knapp«, sagte Razamon. »Das Ding hätte dir die Arme abtrennen können.«

Atlan hieb mit dem Messer nach dem Fa-den. Dieser gab einige Zentimeter weit nach und zerriß dann mit einem Knall. Die Enden schossen zu beiden Seiten hinweg und ver-schwanden im Dunkel.

»Was war das?« fragte der Arkonide. »Das weiß ich auch nicht. Auf jeden Fall

war es gefährlich.« Atlan war gewarnt. Er wußte jetzt, daß Fen-

rir in eine Falle geraten war, aus der er sich selbst nicht befreien konnte. Vorsichtig schob er das Messer vor sich her über den Boden, um so einen weiteren Faden aufzuspüren und rechtzeitig zu zerschneiden. Doch unter dem Laub verbarg sich nichts mehr.

Dafür brach plötzlich ein riesiger Käfer aus dem Unterholz hervor und griff die beiden Männer an. Er glich einem Hirschkäfer, war jedoch etwa zwei Meter lang und einen hal-ben Meter hoch. Wütend zischend versuchte er, Atlan mit seinen mächtigen Zangen zu packen.

Der Arkonide warf sich gedankenschnell zur Seite und entging so den messerscharfen Mordwerkzeugen.

Razamon sprang dem Rieseninsekt auf den Rücken und bohrte ihm die Klinge seines Messers dicht hinter dem Kopf unter den Pan-zer. Es knackte vernehmlich, als der Stahl die Chitinschale durchbrach. Eine stark riechen-de, farblose Flüssigkeit schoß aus der Wunde und ergoß sich über die Hände Razamons. Dieser stieß sich sofort ab und sprang vom

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Rücken des Käfers herab.

Das riesige Insekt verharrte auf der Stelle. Es streckte die beiden Zangen weit vor, be-wegte sich jedoch nicht. Endlos lange Sekun-den verstrichen, bis die Beine des Tieres end-lich einknickten und der Körper den Boden berührte. Das Insekt gab eine Reihe von kla-genden Lauten von sich, dann erstarrte es er-neut. Das Sirren der Mundwerkzeuge erstarb.

»Das Biest ist tot«, stellte Razamon fest. Er stieß den Käfer mit dem Fuß an, um sich da-von zu überzeugen, daß auch wirklich kein Leben mehr in ihm war.

Atlan trat näher an Fenrir heran. Der Rie-senwolf sah vollkommen erschöpft aus. Blut verschmierte seinen Kopf und seine Brust. Deutlich konnte Atlan sehen, daß der Stahl-bolzen, den Balduur abgefeuert hatte, noch immer im Rachen des Tieres steckte.

Doch diese Verletzung war nicht der einzi-ge Grund dafür, daß der Wolf sich in akuter Lebensgefahr befand. Er steckte mit seinem Körper fast vollkommen in einer spinnwebar-tigen Hülle, die mit zahlreichen Bändern an den umstehenden Bäumen und Büschen be-festigt war. Spuren bewiesen, daß der riesige Käfer ihn so eingesponnen und dabei auch noch in einer Mulde vergraben hatte. Offen-sichtlich hatte er sich mit dem Fenriswolf einen Speisevorrat anlegen wollen.

»In so einer Hülle könnten wir jetzt auch stecken«, bemerkte Razamon erschaudernd. »Wir haben viel Glück gehabt. Wenn uns der Springfaden erwischt hätte, wäre alles ganz anders gekommen.«

Er legte Atlan die Hand auf die Schulter. »Komm jetzt«, sagte er. »Ich lasse den Wolf nicht so liegen«, ent-

gegnete der Arkonide entschlossen. »Wir müssen ihm helfen.«

Razamon blickte den Wolf an. Auch ihm war klar, daß dieses Tier über eine wesentlich höhere Intelligenz verfügte, als sie zunächst angenommen hatten.

»Was hast du vor?« fragte Razamon. »Wir müssen den Bolzen aus dem Rachen

entfernen.« »Davon kann ich nur abraten. Der Wolf

wird nicht stillhalten.« »Ich versuche es jedenfalls«, erklärte der

Arkonide. Razamon sah ein, daß er ihn nicht

umstimmen konnte. »Also gut«, erwiderte er. »Du mußt den

Bolzen herausschneiden. Anders geht es nicht. Dazu mußt du dein Messer sterilisieren, sonst geht das Tier an der Infektion ein. Dar-über hinaus müssen wir aber auch die Wunde mit einem antibiotisch wirkenden Mittel be-handeln, weil der Bolzen schließlich nicht keimfrei ist.«

»Am besten schlagen wir auf der nächsten Lichtung, die wir finden, unser Lager auf. Wir müssen ein Feuer machen.«

Razamon trat mit dem Fuß gegen eine Baumwurzel und fluchte.

»Du bist also wirklich entschlossen, das Tier zu retten«, stellte er fest, »obwohl wir dadurch viel Zeit verlieren.«

»So ist es.« »Na schön. Schneide du ihn aus den Spinn-

fäden heraus. Ich gehe ein Stück weiter und mache ein Feuer an. Dorthin mußt du Fenrir schon bringen.«

Hinkend eilte er davon, ohne auf eine Ant-wort Atlans zu warten.

»Du hast es gehört, Fenrir«, sagte der Ar-konide zu dem Wolf. »An die Arbeit.«

Das Tier verhielt sich völlig ruhig, als At-lan vorsichtig den Kokon zerstörte, in dem es gefangen war. Es blieb auch noch in der Mul-de liegen, als es frei war. Der Aktivatorträger beugte sich über den Wolf, legte ihm die Hände unter die Brust und hob ihn behutsam an.

Winselnd stemmte Fenrir die Beine gegen den Boden und stand auf. Atlan schob ihn voran. Doch der Wolf war so erschöpft, daß er wieder zu Boden stürzte, kaum daß er aus der Mulde heraus war.

Atlan erkannte, daß er ihn nicht dazu be-wegen konnte, genügend weit zu laufen. Er war gezwungen, ihn an Ort und Stelle zu ope-rieren. Er sammelte ein paar trockene Äste zusammen, schälte zwei davon ab, die er für besonders geeignet hielt, kerbte einen von ihnen ein und füllte die Kerbe mit pulvertro-ckenem Moos. Dann stemmte er das Ende des anderen Astes gegen das Moos und drehte das Holz zwischen den Händen. Das Moos be-gann schon bald zu glimmen. Atlan streute weiteres Moos darüber und blies behutsam in die Glut, bis eine erste Flamme aufzüngelte.

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Danach legte er dünne Zweige in das Feuer. Sie entzündeten sich rasch, so daß sich in we-nigen Minuten ein ausreichend starkes Feuer entwickelte. In den Flammen erhitzte er die Klinge seines Messers, um sie keimfrei zu machen.

Er ließ es wieder abkühlen. Dann kniete er sich vor Fenrir auf den Boden und schob ihm eine Hand zwischen die mächtigen Zähne. Das Tier röchelte leise. Die Kiefer zuckten, so daß der Arkonide die Hand unwillkürlich zu-rückzog.

»Ganz ruhig«, sagte er besänftigend. A-bermals drückte er die Kiefer auseinander, bis er sehen konnte, wo der Bolzen eingedrungen war. Der Stahl steckte in der hinteren Gau-menplatte und saß so fest, daß er sich nicht bewegen ließ.

Atlan spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat.

Vorsicht, mahnte sein Logiksektor. Das Biest wird zuschnappen, wenn es Schmerzen spürt. Das ist eine instinktive Reaktion, die sich nicht verhindern läßt. Du mußt dich ab-sichern.

Der Arkonide blickte sich um, fand einen armdicken Ast und schob diesen Fenrir zwi-schen die Zähne. Das Holz behinderte ihn zwar beträchtlich, bot ihm aber eine Mindest-sicherung, auf die er nicht verzichten konnte.

Nun packte er den Bolzen mit der linken Hand, bog den Kopf des Wolfes zurück und öffnete ihm den Rachen noch ein wenig mehr. Dann stieß er die Spitze des Messers dicht neben dem Bolzen in den Gaumen und ver-größerte so die Wunde.

Fenrir knurrte laut, doch seine Kiefer be-wegten sich nicht. Es schien, als wisse er ge-nau, wie er sich zu verhalten hatte. Da der Ast ihn allzu sehr störte, entfernte Atlan ihn und arbeitete ohne jede Sicherung weiter. Blut schoß aus der Wunde und verschmierte seine Hände. Er drehte den Bolzen vorsichtig und stellte fest, daß er nun schon erheblich locke-rer saß.

Nun führte er die Messerspitze tief in den Gaumen hinein bis hin zur Bolzenspitze. Dann zog er das Geschoß mit samt der Klinge mit einem Ruck heraus.

Krachend schloß sich der Rachen des Tie-res. In den Augen loderte es auf. Für einen

kurzen Moment schien es, als werde Fenrir sich von seinen Schmerzen überwältigen las-sen, dann senkte sich der mächtige Kopf auf den Boden. Atlan sah, daß Blut über die Lip-pen quoll, aber er wußte, daß sich die Wunde bald beruhigen würde.

»Wir können nicht hier bleiben«, sagte er. »Hier ist es zu unsicher.«

Er hatte kaum ausgesprochen, als ihm ein intensiver Raubtiergeruch in die Nase stieg. Fenrir richtete sich halb auf. Er fletschte die Zähne. Doch diese Kraftanstrengung war schon zu groß für ihn gewesen. Die Beine rutschten ihm zur Seite weg, und er fiel ins Gras zurück.

Atlan sprang auf. Keinen Moment zu früh. Aus dem Dunkel

der Büsche schnellte sich ihm eine riesige Tiergestalt entgegen. Fingerlange Reißzähne schnappten nach ihm. Das Tier prallte gegen ihn und schleuderte ihn zu Boden.

Eine Hyäne, signalisierte ihm sein Extra-sinn. Der Blutgeruch hat die Bestie angelockt.

Atlan schlug mit unbändiger Wildheit zu-rück. Er wußte, daß es um Bruchteile von Sekunden ging. Wenn sich die riesigen Zähne erst einmal in seine Schulter oder seinen Hals vergraben hatten, dann gab es keine Rettung mehr. Er stemmte der Hyäne die linke Hand gegen den Hals und trieb das Messer mit der rechten in den Körper hinein.

Er hörte, daß Fenrir knurrte und winselte. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, daß der Wolf vergeblich versuchte, auf die Beine zu kommen und in den Kampf einzugreifen. Die Hyäne schnellte sich zur Seite und griff erneut an.

Atlan entging diesem Angriff nur, weil er sich zur Seite rollte und dann aufsprang.

Geduckt stand er dem Tier gegenüber, das geifernd vor ihm kauerte. Er war sich darüber klar, daß er den Kampf schnell beenden muß-te, weil er der überlegenen Kraft der Bestie auf längere Sicht nichts entgegenzustellen hatte.

Eine zweite Hyäne trottete aus dem Di-ckicht heran. Das Tier schien es nicht beson-ders eilig zu haben, da die vermeintliche Beu-te nicht mehr entkommen konnte.

Dann aber griffen beide Tiere plötzlich ge-meinsam an, als hätten sie sich verständigt.

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Das erste konnte Atlan noch abwehren. Er riß den linken Arm hoch und lenkte so die gierig zuschnappenden Zähne ab. Mit der rechten Hand führte er das Messer gegen die Kehle der Hyäne und tötete das Tier.

Dann aber war der zweite Angreifer heran und warf ihn einfach um. Wie ein Spielball flog er in die Büsche. Er warf die Arme halt-suchend hoch und verlor dabei das Messer. Die Bestie raste hinter ihm her und war über ihm, bevor er die Arme heben konnte. Die Reißzähne schnappten nach seinem Hals.

In diesem Moment vernahm Atlan einen dumpfen Schlag. Die Hyäne stöhnte auf. Die Beine sackten unter dem Tier weg, und es stürzte schwer auf den Arkoniden.

»Mir scheint, ich bin gerade noch rechtzei-tig gekommen«, sagte Razamon, packte den Kadaver und zog ihn von Atlan herunter. Ge-schickt schnitt er den Bolzen aus dem Schädel des Tieres heraus und steckte ihn in den Kö-cher zurück, nachdem er ihn vom Blut gesäu-bert hatte.

Atlan erhob sich. Er nickte Razamon zu. »Das war knapp«, sagte er. »Danke.« »Schon gut. Das nächste Mal bist du dran,

mir zu helfen.« Er zeigte auf Fenrir, der noch immer auf dem Boden lag. »Es ist nicht weit. Wir können ihn tragen.«

Atlan schlug vor, eine einfache Trage zu bauen, weil es wesentlich einfacher war, den Wolf damit zu transportieren. Sie schnitten einige kräftige Äste von den Bäumen und banden sie mit Schlingpflanzen zusammen. Dann legten sie Fenrir darauf und hoben ihn hoch.

Das Tier wog fast vier Zentner, der Boden war uneben, und das Unterholz war dicht, so daß sich der Transport als schweißtreibende Arbeit erwies. Sie kamen nur sehr langsam voran. Für etwa zweihundert Meter bis zu einem Hügel auf einer Lichtung benötigten sie fast eine halbe Stunde. Sie legten Fenrir am Fuß des Hügels ab, weil sie zu erschöpft waren, ihn zur Kuppe hinaufzutragen.

»Ich gehe noch einmal zu den Hyänen zu-rück«, erklärte Razamon. »Er braucht Fleisch, wenn er wieder zu Kräften kommen soll.«

Atlan hielt ihn nicht zurück. Er stieg zum Feuer hinauf und warf noch einige Äste in die Flammen. Es dunkelte rasch. Der Blut-

dschungel hallte von dem Geschrei der jagen-den Tiere wider.

Fenrir erhob sich mühsam und kroch zu ei-nem nahen Bach hinüber. Atlan beobachtete ihn, wie er gierig trank. Als er seinen Durst gelöscht hatte, kehrte der Wolf zum Hügel zurück und kroch ein kleines Stück an seiner Flanke hoch, bis er eine Mulde fand, in der er liegen konnte.

Razamon kam mit dem Hinterteil einer ausgeweideten und geschälten Hyäne aus dem Dschungel. Er warf Fenrir das Fleisch hin und stieg dann zu Atlan hinauf.

»Da hinten hat sich bereits allerlei Getier eingefunden«, berichtete er. »Die Kadaver werden in spätestens einer Stunde restlos ver-schwunden sein.« Er reichte Atlan zwei faust-große Früchte, die er ebenfalls mitgebracht hatte, ließ sich ins Gras sinken, schloß die Augen und schlief augenblicklich ein.

Der Arkonide übernahm die Wache am Feuer. Voller Unbehagen spähte er ins Dunkel hinaus. Er ahnte, daß ihnen eine unruhige Nacht bevorstand.

2.

Atlan schreckte auf, als ein dumpfes

Brummen ertönte. Er erhob sich und warf etwas Holz nach. Unruhig blickte er in die Dunkelheit hinaus. Er konnte sich dieses Ge-räusch nicht erklären. Es klang, als ob ir-gendwo ein Motor in Betrieb sei, doch im Blutdschungel konnte es nach seinen Informa-tionen nichts geben, was mit einem Motor versehen war.

Das motorisierte Objekt näherte sich ihm, zog am Hügel vorbei und umkreiste ihn ein-mal.

»Was ist los?« fragte Razamon verschlafen. »Ich weiß nicht«, entgegnete der Arkonide.

»Was ist das für ein Geräusch?« Der Atlanter hob ratlos die Schultern. Er

wußte keine Antwort. Fenrir wurde unruhig. Er knurrte leise und hustete einige Male.

»Da ist ein Licht«, sagte Razamon. Tatsächlich leuchtete zwischen den Bäu-

men eine helle Lampe auf. Sie näherte sich jetzt dem Hügel.

»Das Ding kommt zu uns her«, stellte Ra-zamon fest. Er nahm seine Skerzaal auf, legte

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einen Bolzen ein und spannte die Sehne. At-lan bereitete seine Skerzaal in gleicher Weise vor.

Wenig später beschleunigte das unbekannte Objekt. Röhrend raste es auf die beiden Män-ner zu, schoß die Hügel hinan und rollte dicht am Feuer vorbei.

Es war ein altertümliches Motorrad, das knatternd und brummend seine Abgase durch zwei verrostete Rohre entließ. Darauf saß ein nach mittelalterlicher Mode gekleideter Mann, dessen Gesicht durch eine rote Maske verhüllt war. Auf dem Kopf trug er einen Schlapphut mit einer Krempe, die über seine Schultern hinausragte. Die Füße steckten in Lederstiefeln, die ihm bis über die Knie reich-ten. Darüber trug er einen Wanst, der mehr-fach ausgestellt und ausgepludert war.

Ein breiter Gürtel schlang sich um seine Hüften. Darin steckten zwei Trommelrevol-ver.

Razamon brüllte wütend auf. Er rannte auf den Motorradfahrer zu, blieb dann aber auf halbem Wege stehen, obwohl er ihn ohne weiteres hätte erreichen können, riß die Sker-zaal hoch und feuerte sie ab. Der Bolzen fuhr dem Unbekannten durch einen Pluderärmel und zerfetzte ihn. Razamon schleuderte die Waffe wütend zur Seite, als er erkannte, daß er den Motorradfahrer nicht getroffen hatte. Er riß sein Messer aus dem Gürtel und rannte hinter ihm her.

Der Maskierte drehte sich um, blickte den Atlanter an, zog einen Revolver aus dem Gür-tel und legte auf ihn an. Razamon ließ sich auf den Boden fallen. Der Maskierte schoß dreimal, verfehlte ihn jedoch. Dann hatte das Motorrad den Fuß des Hügels erreicht. Es beschleunigte lärmend und raste durch die Nacht davon.

»Warum hast du nicht geschossen?« brüllte Razamon. Er lag im Gras und blickte zu Atlan auf. Dieser stellte bestürzt fest, daß er die Au-gen seines Begleiters nicht sehen konnte. Wo sie sein sollten, befanden sich nur zwei dunk-le Höhlen.

Doch der Eindruck änderte sich sogleich, als Razamon sich erhob, und sich die Flam-men in seinen Augen spiegelten.

»Ich habe dir eine Frage gestellt«, schrie er zornig.

Atlan grinste. »Und ich habe dir keine Antwort gegeben«,

erwiderte er. »Ist dir das nicht aufgefallen?« Razamon beugte sich vor. Er streckte die

Arme aus und krümmte die Finger zu Krallen. Sein gelblich schimmerndes Gesicht verzerrte sich.

»Wie war das?« fragte er drohend. »Ich habe auch eine Frage«, erklärte Atlan

ruhig. »Glaubst du an die ausgleichende Ge-rechtigkeit der Natur?«

Razamon war verblüfft und verunsichert. Er richtete sich auf. Seine Haltung normali-sierte sich. Damit verringerte sich auch die Gefahr, daß er in einen Zustand der Raserei verfiel, in dem er sich nicht mehr kontrollie-ren konnte.

»Was soll das?« »Nichts weiter, Freund«, sagte Atlan. »Ich

wollte nur wissen, ob du an die ausgleichende Gerechtigkeit der Natur glaubst.«

»Es gibt keine Gerechtigkeit in der Natur«, erwiderte Razamon heftig.

»Natürlich gibt es sie«, beteuerte der Arko-nide mit todernstem Gesicht. »Das solltest du gerade wissen. Du hinkst.«

»Allerdings, weil ich den Zeitklumpen ha-be.«

»Du bist ein lebendes Beispiel für die aus-gleichende Gerechtigkeit der Natur.« Atlan lächelte. »Sieh mal, wenn einer hinkt, dann hat er ein kurzes Bein.«

»Richtig«, sagte Razamon unlustig. »Und die Natur schafft den Ausgleich dadurch, daß sie ihm dafür das andere Bein länger gemacht hat.« Razamons Kinnlade sackte nach unten.

»Das ist ... das ist ...«, sagte er stammelnd. »Die ausgleichende Gerechtigkeit der Na-

tur«, ergänzte Atlan vergnügt. Der Atlanter brüllte wütend auf. Er schleu-

derte sein Messer auf den Boden, so daß es fast darin verschwand. Dann griff er Atlan an. Seine Arme streckten sich vor. Die Finger krümmten sich, und die Lippen zogen sich weit über die Zähne zurück.

Bevor er den Arkoniden jedoch erreichte, schoß das Motorrad röhrend aus dem Blut-dschungel hervor und raste am Hügel vorbei. Razamon verzichtete darauf, mit Atlan zu kämpfen. Er warf sich herum und rannte den Hügel herunter.

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Der Maskierte fuhr langsamer, ließ ihn bis

auf zwei Schritte herankommen, beschleunig-te dann scharf und fuhr ihm davon. Razamon sprang ihm nach, erreichte ihn jedoch nicht, sondern landete auf dem Bauch im Gras.

Trotz der Dunkelheit sah Atlan, wie sich seine Hände in den Boden gruben, und wie sie die Grassoden herausrissen. Razamon wühlte sich in den Boden hinein, als habe er den Verstand verloren.

Plötzlich aber erhob er sich, strich sich den Dreck von der Kleidung und kam zu Atlan. Sein Gesicht war ruhig und entspannt. Es ver-riet nicht, was in ihm vorging. Er setzte sich ans Feuer.

»Ich habe Hunger«, sagte er. »Haben wir kein Fleisch, das wir am Feuer rösten kön-nen?«

»Nichts«, erwiderte der Arkonide. »Ich ha-be noch eine Frucht. Du kannst sie haben.«

Er hielt Razamon die Frucht hin. Dieser nahm sie und aß sie schweigend auf.

»Wer ist der Maskierte?« fragte Atlan. Der Atlanter schüttelte den Kopf. »Lassen

wir das. Ich habe den Mann bereits verges-sen.«

Er blickte den Arkoniden kurz an. Atlan er-kannte, daß er auch jetzt nichts erfahren wür-de. Er verzichtete auf weitere Fragen, weil er wußte, daß er doch keine Antwort bekommen würde.

Fenrir kroch zu ihnen heran. Sie bemerkten ihn erst, als er unmittelbar neben ihnen war. Seine Lefzen waren geschwollen, und Wund-flüssigkeit floß ihm aus dem Maul.

»Wir müssen etwas für ihn tun«, sagte At-lan, »sonst geht er ein.«

Razamon nickte. »Komm«, sagte er. »Hilf mir.« Er nahm einen brennenden Ast aus dem

Feuer und stieg den Hügel hinab. Atlan be-gleitete ihn, nachdem er sich ebenfalls mit einer Fackel versehen hatte.

Razamon ging, ohne zu zögern, in den Dschungel hinein. Schon nach wenigen Schritten fand er einen Busch, an dem trau-benartige Früchte wuchsen. Er pflückte einige von ihnen ab und gab sie Atlan.

»Nichts davon essen«, sagte er warnend. »Sie sind giftig.«

Wenig später nahm er von einem Baum ei-

nige Steinfrüchte, riß einige Pilze aus dem Boden und wählte einige Kräuter aus. So aus-gerüstet, kehrte er mit Atlan zum Feuer zu-rück. Dabei löste er ein kürbisartiges Ge-wächs aus einem Busch und nahm es eben-falls mit. Er trennte am Feuer eine Scheibe davon ab und höhlte die Frucht danach aus. Dann gab er alle anderen Teile hinein und stellte alles ins Feuer. Atlan erwartete, daß der Kürbis dabei verbrennen würde, aber die Fruchtschale hielt.

»Die Schale wird durch die Hitze erst rich-tig fest«, erklärte Razamon nach einigen Mi-nuten.

Atlan konnte sehen, daß sich aus den ande-ren Teilen eine Brühe gebildet hatte, die hef-tig kochte. Razamon warf nun noch einige Pilze, die er am Fuß des Hügels gefunden hatte, dazu und wartete, bis auch sie sich fast aufgelöst hatten. Dann nahm er alles aus dem Feuer und fischte die ausgekochten Teile her-aus, so daß schließlich nur die Brühe übrigblieb.

»Ich glaube, daß alles darin ist, was darin sein muß«, sagte er. »Ich habe nichts verges-sen. Die Brühe wirkt antibiotisch. Du kannst die Wunde damit versorgen.«

»Gehen daran nur die Bakterien zugrunde oder Fenrir auch?« fragte Atlan.

Razamon lachte leise. Seine dunklen Augen blitzten auf.

»Wenn ich vorgehabt hätte, den Wolf um-zubringen, hätte ich es leichter haben kön-nen«, erwiderte er.

Fenrir erkannte, worum es ging. Wider-standslos ließ er sich den Rachen öffnen und die streng riechende Brühe auf die Wunde streichen.

Der Wolf kroch zu seiner Mulde zurück, rollte sich dort zusammen und schlief ein.

»Gute Wache«, sagte Atlan. »Jetzt werde ich mich aufs Ohr legen.«

»Das geht nicht«, entgegnete Razamon. »Tut mir leid.«

»Was spricht dagegen?« fragte Atlan. »Die Riesenlurche«, erwiderte Razamon

gelassen. Er deutete ins Dunkel hinaus, nahm einen brennenden Ast und warf ihn den Hügel hinunter. Trockenes Gras fing Feuer und lo-derte kurz auf. Im Licht der Flammen sah Atlan vier etwa zwei Meter lange Lurche, die

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lauernd zu ihm hinaufblickten. In ihren geöff-neten Rachen blitzten nadelscharfe Zähne.

»Das ist Sache der Wache«, sagte der Ar-konide. »Oder solltest du nicht in der Lage sein, dich um solche Kleinigkeiten zu küm-mern?«

Der Fenriswolf hob den Kopf und knurrte drohend.

»Es ist die Jagdtaktik dieser Tiere, die es einem Mann allein fast unmöglich macht, sich gegen sie zu behaupten«, erklärte der Atlan-ter. »Du weißt nie, wer von ihnen wirklich angreift und wer nur fintiert. Sie sind intelli-genter als jede andere Tierart, die ich kennen-gelernt habe.«

Atlan nahm die Bedrohung durch die Lur-che keineswegs auf die leichte Schulter.

»Was tun wir?« fragte er. »Abwarten.« »Warum greifen wir nicht an?« »Das könnte genau das sein, was sie wol-

len. Während wir uns auf diese vier Tiere da unten konzentrieren, rücken vielleicht von hinten vier andere auf uns zu und erledigen uns, wenn wir am wenigsten damit rechnen.«

»Du könntest auf sie schießen, während ich dir den Rücken decke«, schlug Atlan vor. Aber auch damit war der Atlanter nicht ein-verstanden.

»Ich bin nicht davon überzeugt, daß sie uns wirklich angreifen wollen«, erklärte er. »Es könnte sein, daß sie sich ein ganz anderes Opfer ausgesucht haben. Wir müssen abwar-ten, was geschieht. Wenn mich meine Erinne-rung nicht trügt, verbreiten diese Lurche einen ungewöhnlich intensiven Blutgeruch, sobald sie verletzt sind. Damit locken sie weitere Raubtiere an, und genau das müssen wir ver-meiden.«

»Also gut«, sagte Atlan seufzend. »Ich werde um meinen wohlverdienten Schlaf kommen.«

Razamon lächelte. »Du kommst mit wenig Schlaf aus. Das

weiß ich genau. Rege dich also nicht auf.« Schweigend saßen die beiden Männer im

Gras und beobachteten die Lurche. Stunde um Stunde verstrich, ohne daß etwas geschah. Als der Morgen heraufdämmerte, brüllten die Lurche plötzlich auf. Im Blutdschungel wurde es laut. Ein großes Tier verteidigte sich gegen

einige Angreifer. Der Kampf dauerte mehrere Minuten, dann flüchtete das Opfer. Die bei-den Männer auf dem Hügel sahen es durch das Dickicht rennen. Es kam auf die Lichtung heraus. Es war ein Tier, das einem Nilpferd ähnlich war. Auf dem plumpen Kopf erhob sich jedoch ein vierarmiges, wuchtiges Ge-weih, und eine zottige Mähne bedeckte Na-cken und Schultern des Tieres. Die Reste von einem Lurch hingen noch im Geweih. Tiefe Bißwunden an den Flanken des Kolosses zeigten an, wie schwer der Kampf gegen die Raubtiere gewesen war.

Die Lurche sahen den Angriff als geschei-tert an und verzichteten auf weitere Aktionen. Fluchtartig zogen sie sich in den Dschungel zurück, während ihr blutendes Opfer den Hü-gel halb umrundete und dann schnaufend im Dickicht verschwand.

»Siehst du«, sagte Razamon. »Sie haben uns gar nicht gemeint. Hätten wir sie ange-griffen, dann hätten wir jetzt ein Menge Är-ger.«

Er deutete auf die Schweißspur, die am Fluß des Hügels entlangführte.

»Das da wird andere Bestien anlocken. Wir sollten daran denken, möglichst bald von hier zu verschwinden.«

»Wir warten noch, bis es ganz hell ist. Dann brechen wir auf. Solange schlafe ich noch.« Atlan legte sich ins Gras und schlief sofort ein. Etwa eine Stunde später wachte er wieder auf. Razamon hatte einige Früchte zusammengetragen, die er ihm als Frühstück reichte.

Atlan blickte zuerst zum Wolf hinüber. Fenrir hatte sich erhoben. Auf wackeligen Beinen stand er in der Mulde und verzehrte einige Fleischbrocken, die von den erlegten Hyänen stammten. Er hatte die Krise bereits überwunden.

»Hoffentlich kann er uns folgen«, sagte Ra-zamon. »Wir können ihn nicht tragen.«

»Er kann gehen. Bestimmt.« Der Tag war diesig. Die Sicht reichte nicht

weit. Die Feste Grool war nur schemenhaft von der Kuppe des Hügels aus zu sehen. Doch das genügte den beiden Männern, da sie nur wissen wollten, in welche Richtung sie gehen mußten. Mit den Einzelheiten der Feste konn-ten sie sich später beschäftigen. Nun kam es

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erst einmal darauf an, den Blutdschungel zu verlassen und die nächsten Stunden zu über-leben.

Atlan schüttelte unwillkürlich den Kopf, als er daran dachte, wie leicht alles gewesen wä-re, wenn er nur einen Kombistrahler bei sich gehabt hätte. Mit einer solchen kombinierten Energiestrahl- und Paralysewaffe hätte er leicht alle Probleme lösen können. Kein ein-ziges Tier im Blutdschungel wäre eine echte Bedrohung gewesen, und den geheimnisvol-len Unbekannten, der sich ihnen einmal als Ritter, einmal als mittelalterlicher Lands-knecht auf einem Motorrad präsentiert hatte, hätte er mühelos paralysieren können.

Die beiden Männer gingen den Hügel hin-unter. Atlan blickte zu Fenrir zurück, der sich ihnen zögernd anschloß. Das Tier hatte Mühe, seine Bewegungen richtig zu koordinieren. Es bekam sich jedoch von Schritt zu Schritt mehr unter Kontrolle, und als sie den Waldrand erreicht hatten, machte es bereits einen kräfti-geren Eindruck.

Razamon hielt seine Skerzaal schußbereit in der Hand. Atlan verzichtete darauf, die Sehne gespannt zu halten. Er war davon über-zeugt, daß er die Waffe notfalls schnell genug einsatzbereit machen konnte.

Als sie sich dem Waldrand näherten, blieb Razamon plötzlich stehen. Er zeigte nach vorn.

»Der Ritter«, sagte Atlan überrascht. Neben einigen steil aufsteigenden Felsna-

deln stand eine schimmernde Gestalt. Sie ver-hielt sich völlig still.

»Nicht der Ritter«, verbesserte der Atlanter. »Das ist Porquetor. Sieh doch, das Visier. Außerdem ist Porquetor deutlich größer als dieser ...«

»Sprich weiter«, forderte der Arkonide ihn auf, doch Razamon preßte die Lippen zu-sammen und schwieg.

Langsam arbeiteten sie sich durch das Ge-büsch voran auf Porquetor zu, jene geheim-nisvolle Gestalt, die ihnen im Kampf gegen die gefährlichen Raubschweine geholfen hat-te.

»Porquetor«, rief Razamon. Die schimmernde Gestalt drehte ihnen den

Rücken zu und schritt davon. Sie verschwand hinter den Felsnadeln. Verblüfft blickten ihr

die beiden Männer nach. »Das verstehe, wer will«, sagte Razamon.

»Ich verstehe es nicht.« Atlan eilte zu den Felsen hinüber. Deutlich

erkannte er die Spuren, die der Gepanzerte auf dem Boden hinterlassen hatte. Sie führten zu einem Felsspalt, der etwa drei Meter hoch und anderthalb Meter breit war.

Fenrir kam zu dem Arkoniden. Knurrend schob er die Schnauze an der Spur Porquetors entlang. Dann setzte er sich hin und ließ den Kopf hängen.

»Folgen wir ihm?« fragte Razamon. »Ich würde ganz gern wissen, was sich hier

in den Felsen verbirgt«, antwortete Atlan. »Oder kannst du es mir sagen?«

Razamon schüttelte den Kopf. »Ich bin nie hier gewesen.«

Atlan ging einige Schritte weit in den Gang hinein. Dann stießen seine vorgestreckten Hände gegen ein glattes Hindernis. Er tastete es ab, bis er einen Hebel fand. Diesen legte er um. Die Wand erwies sich als Türschott. Sie glitt knirschend zur Seite und gab den Blick auf einen dunklen Gang frei. An der Decke befanden sich matt leuchtende Platten, die ein dämmeriges Licht schufen. Die Wände waren mit teils gegenständlichen, teils abstrakten Zeichnungen geschmückt.

»Was haben wir denn da?« fragte Razamon überrascht.

»Sagtest du nicht, daß nach einer alten Le-gende irgendwo unter dem Blutwald eine un-bekannte Zivilisation bestehen soll?«

»Davon spricht man«, erwiderte der Atlan-ter, »doch zu meiner Zeit hatte man keinerlei Beweise dafür gefunden. Das kann sich natür-lich im Laufe von zehntausend Jahren geän-dert haben.«

Atlan blickte sich um. Fenrir lag im Fels-spalt. Er hatte den Kopf auf die ausgestreck-ten Vorderpfoten gelegt und beobachtete sie.

»Komm«, rief der Arkonide, doch der Wolf reagierte nicht. So entschloß Atlan sich, ihn zu lassen, wo er war. Das Schott ließ er offen, so daß Fenrir ihnen folgen konnte, falls er sich dazu entschloß. Zusammen mit Razamon ging er den Weg weiter, den Porquetor zuvor auch genommen haben mußte. Einige Male blieb er stehen und legte eine Hand gegen die Wand. Dabei spürte er, daß darin kleine Spal-

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ten waren, aus denen kühle Luft strömte.

Wenig später vernahm er eine fremdartige Musik.

Sie drang ebenfalls aus den Spalten in der Wand.

Der Gang endete nach etwa hundert Meter an einer schwarzen Wand. Auch hier fand sich bald ein Hebel. Atlan legte ihn um, und knirschend glitt die Wand zur Seite. Eine hei-ße, von fremdartigen Gewürzen durchsetzte Luft schlug ihnen entgegen. Sie blickten auf einen schmalen Fluß, der sich durch eine Felsschlucht schlängelte. An den Felsen wa-ren zahlreiche Glasbehälter befestigt, die als Öllampen dienten. Sie schufen ausreichendes Licht.

Im Fluß standen tiefgebeugte, blasse Ges-talten, die große Handsiebe schwenkten, so daß die Erde, die sich darin befand, vom Wasser ausgewaschen wurde.

»Was sind das? Goldsucher?« fragte Atlan überrascht.

Razamon gab ihm mit einer Geste zu ver-stehen, daß er weitergehen sollte. Atlan trat zwei Schritte vor. Die Wand schloß sich hin-ter ihm und dem Atlanter. Kaum war sie ein-gerastet, als hinter den Felsen zehn untersetzte Gestalten hervorkamen und sich drohend vor ihnen aufbauten. Sie waren nur mit einem Lendenschurz bekleidet. Sie waren humanoid. Auf ihren Köpfen wuchsen Schaufelgeweihe, die zu beiden Seiten bis zur Höhe ihrer Ober-arme ausluden. Die Gesichter waren scharfge-schnitten. Sie hatten zwei Augen, die für Menschen normalgroß waren und die an der gleichen Stelle wie bei Atlan oder Razamon saßen. Darüber befanden sich jedoch noch zwei kleine Knopfaugen, die weiter auseinan-derstanden als die großen Augen. Auch sie waren nach vorn gerichtet.

Aus der Zahl und der Anordnung der Au-gen schloß Atlan, daß sie hervorragende Nachtseher waren.

»Legt die Waffen ab«, befahl einer von ih-nen in pthorischer Sprache.

»Soweit sind wir noch nicht«, entgegnete Atlan.

»Es ist Sitte und Brauch, daß man bei uns ohne Waffen kämpft. Nur die Hände und Fü-ße sind erlaubt«, erklärte Atlans Gegenüber.

Razamon trat vor. Er legte sein Messer und

die Skerzaal auf den Boden und blickte Atlan kurz an. Der Arkonide nickte ihm zu. Er wür-de aufpassen, daß niemand diese Waffen an sich brachte.

Als Razamon sich den braunen Gestalten zuwandte, griff ihr Sprecher an. Aus dem Stand heraus schnellte er sich hoch und schmetterte Razamon die nackten Füße in die Herzgegend. Der Atlanter überstand diesen Angriff nur, weil er ihm die größte Wucht dadurch nahm, daß er den Oberkörper nach hinten neigte.

Beide Männer stürzten zu Boden. Sie um-schlangen sich und wälzten sich keuchend hin und her. Dann endlich gelang es Razamon, die Umklammerung zu sprengen. Er schleu-derte seinen Gegner bis ans Wasser zurück.

Atlan stellte verwundert fest, daß die Män-ner, die im Fluß arbeiteten, auch jetzt nicht aufblickten. Sie unterbrachen ihre anstren-gende Arbeit nicht, sondern holten sich immer Siebe voller Sand vom Flußufer, um diesen dann im Wasser auszuwaschen. Da Atlan zu sehr auf den Kampf achtete, sah er zunächst noch nicht, was aus dem Sand gewonnen wurde.

Razamon und sein Gegner hatten sich von-einander gelöst. Sie waren aufgesprungen und versuchten nun, sich mit einer Reihe von Griff- und Schlagkombinationen gegenseitig zu überwältigen. Dem Atlanter gelang es schließlich, den Kampf mit einem gewaltigen Faustschlag gegen das Kinn des anderen für sich zu entscheiden.

Keuchend blieb er neben dem Bewußtlosen stehen und blickte die anderen Geweihmänner an, doch keiner von ihnen schien gewillt zu sein, den Kampf fortzusetzen.

Einer von ihnen, ein hochgewachsener, fast dünn wirkender Mann, trat auf Atlan zu und streckte ihm herausfordernd die Arme entge-gen. Der Arkonide legte seine Waffen ab und trat auf ihn zu. Er war auf der Hut. So konnte er dem ersten Angriff entgehen, der mit einer Beinschere gegen ihn vorgetragen wurde.

Er wartete gar nicht erst, bis der zweite An-griff erfolgte, sondern übernahm die Initiati-ve. Er setzte eine Dagorkombination an, mit der er seinen Gegner aushob und ihn aufs Kreuz warf, nachdem er den Blutstrom im Gehirn mit zwei blitzschnellen Handkanten-

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schlägen gegen den Hals unterbrochen hatte. Der Mann blieb bewußtlos auf den Felsen liegen.

Die anderen drehten sich enttäuscht ab und trotteten davon. Auch Razamons Gegner ver-schwand in den Felsen.

Atlan wollte den Mann, mit dem er ge-kämpft hatte, nicht ohne weiteres ziehen las-sen. Er blieb bei ihm, bis er wieder bei sich war und sich aus eigener Kraft aufrichten konnte.

»Du gehst nicht, bevor du mir gesagt hast, warum ihr unbedingt kämpfen wolltet«, be-fahl er.

»Wolltest du denn nicht kämpfen?« fragte der Geweihmann zurück.

»Nicht unbedingt«, erklärte Atlan. »Wo-zu?«

»Ihr habt beide gewonnen«, erhielt er zu Antwort. »Damit habt ihr euch das Recht auf Arbeit erworben.«

»Ich bin nicht gerade scharf auf Arbeit«, sagte Razamon.

»Ihr habt gekämpft, also müßt ihr arbei-ten.«

3.

Sie nannten sich Paarlen. Das war alles,

was sie über sich berichteten, während Atlan und Razamon mit ihnen zu verhandeln ver-suchten. Vergeblich bemühten sich die beiden Männer, ihnen beizubringen, daß sie keines-wegs gekämpft hatten, um dann arbeiten zu dürfen.

Aus den Felsspalten und Grotten kamen immer mehr Paarlen hervor. Sie nahmen eine drohende Haltung ein, bis Atlan schließlich erklärte, daß sie arbeiten würden.

»Wir haben dann Zeit, uns besser zu infor-mieren«, raunte er Razamon in englischer Sprache zu.

Die Paarlen waren zufrieden. Sie lächelten den beiden Männern freundlich zu und zogen sich zurück.

Am Ufer des Flusses lagen zwei Siebe. At-lan und Razamon nahmen sie auf, füllten sie mit Schlamm und stiegen ins Wasser. Augen-blicklich fühlten sie die schwere Last. Das Wasser machte den Schlamm noch schwerer, und da sie vornübergebeugt stehen mußten,

spürten sie, wie hart der Rücken beansprucht wurde. Atlan konnte sich nicht vorstellen, daß er lange durchstehen würde.

Er schwenkte das Sieb kräftig, um mög-lichst schnell möglichst viel Schlamm auszu-schwemmen. Dabei spähte er zu den Paarlen hinüber, um herauszufinden, was sie über-haupt suchten. Erst als er das vierte Sieb ge-füllt und wieder ausgeschwemmt hatte, be-merkte er, daß sie kirschgroße, schwarze Klumpen ausfilterten.

»Erdöl«, sagte Razamon und legte zur Sei-te, was er gefunden hatte. Die Paarlen ver-steckten ihre Beute in kleinen Spalten am Ufer. »Was wollen die mit dem Zeug?«

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Atlan. »Vielleicht benutzen sie es als Brennstoff?«

Razamon war enttäuscht. Er hatte erwartet, daß sie nach besonderen Kostbarkeiten such-ten. Er hatte gehofft, Edelsteine oder etwas Vergleichbares zu finden.

»Verfluchte Schinderei«, sagte er ärgerlich. »Haben wir denn den Verstand verloren, daß wir deshalb diese Torturen auf uns nehmen?«

»Diese Torturen, wie du es nennst, sind ein Privileg«, erwiderte Atlan ironisch. Der Schweiß lief ihm in Strömen über Gesicht und Hals herunter. »Außerdem habe ich den Ein-druck, daß du im Lauf deines langen Lebens vergessen hast, was Muskelarbeit ist. Du soll-test vielleicht öfters so etwas machen, anstatt ein Stahlbad zu nehmen.«

Razamon grinste. »Wenn ich nicht bis zu den Hüften im

Wasser stehen würde, dann würde ich dir ei-nen kräftigen Tritt in deinen edelsten Körper-teil versetzen«, antwortete er. »Dazu reicht meine Kraft immer noch.«

Ein scharfer Pfiff ertönte. Augenblicklich warfen die Paarlen die Sie-

be weg und stiegen aus dem Fluß. Sie holten die ausgesiebten Ölklumpen aus ihren Verste-cken hervor und winkten Atlan und Razamon zu, sich zu beeilen. Die beiden Männer hatten bei weitem noch nicht soviel Öl erbeutet wie sie. Dennoch waren sie mit dem Ergebnis ihrer Arbeit zufrieden.

Ein mit bunten Tüchern, farbigen Steinen und Federn geschmückter Paarle kam aus einem Felsspalt hervor. Das Geweih war mit grünen und gelben Farben bemalt.

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Er hob die Arme und schüttelte mit Glo-

cken besetzte Scheiben, so daß es ein rasseln-des Geräusch gab. Dann drehte er sich mit erhobenen Armen um und schritt würdevoll vor ihnen her. Die Paarlen schlossen sich ihm sofort an. Diszipliniert blieb einer hinter dem anderen. Atlan und Razamon diskutierten flüsternd miteinander. Atlan schlug vor, sich nach draußen abzusetzen und sich nicht wei-ter um das rätselhafte Geschehen in diesen Höhlen zu kümmern. Razamon jedoch war dafür, zu klären, was hier geschah.

»Irgendeinen Sinn muß dies hier alles ha-ben«, sagte er. »Es dauert gewiß nicht lange, bis wir herausgefunden haben, was das alles soll. Soviel Zeit haben wir noch. Außerdem benötigt Fenrir eine Pause. Gönnen wir sie ihm doch.«

Atlan war einverstanden. Sie fügten sich in die Reihe der Paarlen ein und folgten dem Priester, der sie durch eine Reihe von Gängen und Grotten führte. Atlan stellte fest, daß die Felsen kaum bearbeitet worden waren. Alles war so geblieben, wie die Natur es geschaffen hatte. Das war ein eindeutiger Beweis dafür, daß sie es mit einer primitiven Kultur zu tun hatten. Dazu paßten lediglich die Einrichtun-gen am Eingang der Höhle nicht. Die Schotte und der Gang konnten nicht von den Paarlen angelegt worden sein. Nachdem sie etwa eine halbe Stunde lang marschiert waren, erreich-ten sie ein Gewölbe, das etwa dreißig Meter hoch, vierzig Meter breit und hundert Meter lang war. An den Wänden steckten überall brennende Fackeln in hölzernen Halterungen. Kleine Hütten waren als Unterkünfte für die Paarlen errichtet worden. Große, getrocknete Blätter und Holzstangen dienten als Baumate-rial.

Vor den Hütten kauerten in dicke Decken gehüllte Frauen. Sie hatten im Gegensatz zu den Männern kein Geweih.

Der Priester führte die Ölwäscher durch das Gewölbe zu einer etwa fünf Meter breiten Tür. Zwei halbwüchsige Jungen schoben die Tür zur Seite. Dahinter wurde eine Holzbahn sichtbar, die ungefähr anderthalb Meter breit war und in der Mitte eine tiefe Kerbe hatte. Direkt hinter der Tür am Anfang der Holz-bahn befand sich ein großer Dorn.

Die Paarlen jubelten, als sie die Holzbahn

sahen. »Was soll das?« fragte Razamon. »Kannst

du dir darunter etwas vorstellen?« »Wenn die Bahn nicht leicht anstiege, wür-

de ich sagen, es ist eine schlecht gebaute Ke-gelbahn«, antwortete Atlan. »Allerdings weiß ich nicht, was die Kerbe soll.«

»Wir werden es erfahren.« Der Priester sammelte nun mit einem Topf

die Ölklumpen ein, die die Paarlen ausgewa-schen hatten. Er überreichte dafür jedem Wä-scher kleine Holzstäbchen, wobei deren Zahl sich nach der Zahl der Klumpen richtete. Ra-zamon und Atlan erhielten nur jeder zwei Stäbchen. Die Ausbeute der Arbeit im Fluß wanderte nun zu einem offenen Feuer. Der Priester hängte den Topf darüber auf. Die Frauen eilten herbei, gossen verschiedene Flüssigkeiten dazu und warfen einige Kräuter hinein, so daß sich bald ein stark riechendes Gebräu entwickelte.

Während die Paarlen diesen Vorgang mit leisen Gesängen begleiteten, flüsterte Raza-mon Atlan zu: »Hoffentlich müssen wir das Gebräu nicht trinken.«

»Wieso? Magst du kein Erdöl?« »Ich habe sonst nichts gegen Cocktails, a-

ber dieser dürfte absolut ungenießbar sein.« Die Befürchtungen des Atlanters erwiesen

sich jedoch als unbegründet. Der Priester nahm den bis zum Rand gefüllten Topf vom Feuer und goß das Gebräu durch ein Sieb, so daß Unreinheiten ausgefiltert wurden und eine klare Flüssigkeit übrig blieb.

Diese verteilte er nun an die Wäscher, wo-bei er sie in kleinere Gefäße umfüllte.

Kaum hatte der erste Paarle das für ihn be-stimmte Gefäß entgegengenommen, als er sich auch schon umdrehte und in den Gang lief. Dumpf hallten seine Schritte von der Holzbahn wider. Da dieser Gang nur am An-fang durch zwei Fackeln erhellt wurde, ver-schwand der Mann rasch im Dunkel.

Atlan erwartete nun, daß die anderen Paar-len ihm folgen würden, sobald auch sie ihre Portion erhalten hatten. Das war jedoch nicht der Fall. Sie stimmten vielmehr einen kämp-ferischen Gesang an und bildeten einen Halb-kreis, so daß jeder in den Gang sehen konnte.

Nach etwa fünf Minuten kehrte der erste Paarle daraus zurück. Er kroch über den Bo-

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den und rieb die Kerbe in der Mitte der Holz-bahn mit dem Schmiermittel ein, das der Priester gebraut hatte. Die letzten Tropfen vergoß er unmittelbar am Dorn.

Als er das Gefäß abstellte, blickte er sich prüfend um, dann winkte er drei andere Paar-len zu sich heran. Zusammen mit ihnen ver-schwand er wieder im Dunkel. Dieses Mal kehrte er schon nach etwa einer Minute wie-der zurück. Schritt für Schritt kämpfte er sich mit den anderen voran. Sie zerrten ein straff gespanntes, silbern schimmerndes Band hinter sich her. Je näher sie dem Dorn kamen, desto langsamer kamen sie voran.

Nun eilten ihnen zwei weitere Paarlen zu Hilfe, und mit ihnen zusammen gelang es ihnen, das Band über den Dorn zu legen.

Razamon lachte leise. »Wenn mich nicht alles täuscht, dann ist

das so eine Art Maxi-Skerzaal.« Die Paarlen schleppten einen mit Nägeln

versehenen Bolzen heran. Das Geschoß war etwa einen Meter lang und zehn Zentimeter dick. Sie legten es vor den Dorn.

Der Priester schrie schrill auf, wobei er sich mit der flachen Hand vor die Lippen schlug.

Einige Männer rissen Tücher von der Wän-den. Dahinter wurde ein großes Speichenrad sichtbar. Sie drehten es einige Male herum, und knirschend schob sich ein ungefähr vier Meter breites Stück Fels zur Seite. Durch den entstehenden Spalt konnte Atlan direkt auf die Feste Grool sehen.

Die Paarlen, die das Öl ausgewaschen hat-ten, drängten sich vor diesem Spalt zusam-men. Der Priester gab einem von ihnen ein Zeichen, und der Mann schlug den Dorn mit einem Hammer zur Seite. Ein scharfer Knall ertönte, als die Sehne gegen den Bolzen schlug und diesen vor sich her trieb. Er rutschte quietschend und polternd in der Ker-be entlang und verschwand im Dunkel des Ganges. Sekunden später sah Atlan ihn wie-der. Er flog mit hoher Geschwindigkeit auf die Feste Grool zu, wobei er sich immer wie-der überschlug.

Der Nebel hatte sich gehoben, so daß er die Feste recht gut sehen konnte. Sie glich einem riesigen Zuckerhut. Aus ihrer Spitze ragten einige antennenartigen Gebilde hervor. Aus-sichtsfenster führten spiralförmig um sie her-

um. Und zwei Kugeln flankierten sie wie zwei Beiboote. Sie schienen sich an großen Dornen, die aus dem Zuckerhut hervorragten, selbst aufgespießt zu haben.

Das Geschoß prallte gegen die untere der beiden Kugeln und glitt wirkungslos daran ab. Dennoch brüllten die Paarlen vor Begeiste-rung über diesen Treffer, als hätten sie damit bereits die ganze Feste in Trümmer gelegt.

Nun eilte der zweite Paarle in den Gang hinein, und alles wiederholte sich. Er schmierte die Kerbe jedoch offensichtlich nicht sorgfältig genug, denn der von ihm ab-gefeuerte Bolzen erreichte die Feste Grool nicht. Dennoch bejubelten die anderen den Beschuß kaum weniger begeistert als den ers-ten.

Auch die darauf folgenden Bolzen richteten nicht den geringsten Schaden an. Einige tra-fen die Feste Grool, einige wirbelten daran vorbei, und wiederum andere erreichten sie gar nicht erst. Atlan traf, erzielte jedoch keine Wirkung. Ebenso war es bei Razamon. Er war der letzte, der schießen durfte.

Danach ließ der Priester die Öffnung wie-der schließen. Die Paarlen tanzten wie im Rausch. Sie umarmten sich und lachten, als hätten sie einen epochalen Sieg erzielt. Sie bezogen auch Atlan und den Atlanter in ihre Siegesfeier mit ein, als seien diese beiden schon seit Jahren Mitglied ihrer Gemein-schaft.

Frauen schleppten schwere Gefäße mit ei-nem süßlich riechenden Getränk herbei. Die Männer tranken gierig, und schon nach Minu-ten trat die berauschende Wirkung ein. Atlan und sein Begleiter taten nur so, als ob auch sie sich eifrig bedienten. Beide fanden den Ge-schmack dieser Flüssigkeit jedoch so unange-nehm, daß sie nur ein paar Tropfen davon über die Lippen brachten. Die Paarlen merk-ten es nicht.

Schwärmerisch prahlten sie mit ihren Ta-ten. Jeder von ihnen wußte genau, wie das von ihm abgefeuerte Geschoß geflogen war, und wo es aufgeprallt war. Und sie alle schie-nen fest davon überzeugt zu sein, daß die Be-wohner der Feste Grool nun so eingeschüch-tert und verängstigt waren, daß sie auf Wo-chen hinaus kampfunfähig waren.

»Warum kämpft ihr gegen die Feste

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Grool?« fragte Atlan, als er einmal für ein paar Minuten mit dem Priester allein war.

»Die Feste ist der Sitz der bösen Geister«, antwortete der Paarle, der kaum noch Herr seiner Zunge war. »Und wir, als die Vertreter der höchsten Kultur auf Pthor, haben die hei-lige Pflicht, sie zu bekämpfen.«

»Es gibt keine höher entwickelte Kultur auf Pthor?« fragte der Arkonide amüsiert.

»Natürlich nicht«, erwiderte der Priester bestimmt. »Hast du nie von der Legende ge-hört, daß unter dem Blutdschungel eine hoch-entwickelte Kultur besteht? Daß hier das mächtigste und intelligenteste Volk des Uni-versums lebt?«

»Ich hörte davon.« »Nun, wir sind dieses Volk«, erklärte der

Paarle stolz. Er legte beide Hände gegen die nackte Brust und lächelte verschmitzt. »Dabei war es gar nicht schwer, es zu werden.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Atlan behutsam.

»Wir sind einfach hinuntergegangen und haben diese Höhlen besetzt«, erläuterte der Priester. »Seitdem ist die Legende Wirklich-keit geworden.«

Er nickte Atlan zu, erhob sich und ging schwankend davon. Razamon lachte leise.

»Siehst du«, bemerkte er. »So einfach ist es, das mächtigste und intelligenteste Volk des Universums zu werden. Du brauchst nur in eine Höhle zu klettern und so tun, als seist du derjenige, von dem die Legende erzählt, und schon hast du es geschafft.«

»Ich schlage vor, daß wir uns zurückzie-hen«, sagte Atlan. »Wer weiß, ob man uns noch freiläßt, wenn alle ihren Rausch ausge-schlafen haben. Und einige Stunden im Fluß als Ölwäscher reichen mir außerdem voll-kommen.«

»Einverstanden«, entgegnete Razamon. »Es führt zu nichts, wenn wir noch länger blei-ben.«

Die beiden Männer erhoben sich und schlenderten durch die Höhle. Dabei entfern-ten sie sich immer mehr von den Paarlen, die sich das Recht erkämpft hatten, auf die Feste Grool zu schießen. Niemand hielt sie auf.

»Hast du eigentlich verstanden, weshalb sie die Feste angreifen?« fragte der Atlanter.

»Sicher«, antwortete Atlan. »Weil sie da

ist. Das ist alles. Sie schießen auf die Feste, weil sie dieses Riesenkatapult hier in den Höhlen vorgefunden haben, und weil es gera-de auf die Feste gerichtet war. Würde es auf etwas anderes zielen, würden sie auf etwas anderes schießen und sich einbilden, das sei wichtig.«

Die Menge der Paarlen blieb hinter ihnen zurück. Sie eilten schneller durch die Gänge und Grotten. Nur selten einmal blieben sie stehen, um kurz darüber zu diskutieren, wel-chen Weg sie nehmen sollten, wenn sich ih-nen mehrere Möglichkeiten boten. Bald schon hörten sie den Fluß rauschen.

Atlan zog Razamon plötzlich in eine Ni-sche. Er legte den Finger vor die Lippen. Und dann hörte der Atlanter es auch.

Schritte näherten sich ihnen. Metall klirrte. »Das könnte Porquetor sein«, sagte Atlan. Sie zogen sich noch etwas weiter ins Dun-

kel zurück und warteten. Etwas eine Minute verstrich, dann eilte Porquetor an ihnen vor-bei. Sie hielten sich versteckt, da sie keinerlei Risiko eingehen wollten.

»Wir müssen wissen, was er hier treibt«, flüsterte Atlan, als die metallene Gestalt an ihnen vorbeigelaufen war. »Folgen wir ihm.«

Razamon nickte nur. Lautlos schritten sie hinter ihm her. Sie

schlossen immer nur so weit zu ihm auf, daß sie ihn hören konnten.

Porquetors Ziel war das große Gewölbe, in dem die Paarlen feierten. Als er es erreichte, begannen die Paarlen zu schreien. Metall klirrte. Einige der Männer versuchten offen-sichtlich, sich gegen Porquetor zu behaupten.

Kleine Gestalten huschten an Atlan und Razamon vorbei. Sie verschwanden fluchtar-tig in den Felsspalten.

»Wir wissen genug«, sagte der Arkonide. »Damit haben wir nichts zu tun. Ich schlage vor, daß wir verschwinden.«

Sie flüchteten durch die Gänge und Grotten bis zum Fluß zurück, so daß sie von dem Kampflärm bald nichts mehr hörten.

»Hoffentlich hat er Fenrir in Ruhe gelas-sen«, sagte Razamon, als Atlan das Aus-gangsschott öffnete. Sie eilten über den mit Zeichnungen geschmückten Gang weiter. Auch das zweite Schott setzte ihnen keinen Widerstand entgegen. Es glitt zur Seite, als

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Atlan den Hebel berührt hatte.

Winselnd kam ihnen der Wolf entgegen. Atlan streckte ihm die Hand hin, und Fenrir leckte sie dankbar.

*

Es war abzusehen, daß sie die Feste Grool

vor Einbruch der Dämmerung nicht mehr er-reichen würden. Atlan und Razamon wander-ten am Waldrand entlang. Das Gelände war hügelig, dennoch aber recht übersichtlich. Fenrir trottete hinter ihnen her. Er hatte einige kleinere Tiere erlegt und gefressen, und er hatte auch reichlich Wasser zu sich genom-men. Er erholte sich schnell.

»Wir sollten rechtzeitig ein Lager aufschla-gen und Feuer machen«, empfahl Razamon. »Wenn wir das Lager rechtzeitig vorbereiten, gibt es auch keine Schwierigkeiten.«

Atlan war einverstanden. Auf offenem Ge-lände machten sie zwischen einigen Hügeln ein Feuer und legten danach vier weitere Feu-erstellen an, die ihr Lager nach außen hin be-grenzten. Darüber hinaus schichtete Razamon trockenes Holz auf, so daß sie in der Nacht nicht danach suchen mußten. Mit seiner Sker-zaal erlegte er ein kleines Tier, das eine starke Ähnlichkeit mit einem Reh hatte. Er weidete es aus und hängte es auf ein Gestell.

Atlan beobachtet, daß Fenrir einige gefähr-lich aussehende Tiere aus der Nähe des La-gers vertrieb. Systematisch suchte der Wolf die Umgebung ab. Erst nach einer Stunde war er zufrieden. Er kehrte zu den beiden Män-nern zurück und legte sich neben Atlan auf den Boden.

»Gut gemacht«, lobte der Arkonide. Fenrir blickte ihn an, und ein Leuchten in

seinen Augen zeigte Atlan an, daß er ihn ver-standen hatte.

Razamon sprang plötzlich auf und blickte in die Dunkelheit hinaus. Ein Scheinwerfer näherte sich ihnen. Das Licht tanzte in der Ferne auf und ab, und allmählich wurde das dumpfe Brummen eines Motors hörbar.

Razamon setzte sich wieder, nachdem er erkannt hatte, daß er noch etwas Zeit hatte. Er griff zu seiner Skerzaal und spannte sie. Atlan sah, wie seine Lippen zuckten. Er schwieg. Er war entschlossen, Razamon dieses Mal keine

Fragen zu stellen. Wenn der Freund nicht ü-ber den Unbekannten sprechen wollte, dann wollte er auch keine Neugier zeigen.

Minuten später war der Fremde bereits auf Schußweite heran. Er fuhr direkt auf das La-ger zu. Razamon legte sich einige Meter seit-lich von einem Feuer auf den Boden, wo er schwer auszumachen war. Er wartete mit an-geschlagener Schußwaffe.

Der Motorradfahrer begann mit seltsamen Manövern. Er fuhr einige Male um einen Hü-gel, raste über Bodenkuppen hinweg, so daß er mehrere Meter weit durch die Luft flog, blieb mit heulendem Motor auf der Stelle ste-hen oder arbeitete sich steile Hänge hinauf, wobei er Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten.

Dann aber fuhr er wieder auf das Lager zu. Atlan hörte Razamon atmen. Der Atlanter

wurde ungeduldig. Der Unbekannte beschleunigte plötzlich. Er

schoß förmlich aus der Dunkelheit hervor. Als er das erste Feuer passierte, sah Atlan, daß er einen feuerroten Sturzhelm trug. Das Gesicht verbarg er hinter einer dunklen Scheibe. Ein enganliegender Lederanzug umspannte den Körper. Die Füße steckten in langen Leder-stiefeln.

Fenrir winselte. Er drückte den Kopf auf den Boden. Mit weit geöffneten Augen beo-bachtete er die seltsame Erscheinung.

Razamon richtete sich ein wenig auf. Deut-lich sah Atlan, wie er aus nächster Nähe auf den Motorradfahrer schoß, und er glaubte, den Bolzen sehen zu können, wie er auf den Mann zuflog.

Als der Fremde etwa zwei Meter neben At-lan war, verschwand er plötzlich.

Der Bolzen fiel irgendwo weitab von den Feuerstellen wirkungslos ins Gras.

Razamon sprang auf. Sein Gesicht war von Haß entstellt. Fassungslos blickte er auf die Stelle, an der der Motorradfahrer eben noch gewesen war. Er ging zögernd dorthin, wo der Fremde verschwunden war, kniete sich auf den Boden und untersuchte die Spur.

In diesem Moment heulte zwei Schritte ne-ben ihm der Motor des Rades auf. Der Frem-de erschien aus dem Nichts heraus und setzte seine Fahrt in der gleichen Richtung fort, als sei nichts geschehen. Er verschwand in der

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ATLAN 10 – Porquetor, der Stählerne

Dunkelheit zwischen den Hügeln. Atlan sah das Rücklicht der Maschine noch einige Male auftauchen. Dann wurde es still.

Atlan blickte Razamon an. Der Atlanter kniete noch immer auf dem

Boden. Er hielt die Augen geschlossen. Seine Lippen zuckten. Er hatte sichtlich Mühe, die-se Niederlage zu verwinden.

4.

Auf den Hügeln vor der Feste Grool stan-

den zahllose windmühlenähnliche Gebilde. Die Flügel drehten sich im heißen Wind, der aus dem Wüstengebiet Fylln wehte.

Als sie bis auf etwa hundert Meter an die erste Windmühle herangekommen waren, konnten sie kleine Kästen sehen, die sich im Zentrum der Windräder befanden. Von ihnen führten Kabelstränge nach unten, wo sie sich mit anderen Kabeln vereinigten. Ein Haupt-kabel führte aus dem Gebiet der Windmühlen zur Feste Grool hin.

»Elektrizität für die Feste«, sagte Razamon. »Einfach, aber wirksam.«

»Vorausgesetzt, es weht der Wind«, fügte Atlan hinzu. »Auf jeden Fall kommt nicht viel elektrische Energie dabei heraus.«

»Vielleicht genügt das für die Feste.« Auf Tieren, die Atlan an weiße, gepanzerte

Stiere erinnerten, ritten hochgewachsene, dunkelhäutige Männer zwischen den Wind-mühlen umher. Sie bewachten die Anlagen und nahmen Reparaturen vor, wo sie notwen-dig waren.

»Kennst du sie?« fragte Atlan. »Ich komme nicht auf ihren Namen«, erwi-

derte Razamon und schnippte mit den Fin-gern, als könne ihm das helfen, die Erinne-rung wieder aufzufrischen.

Sie standen hinter einigen Büschen, so daß sie von den Wächtern nicht sogleich entdeckt wurden.

»Was tun wir?« fragte Atlan. »Marschieren wir mittendurch oder schlagen wir einen wei-ten Bogen?«

Razamon hob unentschlossen die Schultern. »Ich weiß nicht, wie sie reagieren werden.«

Sein Gesicht hellte sich auf. »Jetzt weiß ich, wer sie sind. Es sind Dalazaaren. Ich schätze, daß Porquetor sie dazu gebracht hat, hier

Dienst zu tun.« Die Dalazaaren waren überwiegend

schlank. Sie trugen das Haar lang, so daß es bis auf den Rücken der Stiere herabfiel. Sie kleideten sich mit grob zusammengenähten Ledersachen, die den Eindruck machten, als seien sie aus der dicken Haut der Stiere gefer-tigt.

»Ich schlage vor, daß wir durch die Wüste Fylln ausweichen und diese Gegend auf diese Weise umgehen«, sagte Atlan.

»Einverstanden«, erwiderte Razamon und wandte sich um. Im gleichen Moment schrie er auf. Atlan fuhr herum. Er sah, daß ein Da-lazaar sich mit erhobenem Messer auf Raza-mon warf. Dieser fing ihn mit einem einzigen Schlag ab. Er traf ihn in der Herzgegend. Es hallte dumpf, als die Faust aufprallte, und der Dalazaar stürzte betäubt zu Boden.

Unmittelbar darauf jagten zwei weitere Wächter auf ihren Stieren heran. Sie stießen beide Arme drohend in die Luft und schrien gellend. Dadurch machten sie die anderen Dalazaaren aufmerksam, so daß eine Flucht für Atlan und Razamon aussichtslos wurde.

»Wir zeigen es ihnen«, sagte der Atlanter entschlossen. »Wir bringen ihnen Respekt bei.«

Die Dalazaaren versuchten, sie mit ihren Stieren umzurennen. Mit vollem Tempo ras-ten sie auf sie zu. Die Stiere senkten ihre Köpfe, um sie mit den weit ausladenden Hör-nern umzureißen.

Unter diesen Umständen hatte es keinen Sinn, sich dem Kampf sofort zu stellen. Atlan und Razamon trennten sich um einige Meter, damit sie genügend Platz für ein Ausweich-manöver hatten. Als die Stiere heran waren, warfen die beiden Männer sich weit zur Seite. Atlan verspürte einen Schlag am Fuß. Er ü-berschlug sich zweimal, bevor er in einem Blumenbusch landete. Eine Wolke von betäu-bend riechenden Sporen hüllte ihn ein. Er hielt den Atem an, bedeckte das Gesicht mit dem Unterarm und rollte sich aus dem Busch hervor. Seine Augen tränten, so daß er für einige Sekunden nichts sehen konnte. Nur schemenhaft erkannte er den Stier, der sich ihm näherte.

Zur Seite! befahl ihm sein Logiksektor. Er handelte, ohne nachzudenken, als er abermals

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ATLAN 10 – Porquetor, der Stählerne

zu Seite sprang.

Um Zentimeter nur verfehlten ihn die Hör-nerspitzen. Ein Messer wirbelte durch die Luft und bohrte sich ihm in die Schulter.

Atlan riß es heraus und schleuderte es weit von sich.

Endlich beruhigten sich seine Augen, so daß er wieder besser sehen konnte. Razamon war es gelungen, seinen Gegner vom Rücken des Stieres zu zerren. Er kämpfte mit ihm, wobei er Mühe hatte, dem immer wieder blitzschnell zustoßenden Messer auszuwei-chen.

Atlans Gegner riß seinen Stier herum und trieb ihn erneut an. Das Tier stürmte schnau-bend auf den Arkoniden zu.

Dieser beobachtete den Dalazaaren, der nun waffenlos war. Aus seiner Haltung schloß er, daß er abermals versuchen wollte, ihn umzu-rennen. Atlan ging tief in die Knie. Er wartete ab. Seine Muskeln spannten sich.

Der Stier näherte sich ihm rasend schnell. Er hielt den Kopf so tief, daß das Gras gegen die Nüstern peitschte. Als er etwa zwei Meter von Atlan entfernt war, schnellte sich dieser in die Höhe. Der Stier rannte mit unvermin-derter Geschwindigkeit weiter und erreichte den Arkoniden, noch bevor eine Sekunde ver-strichen war.

Der wuchtige Kopf flog nach oben. Atlan befand sich jedoch noch hoch über ihm. Die Hörner erreichten ihn nicht.

Der Dalazaar saß hoch aufgerichtet auf dem Rücken des Stieres. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er Atlan an. Unwillkürlich streckte er die Arme aus, doch den Zusam-menprall konnte er nicht verhindern. Atlan saß plötzlich vor ihm auf dem Rücken des Stieres. Ihre Körper schlugen krachend ge-geneinander. Der Dalazaar flog in weitem Bogen vom Rücken des Stieres. Atlan konnte sich allerdings auch nicht mehr halten. Er blieb nicht, wie er gehofft hatte, auf dem Stier, sondern rutschte über dessen Hinter-hand herunter. Er stürzte ins Gras.

Das Tier stürmte brüllend weiter. Es raste in Richtung der Wüste davon und verschwand hinter den Hügeln.

Atlan sprang auf und stürzte sich auf den Dalazaaren, der ihn entsetzt anblickte. Er wir-belte ihn herum, riß ihm die Hände nach hin-

ten und hielt ihn wie einen Schild vor sich, um so die nun heranstürmenden Dalazaaren davon abzuhalten, ihn in gleicher Weise an-zugreifen wie die beiden ersten.

Doch schon Sekunden später mußte er er-kennen, daß die Dalazaaren gar nicht daran dachten, auf das Leben des Gefangenen Rücksicht zu nehmen. Fünf Windmühlen-wächter rasten dicht nebeneinander auf ihren Stieren heran.

Der Dalazaar in Atlans Armen schrie ihnen in panischer Angst Befehle zu. Er flehte sie an, doch sie ließen sich nicht von ihrem Plan abbringen.

Atlan schleuderte den Gefangenen zur Sei-te. Er riß sich die Skerzaal von der Schulter, legte sie an, und schoß. Der Bolzen durch-schlug die Stirn eines der Stiere und fällte ihn. Der Reiter flog im hohen Bogen durch die Luft und stürzte zu Boden.

Razamon feuerte seine Skerzaal ebenfalls ab, und auch er traf so gut, daß der Stier zu-sammenbrach.

Auf diese Weise schufen sich die beiden Männer eine ausreichend große Lücke. Bevor die Dalazaaren entsprechend reagieren konn-ten, rannten Atlan und Razamon auf sie zu und sprangen über die getöteten Tiere hinweg. Links und rechts von ihnen jagten die Stiere mit ihren Reitern vorbei.

Sie versuchten sofort, ihre Tiere herumzu-werfen. Doch die Stiere waren viel zu schwer-fällig, um rasch genug auf die Befehle der Reiter eingehen zu können. Sie rannten etwa vierzig Meter weiter, wurden erst dann deut-lich langsamer und drehten sich zögernd um.

»Verdammt noch mal«, schrie Razamon triumphierend. »Ich hätte nicht gedacht, daß sie ausgerechnet an der Stirn so leicht verletz-bar sind. Ihre Panzerung sieht aus, als könne sie nur von Thermo-Raks oder einem Ener-giestrahl durchbrochen werden.«

»Das ist bei den meisten so, die eine dicke Haut haben«, entgegnete Atlan lächelnd. »Es sieht nur so aus, als könne man sie nicht ver-letzen.«

Die Dalazaaren berieten miteinander. »Sie haben Angst um ihre Tiere«, stellte

Atlan fest. »Uns hilft das leider nicht viel«, entgegnete

Razamon. Er deutete auf eine Gruppe von

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ATLAN 10 – Porquetor, der Stählerne

zwanzig Dalazaaren, die sich ihnen auf Stie-ren näherten.

»Wir sollten versuchen, einen Stier zu be-kommen«, schlug Atlan vor. »Vielleicht ge-horchen uns die Tiere.«

»Eine gute Idee«, stimmte der Atlanter zu. Die Dalazaaren sprangen von ihren Reittie-

ren und liefen auf Atlan und Razamon zu. Sie hielten Messer in den Händen. Mit ihrer Hilfe gedachten sie, den Kampf schnell zu beenden.

Die beiden Freunde warteten ab, bis die Wächter bis auf wenige Schritte an sie heran-gekommen waren, dann rannten sie auf ein Zeichen des Arkoniden los. Die Dalazaaren blieben stehen, um sie zu empfangen. Atlan und Razamon wirbelten ihre Skerzaals um den Kopf und griffen an. Die Wächter wichen aus, um von den Kolben der Waffen nicht getroffen zu werden. Sie erwarteten, daß ihre beiden Gegner nun stehenbleiben und sich dem Kampf stellen würden. Atlan und Raza-mon aber liefen weiter. Bevor die Dalazaaren begriffen hatten, was sie beabsichtigten, hat-ten sie die Stiere erreicht. Die Tiere schnaub-ten nervös, griffen sie jedoch nicht an. Atlan und seine Begleiter schwangen sich auf den Rücken von zwei Stieren und hieben ihnen die Fersen in die Flanken.

Die Stiere reagierten anders als erwartet. Sie schnellten sich hinten hoch und schleuder-ten die beiden Männer nach vorn. Weder At-lan noch Razamon konnten sich halten. Sie stürzten ins Gras. Sie flüchteten vor den Hu-fen und den Hörnern der Tiere, wurden je-doch wider Erwarten nicht verfolgt.

Die Dalazaaren aber nutzten die Chance. Sie warfen sich auf Atlan und Razamon, wo-bei sie tatkräftige Unterstützung von weiteren Wächtern erhielten. Atlan versuchte, sich mit einigen Dagortricks zu befreien, doch es ge-lang ihm nicht. Drei Treffer am Kinn schalte-ten ihn aus.

Razamon konnte sich einige Sekunden län-ger behaupten, weil er bedeutend kräftiger war als der Arkonide. Doch dann war der Kampf auch für ihn zu Ende. Während er zu Boden stürzte, wurde ihm noch bewußt, daß er bei allem Pech Glück gehabt hatte. Die Dalazaaren hatten ihre Messer nicht einge-setzt, als sie erkannt hatten, daß sie klar über-legen waren.

* Als Atlan wieder zu sich kam, war Raza-

mon schon auf den Beinen. Er stand an einem vergitterten Fenster und blickte hinaus. Als der Arkonide sich erhob und sich dabei stöh-nend an den Kopf griff, drehte er sich um.

»Ich dachte, ein Zellaktivator sorgt dafür, daß man keine Schmerzen hat«, sagte er spöt-tisch.

»Das ist auch richtig«, entgegnete Atlan. »Doch das richtet sich immer danach, wieviel man abbekommen hat.«

Razamon pfiff schrill durch die Zähne. »So war das also«, sagte er. »Während ich

mich noch meiner Haut wehrte, hast du ein-fach die Augen zugemacht, um deine Ruhe zu haben.«

»Genauso«, antwortete Atlan. »Und dabei muß ich wohl eingeschlafen sein.«

Razamon lächelte flüchtig. Er deutete über die Schulter zurück zum Fenster hin.

»Soeben reitet einer der Burschen zur Feste Grool. Ich vermute, um dort Bescheid zu sa-gen.«

»Das hätten wir doch auch übernehmen können«, sagte Atlan und blickte zum Fenster hinaus. Sie befanden sich in einem Gebäude, das mitten im Feld der Windmühlen lag. Er erinnerte sich daran, einen relativ kleinen Bau gesehen zu haben, zu dem zahlreiche Kabel hinliefen.

Am Rande des Feldes bewegte sich etwas. Fenrir tauchte aus einem Gebüsch auf und lief unschlüssig hin und her. Er hatte nicht in den Kampf eingegriffen, weil er zu schwach war. Atlan war nicht enttäuscht darüber, daß der Fenriswolf geflüchtet war, als die Dalazaaren angegriffen hatten. Er hatte nichts anderes erwartet. Angesichts des jämmerlichen Zu-stands, in dem er sich befand, hätte Fenrir kaum etwas Vernünftigeres tun können. Bei ihm hätten die Windmühlenwächter sicherlich nicht darauf verzichtet, den Kampf mit dem Messer zu entscheiden.

In unmittelbarer Nähe des Gebäudes hielt sich niemand auf. Atlan ging zur Holztür und rüttelte daran. Sie war von außen mit einem Riegel versperrt. Die Wände bestanden aus dicken Holzbalken. Durch einen Spalt in der Wand konnte der Arkonide in einen Neben-

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raum sehen. Dort standen einige Maschinen. Daneben war allerlei Gerümpel in dem Raum enthalten. Auch in dem Raum, in dem Atlan und Razamon sich befanden, lag altes Gerät herum. Atlan prüfte alles, was auf dem Boden lag. Eine alte Schaufel setzte er als Hebel an die Tür. Er konnte sie damit jedoch nicht auf-stemmen. Die Schaufel brach ab.

Razamon verfolgte diese Aktionen schwei-gend. Erst als Atlan die zerbrochene Schaufel zur Seite warf, sagte er: »Was glaubst du ei-gentlich, was ich getan habe, während es bei dir noch dunkel war?«

»Du hast also aufgegeben«, stellte Atlan fest.

Razamon preßte ärgerlich die Lippen zu-sammen.

»Ich habe nicht aufgegeben«, erwiderte er scharf. »Ich weiß jedoch, daß es auf diese Weise nicht geht.«

Vorsicht! warnte der Logiksektor. Wenn er in diesem engen Raum zu toben beginnt, bist du das Opfer.

»Was schlägst du vor?« fragte Atlan ruhig. »Wir sollten warten, bis Porquetor kommt.« Damit war Atlan nicht einverstanden. Er

war nicht bereit, einfach nur abzuwarten und anderen die Initiative zu überlassen. Er sah sich im Raum um. Dicht unter der Decke lie-fen mehrere armdicke Stromkabel entlang.

Das ist der Ausweg, signalisierte der Extra-sinn.

Bevor Atlan dazu kam, weiter darüber nachzudenken, stöhnte Razamon laut auf. Er stand am Fenster und blickte hinaus. Der Ar-konide ging zu ihm und stellte sich hinter ihn.

Fünfzig Meter von ihnen entfernt stand ein Mann in einem silbrig schimmernden Raum-anzug aus den Pionierjahren der Raumfahrt. Der Raumhelm umschloß seinen Kopf. Die Sichtscheibe war mit einer spiegelnden Gold-folie versehen, so daß Atlan das Gesicht da-hinter nicht sehen konnte.

Mit schwerfälligen Bewegungen marschier-te die Gestalt auf das Gebäude zu, in dem die beiden Männer gefangengehalten wurden. Razamons Hände fuhren vor. Sie umklam-merten die Gitterstäbe vor dem Fenster.

Atlan trat einen Schritt zurück. Er beobach-tete den Atlanter, der sich zusehends mehr erregte.

Wieder fragte er sich, was das alles zu be-deuten hatte. Welches Geheimnis verband Razamon mit diesem Unbekannten, der ihnen in ständig wechselndem Aufzug begegnete? Wer war dieser Unbekannte?

Das Geheimnis reichte über mehr als zehn-tausend Jahre hinweg. Es hatte seine Wurzel in jener Zeit, als Razamon noch auf Atlantis gelebt hatte.

Razamon hatte in dieser Zeit zu den Ber-serkern gehört, die von Pthor aus Eroberungs-feldzüge unternommen hatten. Bei seinem letzten Besuch auf der Erde hatte er einen Fehler gemacht, der zu seiner Verbannung geführt hatte. Der Fehler war gewesen, menschliches Gefühl zu zeigen, ein Gefühl, das nicht in das Charakterbild der Berserker paßte.

Hatte ihn nun seine Vergangenheit wieder eingeholt? Gehörte jener Fremde da draußen zu den Berserkern? Kam er immer wieder, um Razamon leiden zu lassen?

Und erinnerte sich Razamon wirklich voll an das, was ihn mit dem Unheimlichen ver-band? Zu seiner Verbannung hatte eine fast völlige Amnesie gehört, so daß er zwar Pthora sprechen konnte, aber nicht mehr viel über die Verhältnisse auf Pthor wußte. Er kannte sein Schicksal und auch dessen Verursacher. Reichte sein Wissen aber tatsächlich soweit, daß er diesen Maskierten eindeutig identifi-zieren konnte? Genügte dazu der Abdruck eines Gebisses in einer apfelähnlichen Frucht oder die Art, wie er sich bewegte, und wie er sich verhielt?

Razamon zitterte am ganzen Körper. Er rüt-telte um so heftiger am Gitter, je näher der Fremde dem Fenster kam.

Zwei Meter von ihnen entfernt blieb der Unbekannte stehen. Seine Arme hingen schlaff an seinen Seiten herunter. Er stand völlig still und blickte sie durch die Sicht-scheibe an. Atlan glaubte, diese Blicke fühlen zu können, obwohl er die Augen hinter der Scheibe nicht sehen konnte.

Razamon stöhnte laut in seinem ohnmäch-tigen Zorn.

»Verschwinde«, sagte er keuchend. »Ver-schwinde doch endlich.«

Als die Minuten verstrichen, ohne daß et-was geschah, fuhr er herum, packte ein Eisen-

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stück, das auf dem Boden lag, und schleuderte es gegen das Fenster. Es prallte gegen das Gitter und fiel auf den Boden zurück. Raza-mon bückte sich nach einem anderen Gegens-tand, mit dem er werfen konnte. Als er sich wieder aufrichtete, war der Fremde im Raum-anzug verschwunden. Atlan hatte gesehen, daß er mit schneller Bewegung zur Seite ge-gangen war.

»Wo ist er?« schrie der Atlanter. Er stürzte sich auf Atlan und packte ihn an

den Armen. Mit flammenden Augen blickte er ihn an.

Ruhe bewahren! befahl der Logiksektor. Razamon steht unmittelbar vor dem Zusam-menbruch.

Atlan blieb ruhig stehen. Er wich den Bli-cken nicht aus. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht.

Fast zwei Minuten lang standen sich die beiden Männer so gegenüber, bis Razamon endlich die Arme fallen ließ.

»Verzeih«, sagte er. »Ich habe die Nerven verloren.«

»Den Eindruck hatte ich allerdings auch«, entgegnete der Arkonide. Razamon kauerte sich in einer Ecke des Raumes auf den Boden, schlang die Arme um die Beine und stützte das Kinn auf einem Knie ab. Er schloß die Augen und brütete vor sich hin. Atlan ließ ihn in Ruhe und bemühte sich, einen Ausweg zu finden. Mit einem Draht durch einen Spalt versuchte er, den Riegel an der Tür zu bewe-gen. Er schob den Draht durch einen Spalt an der Tür und bog ihn um den Riegel herum. Mit einem zweiten Draht holte er das geboge-ne Ende zurück, so daß eine Schlinge um den Riegel lag. Er arbeitete zwei Stunden lang, bis es ihm endlich gelang, diese Schlinge zu voll-enden. Danach mußte er feststellen, daß er den Riegel auf diese Weise nicht bewegen konnte. Nun versuchte er, ihn nach oben zu heben, aber auch das gelang ihm nicht.

Schließlich suchte er sich einen spitzes Ei-senstück aus dem Gerümpel heraus und bear-beitete die Tür damit. Er schnitt Holzstreifen auf Holzstreifen heraus und verbreiterte auf diese Weise in stundenlanger Arbeit einen Spalt über dem Riegel immer weiter.

Razamon blieb auf dem Boden sitzen und verhielt sich still. Erst als der Spalt in der Tür

breit genug war, erhob er sich. »Ich will es versuchen«, sagte er. »Meine

Hand ist kleiner als deine.« Er schob seine Hand durch den Spalt und

packte den Riegel. Er mußte ihn um seine Längsachse drehen, um die Sperre zu über-winden. Danach erst konnte er ihn zur Seite schieben.

Knarrend öffnete sich die Tür. Dahinter lag ein weiterer Raum, der mit al-

lerlei Werkzeugen und Gerümpel gefüllt war. »Entscheidend weiter sind wir immer noch

nicht«, stellte Razamon mürrisch fest und rüttelte an der Eisentür, die diesen Raum verschloß.

Atlan ging zu dem einzigen Fenster. Es war vergittert. Er versuchte, es aus seiner Veran-kerung zu reißen, doch das gelang ihm nicht. Auch Razamon hatte keinen Erfolg, als er es Atlan nachmachte. Selbst mit einer Ei-senstange, die sie als Hebel benutzten, schaff-ten sie es nicht, das Gitter zu beseitigen.

»Es sieht so aus, als säßen wir endgültig fest«, sagte Atlan.

Razamon schleuderte die Eisenstange wü-tend gegen die Tür.

Atlan stand am Fenster und blickte hinaus. Es wurde langsam dunkel. Fenrir streifte noch immer in der Gegend herum. Er wartete dar-auf, daß sie endlich wieder herauskamen.

Als der Arkonide sich umdrehte, fiel sein Blick auf die Stromkabel, die auch in diesem Raum unter der Decke entlangliefen. Plötzlich hatte er eine Idee.

»Was werden die Dalazaaren tun, wenn es hier einen Kurzschluß gibt?« fragte er.

»Sie werden sich bestimmt nicht bei uns bedanken«, erwiderte Razamon.

»Sieh dir die Kabel an«, forderte Atlan. »Sie sind schlecht isoliert. Man könnte ...«

»Die Bude würde in Brand geraten«, unter-brach ihn Razamon. »Und wenn wir Pech haben, holen die Dalazaaren uns nicht her-aus.«

Er trat an das Fenster und blickte hinaus. Etwa hundert Meter von ihnen entfernt brann-te ein großes Feuer. Auf einem Gestell dar-über drehte sich einer der Stiere, die sie getö-tet hatten. Razamon zählte dreißig Dalazaa-ren, die sich in der Nähe des Feuers aufhielten und darauf warteten, daß das Fleisch gar war.

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Der Magen krampfte sich ihm zusammen.

»Ich habe Hunger«, sagte er. »Hoffentlich denken sie daran, uns etwas zu bringen.«

»Da kommen sie schon«, bemerkte Atlan. An der Tür scharrte etwas. Er ging zu ihr

hinüber und horchte. Er hörte, daß jemand angestrengt atmete. Dann bewegte sich quiet-schend der Riegel. Die Tür öffnete sich, und eine kleine Gestalt glitt lautlos in den Raum. Atlan packte zu, ließ aber sogleich wieder los, als er ein Geweih in den Händen verspürte.

»Ein Paarle«, sagte er verblüfft. »Komm«, flüsterte der Paarle. »Schnell,

bevor die Dalazaaren etwas merken.« Atlan und Razamon überlegten nicht lange.

Sie flüchteten durch die Tür hinaus. »Eure Waffen«, sagte der Paarle. »Dort im

Gras liegen sie.« Die Windmühlenwächter hatten die beiden

Skerzaals, die dazugehörigen Köcher und die Messer im Gras vor dem Bau abgelegt. Atlan und der Atlanter nahmen sie auf. Dann eilten sie zusammen mit dem Paarlen in die Dun-kelheit hinaus.

Minuten später tauchte ein dunkler Schatten neben ihnen auf. »Fenrir«, rief Atlan.

Der Wolf winselte leise. Er blieb neben dem Arkoniden.

5.

Vor dem Felsspalt blieben sie stehen. »Danke«, sagte Atlan. »Ich glaube, ohne

dich hätten wir es nicht geschafft.« »Doch«, erwiderte der Paarle. »Bestimmt.

Es hätte nur etwas länger gedauert.« Hinter diesen Worten wurde soviel Zuver-

sicht und Vertrauen erkennbar, daß der Arko-nide überrascht aufhorchte.

»Wir hatten einige Vorbereitungen getrof-fen«, erklärte er.

»Ich wußte es«, antwortete der Paarle. Er öffnete das Schott. Das Licht der Deckenplat-ten erhellte sein Gesicht. In seinen Augen blitzte es auf.

»Mein Name ist Troton«, sagte er und blickte Atlan und Razamon fragend an. Sie nannten ihm ihre Namen, und er fuhr fort: »Ich wußte von Anfang an, daß ihr anders seid als wir. Ihr gehört zu den Höchsten, und doch habt ihr getan, was unsere Gesetze vor-

schreiben. Niemand kann euch das Recht auf Arbeit streitig machen. Euch hätte der erste Schuß auf die Feste Grool gehört. Der Priester hätte euch diesen ersten Platz einräumen müs-sen. Er hat für sein Versäumnis gezahlt.«

»Wir denken nicht daran, unser Recht auf Arbeit wahrzunehmen«, antwortete Atlan, der keinerlei Verlangen hatte, erneut in den Fluß zu steigen und körperlich schwerste Arbeit darin zu verrichten.

»Niemand kann euch zwingen«, erwiderte Troton. »Und ich kann verstehen, daß ihr als Höhere auch ohne Arbeit ein Recht zum Schießen habt.«

Atlan nickte nur. Er legte dem Paarlen die Hand auf die Schulter und schob ihn durch das Schott, das sich wenig später hinter ihnen schloß. Er wußte noch immer nicht, weshalb der Paarle ihn befreit hatte.

War es aus eigenem Antrieb heraus ge-schehen, oder hatte der Priester ihn geschickt?

Sie passierten auch das zweite Schott und schritten dann am Fluß entlang. Nur wenige Fackeln erhellten den Gang. Niemand arbeite-te im Wasser.

»Warum hast du uns geholt, Troton?« frag-te Razamon.

»Du wirst es erfahren. Was du gleich sehen wirst, wird alles viel besser erklären, als es viele Worte können.«

Nach diesen rätselhaften Worten beschleu-nigte der Paarle seine Schritte. Fenrir, der dieses Mal mit in die Höhlen gegangen war, knurrte leise. Atlan legte ihm beruhigend die Hand auf den Kopf, doch das Tier wurde zu-sehends nervöser. Als sie das große Gewölbe betraten, aus dem heraus sie auf die Feste Grool geschossen hatten, blieb Fenrir stehen und knurrte laut.

Atlan und Razamon achteten nicht darauf. Entsetzt blickten sie auf die toten Paarlen, die zwischen den Hütten auf dem Boden lagen. Atlan zählte zwanzig Männer, Frauen und Kinder. Sie alle wiesen schwerste Verletzun-gen auf. Der Priester befand sich unter ihnen. Er war grausam verstümmelt worden.

»Porquetor«, erklärte Troton mit tränener-stickter Stimme. Er sagte nur dieses eine Wort. Das genügte.

Weil die Paarlen die Feste Grool beschos-sen hatten, war der Stählerne in die Höhlen

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eingedrungen und hatte sich grausam gerächt. Atlan machte sich bitterste Vorwürfe, weil er nicht hiergeblieben war und den Paarlen ge-holfen hatte.

»Ich konnte mir nicht vorstellen, daß so et-was geschehen würde«, sagte er mühsam be-herrscht. »Ich dachte nicht, daß Porquetor irgend jemanden töten würde.«

Tatsächlich war er davon überzeugt gewe-sen, daß die Rache des Stählernen ebenso harmlos ausfallen würde wie der Beschuß der Feste Grool. Keines der Geschosse hatte Schaden angerichtet. Die ganze Aktion war aus seiner Sicht kaum mehr als eine Spielerei von Wilden gewesen, die etwas nachäfften, was sie im Grunde genommen nicht begriffen hatten. Wäre es anders gewesen, hätten sie ihren »Sieg« nicht so gefeiert.

Warum hatte Porquetor so grausam darauf reagiert?

»Ist so etwas schon einmal passiert?« fragte Razamon.

»Vor vielen Jahren«, antwortete Troton. »Damals tötete Porquetor neun Männer, sechs Frauen und zwei Kinder.«

»Und wie oft schießt ihr auf die Feste?« er-kundigte sich Atlan.

»Zwölfmal im Jahr«, eröffnete ihm Troton. Die anderen Paarlen kamen aus ihren Hüt-

ten und aus Felsspalten hervor. Sie näherten sich ihnen zögernd und ängstlich. In ihren Gesichtern zeichnete sich der Schock, den sie erlitten hatten, überaus deutlich ab.

»Und sonst passiert nichts?« fragte Raza-mon.

»Nichts. Sonst ist die Angst der Leute von der Feste zu groß vor uns«, erwiderte Troton mechanisch. Erst danach schien er sich dessen bewußt zu sein, was er gesagt hatte. Er stutzte und legte sich die Hand vor den Mund. Fra-gend blickte er Atlan an. Der Arkonide lächelte nicht. Er blieb ernst.

»Dieses Mal ist ihm der Kragen geplatzt«, stellte Razamon kühl fest. »Er wollte euch einen Denkzettel verpassen. Nur ist er dabei erheblich zu weit gegangen.«

Troton hob die Hände. »Einige von uns wollen schießen«, sagte er.

»Ist das richtig?« »Absolut nicht«, entgegnete Atlan. »Es wä-

re ein großer Fehler. Porquetor könnte zu-

rückkommen.« »Fürchtest du dich vor ihm?« fragte einer

der Paarlen, die nun um sie herum standen. »Ich fürchte mich nicht vor ihm. Ich fürchte

nur, daß noch mehr von euch sterben müssen, wenn ihr die Feste erneut angreift. Das ist es, was ich verhindern will.«

»Du kannst es nicht mehr verhindern«, er-widerte der Paarle triumphierend. »Während Troton dich geholt hat, haben wir gehandelt.«

»Ihr habt geschossen?« schrie Troton ent-setzt.

»Wir haben geschossen«, antworteten meh-rere Paarlen aus der Menge zugleich.

*

Troton stürzte sich wutentbrannt auf einen

der Männer und rammte ihm das Geweih ge-gen die Brust. Der Angegriffene stürzte schreiend zu Boden. Troton hieb mit beiden Fäusten auf ihn ein, doch er behauptete sich, wehrte die meisten Schläge ab und schlug selbst zurück. Dabei traf er Troton einige Ma-le so schwer, daß Atlan befürchtete, er werde ihn töten.

Der Arkonide packte Troton und riß ihn hoch.

»Hört auf zu kämpfen«, befahl er. »Da-durch wird nichts besser.«

Troton wollte sich losreißen, doch Atlan hielt ihn fest. Jetzt versuchte der andere, Tro-ton anzugreifen. Razamon stellte sich ihm in den Weg.

Einige Sekunden lang schien es so, als würden sich alle Paarlen auf Atlan und den Atlanter stürzen. Troton beruhigte sich jedoch überraschend.

»Laßt sie in Ruhe«, rief er. »Sie kennen un-sere Gesetze nicht. Woher sollen sie wissen, daß es unwürdig ist, einen Kampf zu unter-brechen?«

Atlan ließ ihn los. Er wollte etwas sagen, als es plötzlich still wurde. Die Paarlen blick-ten an ihm vorbei zu den Felsspalt, durch den er mit Troton hereingekommen war. Er drehte sich um. Ein Dalazaar stand in dem Spalt. Er hielt Netze in beiden Händen, die prall mit gebratenem Fleisch gefüllt waren. Scheu lä-chelnd kam er näher und legte die Netze vor Atlan ab.

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»Ich bin ein Freund«, sagte er in pthori-

scher Sprache. »Ich komme in Frieden.« Die Paarlen drängten sich schwatzend um

ihn und nahmen das Fleisch auf. Freudig er-regt verteilten sie es und begannen sofort da-mit, es zu verzehren. Atlan gab dem Dalazaa-ren einen Wink und bat ihn damit zur Seite. Dankbar nahm der Windmühlenhüter an.

»Wie heißt du?« fragte der Arkonide ihn. »Dadan. Ich muß euch warnen. Porquetor

ist auf dem Wege hierher.« »Wann kann er hier sein?« fragte Razamon. »In jeder Sekunde.« Razamon pfiff schrill auf den Fingern. Au-

genblicklich wurde es still in der Höhle. Die Paarlen blickten ihn fragend an.

»Porquetor kommt zurück«, rief er mit hal-lender Stimme. »Das ist der Erfolg der Schie-ßerei. Versteckt euch.«

Die Paarlen schrien verängstigt auf und rannten in allen Richtungen davon. Innerhalb weniger Sekunden war das Gewölbe leer. Nur noch Atlan, Razamon, der Dalazaare, Fenrir und Troton blieben zurück.

»Ich lasse euch nicht allein«, erklärte der Paarle entschlossen.

Aus der Ferne klang metallisches Klirren herbei. Schritte näherten sich ihnen.

»Er kommt«, wisperte Dadan furchtsam. »Wo können wir uns verstecken?« fragte

Atlan. »Schnell.« »Folgt mir«, rief der Paarle. Er lief zu der

Öffnung des Schußkanals, durch den die Paar-len die Riesenbolzen auf die Feste Grool ab-geschossen hatten. Er stieg hinein. Atlan zö-gerte kurz. Das Versteck erschien ihm zu un-sicher. Doch dann gab ihm Razamon einen leichten Stoß mit der Hand und trieb ihn hin-ein.

Der Arkonide kroch hinter Troton her. Die-ser stemmte sich mit dem Rücken gegen die Wand, nachdem er etwa zehn Meter zurück-gelegt hatte. Die Wand wich knirschend zur Seite. Atlan konnte in eine kleine Höhle se-hen, in der eine Fackel brannte.

»Schnell«, mahnte der Paarle. Diese Aufforderung war kaum nötig, denn

die Schritte Porquetors waren bereits deutlich zu hören. Selbst Fenrir schien zu spüren, daß sie keine Zeit verlieren durften. Er folgte den Männern in die kleine Höhle, die bis auf die

Fackel und ein paar Decken leer war. Troton schloß den Eingang wieder, indem er sich erneut gegen den Stein stemmte.

Porquetor hatte das große Gewölbe er-reicht. Es wurde für einige Minuten still. Die Männer in der Höhle wagten kaum zu atmen. Sie waren sich darüber klar, daß sie nicht die geringste Überlebenschance hatten, wenn der Stählerne sie hier auftreiben sollte.

Sie zuckten zusammen, als Porquetor zu wüten begann. Die Geräusche verrieten, daß er seine Wut an den ärmlichen Hütten und den Gebrauchsgegenständen der Paarlen aus-ließ.

Eine halbe Stunde lang tobte der Stählerne in der Höhle. Dann wurde es still. Troton wollte das Versteck bereits verlassen, doch Atlan hielt ihn mit einer mahnenden Bewe-gung zurück. Seine Vorsicht erwies sich als berechtigt, denn nur Sekunden später ertönte ein schriller Angstschrei. Dumpfe Schritte erschütterten den Boden. Offenbar gelang es dem allzu früh zurückgekehrten Paarlen je-doch, sich in Sicherheit zu bringen, denn ein zweiter Schrei war nicht zu hören. Holz zer-splitterte krachend. Dann wurde es erneut still. Wenige Minuten später pfiff jemand.

»Er ist weg«, sagte Razamon und stemmte sich gegen den Stein, der die Höhle verschloß. Knirschend glitt er zur Seite und gab den Weg frei. Razamon kroch als erster heraus.

Von den Hütten der Paarlen war so gut wie nichts mehr übriggeblieben. Porquetor hatte alles in Stücke gehauen, was die Paarlen in jahrelanger Arbeit mühsam aufgebaut hatten.

Ratlos standen die Höhlenbewohner nun vor den Trümmern ihrer Habe. »Wir haben bekommen, was wir verdient haben«, sagte Troton verbittert. »Porquetor hat sich gerächt. Und das wird er immer wieder tun, solange wir auf die Feste Grool schießen.«

»Feigling«, fuhr ihn ein anderer Mann an und versuchte, ihm die Spitzen seines Ge-weihs ins Gesicht zu stoßen. Troton trat einen Schritt zurück und entging so dem Angriff.

Um weitere Gewalttätigkeiten zu verhin-dern, trat Atlan zwischen die streitenden Männer.

»Er hat recht«, sagte er. »Erst wenn ihr eine wirklich wirksame Waffe gegen Porquetor habt, hat es Sinn, gegen ihn zu kämpfen. Vor-

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läufig aber habt ihr nichts. Ihr müßt stillhal-ten.«

»Warum hast du nicht gekämpft?« fragte eine Frau und zeigte auf die Skerzaal. »Du hast eine Waffe.«

»Sie ist nicht wirksam genug«, erklärte der Arkonide. Er wußte nicht, ob das auch zutraf, denn bis jetzt hatte er noch nicht auf Porque-tor geschossen. Er hatte keinen Grund dafür gehabt. Im Gegenteil. Er verdankte dem Stäh-lernen das Leben.

Freundschaftliche Gefühle für ihn empfand er jedoch nicht mehr, seitdem er gesehen hat-te, was Porquetor angerichtet hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich nicht vorstellen können, mit welcher Grausamkeit dieses We-sen zuschlagen konnte. Für Porquetor mußte der Angriff der Paarlen auf die Feste Grool ebenso belanglos und unbedrohlich sein wie für ihn. Porquetor mußte erkannt haben, daß die Bolzen höchstens ein bißchen Farbe von der Feste abkratzen konnten, mehr aber nicht. Die Gegenreaktion auf den Beschuß war in keiner Weise zu rechtfertigen.

»Wir müssen den Toten helfen«, sagte Tro-ton, und es wurde still im Gewölbe. Die Paar-len räumten die herumliegenden Trümmer zur Seite. Einige Frauen holten stabförmige Mu-sikinstrumente aus den Felsspalten hervor und stimmten eine schwermütige Melodie darauf an. Sie bestand aus nur wenigen Tönen und wiederholte sich in verschiedenen Tonlagen und mit unterschiedlichen Tempi immer wie-der.

Währenddessen banden die Männer den Toten bunte Tücher über die Augen und ver-sahen die Körper mit farbigen Symbolen, von denen die meisten fischförmig waren. Diese Vorbereitungen dauerten etwa eine Stunde. Als sie abgeschlossen waren, hoben die Män-ner die Toten auf Tragbahren und schleppten sie zu dem unterirdischen Fluß, aus dem sie am Tage zuvor Erdölklumpen ausgewaschen hatten.

Sie warfen die Leichen ins Wasser und stimmten einen schrillen Gesang an, der erst verstummte, als alle Toten von den Fluten durch ein Felstor fortgetragen worden waren.

»Wo bleiben sie?« fragte Atlan Troton. »Das weiß niemand«, antwortete dieser.

»Der Fluß trägt sie fort. Er verschwindet im

Boden, und niemand hat je gesehen, ob er wieder nach oben kommt. Wir glauben, daß die Toten ins Reich der ewigen Ruhe einge-hen.«

Für die meisten Paarlen schien nun verges-sen zu sein, was geschehen war. Sie schwatz-ten fröhlich miteinander, als bestünde keiner-lei Gefahr mehr für sie.

Atlan, Razamon, Fenrir, Troton und der Dalazaar kehrten in die große Höhle zurück. Auch hier zeigte sich, daß die Paarlen den Schock bereits überwunden hatten. Sie arbei-teten daran, die Hütten wieder aufzubauen.

Atlan bemühte sich, aus Dadan ein paar In-formationen herauszuholen.

»Warum hast du uns geholfen?« fragte er ihn.

»Ich hasse Porquetor«, erklärte der Hüter. »Er hat viel Leid über unser Volk gebracht. Er hat meinen Bruder getötet.«

»Habt ihr nie versucht, gegen ihn zu kämp-fen?« fragte Razamon. Dadan schüttelte den Kopf.

»Wir können nicht gegen ihn kämpfen«, erwiderte er. »Niemand kann Porquetor be-siegen.«

»Das wird sich zeigen«, sagte Razamon. »Du willst mit ihm kämpfen?« Dadans Au-

gen weiteten sich. »Ich will nicht«, entgegnete Razamon

nachdenklich, »aber es könnte sein, daß ich dazu gezwungen bin.«

»Porquetor hat ein ewiges Leben«, behaup-tete der Dalazaar. »Niemand kann es auslö-schen.«

»Das stimmt«, bekräftigte Troton. »Porque-tor lebt, solange es Pthor gibt. Seit unendli-chen Zeiten. Es gibt viele Legenden über ihn, die bis in die Anfänge der Zeit zurückrei-chen.« Mehr wußten weder Dadan, noch Tro-ton. Atlan und Razamon stellten noch eine Reihe von Fragen, aber etwas Neues ergab sich aus den Antworten nicht.

Atlan bat Troton, ihm die Höhle zu zeigen. Bereitwillig kam der Paarle dieser Bitte nach. Er führte Atlan durch die Gewölbe. Razamon interessierte sich nicht dafür. Er blieb mit Fenrir in der Haupthöhle zurück. Er wollte die Schußanlage näher untersuchen. Atlan merkte bald, daß Razamon die bessere Entscheidung getroffen hatte. Es gab wirklich nicht viel zu

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sehen, abgesehen von ausgedehnten Pilzbee-ten, die die Paarlen in einigen Höhlen einge-richtet hatten, und die ihre Hauptnahrungs-quelle darstellten.

Wichtig war allein, daß die Höhlen noch zwei weitere Ausgänge hatten. Sie waren al-lerdings so schmal, daß man sich nur mit Mü-he hindurchzwängen konnte.

»Porquetor könnte nicht durch sie hinein-kommen«, sagte Atlan, als Troton sie ihm gezeigt hatte. »Man müßte den anderen Ein-gang zerstören.«

»Daran haben wir auch schon gedacht, aber wir wissen nicht, wie man das machen kann«, erwiderte der Paarle. Er blickte Atlan hoff-nungsvoll an. »Weißt du einen Rat?«

»Ich will mich mal umsehen.« Sie kehrten zu Razamon und Fenrir zurück,

die im Hauptgewölbe auf sie warteten. Atlan erklärte dem Atlanter seinen Plan.

»Das äußere Schott ist ein Panzerschott«, sagte er. »Damit wird Porquetor nicht fertig, wenn wir es blockieren.«

»Abwarten«, bemerkte Razamon skeptisch. Zusammen mit dem Arkoniden ging er zum Hauptausgang der Höhlen. Hier untersuchten sie die beiden Schotte und den Gang mit den Leuchtplatten. Fenrir war bei ihnen. Dadan und Troton waren im Hauptgewölbe zurück-geblieben, um bei den Aufbauarbeiten zu hel-fen.

Das äußere Schott war, wie Atlan gesagt hatte, sehr stark gepanzert. Bei ihm war anzu-nehmen, daß es dem Ansturm Porquetors standhalten würde.

»In der Rüstung steckt ein menschliches Wesen«, sagte Atlan. »Davon müssen wir ausgehen. Dieses Wesen lebt seit geraumer Zeit auf Pthor. Hier herrschen etwa die glei-chen Gravitationsverhältnisse wie auf Terra. Das bedeutet, daß Porquetor zwar sehr stark sein kann, sich aber nicht etwa mit einem Ü-berschweren oder einem Haluter vergleichen läßt, deren Körper unter dem Einfluß einer wesentlich höheren Gravitation viel größere Kräfte und eine deutlich höhere Widerstands-kraft entwickelt haben.«

»Klug gesprochen, Lordadmiral«, entgeg-nete Razamon ironisch. »Solange die Haupt-voraussetzung vom menschlichen Wesen stimmt, ist alles in Ordnung. Porquetor kann

aber auch etwas ganz anderes sein.« »Was zum Beispiel?« »Darauf kann ich dir noch keine Antwort

geben. Ich weiß es nicht. Und Spekulationen helfen uns nicht weiter. Wichtig ist nur, daß wir jetzt noch keine Maßstäbe festlegen, sonst könnten wir eine böse Überraschung erle-ben.«

Atlan mußte ihm recht geben. Sie wußten in der Tat noch zu wenig über Porquetor. Al-les, was sie wußten, hatten sie von dem Dala-zaaren und den Paarlen erfahren. Diese aber waren selbst nicht besonders gut über den Stählernen informiert.

Troton hatte ihnen von einer Legende be-richtet, in der es hieß, daß Porquetor einst zu den Herren der Festung gehört, sich nach ei-nem blutigen Streit aber von ihnen getrennt hatte. Seitdem, so hatte Troton gesagt, lebte er allein auf der Feste Grool, nachdem er die früheren Eigentümer der Feste daraus vertrie-ben hatte.

Dadan, der Dalazaar, hatte erzählt, daß Porquetor als der erste Entdecker der Stahl-quelle galt, aus der er auch seine Rüstung und das Breitschwert bezogen haben sollte.

Atlan und Razamon hatten noch viele Fra-gen gehabt.

Was tat Porquetor auf der Feste? Hatte ihn je jemand bei einer ungewöhnlichen und nicht kriegerischen Tätigkeit gesehen? Wie oft ver-ließ er die Feste Grool? Lebte er allein dort, oder hatte er Gehilfen? Ging er stets zu Fuß, oder benutzte er hin und wieder einen Reit-stier? Hatte je jemand mit ihm gesprochen?

Auf all diese Fragen hatten sie nur unklare Antworten bekommen, die Porquetor nur noch rätselhafter erscheinen ließen. Niemand wußte offenbar genau über ihn Bescheid. Es gab auch keinen Priester oder Stammeshäupt-ling, von dem man sagte, daß er mehr wußte. Sonst hatte Atlan bei seinen Expeditionen in die Weiten des Universums immer irgendwo irgend jemanden aufgespürt, der mehr Infor-mationen besaß als andere. Es gehörte gera-dezu zu den Kultur der meisten kosmischen Völker, daß es immer jemanden gab, der Wis-sen besaß, und der dieses Wissen sorgfältig hütete, weil es ihm Macht verlieh. Das Wort Wissen ist Macht hatte Atlan durchaus nicht nur bei den Menschen der Erde angetroffen,

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sondern überall im Universum.

Hier aber schien es niemanden zu geben, der durch sein Wissen eine Sonderstellung einnahm.

»Ich werde keine Ruhe finden, bevor ich al-les über Porquetor weiß«, erklärte Razamon.

»Ich auch nicht«, antwortete Atlan. »Und ich werde auch nicht weiterziehen, bevor ich weiß, daß die Paarlen sicherer leben können als bisher.«

»Es ist nicht unsere Aufgabe, für Ordnung auf Pthor zu sorgen«, erklärte Razamon. »Soweit ich weiß, willst du das Geheimnis von Pthor klären, und du willst verhindern, daß es immer wieder zu verhängnisvollen Katastrophen kommt, wenn Atlantis auf der Erde auftaucht.«

»Vielleicht werden wir bald feststellen müssen, daß Porquetor zu jenen gehört, die für solche Katastrophen verantwortlich sind«, entgegnete Atlan. »Was wissen wir denn schon? Bisher haben wir nur gesehen, was nach außen hin geschieht. Was aber passiert da drinnen in der Feste Grool? Ich glaube nicht daran, daß sie einfach nur eine Art Burg ist, die lediglich dazu dient, Angriffe auf die Bewohner von vornherein so gut wie unmög-lich zu machen. Ich glaube, daß die Feste Grool noch mehr in sich birgt als das Ge-heimnis Porquetors.«

»Ich wußte, daß du so etwas sagen wür-dest«, erwiderte Razamon. »Du kannst nicht an Grool vorbeimarschieren, bevor du dir selbst nicht ein paar Fragen beantwortet hast.«

»So ist es. Ich glaube beispielsweise nicht daran, daß Porquetor wirklich schon so alt ist, wie die Legende behauptet.«

»Warum nicht? Du und ich sind nicht we-niger alt. Warum sollte er es nicht sein?«

»Warum die Rüstung? Könnte sich dahinter nicht immer wieder ein anderer Mann verber-gen? Diese Maske läßt nicht erkennen, wer hinter ihr steckt, und deshalb hat sie für mich nur einen Sinn, wenn mehrere Männer und Frauen sie benutzen.«

Razamon antwortete darauf nicht. Er hatte die Verschalung der elektronischen Schaltung für die Schotte geöffnet. Jetzt tippte er gegen ein Modul.

»Wir brauchen es nur herauszunehmen, und das Schott ist blockiert«, sagte er.

»Dann nimm es heraus.« Razamon blockierte das äußere Schott. Er

verzichtete darauf, auch das innere auf diese Weise zu schließen, weil es schwächer gepan-zert war. Sollte es Porquetor gelingen, das erste Schott zu durchbrechen, würde das zweite kaum noch ein Hindernis für ihn sein.

»Wo lassen wir das Teil?« fragte der Atlan-ter. »Einer von den Paarlen sollte das hohe Amt des Modulbewahrers übernehmen. Was meinst du?«

Bevor Atlan antworten konnte, stürzte Tro-ton durch einen Spalt herein.

»Sie schießen wieder«, rief er verstört. »Ich konnte es nicht verhindern. Dieses Mal wol-len sie die Feste Grool zerstören. Sie nehmen leichtere Bolzen, weil sie weiter fliegen. Der Dalazaar Dadan hat es ihnen geraten.«

»Diese verdammten Narren«, fluchte Ra-zamon. »Kommt.«

Sie eilten durch die Gänge und Felsspalten zu der Grotte zurück, in der nun schon wieder einige notdürftig hergerichtete Hütten stan-den. Alle Paarlen befanden sich hier. Sie drängten sich um die Sichtluke und begleite-ten jeden Schuß mit wildem Geschrei. Atlan sah sofort, daß die Bolzen wirklich besser flogen. Einige Fenster der Feste waren zer-schmettert worden, sonst aber waren über diese Entfernung hinweg keine Schäden fest-zustellen.

Ein paar Sekunden, nachdem sie die Höhle erreicht hatten, raste wieder ein Bolzen aus dem Schußkanal. Er traf eines der antennenar-tigen Gebilde an der Feste Grool und fetzte es hinweg.

Grenzenloser Jubel brach unter den Paarlen aus. Selbst Troton warf nun alle Bedenken über Bord. Mit glänzenden Augen stand er vor Atlan und schrie ihm zu: »Noch niemals zuvor haben wir einen solchen Erfolg gehabt. Die Feste Grool fällt! Sie ist besiegt. Porque-tor ist erledigt. Wir sind die Großen der Tiefe. Wir sind mächtiger als er.«

Atlan ließ die erhobenen Hände resignie-rend sinken. Er sah ein, daß es keinen Sinn hatte, mit den Paarlen zu diskutieren. In ihrem Erfolgstaumel waren sie nicht mehr ansprech-bar.

Nun feuerten sie Schuß auf Schuß ab. Dazu benutzten sie schließlich auch die Trümmer,

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die der Stählerne hinterlassen hatte. Und als sich darunter nicht mehr finden ließ, was als Geschoß zu gebrauchen war, legten sie faust-große Steine in die Schlußkerbe. Die meisten von ihnen ließen sich tatsächlich hinaus-schleudern. Und wiederum fiel eines der an-tennenartigen Gebilde. Dieses Mal war es eines von den beiden an der oberen Seitenku-gel.

Die Paarlen waren nicht mehr zu halten. Die meisten von ihnen rannten wie besessen in den Höhlen herum, um nach einem Ge-genstand zu suchen, der sich als Geschoß eig-nete. Dabei kam eine Frau auf den Gedanken, einen mit einer öligen Flüssigkeit gefüllten Topf in die Abschußkerbe zu legen. Wenig später wirbelte das Gefäß zur Feste hinüber, zerschmetterte ein Fenster und verursachte ein kleines Feuer, das jedoch schon nach wenigen Sekunden erlosch.

Dieser Scheinerfolg war zuviel für die Paarlen. Sie umarmten sich, sangen und tran-ken, als hätten sie Porquetor vernichtet und damit für alle Zeiten den Frieden gewonnen.

Atlan legte Razamon die Hand auf die Schulter.

»Komm«, schrie er, um den Lärm zu über-tönen. »Wir gehen zum Schott. Ich will wis-sen, ob Porquetor es schafft, es zu durchbre-chen.«

Der Atlanter nickte nur. Zusammen mit dem Arkoniden und Fenrir verließ er das Ge-wölbe.

Kopfschüttelnd ging Razamon neben Atlan her.

»Seltsam«, sagte er ratlos. »Militärische Er-folge, und seien sie noch so klein, rufen eine Euphorie hervor. Niemand denkt daran, was später kommt.«

»Es gibt bald nichts mehr, womit sie schie-ßen können. Und dann ist Ruhe.«

»Das glauben die Paarlen wahrscheinlich auch. Aber sie irren sich. Wenn sie nichts mehr haben, was sie als Geschoß benutzen können, müssen sie nach draußen. Sie müssen sich das Material für neue Hütten und für die Gebrauchsgegenstände besorgen. Porquetor hat es gar nicht nötig, zu ihnen in die Höhle zu kommen. Er macht sie draußen fertig.«

Razamon blieb abrupt stehen. Sein gelblich schimmerndes Gesicht verzerrte sich. Sie hat-

ten den Anfang eines Ganges erreicht, der etwa dreißig Meter lang war. An den Fels-wänden brannten drei Fackeln. In ihrem Licht war der Fremde deutlich zu erkennen, der am Ende des Ganges ihnen gegenüberstand.

Er trug eine silbrig glänzende Kombination, die seinen Körper hauteng umschloß. Atlan schätzte ihn auf etwa 1,80 Meter. Das Gesicht verbarg sich unter einem Kampfhelm mit dunkler Sichtscheibe. Solche Helme hatten Antigravstreiter getragen. An sie erinnerte sich Atlan noch recht gut. Sie hatten in Groß-arenen wilde Kämpfe durchgeführt, die in den Jahren um 2340 eine große Rolle auf der Erde gespielt hatten. Atlan erinnerte sich besonders gut an sie, weil es so außerordentlich schwer gewesen war, diese Kämpfe zu verbieten. Sie waren unmenschlich und grausam gewesen, weil sie mit ihren Effekten an die niedersten Instinkte der Menschen appelliert hatten. Doch eine Gruppe von skrupellosen Anwälten hatte es geschafft, das Verbot immer wieder zu verhindern, so daß diese Kämpfe über ei-nige Jahre hinweg zum großen Geschäft hat-ten werden können.

Der rätselhafte Unbekannte trug die mit Dornen besetzten Handschuhe, die zu dieser Ausrüstung gehörte, und er stand auf winzi-gen Antigravplattformen, die wenige Zenti-meter über dem Boden schwebten.

Razamon blieb einige Sekunden lang wie erstarrt. In seinem markanten Gesicht arbeite-te es.

»Nicht«, sagte Atlan mahnend. »Beherr-sche dich.«

Er beobachtete Fenrir, der sich winselnd auf den Boden sinken ließ und keinerlei An-stalten machte, den Fremden anzugreifen.

Razamon stieß Atlan zur Seite und rannte los. Dabei riß er sich die Skerzaal von der Schulter, ohne sie jedoch zu spannen. Er woll-te sie als Schlagwaffe benutzen.

Als er bis auf fünf Meter an den geheim-nisvollen Unbekannten herangekommen war, holte dieser leicht aus und hieb seine rechte Faust wuchtig gegen eine vorspringende Fels-nase. Die Arkonitstahldornen bohrten sich in den Fels, und dieser zersplitterte zu staubfei-nen Partikeln, die Razamon entgegenwirbel-ten. Es war, als sei ein Geschoß in den Fels gerast.

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Razamon blieb bestürzt stehen. Er erkannte, daß es chancenlos gegen den

Maskierten war. »Verschwinde«, rief er stammelnd. »So

verschwinde doch endlich.« Seine sonst so tiefe Stimme klang schrill. Der Fremde schob einen Fuß nach vorn und

glitt lautlos auf Razamon zu. Spielerisch leicht schwebte er über den Boden.

Razamon hob die Skerzaal über den Kopf. »Noch einen Schritt weiter«, sagte er. »Und

dein Ende ist gekommen.« Der Unbekannte ließ sich nicht abschre-

cken. Atlan bemerkte, daß Razamon zögerte und einen halben Schritt zurück machte.

»Sei vernünftig«, rief er dem Freund zu. »Komm hierher, Razamon. Es hat keinen Sinn, mit ihm zu kämpfen.«

Abermals schlug der Maskierte die Faust gegen den Fels, und wiederum pulverisierte er ihn. Seine Faust schien aus härtestem Arkonit zu sein, daß sie dieser Belastung standhielt.

»Zeig mir dein Gesicht«, schrie Razamon erregt. »Herunter mit der Maske.«

Atlan ging entschlossen zu Razamon. Dicht hinter ihm blieb er stehen. Er lud seine Sker-zaal, spannte sie und zielte auf die dunkle Sichtscheibe des Helms.

»Wir wollen dein Gesicht sehen«, sagte er drohend. »Ich werde dir die Sichtscheibe zer-schießen, wenn du dich nicht zeigst.«

Der Fremde wandte sich Atlan zu. Es schien, als bemerke er ihn zum erstenmal. Razamon schien für ihn nicht mehr vorhanden zu sein. Er hob eine Hand, und es schien, als ob er etwas sagen wollte.

In diesem Moment erreichte Porquetor das Außenschott und versuchte, es zu öffnen. Donnernd schlugen seine Fäuste gegen die Tür. Der Maskierte verschwand so plötzlich, wie er gekommen war.

6.

Mächtige Glockenschläge schienen das

Höhlensystem bis in den letzten Winkel hin-ein zu erschüttern.

Das ferne Geschrei der Paarlen, die ihren vermeintlichen Sieg feierten, verstummte.

Atlan und Razamon blickten sich an. »Jetzt wird es sich zeigen«, sagte der Arko-

nide. »Komm, wir ziehen uns zurück.« »Ich bleibe«, erklärte Razamon trotzig. Atlan lächelte. »Genügt es nicht, wenn die Paarlen sich

heldenhaftes Verhalten einbilden?« Razamons Kopf fuhr herum. Das Gesicht

spannte sich für einen kurzen Moment. Er entblößte seine Zähne.

»Du hast recht, Lordadmiral«, antwortete er.

Sie zogen sich weiter zurück, bis sie das Außenschott gerade noch sehen konnten. Sie beobachteten, wie es bei jedem Schlag erzit-terte und erbebte. Um den Rahmen herum platzte Felsgestein und Kunststoffverschalung weg. Darunter wurden Stahlverstrebungen sichtbar, die tief in den Fels hineinführten.

»Er schafft es nicht«, stellte der Arkonide fest. »Auf diese Weise nicht.«

Troton und einige weitere Paarlen tauchten neben ihnen auf. Wortlos blickten sie auf das Schott. Ihre Gesichter waren bleich und von Furcht gezeichnet. Die Minuten verstrichen. Immer wütender ging Porquetor gegen das Panzerschott vor, aber immer deutlicher zeichnete sich auch ab, daß er es nicht bre-chen konnte.

Dann plötzlich wurde es still. Ein paar klei-ne Steine fielen von der Decke, und dann hör-te Atlan nur noch den keuchenden Atem der Paarlen neben ihm.

»Es ist vorbei«, sagte er. »Porquetor hat begriffen, daß er auf diesem Wege nicht mehr in die Höhlen kommt. Sorgt nun dafür, daß er keinen anderen Weg findet.«

Die Stimmung schlug um. Plötzlich klang Jubel auf. Vergeblich versuchte Atlan, die Paarlen zur Ruhe zu bringen. Sie brüllten die ganze Anspannung der letzten Stunden aus sich heraus, ohne daran zu denken, daß sie Porquetor dadurch zu weiteren Angriffen pro-vozieren konnten.

Der Stählerne ließ sich jedoch nicht heraus-fordern. Er verhielt sich still.

Er wartet darauf, daß jemand töricht genug ist, das Schott zu öffnen, stellte der Logiksek-tor fest.

Niemand wird so dumm sein, widersprach Atlan in Gedanken.

Warte nur ab! Einige Minuten verstrichen. Die meisten

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Paarlen zogen sich zurück. Auch Razamon war bereits gegangen. Plötzlich trat ein Paar-le, der ein auffallend wuchtiges Geweih hatte, auf Atlan zu und streckte ihm fordernd die Hände entgegen.

Siehst du! »Gib es mir«, sagte der Mann. Atlan schüttelte den Kopf. »Eher würde ich es zerstören«, antwortete

er. »Porquetor steht da draußen vor der Tür. Glaubst du wirklich, daß ich zulassen werde, daß du die Tür jetzt öffnest? Ganz bestimmt nicht. Ihr werdet einen Priester aus eurer Mit-te wählen, den ich in das heilige Amt des Türverantwortlichen einweisen werde. Er wird die Macht über das Schott aus meinen Händen erhalten. Niemand sonst.«

Der Paarle ließ sich augenblicklich beein-drucken. In seinen Augen leuchtete es begie-rig auf. Das genannte Priesteramt war mit Macht verbunden, und das gefiel ihm.

»Bestimme mich dazu«, rief er. »Das werde ich nicht tun«, entgegnete der

Arkonide entschlossen. »Ihr Paarlen werdet selbst entscheiden.«

Damit ließ er den Mann stehen und kehrte in die Haupthöhle zurück, in der sich mittler-weile fast alle Bewohner eingefunden hatten. Hier wiederholte er seinen Vorschlag und empfahl Troton für das Priesteramt. Der Paar-le mit dem mächtigen Geweih, der das Amt von ihm gefordert hatte, blickte ihn drohend an, aber Atlan ignorierte ihn.

Troton sprang auf einen kleinen Holzstapel und hielt eine kurze Rede, in der er bewies, daß er die Problematik des neuen Amtes voll und ganz begriffen hatte. Ihm ging es nicht um die Macht, sondern um die Verantwor-tung.

Der Paarle mit dem wuchtigen Geweih wandte sich anschließend an die Bewohner des Höhlensystems. Er war jedoch unge-schickt genug, durchblicken zu lassen, wie er das Amt sah. Bei der darauf folgenden Wahl fiel er durch. Troton erhielt vier Stimmen mehr als er.

Atlan zog sich nun mit ihm zum Schott zu-rück, während Razamon und Fenrir darüber wachten, daß sie niemand belauschen konnte. Fenrir vertrieb knurrend und fauchend einige neugierige Paarlen, die durch bisher verbor-

gen gebliebene Felsspalten versuchten, in die Nähe des Schottes zu kommen.

Geduldig unterwies Atlan den neuen Pries-ter in sein Amt. Er zeigte ihm immer wieder, wie das Modul eingesetzt werden mußte, wie die Elektronik geschlossen wurde, und wie man sie absicherte. Er hütete sich jedoch, das Schott zu öffnen.

Erst als er absolut sicher war, daß Troton alles begriffen hatte, überreichte er ihm das Modul.

»Wir müssen einen Behälter dafür herstel-len«, sagte er, »damit es nicht feucht und schmutzig wird. Am besten trägst du es im-mer bei dir. Und bilde rechtzeitig einen Ver-treter und Nachfolger aus, der das Amt über-nehmen kann, wenn sich dein Leben dem En-de zuneigt.«

Du mußt ihm eine einfache Zeichnung an-fertigen, signalisierte der Logiksektor. Por-quetor kann ihn täglich erwischen. Ein Nach-folger muß dann aus der Zeichnung ersehen können, was zu tun ist.

Gegen diese Feststellung war nichts einzu-wenden. Das Leben auf Pthor war so gefähr-lich, daß niemand langfristige Pläne aufstellen konnte, der nicht so mächtig war wie bei-spielsweise Porquetor.

Nun aber erhob sich das Problem, Papier oder etwas vergleichbares in ausreichender Qualität und eine entsprechende Tinte aufzu-treiben. Atlan diskutierte einige Stunden lang zusammen mit Fenrir, Troton und Dadan über diese Fragen, obwohl der Dalazaar von An-fang an eine Antwort parat hatte.

Es gab ein weißes, hauchdünnes Leder mit-ten im Windmühlenfeld in einem Wachhaus. Dort war auch der Extrakt aus Aalblut enthal-ten, der sich als Tinte gut eignete. Dadan schwor, daß sich eine Schrift mit dieser Tinte auf diesem Leder ewig hielt. Er behauptete, beim Volk der Dalazaaren seien Berichte vor-handen, die über dreitausend Jahre alt seien, und die man dennoch mühelos lesen könne, weil die Schrift nicht verblaßt und das Leder nicht zerfallen sei. Atlan mochte sich jedoch nicht mit dem Gedanken anfreunden, daß sie zu den Dalazaaren zurückkehren sollten, nachdem sie ihnen mit der Hilfe Dadans ent-kommen waren. Er suchte nach einer anderen Möglichkeit, fand jedoch auch in stundenlan-

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ger Arbeit keine, die wirklich befriedigte.

»Also gut«, stimmte er endlich zu. »Wir gehen zurück.«

*

Die Nacht war dunkel und sternenlos. Atlan konnte zunächst überhaupt nichts se-

hen, als sie das Höhlensystem durch einen schmalen Felsspalt verlassen hatten. Er hatte das Gefühl, unter einem lichtundurchlässigen, schwarzen Tuch zu stehen.

»Die Luft ist rein«, sagte Troton. »Ich sehe nichts«, bemerkte Razamon un-

ruhig. »Verdammt, was ist, wenn Porquetor uns hier irgendwo auflauert. Wir könnten uns doch nicht einmal wehren.«

»Er ist nicht da«, beteuerte der Paarle. »Niemand hält sich in unserer Nähe auf.«

»Bei dieser Dunkelheit kannst du doch gar nichts sehen«, entgegnete Dadan.

»Wir Paarlen können bei diesem Licht fast so gut sehen wie am Tage«, erklärte Troton. Ihm war anzuhören, daß er sich über seine Überlegenheit freute. Seine Nachtsichtigkeit war etwas, was ihn über die anderen erhob. »Ihr könnt euch auf mich verlassen. Es ist wirklich alles in Ordnung.«

Fenrir hielt sich dicht bei Atlan. Auch er konnte sich in dieser Dunkelheit nicht gut orientieren.

Troton streckte seine Hände aus. »Folgt mir«, sagte er. »Ich führe euch.«

Atlan ergriff seine linke Hand und ging hin-ter ihm her. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Konturen wurden sichtbar, die ihm vorher verborgen geblieben waren. Er entdeckte Hindernisse und wich ihnen aus, noch bevor Troton ihn darauf auf-merksam machte.

Auch die anderen fühlten sich nach und nach sicherer, so daß die Gruppe immer schneller vorankam. Nachdem sie etwa eine halbe Stunde marschiert waren, zogen die Wolken ab, und die Sterne kamen durch. Die Feste Grool schälte sich aus der Dunkelheit. Sie war noch etwa fünfhundert Meter von ihnen entfernt. Und dann merkte Atlan, daß sie bereits mitten im Windmühlenfeld waren. Er vernahm das Schnauben eines Reitstiers, der nicht weit von ihm entfernt sein konnte.

»Da drüben ist das Wachhaus«, sagte Tro-ton und zeigte in eine Richtung, in der die anderen überhaupt nichts erkennen konnten. Vorsichtig gingen sie weiter.

Kurz darauf sah Atlan etwas im Gras auf-blitzen. Es war, als leuchte für einen Sekun-denbruchteil eine winzige Lampe auf.

Er blieb stehen. »Troton«, sagte er unruhig. »Ich habe etwas

aufblitzen gesehen.« Der Paarle blieb stehen. »Nicht bewegen«, flüsterte Dadan. »Was ist los?« fragte Razamon. »Skorpionwürmer«, antwortete der Dala-

zaar. »Hin und wieder sichern wir das Wach-haus mit ihnen ab.«

Troton zog sich furchtsam einige Schritte weit zurück. Auch der Fenriswolf blieb nicht bei Atlan. Lautlos verschwand er in der Dun-kelheit.

»Wenn der Schamane das Zwiegespräch mit den Göttern aufnimmt, streut er Skorpi-onwächter um das Lager, damit ihn und seine Gläubigen niemand stören kann. Wer sich dem Lager in dieser Zeit nähert, stirbt, wenn er in die Skorpionfalle gerät. Und niemand entgeht dieser Falle, es sei denn, daß er Napham hat.«

»Zum Teufel, was ist das nun wieder?« fragte Razamon.

»Der Blütenstaub der Naphampflanze«, er-widerte der Dalazaar. »Er betäubt die Skorpi-onwürmer, so daß man sie einsammeln und für das Blasrohr verwenden kann.«

Atlan begriff. Die Dalazaaren hatten sich in den Besitz einer ungewöhnlich gefährlichen Waffe gebracht, die eine bessere Sicherung für sie darstellte als jede Wache. Aber nicht nur das. Sie benutzten die Skorpionwürmer auch als Geschosse, indem sie sie in ein Blas-rohr steckten und mit dem Giftstachel voran abschossen.

Es überlief ihn kalt, als er sich vorstellte, daß irgendwo vor ihnen in der Dunkelheit vielleicht ein Dalazaar stand und mit einem auf diese Weise präparierten Blasrohr auf sie zielte.

»Wie bekommen wir den Blütenstaub?« fragte Atlan. »Und wieso müssen wir uns vor den Skorpionwürmern in acht nehmen, wäh-rend die Dalazaaren im Lager sich vor ihnen nicht zu fürchten haben?«

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»Napham müssen wir sammeln. Ich weiß

eine Stelle, an der viel davon vorhanden ist. Es ist nicht weit«, erwiderte Dadan. »Meine Brüder im Lager brauchen sich nicht vor den Würmern zu fürchten, weil niemand von ih-nen auf den Gedanken kommen würde, sich ihnen mitten in der Nacht zu nähern. Die Würmer bleiben bei den Honignestern, die der Schamane angelegt hat. Wenn es hell ist, be-täubt er sie und sammelt sie ein.«

»Wir wollen uns beeilen«, entschied Atlan. »Je früher wir diesen Blütenstaub haben, des-to besser.«

»Lohnt sich der ganze Aufwand?« fragte Razamon. »Läßt sich das alles nicht auch viel einfacher bewerkstelligen?«

»Wir bleiben bei unserem Plan«, entschied Atlan. »Führe uns, Dadan.«

Razamon war nicht mit der Entscheidung Atlans einverstanden. Er wäre viel lieber di-rekt zur Feste Grool gezogen, weil er hoffte, hier Hinweise zu finden, die Aufschluß über seine Vergangenheit gaben. Er beugte sich jedoch dem Willen des Arkoniden, als dieser Dadan folgte. Leise fluchend schloß er sich ihm an.

Dadan wußte in dieser Gegend gut Be-scheid. Er schien jeden Stein und jeden Strauch zu kennen. Sicher umging er jedes Hindernis, obwohl der Paarle ihm kaum half. Als sie etwa zweihundert Meter vom Wach-haus der Dalazaaren entfernt waren, gesellte sich Fenrir wieder zu ihnen. Atlan begrüßte ihn mit einem Schnalzen der Zunge.

»Er hat einige Hyänen verjagt«, berichtete Troton. »Ich habe es deutlich gesehen. Sie hätten uns gefährlich werden können.«

Wenig später erreichten sie ein mit duften-den Büschen bewachsenes Gebiet.

»Wir müssen ein paar Äste anstecken, da-mit wir etwas sehen können«, sagte Troton. Er kramte in seinen Taschen herum. Dann flammte ein Zündholz auf, und kurz darauf brannte ein großer Ast in seinen Händen. Er reichte ihn Atlan und entzündete zwei weitere Äste, von denen er einen Razamon gab, wäh-rend er den anderen selbst behielt. Er bat Tro-ton, die Wache zu übernehmen, weil er am besten sehen konnte. Dann zeigte er Atlan die Naphamblüten. Sie erinnerten den Arkoniden an terranische Orchideen. In kirschgroßen

Beuteln befand sich der Blütenstaub. Die Be-hälter ließen sich leicht von den Blüten able-sen.

»Laßt euch nicht von den Bienen stechen«, warnte der Dalazaar. »Das gibt unangenehme Wunden.«

Es tauchten jedoch kaum Bienen auf, und Atlan ließ alle Blüten unberührt, an denen diese Insekten hingen.

Nach einer knappen Stunde hatten sie ge-nügend Blütenstaub gesammelt. Dadan schnitt nun von einer bambusähnlichen Pflanze ein zwei Meter langes Stück ab und erhitzte es über der Flamme. Weißes Mark floß heraus. Er ließ es achtlos auf den Boden fallen.

Einige Minuten später hatte er alles Mark entfernt, so daß er über ein Blasrohr verfügte. Er füllte es mit dem Blütenstaub, nachdem er es auf einer Seite mit etwas Mooskraut ver-stopft hatte. So ausgerüstet, machte er sich auf den Rückweg. Es war mittlerweile ein wenig heller geworden, so daß die anderen nicht mehr darauf angewiesen waren, daß der nachtsichtige Paarle sie führte.

Einige Raubvögel strichen dicht über die Köpfe der Männer hinweg, verzogen sich jedoch wieder, als Fenrir knurrend in die Hö-he sprang und nach ihnen schnappte.

Vorsichtig näherten sie sich dem Wachhaus der Dalazaaren, bis Dadan die Arme hob und ihnen hieß, zurückzubleiben. Gebückt pirsch-te er sich näher heran.

Es war nun bereits so hell, daß Atlan die Reitstiere sehen konnte, die neben dem Wachhaus auf dem Boden lagen und schlie-fen. Sie waren mit schweren Ketten gefesselt.

Etwa fünfzig Meter vom Wachhaus entfernt richtete Dadan sich auf und hob das Blasrohr an den Mund. Er blies kräftig hinein, und eine Wolke gelben Blütenstaubs wehte auf die Wachstation zu. Sie senkte sich allmählich ins Gras.

Dadan wartete einige Minuten, dann puste-te er abermals in das Rohr, zielte aber in eine andere Richtung. Nach wiederum einigen Minuten entleerte er das Rohr völlig. Dann winkte er Atlan und seinen Begleitern zu.

»Ihr könnt kommen«, rief er mit gedämpf-ter Stimme.

Sie schlossen zu ihm auf. Er ging vor ihnen her, und sie blieben in seiner Spur, wobei sie

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ATLAN 10 – Porquetor, der Stählerne

versuchten, einige Skorpionwürmer zu finden. Das gelang ihnen jedoch nicht. Dazu war es noch zu dunkel.

Ungehindert erreichten sie das Wachhaus. Laute Schnarchtöne verkündeten davon, daß die Dalazaaren schliefen.

»Ich gehe allein hinein«, sagte Dadan. »Wir gehen alle«, entgegnete Atlan. »Einer

sichert den anderen ab, damit es keine Katast-rophe gibt, wenn einer von deinen Freunden zu früh aufwacht.«

Er selbst blieb direkt hinter dem Dalazaa-ren, als dieser die Tür öffnete. Ein strenger Geruch schlug ihnen entgegen. Razamon hielt sich die Nase zu.

»Muß ich wirklich hineingehen?« fragte er. »Du kannst hier an der Tür stehenbleiben«,

antwortete der Arkonide. »Schließlich will ich dich nicht in akute Lebensgefahr bringen.«

»Mich wundert nur, daß da drinnen etwas überleben kann«, entgegnete Razamon grin-send.

»Ich verstehe nicht«, sagte Dadan. »Wovon sprecht ihr?«

Atlan schob ihn wortlos in die Hütte hinein. Der Innenraum, in dem die Dalazaaren schlie-fen, war etwa hundert Quadratmeter groß. Atlan schätzte, daß darin wenigstens neunzig Männer lagen und schliefen. Unter diesen Umständen war es nicht verwunderlich, daß die Luft nicht gut war.

Dadan eilte lautlos durch das Halbdunkel. Er wußte genau, wie er gehen mußte, damit er niemanden aufweckte.

Doch dann geschah etwas, womit niemand hatte rechnen können. Einer der Reitstiere brüllte schmerzerfüllt auf, sprang hoch und zerrte mit aller Gewalt an seinen Ketten. Sei-ne Reaktion veranlaßte wiederum Fenrir zu wütendem Knurren. Die anderen Stiere er-wachten und stimmten in das Gebrüll ein.

Der Lärm schreckte die Dalazaaren hoch. Atlan und Dadan rannten zum Ausgang zu-

rück. Sie wollten an Razamon vorbei, doch dieser riß sie zurück. Im gleichen Augenblick erkannten sie auch, warum. Die Panzerstiere drängten sich vor dem Eingang zusammen. Sie hatten Troton und den Fenriswolf einge-kesselt. Beide reagierten blitzschnell und rich-tig. Der Paarle schnellte sich hoch auf den Rücken eines Stieres. Von dort aus sprang er

dem nächsten Tier auf den Rücken und er-reichte dann Atlan. Der Wolf raste geduckt unter den Leibern der Stiere hindurch, bevor sie ihn mit ihren Hörnern aufspießen konnten.

Nun warfen sich die Dalazaaren auf die Eindringlinge. Sie überwältigten sie innerhalb weniger Sekunden. Fenrir erhielt einen Schlag mit einer Eisenstange über den Kopf. Er brach zusammen und blieb regungslos liegen.

Dadan tat so, als sei er soeben erst von ei-nem erfolglosen Jagdausflug zurückgekom-men. Wütend wies er die Behauptung zurück, er habe etwas mit Atlan und seinen Begleitern zu tun.

Die Dalazaaren verließen den Raum und sperrten Atlan, Razamon und Troton darin ein. Fenrir ließen sie draußen liegen.

»Verdammt, ich habe es gewußt«, rief Ra-zamon ärgerlich. »Es war ein Fehler, hierher zurückzukehren.«

Der Arkonide blieb gelassen. »Sei nicht so pessimistisch«, sagte er und

rieb sich die Schulter. Die Wunde war noch nicht völlig verheilt und juckte leicht. »Dadan ist frei. Er wird uns noch einmal befreien. Davon bin ich fest überzeugt. Inzwischen werden wir nach dem Leder und der Tinte suchen.«

Razamon weigerte sich, sich daran zu betei-ligen.

»Glaubst du denn wirklich, daß sie uns ausgerechnet bei diesem Zeug einsperren?« fragte er.

»Warum denn nicht?« Atlan lachte leise. »Sei nicht unlogisch, Freund. Die Dalazaaren haben keine Ahnung, was wir hier wollen. Sie können nicht wissen, daß wir es auf Tinte und ein Stück Leder abgesehen haben.«

Razamon biß sich auf die Lippen. Offen-sichtlich belastete ihn die Situation, in der sie sich befanden, außerordentlich stark. Nach zehntausend Jahren war er nach Pthor zu-rückgekehrt. Jetzt zog es ihn mit aller Macht in das Gebiet, das er für seine Heimat hielt. Zögernd zunächst, dann aber immer eifriger beteiligte er sich an der Suche, und er war es auch, der sowohl das Leder als auch die aus Pthor-Aalen gewonnene Tinte fand. Trium-phierend hielt er sie hoch.

Atlan nahm sie entgegen, setzte sich mit Troton zusammen und fertigte geduldig die

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Zeichnungen an, wobei er erneut erklärte, wie das Modul zu behandeln war.

Einige Stunden gingen darüber hin, bis At-lan endlich zufrieden war. Troton steckte das Leder ein.

Kurz darauf wurde es vor dem Gebäude laut. Die Tür flog auf, und mehrere Dalazaa-ren warfen den übel zugerichteten Dadan in den Raum. Er stürzte zu Boden und blieb stöhnend liegen. Die Tür schloß sich wieder.

Atlan beugte sich über den Dalazaaren und drehte ihn auf den Rücken herum. Dadan blu-tete aus zahlreichen Wunden. Sein Gesicht war durch Schwellungen so stark entstellt, daß er kaum noch zu erkennen war.

»Man hat ihn nach Strich und Faden ver-prügelt«, stellte Razamon fest. »Wahrschein-lich ist man ihm auf die Schliche gekom-men.«

»Es sieht so aus«, stimmte Atlan zu. Er hielt den Kopf Dadans. »Was ist passiert?«

»Sie haben die Spuren gefunden«, antwor-tete der Gefolterte mühsam. »Sie wissen al-les.«

Er richtete sich auf. Troton reichte ihm et-was Wasser, das er aus einem Gefäß in der Ecke des Raumes entnahm.

»Zwei Boten sind zu Porquetor unterwegs«, fuhr der Dalazaar fort. »Wir müssen von hier verschwinden.«

Razamon lachte grimmig. »Das ist leicht gesagt, Freund. Ich sehe vor-

läufig nicht, wie wir hier herauskommen sol-len.«

»Wir müssen es durch das Dach versu-chen«, erklärte Dadan. »Es ist viel schwächer gebaut als das von der Hütte, in der ihr vorher eingesperrt wart.«

»Was war mit dem Stier los?« fragte Atlan. »Wieso hat er plötzlich so einen Lärm ge-macht?«

»Er ist von einem Skorpionwurm gestochen worden«, antwortete Dadan. »Er ist tot. Wir haben seinen Todesschrei gehört.«

Atlan fuhr ein Schauer über den Rücken, als ihm bewußt wurde, wie stark das Gift der Skorpionwürmer sein mußte, wenn es aus-reichte, diese riesigen Panzerstiere zu töten.

»Also los, fangen wir an«, sagte er. »Wenn ihr es schafft, werde ich einen Stier

besorgen, mit dem wir fliehen können«, ver-

sprach der Dalazaar. »Seht aus dem Fenster. Dort steht ein Tier. Es hat nur halbe Hörner. Es gehört mir, und es gehorcht meinen Befeh-len.«

Atlan stieg auf den Rücken Razamons, so daß er die Decke mit den Händen erreichen konnte. Sie bestand aus einfachen Brettern, die nebeneinander gelegt, aber nicht mitein-ander verbunden waren. Durch die Spalten konnte er die Dachkonstruktion sehen, die ebenfalls nur aus stufenförmig übereinander gelegten Brettern bestand. Direkt über den Brettern der Decke verliefen mehrere armdi-cke Kabel.

Atlan schob ein Brett zur Seite und prüfte die Isolation des Kabels. Sie war schlecht, und in seinen Augen war es ein kleines Wun-der, daß diese Hütte noch nicht abgebrannt war.

Er ließ sich auf den Boden herunter und be-richtete den anderen, was er herausgefunden hatte.

»Ich werde das Isoliermaterial abbrennen und dann ein Eisenstück auf die blanken Stel-len fallen lassen«, schloß er. »Das gibt einen herrlichen Kurzschluß, bei dem das halbe Dach wegfliegt. Der Rest ist ein Kinderspiel.«

»Vorausgesetzt, wir leben dann noch«, sag-te Razamon. Er blickte auf die Holztür und hieb die rechte Faust klatschend in die linke Hand. »Ich könnte die Tür zertrümmern. In der richtigen Stimmung befinde ich mich.«

»Die Dalazaaren wären schnell hinter uns her«, wehrte Atlan ab.

»Wenn aber die Hütte brennt und ein Teil des Energieversorgungssystems zusammen-bricht, haben die Dalazaaren andere Sorgen, als sich um uns zu kümmern.«

»Das ist richtig«, sagte Dadan. »Das ist der beste Weg.«

Er reichte Atlan einen Zündstein und ein gelbliches Pulver. Er verstreute etwas von dem Pulver auf die Kabel, nachdem Razamon ihn erneut hochgehoben hatte, und schlug mit einem stählernen Zündstift Funken aus dem Stein. Das Pulver entflammte augenblicklich, und das Isoliermaterial fing Feuer, so wie Atlan es erwartet hatte. Es brannte auf einer Strecke von etwa einem halben Meter ab, dann erlosch es wieder. Der Arkonide blies die Asche hinweg. Darunter zeigte sich blan-

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kes Metall.

Atlan nahm nun einen Holzbalken und eine kurze Eisenstange, legte diese quer über das Ende des Balkens und hob damit das Eisen vorsichtig hoch. Er führte es zwischen den beiden Kabeln hindurch und ließ es dann fal-len.

Ein grellweißer Blitz schoß krachend aus den Kabeln. Das Eisen glühte auf. Das Holz fing Feuer, und ein Teil des Daches wurde von der Wucht des Kurzschlusses hinwegge-schleudert.

Troton warf sich stöhnend auf den Boden. Er preßte zunächst das Gesicht auf die Erde, dann aber blickte er Atlan mit geweiteten Au-gen an. Der Arkonide packte ihn am Arm und riß ihn hoch.

»Das hat nichts mit göttlicher Kraft zu tun, Troton«, sagte er. »So etwas wirst du viel-leicht auch bald lernen.«

»Du bist einer von den Großen«, sagte der Paarle stammelnd.

Atlan antwortete nicht. Es eilte zu einem Fenster und blickte hinaus. Der Kurzschluß hatte die umliegenden Windmühlen lahmge-legt. Zwei von ihnen brannten. Von allen Sei-ten eilten die Dalazaaren herbei und versuch-ten, die Generatoren zu retten.

»Es wird Zeit, daß wir verschwinden«, be-merkte Razamon. »Oder wollt ihr hier noch lange herumstehen und bewundern, was ihr angerichtet habt?«

»Eigentlich nicht«, entgegnete Atlan. »Ich bin mehr dafür, daß wir uns auf die Socken machen.«

Geradezu spielerisch leicht schnellte Ra-zamon sich zum Dach hinauf, das nur auf einer Seite der Hütte brannte. Danach hielt er Atlan eine Latte herunter. Dieser ergriff sie, und Razamon zog ihn mit einer schwungvol-len Bewegung nach oben.

Anschließend hob er Dadan und Troton auf die gleiche Weise hoch. Sie sprangen auf den Boden herab und nahmen ihre Waffen auf, die auf einem Ablagegestell in der Nähe der vier-fach verriegelten Tür lagen. Bei den Dalazaa-ren hatte niemand damit gerechnet, daß die Gefangenen ausbrechen könnten, obwohl das schon einmal geschehen war. Bis auf ein Messer Dadans waren alle Waffen da. Sogar das Blasrohr lehnte an der Wand.

Dadan nahm es an sich und stürmte dann voran zu einem mächtigen Panzerstier. Auf dem Weg dorthin schrie er dem Tier Befehle zu. Als er es erreicht hatte, löste er die Ketten und rief Atlan und den anderen zu: »Steigt auf. Schnell.«

Er selbst schwang sich dicht hinter dem Kopf auf den Rücken des Stieres und packte ihn bei den gestutzten Hörnern. Atlan setzte sich hinter ihn. Ihm folgte Razamon, und den Abschluß bildete Troton. Dadan stieß einen gellenden Schrei aus. Der Stier stürmte los.

Atlan blickte zurück. Die Flammen hatten mittlerweile die ge-

samte Hütte erfaßt, doch die Dalazaaren kümmerten sich nicht um sie oder um die flüchtenden Gefangenen. Ihre einzige Sorge galt den Windmühlen.

Atlan tippte Dadan an, nachdem der Stier sie etwa zwei Kilometer weit getragen hatte.

»Vergiß nicht, daß wir zur Feste Grool wol-len«, rief er.

»Wir werden es durch die Schneise versu-chen«, antwortete der Dalazaar. »Dort werden wir bestimmt nicht behindert.«

Wenig später fiel das Land ab. Dadan trieb den Stier in einen Hohlweg hinein, der auf beiden Seiten von hochwachsenden Nadel-bäumen begrenzt wurde. Die Äste ragten so weit über die Kanten des Weges hinweg, daß sie sich hoch über den Köpfen der vier Män-ner berührten.

»Und ich?« schrie Troton protestierend. »Was wird aus mir? Ist euch klar, daß ich zu den Höhlen zurück muß? Was soll ich auf der Feste Grool?«

Dadan riß den Kopf des Stieres mit einem Ruck nach hinten. Das Tier gehorchte auf einen knappen Zuruf und hielt schnaubend an.

»Wir haben einige Umwege gemacht heute nacht«, erklärte Dadan gelassen. Er streckte einen Arm aus und zeigte auf einige rot blü-hende Büsche.

»Geh dort entlang«, riet er dem Paarlen. »Nach ungefähr einer Stunde kommst du zu dem großen Blutbaum, der bei den vier Felsen steht.«

»Von dort an finde ich den Weg allein«, antwortete Troton, sprang ab, verneigte sich vor Atlan und sagte: »Ich danke dir, Großer. Du hast mein Volk gerettet. Hoffentlich sehen

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wir uns nicht wieder.«

»Du willst mich nicht wiedersehen?« fragte Atlan ebenso verblüfft wie belustigt.

Troton schüttelte den Kopf und griff sich mit einer Hand an das Geweih.

»Nein, Großer«, erklärte er. »Denn an dir klebt die Gefahr. Wenn wir uns wiedersehen, dann würde das abermals eine große Gefahr für mein Volk bedeuten, das aber möchte ich vermeiden.«

»Du meinst also, daß ich eine Gefahr für dein Volk bedeute?«

»Du selbst nicht«, antwortete der Paarle. »Aber es ist nun einmal dein Schicksal, daß dir die Gefahr stets nahe ist, ob du willst oder nicht.«

»Da ist etwas Wahres dran«, sagte der Ar-konide nachdenklich. Er strich sich das sil-berweiße Haar aus der Stirn. »Mach's gut, Troton.«

»Mach's besser, Atlan.« Der Paarle neigte den Kopf, fuhr dann her-

um und eilte davon, ohne die anderen zu be-achten. Als er den blühenden Busch erreichte, tauchte dort plötzlich Fenrir auf. Troton stutz-te kurz, lief dann aber weiter, ohne den Wolf zu beachten.

Fenrir knurrte und zog die Lefzen hoch. Er ließ den Paarlen jedoch vorbei und trottete langsam zu Atlan hinüber. Dieser begrüßte ihn mit einem Schnalzen der Zunge.

»Ich hatte kaum noch gehofft, dich wieder-zusehen«, sagte er.

Dadan trieb den Stier an.

7. Als sie aus dem Hohlweg herauskamen,

waren sie nur noch etwa zweihundert Meter von der Feste Grool entfernt. Das Gebiet war hügelig und unübersichtlich. Hohe Bäume und dichte Büsche bildeten Barrieren, die teils undurchdringlich waren, und die selbst der Stier nicht durchbrechen konnte. Dadan kann-te sich hier jedoch gut aus. Er lenkte das Reit-tier über einige Hügel hinweg zu einer Boden-rinne, die direkt zur Feste Grool führte. Am Boden der Rinne lagen vier armdicke Kabel, die vom Windmühlenfeld hinauf zur Feste führten.

Atlan blickte zum Windmühlenfeld hin-

über. Das Feuer hatte mittlerweile etwa die Hälfte aller Windmühlen erfaßt.

»Das ist nicht gerade das, was wir uns vor-gestellt hatten«, sagte Razamon.

»Nein. Wirklich nicht«, stimmte Atlan zu. »Ich hatte nicht vor, die Windmühlen zu ver-nichten.«

»Moralische Bedenken?« fragte Razamon spöttisch.

»Ein wenig«, gab der Arkonide zu. »Ich finde es nicht gut, wenn wir eine Spur der Zerstörung hinter uns lassen.«

»Die Dalazaaren hätten uns nicht einsper-ren sollen«, erwiderte Razamon. »Wir haben ihnen keinen Grund gegeben, uns anzugrei-fen. Wir haben sie nicht provoziert.«

»Das ist richtig«, sagte Dadan. Er schürzte verächtlich die dunklen Lippen und zeigte über die Schulter hinweg zur Feste Grool hin-auf. »Porquetor ist schuld. Er ist der große Zerstörer. Nun hat es ihn selbst einmal getrof-fen.«

»Weiter«, befahl Atlan. »Wir wollen uns nicht länger aufhalten, als unbedingt nötig.«

Fenrir wurde plötzlich unruhig. Er rannte vor dem Stier hin und her, als wolle er ihm den Weg versperren. Seine Nackenhaare sträubten sich, und er senkte den Kopf lau-ernd bis auf den Boden herab.

»Was ist los, Fenrir?« fragte Atlan. »Irgend jemand kommt«, sagte der Dalazaar.

Im Gehölz krachte es, und zwischen den Blättern blitzte es metallen auf.

»Nein«, sagte Razamon stöhnend. »Nicht schon wieder!«

Atlan ließ sich vom Rücken des Stieres gleiten. Er entfernte sich einige Schritte von den anderen und ging zu Fenrir. Beruhigend sprach er auf ihn ein, doch der Fenriswolf stürmte plötzlich voran. Die hundert Schritte, die sie noch von dem Unbekannten trennen, überwand er in wenigen Sekunden. Er ver-schwand im Gebüsch und stürzte sich heulend auf die metallene Gestalt.

Äste zersplitterten krachend. Fenrir jaulte. Atlan und seine Begleiter hörten, daß er sich immer wieder auf das Wesen im Gehölz stürzte, und sie vernahmen ein eigenartiges Pfeifen, wie es entsteht, wenn jemand einen dünnen Gegenstand durch die Luft schlägt. Hin und wieder folgten dumpfe Schläge die-

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sem Pfeifen. Und einige Male heulte Fenrir kläglich auf.

Dann wurde es still. Einige Minuten verstrichen. Atlan wollte

schon losgehen, um nachzusehen, was mit dem Fenriswolf passiert war, als sich die Blät-ter teilten und die metallene Gestalt aus dem Dickicht hervortrat.

Es war Porquetor! Atlan blickte Razamon an. Auf dessen

schmalem Gesicht zeichnete sich maßlose Überraschung ab. Er hatte einen anderen er-wartet.

Porquetor hob das Breitschwert. Als er sich Atlan näherte, bemerkte dieser, daß es für einige Sekunden aufglühte, als sei es mit E-nergie geladen.

»Ich hoffe, wir können friedlich miteinan-der verhandeln«, sagte Atlan. Er wich zwei Schritte zurück, um den Abstand zwischen ihm und dem Stählernen beizubehalten. »Du hast uns vor den Raubschweinen gerettet, Porquetor. Das muß einen Grund gehabt ha-ben.«

Er hoffte, daß diese Worte eine Wirkung auf Porquetor erzielen würden, aber er irrte sich.

Er wirkt schwerfällig, stellte der Logiksek-tor fest und diagnostizierte: Extrapyramidale Störungen.

Tatsächlich sah es so aus, als könne der Stählerne die Bewegungsabläufe seines Kör-pers nicht mehr so perfekt steuern wie sonst. Hatte Fenrir ihn verletzt?

Atlan konnte keine Blutspuren erkennen. Der Stahlpanzer schien überall voll intakt zu sein.

Razamon sprang vom Rücken des Stieres herab.

Dadan stieß einen gellenden Schrei aus. Er packte die Hörner seines Panzerstiers und drückte sie nach vorn. Schnaubend und brül-lend griff das gewaltige Tier Porquetor an.

Dieser blieb stehen. Atlan glaubte zu sehen, wie es hinter den Sehschlitzen aufblitzte. Dann fuhr die Rechte mit dem Breitschwert hoch.

»Vorsicht, Dadan«, schrie Atlan. Der Dalazaar schnellte vom Rücken seines

Stieres zur Seite. Porquetor wich den zusto-ßenden Hörnern mit einer geschickten Bewe-

gung aus. Im nächsten Moment wirbelte das Breitschwert pfeifend durch die Luft, verfehl-te Dadan jedoch.

Der Dalazaar stürzte zu Boden und prallte mit dem Kopf gegen einen Stein. Bewußtlos blieb er liegen.

Mit unglaublich schneller Bewegung schlug Porquetor erneut zu, während der Pan-zerstier noch an ihm vorbeistürmte. Und mit dem zweiten Schlag traf er ihn am hinteren Schenkel. Das Tier bäumte sich schmerzge-peinigt auf und raste davon.

Nun standen Atlan und Razamon dem viel-fach überlegenen Gegner allein gegenüber.

»Schieß auf den Teufel«, schrie der Atlan-ter in höchster Erregung. Er riß seine Skerzaal an die Schulter und feuerte sie ab. Er traf den Stählernen an der Brust, doch der Bolzen glitt wirkungslos von ihm ab.

Atlan hob seine Skerzaal. Porquetor mar-schierte mit aufglühendem Breitschwert auf ihn zu. Ruhig zielte der Arkonide auf die Au-genschlitze. Diese erschienen ihm als die schwächsten Stellen der Panzerung. Als Por-quetor noch etwa fünf Meter von ihm entfernt war, gab Atlan die Sehne frei. Sie schoß nach vorn und schob den Stahlbolzen mit wach-sender Beschleunigung vor sich her. Das Ge-schoß traf das angepeilte Ziel auf den Milli-meter genau, doch der Erfolg war ebenso ge-ring wie zuvor bei Razamon.

Der Bolzen prallte von dem transparenten Material der Sehschlitze ab und wirbelte da-von.

Nun stürzte sich Razamon zwischen ihn und den Stählernen. Aus einer Entfernung von knapp zwei Metern schoß er mit der Skerzaal auf Porquetor. Bei dieser geringen Entfernung traf der Bolzen mit der höchstmöglichen Wucht auf, doch auch er erzielte keinerlei Wirkung.

Porquetor schlug blitzschnell zu. Er traf Razamon mit der Breitseite des Schwertes. Der Atlanter stürzte zu Boden, wobei es schien, als würden ihm die Beine zur Seite geschleudert. Er rollte einige Meter weit eine Schräge hinunter und blieb wie tot liegen.

Atlan wich vorsichtig zurück. Er suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, Porquetor aufzuhalten. Noch einmal mit der Skerzaal zu schießen, erschien ihm völlig sinnlos. Den-

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noch versuchte er es. Wie befürchtet, ohne Erfolg.

Er drehte sich um und rannte einige Meter weit, um zu prüfen, wie schnell ihm der Stäh-lerne folgen konnte. Dieser machte einen Satz nach vorn. Die Distanz zwischen ihnen änder-te sich nicht.

Atlan bückte sich und nahm einen armdi-cken Ast auf, der quer über die Stromkabeln lag. Er stemmte ihn gegen die Brust Porque-tors. Dieser blieb stehen, ohne spürbaren Druck auf den Ast auszuüben. Fast eine Mi-nute lang standen sich die beiden ungleichen Kämpfer gegenüber.

»Ich wüßte gern, was das alles soll«, sagte Atlan so ruhig wie möglich. »Was soll dieser Kampf? Warum rettetest du uns vor den Raubschweinen, um uns jetzt zu töten?«

Porquetor antwortete nicht. Er bewegte das Breitschwert langsam zur

Seite. Dann fuhr der Arm hoch. Porquetor hieb das Schwert gegen den Ast und durch-trennte ihn mit einem Schlag.

Atlan hielt den Rest abwehrend vor sich und wich langsam zurück. Als der Stählerne versuchte, den Ast abermals zu verkürzen, zog Atlan ihn rasch zur Seite. Das Schwert flog pfeifend an dem Holz vorbei.

Atlan erwartete, daß der Stählerne nun aus dem Gleichgewicht kommen würde. Er setzte seine ganze Hoffnung darauf, ihm dann den Ast seitlich gegen den Kopf schlagen zu kön-nen. Aber es schien, als sei Porquetor unlös-bar mit dem Boden verbunden. Mühelos fing er den Schlag ab, ohne Atlan eine schwache Stelle zu bieten.

Dann hob er das Schwert erneut und schritt auf den Arkoniden zu. Als dieser ihm den Ast erneut entgegenstreckte, packte er ihn mit gedankenschneller Bewegung und riß ihn zu sich hin. Atlan reagierte instinktiv richtig. Er ließ den Ast los, so daß Porquetor ihn nicht mitziehen konnte.

Polternd fiel der Ast auf den Boden. Porquetor hob das Schwert erneut und

drang auf Atlan ein. Du hast keine Chance mehr, stellte der Lo-

giksektor kühl fest. Tränen der Erregung schossen dem Arkoniden in die Augen. Er wollte einfach nicht glauben, daß dies das Ende war. Irgendeinen Ausweg mußte es

doch geben. Porquetor konnte nicht unbesieg-bar sein. Er mußte eine Schwäche haben.

Doch da war keine Schwäche, die Atlan nutzen konnte.

Pfeifend fuhr das Breitschwert durch die Luft. Atlan konnte sich nur noch mit blitz-schnellen Ausweichmanövern retten. Porque-tor rückte auf ihn zu. Unerbittlich trieb er ihn vor sich her, und er versuchte nicht, ihn mit der Breitseite des Schwertes zu treffen, so wie er es bei Razamon getan hatte.

Er wollte ihm den Kopf von den Schultern trennen.

Bei einem verzweifelten Schritt nach hinten prallte Atlan mit der Ferse gegen einen Stein und stürzte. Er stieß mit dem Hinterkopf ge-gen einen anderen Stein, blieb bei klarem Bewußtsein, war jedoch wie gelähmt. Es ge-lang ihm nicht, wieder auf die Beine zu kom-men.

Porquetor holte zum letzten, tödlichen Hieb aus.

In diesem Moment explodierte etwa hun-dert Meter von ihnen entfernt einer der Ak-kumulatoren bei den Windmühlen. Atlan spürte das Kabel, das von dort kam, unter seinem Rücken. In seiner Todesfurcht gelang es ihm, sich ein paar Zentimeter weit zur Seite zu drehen. Sein Rücken berührte das Kabel nicht mehr.

Das war die Entscheidung in diesem Kampf.

Das Kabel verwandelte sich plötzlich in ei-ne weißglühende Schlange. Atlan spürte die Hitze. Sie veranlaßte ihn zu einer weiteren Fluchtbewegung.

Das Breitschwert verfehlte ihn um einige Millimeter, dann umloderten weiße Flammen den Stählernen, der mit einem Fuß auf dem Kabel stand.

Porquetor schwankte. Die Flammen erlo-schen, doch der ganze Stahlpanzer schien noch zu glühen. Dann stürzte Porquetor lang-sam zur Seite und blieb bewegungslos auf dem Boden liegen.

Atlan rückte unwillkürlich noch weiter vom Kabel weg, obwohl von diesem kaum mehr als schwärzliche Asche übriggeblieben war. Fühlbare Hitze ging davon nicht mehr aus.

Atlan erhob sich. Die Schwäche wich schnell von ihm. Der Zellaktivator pulsierte

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kräftig in seiner Brust.

Razamon stöhnte leise. Atlan blickte zu ihm hinüber und sah, daß er sich aufrichtete, wobei er sich den Kopf hielt.

»Was ist mit dir?« fragte der Arkonide. »Bist du in Ordnung?«

»Mir brummt der Schädel«, erwiderte Ra-zamon.

Auch Dadan kam allmählich wieder zu sich. Sein Panzerstier weidete direkt unter der Feste Grool zwischen den Bäumen. Fenrir kroch winselnd aus den Büschen hervor. Er hatte zwei blutende Wunden an der Schulter, wo ihn das Schwert getroffen hatte, aber sonst schien er nicht verletzt zu sein.

»Komm her. Faß an«, forderte Atlan. »Wir wollen Porquetor vom Kabel wegziehen. Bes-ser ist besser.«

»Mir genügt es, daß er tot ist«, antwortete Razamon gleichgültig.

»Ich hoffe, daß er noch lebt«, entgegnete der Arkonide scharf. »Eine kleine Chance besteht immerhin.«

Widerwillig half Razamon, Porquetor eini-ge Meter weit zu schleppen. Dann drehte At-lan den Stählernen um und suchte nach dem Verschluß der Rüstung. Verblüfft stellte er fest, daß es keinen zu geben schien.

»Der Kerl kann doch nicht ständig in dieser Rüstung stecken«, sagte Razamon. »Das Ding dürfte auf die Dauer selbst ihm zu schwer sein.«

So sehr Atlan und er sich jedoch bemühten, sie fanden nicht heraus, wie die Rüstung ge-öffnet werden konnte.

Dadan legte Atlan die Hand auf die Schul-ter.

»Sieh doch«, sagte er und deutete zur Feste Grool hinüber. Von dort her näherte sich ein Dalazaar, der den Panzerstier Dadans führte. »Es ist Hervool. Ein Freund von mir.«

»Gut«, entgegnete Atlan, »das bringt mich auf eine Idee. Wir werden Porquetor auf den Rücken des Stieres legen und ihn so zur Feste hinauftragen lassen. Glaubst du, daß du den Stier dazu bringen kannst?«

»Das ist kein Problem«, behauptete Dadan. Er eilte seinem Freund entgegen und umarmte ihn, um ihm für seine Hilfe zu danken. Aus seinen Gesten schloß Atlan, daß er Hervool dazu bewegen wollte, zu ihnen zu kommen.

Hervool lehnte jedoch ab. Er überreichte Da-dan einen Lederbeutel und schlug sich dann seitlich in die Büsche.

»Er will damit nichts zu tun haben«, sagte Dadan, als er wieder bei Atlan war. »Er sagt, daß Porquetor unsterblich ist, und daß er alle töten wird, sobald er wieder aus seinem Schlaf erwacht ist.«

Razamon stieß den Stählernen verächtlich mit dem Fuß an.

»Er wird nie wieder erwachen«, behauptete er. »Porquetor ist tot.«

Er zeigte zur Feste Grool hinauf. »Uns kommt es jetzt nur noch darauf an,

denen da oben den Toten zu präsentieren.« »Denen da oben?« fragte Dadan. »Porque-

tor lebte allein in der Feste.« »Das glaube ich nicht«, entgegnete Atlan.

»Hast du nicht erwähnt, daß ihr Dalazaaren gehalten seid, stets reichlich Nahrungsmittel an die Feste zu liefern. Fleisch, Gemüse, Obst, Brot und Teigwaren sowie Getränke?«

Dadan wurde nachdenklich. »Das ist richtig. Wir haben aber immer ge-

glaubt, daß diese Dinge nur für Porquetor sind oder vielleicht für seine Gäste, falls welche kommen.«

»Ihr habt nie darüber nachgedacht«, korri-gierte Atlan. »Ihr habt getan, was Porquetor euch befohlen hat, und sonst habt ihr euch um nichts gekümmert.«

»Das ist richtig«, gab der Dalazaar nach ei-niger Zeit zu. »Ja, das stimmt.«

»Vielleicht seid ihr noch nicht einmal die einzigen, die die Feste versorgen«, fuhr der Arkonide fort. »Grool liegt am nördlichen Rand des Blutdschungels. Ich halte es für möglich, daß es von der Feste aus zum Dschungel noch weitere Verbindungen gibt, von denen sonst niemand etwas ahnt. Der Dschungel birgt noch viele Geheimnisse. Vielleicht gibt es dort ein Volk, das ebenso wie ihr für die Bewohner der Feste Grool sorgt. Wer wollte das ohne weitere Informati-on sagen?«

Er gab Razamon und Dadan einen befeh-lenden Wink. Gemeinsam packten sie Porque-tor und hoben ihn hoch. Das Gebilde aus blau glänzendem Stahl war über drei Zentner schwer. Der ganze Körper war schlaff und ohne innere Spannung, so daß er nicht leicht

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ATLAN 10 – Porquetor, der Stählerne

zu tragen war, sondern Atlan und seinen Hel-fern ständig aus den Händen zu rutschen drohte. So verging einige Zeit, bis es ihnen gelang, den Stählernen bäuchlings über den Rücken des Panzerstiers zu heben, zumal der Stier sich unruhig verhielt und ständig nervös auswich. Schließlich aber lag Porquetor auf seinem Rücken. Dadan setzte sich hinter ihn.

»Ich habe noch eine Frage«, sagte Atlan und deutete auf den Lederbeutel, den der Da-lazaar von Hervool erhalten hatte. »Was ist eigentlich darin?«

»Skorpionwürmer«, antwortete Dadan mit einem strahlenden Lächeln. Er hob das Blas-rohr triumphierend über den Kopf. »Sollte uns jemand in die Quere kommen, werde ich ihm Skorpionwürmer ins Gesicht blasen und ihn töten.«

Atlan krauste die Stirn. Er war nicht damit einverstanden, daß Dadan plötzlich derartige Pläne entwickelte. Auch erschien es ihm ge-fährlich, daß der Dalazaar diese Tiere bei sich hatte. Er fragte sich, wo die Skorpionwürmer blieben, wenn Dadan seinen Gegner verfehlte. Bestand dann nicht die Gefahr, daß sie selbst auf einen derartigen Wurm traten und sich dabei vergifteten? Atlan sah, wie die Augen des Dalazaaren funkelten. Er bemerkte, mit welchem Stolz Dadan seine Hände auf den Rücken Porquetors stützte, und er schwieg.

»Also los«, sagte Razamon, als Atlan be-reits zehn Schritte von ihnen entfernt war. »Komm, Dadan.«

Der Dalazaar trieb seinen Stier an. Das Tier gehorchte und folgte Atlan. Nun ging es steil nach oben. Atlan blieb in der Rinne, da diese ihm als der bequemste Weg zur Feste Grool erschien. Fenrir schloß zu ihm auf und blieb von nun an ständig an seiner Seite. Seine Wunden bluteten nicht mehr.

Als sie etwa die Hälfte des Weges zurück-gelegt hatten, erschien plötzlich ein grauhaa-riger Dalazaar zwischen den Büschen am Rand der Rinne. Atlan hätte ihn nicht be-merkt, wenn Fenrir nicht so heftig reagiert hätte. Der Wolf wollte den Alten angreifen, doch der Arkonide rief ihn zurück.

Zwei Meter von dem Dalazaaren entfernt kauerte Fenrir sich auf den Boden.

Der Alte beachtete ihn nicht. Er hatte nur Augen für Dadan, den Stier und Porquetor.

»Willst du das Volk der Dalazaaren ins Unglück stürzen?« fragte er mit hoher Falsett-stimme.

Dadan erbleichte. Seine Hände krallten sich um das Blasrohr.

»Wir bringen den Stählernen zur Feste Grool hinauf, Erster«, rief er stammelnd und voller Ehrfurcht.

Der Alte machte eine verächtliche Geste. Er steckte zwei Finger zwischen die Lippen und pfiff schrill. Der Panzerstier Dadans bäumte sich auf und schüttelte sich. Dadan konnte sich halten, der Stählerne jedoch rutschte vom Rücken des Stieres, polterte zu Boden und stürzte die Bodenrinne wieder hinunter, wobei er sich mehrfach überschlug.

Dort, wo er vom Stromschlag gefällt wor-den war, blieb er wieder liegen.

»Ich verfluche dich«, rief der Erste. »Du wirst noch heute sterben.«

»Verschwinde, Alter«, brüllte Razamon und schleuderte einige Steine nach dem Ers-ten. »Oder sollen wir den Wolf auf dich het-zen?«

Der Alte drehte sich wortlos um und ver-schwand in den Büschen. Dadan blickte ihm mit angstvoll geweiteten Augen nach.

»Laß dich nicht einschüchtern«, bat Atlan und legte ihm beruhigend den Arm um die Schulter. »Du wirst mit uns ziehen. Der Erste kann dir nichts anhaben.«

»Er hat mich verflucht«, antwortete Dadan ängstlich. »Seine Flüche haben sich stets er-füllt.«

»Sie erfüllen sich nur bei jenen, die darüber sich selbst vergessen«, erklärte Atlan. »Du brauchst keine Angst zu haben. Nichts wird geschehen, wenn du es nicht selbst willst.«

»Ich will versuchen, mich zu wehren.« »Gib dich nicht selbst auf, dann ist dein

Wille viel stärker als der des Ersten.« Atlan löste sich von ihm und stieg zu Porquetor hinunter, nachdem er Dadan gebeten hatte, den Stier ebenfalls nach unten zu bringen.

Razamon folgte dem Arkoniden. Fenrir blieb, wo er war. Er beobachtete das Gesche-hen.

Plötzlich griff Razamon nach Atlans Arm. »Sieh doch, Lordadmiral«, rief er keu-

chend. »Sieh dir Porquetor an!« Atlan schüttelte Razamons Hand ab. Er

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sprang die Schräge hinunter und kniete neben dem Stählernen nieder, als er ihn erreicht hat-te. Sekunden später war Razamon bei ihm.

»Die Rüstung ist aufgebrochen«, sagte der Atlanter erregt.

»Und darunter ist nichts«, ergänzte Atlan mit tonloser Stimme. »Porquetor ist hohl!«

8.

Ratlos standen sie vor der Hülle, nachdem

sie sie untersucht hatten. Die Rüstung war tatsächlich hohl, doch befand sich darin ein Gewirr von Drähten, Kabeln, Relais und Ser-vos. Sie alle dienten dazu, die Rüstung zu bewegen.

»Porquetor ist gar kein lebendes Wesen?« fragte Dadan ehrfürchtig. »Wie konnte er sich dann bewegen?«

Atlan wies zur Feste Grool hinauf. »Ich bin überzeugt davon, daß er von dort

oben ferngesteuert wurde«, antwortet Atlan. »Porquetor ist tatsächlich nur eine Maschine, die von jemandem gelenkt wurde, der in der Feste lebt.«

»Dabei wäre durchaus Platz für einen Mann darin«, stellte Razamon fest. »Mit einiger Mühe könnte man sich hineinzwängen.«

»Es war aber niemand darin«, entgegnete der Arkonide. »Das halte ich für ausgeschlos-sen.«

»Warum? Wäre es nicht möglich, daß ein Mutant darin versteckt war? Er könnte sich per Teleportation gerettet haben, als die Rüs-tung mit dem Stromkabel in Verbindung kam.«

»Daran glaube ich nicht«, widersprach At-lan. »Kein Mutant hätte sich zu diesem Zeit-punkt noch retten können. Alles ging blitz-schnell. Die gesamte Rüstung stand unter Strom. Wenn ein Teleporter in dem Ding ver-steckt gewesen wäre, dann wäre er jetzt tot.«

»Du mußt es wissen«, sagte Razamon. »Du hast eine ganze Menge Erfahrung mit Mutan-ten.«

»Eben.« »Also gut. Kein Mutant«, bemerkte Raza-

mon einlenkend. »Und was geschieht jetzt?« »Wir haben jetzt noch viel mehr Veranlas-

sung, diesen ferngesteuerten Roboter auf die Feste zu bringen«, erwiderte Atlan. »Und ge-

nau das werden wir tun. Damit nehmen wir denen da oben viel Arbeit ab, die sie sonst selbst erledigen müßten, wenn sie bei den Dalazaaren nicht beträchtlich an Ansehen verlieren wollen.«

Dadan verstand so gut wie nichts. Er mach-te einige beschwörende Gesten, um sich vor bösen Geistern zu schützen. In seinem Ge-sicht zeichnete sich Furcht ab. Atlan konnte ihm ansehen, daß er unter einer erheblichen psychischen Belastung stand. Der Fluch des Alten hatte ihn bereits bis ins Innerste getrof-fen. Die neuen Entdeckungen über Porquetor waren daher zuviel für ihn.

»Porquetor ist eine Maschine«, sagte Atlan eindringlich. »Verstehst du denn nicht, Da-dan? Er ist eine Maschine, so wie die Wind-mühlen auch Maschinen sind. Oder diese Skerzaal hier ist ebenfalls eine. Sie ist eine Schußmaschine. Weiter nichts. Im Grund ge-nommen ist auch dein Blasrohr eine Maschi-ne, wenn auch eine sehr einfache. Daran ist nichts, was geheimnisvoll oder unerklärlich wäre. Nichts, wovor man sich fürchten müß-te.«

Dadan nickte mehrmals, aber der Ausdruck seiner Augen änderte sich nicht. Atlan machte sich Sorgen um ihn. Er wußte, was ein Fluch bewirken konnte. Für Angehörige primitiver Stämme wie Dadan konnte er verhängnisvoll sein.

Wie tief die Furcht in Dadan steckte, merk-te Atlan, als er ihm befahl, mit anzupacken und Porquetor auf den Rücken des Stieres zu legen. Er brauchte lange Minuten, bis er Da-dan endlich soweit hatte, daß er gehorchte. Der Dalazaar schwang sich auch wieder auf den Rücken seines Stieres, doch saß er längst nicht mehr mit der stolzen Haltung wie zuvor darauf. Die Angst krümmte ihm den Rücken und ließ sein Gesicht fahl erscheinen.

Atlan trieb den Panzerstier voran. Dieses Mal blieb er bei ihm. Wenn das Tier nicht rasch genug ging, berührte er es mit dem Breitschwert Porquetors.

Das wirkte. Ein geheimnisvoller Energiestrom schien

durch das Breitschwert in den Körper des Tieres zu fließen. Es kämpfte sich nach jeder Berührung energisch voran, bis sie die Anhö-he überwunden hatten. Nun trennten sie nur

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noch wenige Schritte von dem glatten Weg, der zwischen einigen verkrüppelten Bäumen hindurch zur Feste Grool hinaufführte. Links von diesem Weg fiel das Land sanft ab, rechts davon stieg es recht steil an.

Von der Anhöhe zur rechten Seite des We-ges stieg der Erste herab. Er trug nun einen weiten Umhang, der um seinen dürren Körper flatterte. Sein langes, graues Haar wehte wie eine Fahne hinter seinem Kopf, aufgewirbelt von einer kräftigen Brise, die von Süden he-raufkam.

Dadan hielt den Stier an. Sein Gesicht ver-zerrte sich vor Angst. Auch Razamon blieb stehen. Nur Atlan und Fenrir gingen weiter.

Als der Alte den Weg erreicht hatte, der zur Feste führte, blieb er stehen und streckte bei-de Arme hoch, um ihnen Halt zu gebieten. Atlan ging weiter. Fenrir knurrte drohend und fletschte die Zähne.

»Aus dem Weg, Alter«, befahl der Arkoni-de. »Wer auch immer du bist, wenn du nicht sofort verschwindest, wirst du von mir Prügel beziehen, wie du sie wahrscheinlich seit Jah-ren nicht mehr bekommen hast.«

Der Erste blickte den Arkoniden mit gewei-teten Augen an. Seine Augen waren weißlich grau. Pupillen waren kaum zu erkennen.

»Du wagst es, mit zu drohen?« fragte er schrill.

»Dabei ist nichts zu wagen«, erklärte Atlan. Knapp einen Meter von dem Alten blieb er stehen. Der Dalazaar war ebenso groß wie er auch. »Aus dem Weg.«

»Die Befehle erteile ich«, schrie der Erste. »Das gilt vielleicht für die Dalazaaren,

Freund, nicht aber für uns. Klar?« Der Alte griff zu seinem Gürtel, doch Atlan

hielt seine Hand fest. Mit der anderen Hand riß er einen Lederbeutel vom Gürtel des Alten ab und schleuderte ihn weit den Abhang hin-unter. Er wußte, was darin war. Skorpion-würmer.

Der Erste verfärbte sich. »Du hast es gewagt, mich zu berühren. Das

ist dein Tod.« Seine Augen weiteten sich noch mehr als zuvor. Er streckte einen Arm aus und berührte Atlans Brust mit seinen Fin-gern. »Höre, was ich dir befehle.«

»Na schön«, sagte Atlan kaltblütig. »Das höre ich mir noch an, und dann verschwindest

du von hier. Einverstanden.« »Hör mich an«, rief der Alte mit hoher Fal-

settstimme. »Ich gebe dir den letzten Befehl.« »Und wie lautet der?« Der Alte hielt Atlan die Hände mit ge-

spreizten Fingern schalenförmig über die Herzgegend.

»Stirb!« flüsterte er. »Stirb hier und jetzt! Stirb!«

Atlan verspürte einen stechenden Schmerz in der Brust. Plötzlich gab der Zellaktivator intensiver Impulse ab. Sie zeigten eindeutig an, daß eine akute Gefahr für den Aktiva-torträger bestand.

Er hat parapsychische Kräfte, stellte der Logiksektor eiskalt fest, so als ob er selbst von jeglicher Gefahr ausgeschlossen sei.

Atlan packte den Ersten mit beiden Händen bei den Hüften, hob ihn hoch und schleuderte ihn den Berg hinunter. Der Alte schrie ent-setzt auf. Er stürzte ins Gras und rollte den Abhang hinunter. Immer wieder versuchte er, sich irgendwo festzuhalten, doch es gelang ihm nicht. Er verschwand schließlich etwa dreihundert Meter von Atlan entfernt tief un-ter ihnen im Gebüsch.

Der Arkonide drehte sich um. »Wir können weitergehen«, wollte er sa-

gen, doch diese Worte kamen nicht über seine Lippen.

Dadan saß verkrümmt auf dem Rücken des Stieres. Seine Augen waren unnatürlich ge-weitet.

»Wer bist du?« fragte der Dalazaar keu-chend. »Wie kommt es, daß du dem Fluch des Ersten widerstehen kannst?«

Atlan war zutiefst erschüttert. In seinem mehr als zehntausend Jahre währenden Leben hatte er nur sehr selten Menschen gesehen, die sich innerhalb kürzester Zeit so radikal verändert hatten wie Dadan. Es schien, als sei der Dalazaar um Jahrzehnte gealtert. Er sah aus wie ein Greis.

Atlan lächelte gezwungen. Er zuckte kurz mit den Schultern.

»Dadan«, sagte er in gewollt lockerem Ton. »Das liegt nicht an mir. Das liegt einzig und allein an dem saft- und kraftlosen Fluch des Ersten. Es steckt nichts dahinter. Wirklich nicht, denn sonst wäre ich wohl tot umgefal-len. Oder?«

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»Du hättest tot sein müssen«, bestätigte der

Dalazaar. »Ich habe mich gegen diesen Unfug ge-

wehrt. Warum tust du es nicht auch?« Atlan wußte, daß Dadan sich nicht wehren

konnte. Der Glaube an die Macht des Ersten war tief in ihm verwurzelt. Seine Reaktion auf den Fluch des Alten wurde von seinem Un-terbewußtsein gesteuert, und auf sein Unter-bewußtsein hatte er nicht den geringsten Einfluß. Atlan wußte, daß nur noch dann eine geringe Chance bestand, wenn Dadan für mehrere Tage in ein künstlichen Tiefschlaf versetzt und dabei mit mechano-hypnotischen Mitteln behandelt wurde. Nur so konnte die verheerende Selbstvernichtung, die von sei-nem Unterbewußtsein ausging, aufgehalten werden.

Das wäre in Terrania-City ohne weiteres möglich gewesen. Dort gab es Spezialklini-ken, die über alle notwendigen Einrichtungen verfügten. Sie aber befanden sich auf Atlantis, der geheimnisvollen Insel, die plötzlich mit-ten im Atlantik aufgetaucht war, und die nun unter einem Energieschirm lag, den niemand von ihnen durchbrechen konnte.

Atlan konnte nicht helfen. Fenrir begann plötzlich zu toben. Er rannte

auf einen Busch zu, warf sich hinein und zerr-te einen Dalazaaren daraus hervor, in dessen Oberarm er sich verbissen hatte. Sekunden später stürmten etwa fünfzig Dalazaaren auf ihren Panzerstieren durch die Bodenrinne nach oben.

Atlan riß die Skerzaal an die Schulter. Der Stahlbolzen flog ihm fast wie von selbst in die Finger. Er legte ihn ein, spannte die Sehne und jagte den Bolzen hinein. Im gleichen Au-genblick schoß auch Razamon.

Atlan traf einen der Stiere in der vordersten Linie an der Stirn. Wie erhofft, durchbohrte der Bolzen die Schädeldecke und fällte das Tier. Der Reiter stürzte schreiend über den Kopf des Stieres auf den Boden. Die anderen Stiere drängten wütend nach, doch vor ihnen lagen zwei um sich schlagende, sterbende Tiere, die sie behinderten. Dadurch wurden sie aufgehalten, wenn auch nur für Sekunden.

Diese kurze Zeitspanne genügte Atlan und Razamon jedoch, die Skerzaals erneut zu la-den, zu spannen und abzuschießen. Und wie-

derum gelang es Atlan, einen Stier zu töten. Der von Razamon abgefeuerte Stahlbolzen prallte dicht unter den Hörnern gegen den Schädel des Tieres, auf das er gezielt hatte, und prallte wirkungslos davon ab.

»Tiefer halten«, brüllte der Arkonide. Er stand deckungslos auf dem Weg, der zur Fes-te Grool führte. Razamon fand einen gewissen Schutz dadurch, daß der Stier Dadans ihn ab-schirmte.

»Dadan«, schrie Atlan. »Willst du nichts tun? Wehre dich!«

Der Dalazaar saß noch immer regungslos auf dem Rücken seines Reitstiers, ohne auf den Angriff aus der Ebene zu reagieren. Er war wie gelähmt, und er schien noch gar nicht richtig erfaßt zu haben, was geschah. Die Worte des Arkoniden jedoch schreckten ihn auf. Er zuckte zusammen und griff dann has-tig nach seinem Blasrohr.

Unter den angreifenden Dalazaaren war ei-ne chaotische Unruhe entstanden, weil es den Reitern der ersten Reihe nicht gelang, die Stiere über die drei Kadaver hinwegzutreiben. Die anderen Reiter drängten nach und mach-ten die Situation für die vorderen dadurch noch schwieriger. So gewannen Atlan und seine Begleiter kostbare Sekunden, in denen sie die Waffen neu laden konnten.

Als Atlan seine Skerzaal anlegte, sah er, daß etwas Zuckendes auf ihn zuflog. Instink-tiv warf er sich zur Seite, und dann erkannte er, daß ein fingerdicker Wurm, der mit einem nadelfeinen Stachel versehen war, an ihm vorbeiwirbelte.

Die Dalazaaren schossen mit Skorpion-würmern.

Von maßlosem Ekel erfüllt, hieb er den Kolben der Skerzaal auf den Boden und zer-schmetterten den Giftwurm. Dann riß er die Waffe hoch und feuerte sie ab.

Er traf wiederum. Dieses Mal erwischte er gerade den Stier, der als erster Aussicht hatte, über den Wall der erlegten Tiere hinwegzu-kommen. Er traf ihn tödlich.

Razamon fluchte voller Wut und Enttäu-schung, weil es ihm nicht gelungen war, einen so wirksamen Treffer zu setzen. Der Bolzen aus seiner Waffe war einem anderen Stier in die Nüstern gefahren. Das Tier bäumte sich brüllend auf und behinderte die anderen Rei-

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ter.

Jetzt endlich griff Dadan ein. Er lud sein Blasrohr mit einem Skorpion-

wurm, setzte das Mundstück an die Lippen und schoß den Wurm ab. Das Tier klatschte gegen die Brust eines Stieres und stach zu.

Atlan hörte das getroffene Tier schreien und toben, während ihm Skorpionwürmer um den Kopf flogen. Er wehrte die gefährlichen Tiere mit dem Kolben seiner Waffe ab und verhinderte so, daß sie ihn erreichten. Dabei kam er jedoch selbst nicht mehr zum Schuß.

Entsetzt beobachtete er, daß die Würmer, die ihn verfehlt hatten, mit unglaublich schneller Bewegung auf ihn zukrochen und seine Füße zu erreichen suchten.

Ihm wurde bewußt, daß er dabei war, die Übersicht zu verlieren. Er konnte sich nur auf die Abwehr konzentrieren und mußte den Angriff vernachlässigen.

Der Anfang vom Ende, diagnostizierte der Logiksektor.

Atlan hämmerte den Kolben der Skerzaal auf den Boden und tötete sechs Würmer, die ihn fast erreicht hatten. Dann rannte er einige Schritte weit zur Seite, lud die Skerzaal und feuerte sie dreimal hintereinander ab. Glück-licherweise war es Razamon ebenfalls gelun-gen, sich in eine sichere Schußposition zu bringen. Auch er schoß.

Dadan saß hochaufgerichtet auf seinem Stier, der wie zu Stein erstarrt auf der Stelle stand. Der Dalazaar setzte sein Blasrohr ener-gisch ein, aber auch er zielte nur auf die Stie-re.

Der Angriff der Dalazaaren brach endgültig zusammen.

Die Windmühlenhüter standen hinter dem Wall der Kadaver und luden ihre Blasrohre.

»Ihr verdammten Narren«, schrie Dadan. »Porquetor hat unser Volk schon immer ge-quält. Er hat uns gefoltert. Er hat getötet, wenn es ihm gefiel. Er hat uns unsere Freiheit genommen. Wir haben ihn besiegt. Und was tut ihr? Anstatt uns zu helfen, den Sieg voll-kommen zu machen, versucht ihr, uns zu tö-ten.«

Ein Skorpionwurm flog auf ihn zu. Dadan blickte ihm entgegen und wischte

ihn dann mit lässig anmutender Bewegung mit seinem Blasrohr zur Seite. Er bot das Bild

eines Mannes, der sich vollkommen gefangen hatte. Das Greisenhafte war verschwunden. Seine Augen waren wieder von jenem Feuer erfüllt, das Atlan von Anfang an fasziniert hatte.

Doch der Arkonide spürte, daß dieses äuße-re Bild täuschte.

Er ist nicht stärker als sein Unterbewußt-sein, stellte der Logiksektor kühl fest.

Ein weiterer Skorpionwurm flog auf Dadan zu. Lachend wehrte er ihn ab.

»Ihr Narren«, schrie er, fischte geschickt einen Wurm aus dem Lederbeutel und schob ihn in das Blasrohr.

Falsch herum, warnte der Extrasinn. Atlan schrie auf. Ein kalter Schauer lief

ihm über den Rücken. »Dadan, nicht«, rief er. »Du hast den Wurm

falsch herum in das Rohr gesteckt!« Dadan blickte ihn verächtlich an. »Falsch herum«, sagte er verständnislos.

»Was denkst du von mir?« Er setzte das Blasrohr an die Lippen. »Nein«, schrie Atlan. Der Dalazaar erstarrte. Er ließ das Blasrohr

fallen. Sein Gesicht verzerrte sich. Seine Hände fuhren zu den Lippen und krallten sich in sie hinein, während sich seine Augen vor Entsetzen weiteten.

»Falsch herum«, sagte er keuchend und blickte Atlan an.

»Es war der Fluch. Er war stärker.« Sein Kopf sackte schlagartig nach vorn.

Dadan kippte vom Stier und fiel auf den Bo-den.

Atlan ging zu ihm, als seien die anderen Dalazaaren nicht mehr vorhanden. Er kniete neben ihm nieder.

Auf der Oberlippe Dadans war deutlich der Einstich des Giftstachels zu erkennen. Dadan war tot.

Atlan drückte ihm die Augen zu und erhob sich. Erst jetzt merkte er, daß Razamon ihn mit seinem Körper abgeschirmt hatte. Doch das war nicht mehr notwendig. Die Dalazaa-ren zogen sich zurück. Fenrir lag auf den to-ten Stieren und beobachtete sie.

»Wir wollen ihn begraben«, sagte Atlan tonlos. »Wir werden ihn mit Steinen bede-cken.«

Er tötete einen Skorpionwurm, der seine

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ATLAN 10 – Porquetor, der Stählerne

Füße zu erreichen suchte. Dann hob er Dadan hoch und trug ihn zum Wegrand. Er legte ihn neben einem großen Stein nieder, sammelte zusammen mit Razamon Steine und schichte-te sie über den Leichnam, bis er sich dessen sicher war, daß Dadan nicht von Hyänen oder Raubvögeln ausgegraben werden konnte.

Danach barg er die Stahlbolzen, die er und Razamon verschossen hatten. Die meisten von ihnen konnte er nur mit Hilfe seines Mes-sers aus den Tierkadavern herausholen. Diese Arbeit war unumgänglich, da der Vorrat an Stahlbolzen bereits kritisch geworden war. Sie konnten es sich nicht leisten, auch nur ein einziges Geschoß liegenzulassen.

»Komm«, sagte er anschließend zu Raza-mon, der den Weg von allen noch lebenden Skorpionwürmern gereinigt hatte. »Wir brin-gen Porquetor zur Feste.«

Atlan versuchte, Dadans Stier anzutreiben, doch das Tier reagierte nicht auf seine Befeh-le.

Fenrir merkte, welche Schwierigkeiten der Arkonide hatte. Er sprang den Stier von hin-ten an, knurrte und biß endlich sogar, aber auch das blieb ohne Erfolg.

»Wir ziehen die Rüstung hinter uns her«, entschied Atlan.

»Das schwere Ding?« wandte Razamon ein.

»Wir sind trotz unseres hohen Alters wohl noch rüstig genug, das zu schaffen«, sagte Atlan lächelnd. »Oder nicht, du Greis?«

Razamon lachte. »Okay, Lord der USO. Wir werden es

schon schaffen.« Sie stießen Porquetor vom Rücken des Stie-

res herunter und ließen ihn auf den Boden poltern. Dann packten sie ihn an den Stulpen-handschuhen, die fest mit dem Stahl der Armverkleidung verbunden waren, und zerr-ten ihn hinter sich her.

»Es geht leichter, als ich gedacht habe«, ge-stand Razamon ein.

Fenrir blieb zurück. Atlan beobachtete, daß er große Fleischstücke aus den Flanken und den Schenkeln der toten Stiere riß und sie gierig verschlang. Er ließ ihn gewähren. Der Fenriswolf brauchte diese Stärkung dringend.

»Jetzt werden wir hoffentlich bald erfahren, wer dieses Ding ferngesteuert hat«, sagte Ra-

zamon, während sie sich der Feste näherten. »Ich bin gespannt, wer der echte Porquetor ist.«

»Oder dessen Bezwinger.« »Wie meinst du das?« fragte Razamon ver-

blüfft. »Vielleicht ist Porquetor, also derjenige,

der die Rüstung fernsteuert, schon vor Jahren von einem anderen ausgeschaltet worden? Vielleicht haben Generationen von ständig wechselnden Persönlichkeiten da oben in der Feste Grool gesessen und diesen Halbroboter ins Land hinausgeschickt.«

»Es ist eine eigenartige Vorstellung, daß wir im Blutdschungel von einem Halbroboter vor den Raubschweinen gerettet wurden«, bemerkte Razamon. »Da oben in der Feste sitzt also jemand, der genau beobachtet hat, was geschehen ist. Warum hat er uns erst ge-holfen, um sich dann gegen uns zu stellen? Wodurch sind wir für ihn zu einer Gefahr geworden?«

»Ich weiß es nicht«, sagte der Aktivatorträ-ger. »Ich habe keine Ahnung. Vielleicht hätte er uns in den Höhlen der Paarlen ungeschoren gelassen, vielleicht aber hätte er uns auch umgebracht, weil wir Zeugen seiner Untaten geworden sind.«

Sie hatten die Brücke erreicht, die über eine Schlucht zu einer der Stützsäulen der Feste Grool hinüberführte. Atlan blickte an dem riesigen Gebäude hoch. Die Spitze mit den antennenartigen Auswüchsen verschwand im Nebel. Überrascht stellte er fest, daß alle Schäden, die durch den Beschuß der Paarlen entstanden waren, bereits behoben worden waren.

Am Ende der Brücke befand sich das Tor, das aus zwei Flügeln bestand. Diese wurden offenbar mit Hilfe einer Kette bewegt, die einige Meter höher aus dem Stützpfeiler he-rauskam und wiederum einige Meter höher in einer runden Öffnung verschwand. Sie stellte einen unbegreiflichen Anachronismus zu den sonst so modern wirkenden Einrichtungen der Feste dar.

Nirgendwo über ihnen ließ sich jemand se-hen.

»Und jetzt?« fragte Razamon ratlos. »Was machen wir jetzt? Wo ist die große Glocke, mit der wir die Bewohner aus dem Schlaf

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holen können?«

Atlan ließ den Arm Porquetors los und ging allein über die Brücke. Das Doppeltor bestand aus einem glatten, fugenlosen Material. Dort, wo die beiden Torflügel zusammenstießen, befand sich eine tiefe Kerbe, die eine deutli-che Teilung anzeigte.

Nirgendwo befand sich etwas, was als Sig-nalgeber anzusehen war. Suchend blickte At-lan an den Wänden der Feste hoch. Über ihm blitzte es auf. Aus den antennenartigen Aus-wüchsen zuckten lautlos Energieblitze in den Himmel hinauf. Atlan konnte nicht erkennen, ob sie ein Ziel anstrebten, da der Nebel über ihm alles verdeckte.

Fenrir schloß knurrend zu ihm auf, rannte an ihm vorbei und warf sich gegen das Tor. Es dröhnte dumpf, als der schwere Körper aufprallte, sonst geschah nichts weiter.

»Ich werde die da oben mal ein bißchen munter machen«, erklärte Razamon. Sorgfäl-tig präparierte er seine Skerzaal, indem er sie erst spannte und danach erst den Bolzen ein-legte. Während des Kampfes hatte er aus Zeitgründen ebenso wie Atlan den Bolzen schon vorher eingelegt. Er hob die Waffe und bewegte sie suchend hin und her.

»Nimm eines der Fenster«, riet Atlan ihm. »Wenn es klirrt, wird man schon auf uns auf-merksam werden.«

Razamon grinste breit. »Es wird mir ein besonderes Vergnügen

sein, die Feste anzugreifen«, antwortete er. »Wir brauchen ja nicht mehr zu befürchten, daß Porquetor wie ein Racheengel daher-kommt und uns in Stücke reißt.«

Er trat mit dem Fuß gegen den Halbroboter, der neben ihm auf dem Boden lag. Porquetor bewegte sich nicht. Die Kurzschlüsse hatten seine Systeme funktionsunfähig gemacht.

Razamon feuerte einen Bolzen ab. Das Ge-schoß stieg pfeifend auf und prallte hoch über ihnen gegen eines der Fenster der unteren Halbkugel. Das Glas zersplitterte klirrend.

»Ein guter Schuß«, lobte Atlan. Er kehrte zu dem geheimnisvollen Atlanter

zurück. Da die Paarlen mit ihrem Beschuß eine so prompte Reaktion bewirkt hatten, er-wartete er unwillkürlich, daß nun auch etwas geschehen würde. Aber er irrte sich. Niemand reagierte.

»Und was nun?« fragte Razamon ratlos. »Wir müssen etwas anderes versuchen«,

erwiderte Atlan. Er kniete neben der aufge-brochenen Rüstung Porquetors nieder und untersuchte sie sorgfältig.

»Was soll das?« fragte Razamon. »Hast du vor, wissenschaftliche Studien zu treiben? Es fängt bald an zu regnen. Dann möchte ich in der Feste im Trockenen sitzen.«

»Das wirst du auch«, behauptete der Arko-nide. Er hatte eine winzige Batterie entdeckt, die nicht von den Kurzschlüssen zerstört wor-den war. Er löste sie aus der Halterung und hob sie hoch. »Sie gehört zum Kommunikati-onssystem. Mal sehen, ob man damit nicht ein Funksignal abgeben kann. Das wird die da oben vielleicht munter machen.«

Atlan klemmte die Batterie in ein anderes System und führte dann rhythmisch zwei Drähte zusammen. Jedesmal wenn sie sich berührten, sprang ein kleiner Funke über.

Während Atlan sich noch über den Halbro-boter beugte, schrie Razamon plötzlich auf.

Der Arkonide hob den Kopf und blickte zum Tor der Feste hinüber. Fenrir kam ihm winselnd entgegen.

Das Tor war nicht mehr da. An seiner Stelle gähnte ein schwarzes Loch. Aus diesem kam eine hochgewachsene Gestalt hervor.

Atlan erhob sich. Der Mann im Tor trug eine schwarze Robe,

die ihm fast zu den Knien reichte. Er ließ sie achtlos fallen, als er die Brücke erreicht hatte. Darunter wurde ein ebenfalls schwarzer An-zug sichtbar, der aus einem hemdartigen O-berteil und enganliegenden Hosen bestand. Der Kopf verbarg sich unter einer flammend roten Kapuze, in die Schlitze für die Augen und den Mund eingelassen worden waren.

In den Händen trug der Mann ein Henkers-schwert, wie es in den Jahren um 1590 in Frankreich verwendet wurde. Atlan erinnerte sich an Hinrichtungen, bei denen er Zeuge gewesen war. Damals war er in der Maske eines Staatsdieners aufgetreten. Er selbst hatte Glück gehabt, dem Henkersschwert zu entge-hen.

Breitbeinig blieb der Henker vor dem Tor am Beginn der Brücke stehen. Er stieß die Spitze des Schwertes auf den Boden und stützte beide Hände darauf.

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Atlan hörte Razamon stöhnen. Er blickte

seinen Begleiter an. Razamon hatte die Hände vor das Gesicht

geschlagen. Seine Schultern zuckten.

Ein schrecklicher Verdacht stieg in Atlan auf.

ENDE

Weiter geht es in Band 11 von König von Atlantis mit:

Die Feste Grool von H. G. Francis

Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2005, eine Lizenzaus-gabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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