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| Der Internist 6·99 634 W. Singer · M. Breuer Würmtalklinik Gräfelfing, Fachkrankenhaus für die Behandlung von Suchtkrankheiten, Gräfelfing Prinzipien der Entwöhnung von illegalen Drogen unter stationärer Therapie schen 6 und 9 Monaten zubilligen. Die- ser emotinale Druck, die Droge zu kon- sumieren, wird gemeinhin als „craving“ bezeichnet [13, 15, 18]. Es wird beschrie- ben, daß manche abstinent lebende Pa- tienten dieses Verlangen, zum Sucht- mittel zurückzukehren, noch über Jah- re verspüren. Im Unterschied zur ambulanten Psy- chotherapie, einer Zweierbeziehung, ist die Behandlung an einer Klinik immer multiprofessionell angelegt. Eine Darstel- lung muß daher die verschiedenen Di- mensionen berücksichtigen, wenn sie die Komplexität des klinischen Alltages er- fassen will. Der Behandlungsauftrag an eine Fachklinik ist die Therapie von Patien- ten mit dem Ziel der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. Beteiligt an dieser Aufgabe sind Ärzte, Psychologen, Sozi- alpädagogen, Arbeitstherapeuten und anderes Personal, was von Klinik zu Klinik je nach Schwerpunkt differiert. Nur aus der Kenntnis der gesamten Lebenssituation und der innerpsychi- schen Verfassung des Patienten können wir die therapeutischen Maßnahmen ableiten, sollen sie adäquat und indi- ziert sein. Gemäß der Natur des Men- schen als einer körperlichen, psychi- schen und sozialen Einheit, die sich auf diesen 3 Ebenen entwickelt, muß eine Therapie auf diesen Themen aufbauen, Die Überwindung des Drogenpro- blems beginnt bereits mit der Aner- kennung der Tatsache, daß nicht das Suchtmittel das Problem ist sondern die Neigung einiger Menschen, diese einzunehmen und darüber zu Abhän- gigen zu werden. Griffige Parolen wie „Keine Macht den Drogen“ laufen Ge- fahr, von der Komplexität des Problems abzulenken. Schwerer Drogenkonsum ist somit die Folge und nicht die Ursache für eine Psychopathologie, die es noch zu be- schreiben gilt.Wir gehen davon aus, daß ein drogenabhängiger Patient schon vor der Drogeneinnahme offenbare oder la- tente seelische Störungen mitbringt und zumeist in der Pubertät, wo sich die Indi- vidualität verstärkt zu entfalten beginnt, mit dem Drogenkonsum anfängt. Erst sekundär entsteht darüber ein Entwick- lungsrückstand mit einer zunehmen- den Selbstfixierung und der Bindung der Kräfte an die Droge und deren Beschaffung. Ausgangssituation Im folgenden beschäftigen wir uns mit der Entwöhnung unter stationären Be- dingungen, der ein körperlicher Entzug bereits vorausgegangen ist. Ich gehe da- bei von einer 20-jährigen Erfahrung mit insgesamt ca. 3000 behandelten Patienten aus. Zur Erklärung des in der Therapie ablaufenden Geschehens sprechen wir auch von einem emotio- nalen Entzug, der häufig mehrere Mo- nate benötigt, und dem die Kostenträ- ger zur Zeit eine Therapiedauer zwi- Übersicht Internist 1999 · 40:634–639 © Springer-Verlag 1999 Zum Thema Konzepte zur Entwöhnung von harten Dro- gen können nur dann langfristig erfolgreich sein, wenn sie die intrapsychische Entwick- lung von Drogenabhängigen berücksichti- gen, im sozialen Umfeld zum Aufbau norma- ler und differenzierter Beziehungen führen und schließlich die Umsetzung eigener Ziele in einer realen Welt ermöglichen, z.B. die Wiederaufnahme der Arbeit.Voraussetzung ist natürlich die Entgiftung und Gesundung des Körpers.Während ersteres vergleichs- weise unproblematisch ist, sollte die somati- sche Komponente der meist völlig Verwahr- losten und zudem oft mit chronischer Hepa- titis oder HIV Infizierten nicht unterschätzt werden. An dieser Stelle wird zunächst über die Aus- gangsposition unter somatischen, psychopa- thologischen und psychosozialen Gesichts- punkten berichtet. Bezüglich der Therapie- optionen ist die Motivation der (noch) Ab- hängigen ebenso wichtig wie die Zuwen- dung der Therapeuten. Eine prinzipielle Schwierigkeit besteht natürlich darin, daß mit dem Beginn der Therapie vom Drogen- abhängigen etwas erreicht werden soll, was eigentlich erst am Schluß eintreten kann. Die wichtigsten Behandlungsansätze und -ele- mente werden eingehend und kritisch erläu- tert, wobei auch schwierige Phasen im The- rapieverlauf besprochen werden. Schlüsselwörter Drogenabhängigkeit,Therapie · Sucht,Therapie Dr.W. Singer Würmtalklinik Gräfelfing,Fachkrankenhaus für die Behandlung von Suchtkrankheiten, Josef-Schöfer-Straße 3, D-82166 Gräfelfing& / f n - b l o c k : & b d y :

Prinzipien der Entwöhnung von illegalen Drogen unter stationärer Therapie

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Page 1: Prinzipien der Entwöhnung von illegalen Drogen unter stationärer Therapie

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W. Singer · M. BreuerWürmtalklinik Gräfelfing, Fachkrankenhaus für die Behandlung von Suchtkrankheiten, Gräfelfing

Prinzipien der Entwöhnungvon illegalen Drogenunter stationärer Therapie

schen 6 und 9 Monaten zubilligen. Die-ser emotinale Druck, die Droge zu kon-sumieren, wird gemeinhin als „craving“bezeichnet [13, 15, 18]. Es wird beschrie-ben, daß manche abstinent lebende Pa-tienten dieses Verlangen, zum Sucht-mittel zurückzukehren, noch über Jah-re verspüren.

Im Unterschied zur ambulanten Psy-chotherapie, einer Zweierbeziehung, istdie Behandlung an einer Klinik immermultiprofessionell angelegt.Eine Darstel-lung muß daher die verschiedenen Di-mensionen berücksichtigen,wenn sie dieKomplexität des klinischen Alltages er-fassen will.

Der Behandlungsauftrag an eineFachklinik ist die Therapie von Patien-ten mit dem Ziel der Wiederherstellungder Arbeitsfähigkeit. Beteiligt an dieserAufgabe sind Ärzte, Psychologen, Sozi-alpädagogen, Arbeitstherapeuten undanderes Personal, was von Klinik zuKlinik je nach Schwerpunkt differiert.

Nur aus der Kenntnis der gesamtenLebenssituation und der innerpsychi-schen Verfassung des Patienten könnenwir die therapeutischen Maßnahmenableiten, sollen sie adäquat und indi-ziert sein. Gemäß der Natur des Men-schen als einer körperlichen, psychi-schen und sozialen Einheit, die sich aufdiesen 3 Ebenen entwickelt, muß eineTherapie auf diesen Themen aufbauen,

Die Überwindung des Drogenpro-blems beginnt bereits mit der Aner-kennung der Tatsache, daß nicht dasSuchtmittel das Problem ist sonderndie Neigung einiger Menschen, dieseeinzunehmen und darüber zu Abhän-gigen zu werden. Griffige Parolen wie„Keine Macht den Drogen“ laufen Ge-fahr, von der Komplexität des Problemsabzulenken.

Schwerer Drogenkonsum ist somitdie Folge und nicht die Ursache für einePsychopathologie, die es noch zu be-schreiben gilt.Wir gehen davon aus, daßein drogenabhängiger Patient schon vorder Drogeneinnahme offenbare oder la-tente seelische Störungen mitbringt undzumeist in der Pubertät,wo sich die Indi-vidualität verstärkt zu entfalten beginnt,mit dem Drogenkonsum anfängt. Erstsekundär entsteht darüber ein Entwick-lungsrückstand mit einer zunehmen-den Selbstfixierung und der Bindungder Kräfte an die Droge und derenBeschaffung.

Ausgangssituation

Im folgenden beschäftigen wir uns mitder Entwöhnung unter stationären Be-dingungen, der ein körperlicher Entzugbereits vorausgegangen ist. Ich gehe da-bei von einer 20-jährigen Erfahrungmit insgesamt ca. 3000 behandeltenPatienten aus. Zur Erklärung des in der Therapie ablaufenden Geschehenssprechen wir auch von einem emotio-nalen Entzug, der häufig mehrere Mo-nate benötigt, und dem die Kostenträ-ger zur Zeit eine Therapiedauer zwi-

ÜbersichtInternist1999 · 40:634–639 © Springer-Verlag 1999

Zum Thema

Konzepte zur Entwöhnung von harten Dro-

gen können nur dann langfristig erfolgreich

sein, wenn sie die intrapsychische Entwick-

lung von Drogenabhängigen berücksichti-

gen, im sozialen Umfeld zum Aufbau norma-

ler und differenzierter Beziehungen führen

und schließlich die Umsetzung eigener Ziele

in einer realen Welt ermöglichen, z.B. die

Wiederaufnahme der Arbeit.Voraussetzung

ist natürlich die Entgiftung und Gesundung

des Körpers.Während ersteres vergleichs-

weise unproblematisch ist, sollte die somati-

sche Komponente der meist völlig Verwahr-

losten und zudem oft mit chronischer Hepa-

titis oder HIV Infizierten nicht unterschätzt

werden.

An dieser Stelle wird zunächst über die Aus-

gangsposition unter somatischen, psychopa-

thologischen und psychosozialen Gesichts-

punkten berichtet. Bezüglich der Therapie-

optionen ist die Motivation der (noch) Ab-

hängigen ebenso wichtig wie die Zuwen-

dung der Therapeuten. Eine prinzipielle

Schwierigkeit besteht natürlich darin, daß

mit dem Beginn der Therapie vom Drogen-

abhängigen etwas erreicht werden soll, was

eigentlich erst am Schluß eintreten kann. Die

wichtigsten Behandlungsansätze und -ele-

mente werden eingehend und kritisch erläu-

tert, wobei auch schwierige Phasen im The-

rapieverlauf besprochen werden.

Schlüsselwörter

Drogenabhängigkeit,Therapie ·

Sucht,TherapieDr.W. SingerWürmtalklinik Gräfelfing, Fachkrankenhaus

für die Behandlung von Suchtkrankheiten,

Josef-Schöfer-Straße 3, D-82166 Gräfelfing&/fn-block:&bdy:

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● der Entgiftung und Gesundung desKörpers,

● der intrapsychischen Entwicklungund

● dem Aufbau gesunder und differen-zierter Beziehungen und der Umset-zung der eigenen Ziele in eine realeWelt.

Die körperliche Verfassung

Die abgeschlossene Behandlung desOpiatentzugssyndroms ist Vorausset-zung für die Aufnahme in eine Entwöh-nungsbehandlung. Die Therapie desEntzugssyndroms stellt heute keinegroße medizinische Herausforderungdar; sie ist im allgemeinen in 1–2 Wo-chen abgeschlossen. Die dabei auftre-tenden psychovegetativen Symptomesind gut medikamentös zu behandeln.Es verbleiben spezifische körperlicheAuswirkungen, die zu vorübergehen-den oder dauerhaften Veränderungenunterschiedlicher Schweregrade füh-ren. Zu nennen sind dabei Hepatitis-C-und HIV-Infektionen durch unge-schützte Sexualkontakte oder needle-sharing sowie Spritzenabszesse undVerwahrlosungsfolgen. Letztere sindinsbesondere zu sehen in Hauterkran-kungen, einer Sanierungsbedürftigkeitder Zähne und einer infektiösen Leber-schädigung. Eine gründliche Diagno-stik zu Beginn der Entwöhnungsbe-handlung ist notwendig, um vor allemdem hohen Anteil an psychosomati-schen Symptomangeboten von wirkli-chen somatischen Beschwerden zu un-terscheiden.

Die Psychopathologie

Die Abhängigkeit von psychotropenSubstanzen ist multifaktoriell bedingt[2, 5]. Sowohl die Verfügbarkeit vonDrogen als auch prägende Einflüsse derUmwelt und die psychische Ausgangs-situation der Person beeinflussen dieEntwicklung zur Abhängigkeit.

Die aktuelle psychische Strukturder Patienten ist durch die über Jahreandauernde Einnahme von Drogen, dieals Hilfsmittel eben diese Struktur ver-festigen, geprägt und oft schwer von derprämorbiden abzugrenzen. Neben denKonfliktneurosen finden wir insbeson-dere präödipale Störungen entwedervom Typ der narzißtischen Persönlich-keitsstörung oder der Organisation als

teln eingesetzt. Denken, Fühlen undWollen vermischen sich und sind kaumnoch zu differenzieren, Gefühle werdenfür Gedanken gehalten, und eigene Zie-le finden keinen Anschluß mehr an dieRealität. Letztere wird immer unver-ständlicher und auch bedrohlicher, sodaß eine Flucht nach innen beginnt, diezu einer Selbstfixierung führt.Die weite-re Sozialisierung findet dann in eigenenabgegrenzten Gruppen statt, die eineErwachsenenwelt ablehnen und kri-tisch ideologisch zerlegen. Finden sienicht den Weg ins Leben zurück, ver-harren sie in einem Milieu, in dem diefordernde Wirklichkeit vergessen wer-den kann.

Die berufliche Entwicklung unddie soziale Bilanz sieht bei Drogenab-hängigen sehr verschieden aus, die Defi-zite sind meist enorm. Fehlender Beruf,unterschiedlich lange Beschäftigungs-zeiten, große Schuldenberge und meistVorstrafen und Haftunterbringungenprägen zusätzlich die eigene Erfahrung.

Stationäre Therapie

Die Entwöhnungsbehandlung gilt alsKern der Suchtbehandlung. Sie erfolgtmeist in multimodalen Behandlungs-formen. Hauptkomponenten sind zu-meist Gruppentherapie, Arbeitsthera-pie, Beschäftigungstherapie, Sport, einSystem von Regeln sowie Krisenterven-tionen. Die Mehrheit der Therapieein-richtungen in Deutschland ist eklek-tisch-pragmatisch ausgerichtet [14].

Besonderheiten im Therapiealltag

Abstinenz bzw. Symptomverzicht

Im Gegensatz zu anderen Kranken mußder Drogenabhängige bereits zu Beginnder stationären Therapie auf das Sym-ptom verzichten. Er verliert innerhalbweniger Tage ein wichtiges, ihn in denletzten Jahren begleitendes Mittel, wasihn zuvor partiell gegen Angst, überflu-tende Reize und Selbstunsicherheitschützte. Er ist aufgerufen, einen Zu-stand äußerlich schon herzustellen, derinnerlich in einem Therapieprozeß erstnachvollzogen werden soll.

Auch die Klinikstruktur, die zurÜberbrückung dieser inneren Leere zu-nächst angeboten wird, hat fremde undsehr ungewohnte Seiten. Neu sind Ärzteund Therapeuten mit einer besonderen

Borderline-Syndrom. In den letzten 20Jahren ist es zu einer deutlichen Ver-schiebung hin zu Frühstörungen ge-kommen, die heute mit einem Anteilvon bis zu 80% den klinischen Alltagbestimmen. Entweder sind die Patien-ten kränker geworden, oder die Dia-gnostik hat sich durch Arbeiten vonKernberg [9, 10, 11, 12] und Rhode-Dachser [17] differenziert und zu einerZunahme der Diagnostik von struktu-rellen Ich-Defiziten geführt.

Wurmser [19, 20] und andere Auto-ren haben den Versuch unternommen,den einzelnen Diagnosen bevorzugteEinnahmegewohnheiten zuzuordnen;so ist anzunehmen, daß narzißtisch ge-störte Patienten psychotrope Substan-zen einnehmen, um zu einer Stabilisie-rung des Selbstwertgefühles zu kom-men. Sie bevorzugen dämpfende Mittel,was ihnen ermöglicht, Unlustgefühleund innere Spannungen abzufedernund das schmerzhafte Bewußtsein vonLeere und Sinnlosigkeit zu bewältigen.

Unserer Beobachtung nach ist esinsgesamt für Patienten attraktiv, denVersuch einzugehen, eigene strukturelleStörungen oder die Defizite einzelnerIch-Funktionen mit psychotropen Sub-stanzen zu kompensieren. Da diese in-neren Mangelzustände individuell un-terschiedlich ausfallen, richtet sich derGebrauch nach dem gewünschten undmanipulativ gewollten Gefühl. Um „gutunterwegs zu sein“, werden daher eherAmphetamine eingesetzt und durchdämpfende Mittel abgelöst, wenn quä-lende Inhalte verdrängt werden sollen.Auf dem Hintergrund dieser Beschrei-bung ist auch die Zunahme der Polytoxi-komanie zu sehen.

Die psychosoziale Situation

Stehen wir Drogenabhängigen gegen-über, so handelt es sich um Menschen,die sich in einer spezifischen Entwick-lungsstufe befinden, meist zwischendem 18. und 24. Lebensjahr, an derSchwelle zur persönlichen Identität undderen Ausreifung, die jedoch schon sofrüh am Leben gescheitert sind. Sie be-finden sich in einem Stillstand seeli-scher Entwicklung und der Chaotisie-rung ihrer Gedanken und Gefühle. DieNeigung zum illusionären Empfindenführt zur Überheblichkeit. PsychischeEnergie wird zunehmend mehr nurnoch für die Beschaffung von Suchtmit-

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Sprache, die es angeblich gut mit einemmeinen, und Patienten, die so „fortge-schritten“ wirken. Nach meiner Ein-schätzung werden in dieser Initialphaseder Therapie bereits entscheidendeFehler gemacht, wenn nur gering aufdiese Ausgangssituation geachtet undim Interventionsstil zu wenig auf einenotwendige Angstminderung einge-gangen wird.

Die Motivationsprüfung

Wenn wir noch ein wenig bei der Aus-gangssituation des Patienten verweilen,so ist eine Motivationsprüfung zu Be-ginn der Therapie als kontraindiziertzu betrachten, ist aber aus einigen pro-fessionellen Köpfen nicht zu vertreiben.Diese Prüfungen und Einschätzungs-versuche erzeugen kaum verwertbareAussagen über intrapsychische Struk-turen von Patienten, die – unter Druckgeraten – gewöhnlich lediglich ange-paßte Reaktionen anbieten. Darüberhinaus ist ihr Zustand noch sehr von re-gressiven Zügen geprägt, so daß es sicherübrigen sollte, verwertbare Datenüber die Motivation und den so ge-schätzten Leidensdruck zu erhalten.

Der Leidensdruck ist wesentlichvom Grad der Verleugnung abhängig.Es besteht bei vielen Behandlern dieVorstellung, daß abhängige Menschenerst in der Gosse landen müssen, bevorsie zur Einsicht fähig werden. Sofernein Patient diese Entwicklung nimmt,ist es allein Ausdruck einer schwerenzugrundeliegenden Verleugnung dereigenen Entwicklung gegenüber, so daßerst destruktive Realitäten geschaffensein müssen und ihn zu erdrücken dro-hen, bevor eine Krankheitseinsicht not-gedrungen sich anbietet. Manche errei-chen diesen Punkt der Einsicht nie undsterben. Es ist daher ein Gewinn in je-der Hinsicht, wenn junge Drogenab-hängige früher an eine Therapie heran-geführt werden, bevor eine sekundärepsychische Verwahrlosung diesen Wegnur länger macht.

Die Ideologie des Exusers

Vor allem am Anfang der therapeuti-schen Behandlungsentwicklung vonDrogenabhängigen dominierte eineVorstellung, daß insbesondere Exuser,also abstinent lebende Betroffene, un-verzichtbar seien, um das wahre Ver-

schaffen ist, in der Entwicklungen undReifungsprozesse möglich werden. DieTherapeutische Gemeinschaft ist keineTherapiemethode, vielmehr ein Set-ting, bei dem die Krankenhausstrukturzu psychotherapeutischen Zweckenverändert wird. Eine vermehrte Patien-tenmitsprache hierbei, ein hoher Anteilan Selbstverwaltung und Selbstverant-wortung sowie das Leben in einerGruppe sind Hauptelemente dieserStruktur.

Die Therapeutische Gemeinschaftbildet dabei den notwendigen Rahmenfür das therapeutische Handeln. Diesesereignet sich im Spannungsdreieck Pati-ent-Therapeut-Klinik auf sehr unter-schiedlichen Wahrnehmungs- und Er-lebnisdimensionen, meist zwischen denPolen Rationalität-Emotionalität, Ge-währen-Versagen, am häufigsten zwi-schen innerer Realität des Patientenund äußerer Notwendigkeit.

Gewaltfreiheit versus Sanktionsfreiheit

Neben dem Verzicht auf die Einnahmevon Drogen ist auch der Verzicht auf dieAnwendung von körperlicher Gewaltim stationären Rahmen zu fordern.Auch hier begegnen wir dem Parado-xon, nämlich eine Haltung einzufor-dern, die das Ergebnis der beginnendenBehandlung sein wird. Man kann diesesVorgehen aber auch als einen Teil derRegeln verstehen, die aufgestellt wer-den, um ein Miteinander möglich zumachen. Erstaunlich selten wird dieseRegel selbst von Patienten mit einemhohen aggressiven Potential und ent-sprechenden Vorstrafen verletzt. Einaggressives Klima hingegen ist häufigvorzufinden. Die durch die Trennungvom Suchtobjekt reaktivierte Verlust-angst sowie die Sehnsucht nach den al-ten Schlupfwinkeln erzeugen im Pati-enten Spannungen, die eine latent ag-gressive Atmosphäre jederzeit verbrei-ten kann.

Regelverletzungen von Patientenmit Sanktionen durch Therapeuten zubegegnen, halte ich für einen Kunstfeh-ler. Es gibt dennoch in Kliniken ganzeKataloge hiervon, wo es ein Patient amEnde seiner Therapie zu einem erhebli-chen Strafregisterauszug gebracht ha-ben kann und nicht selten darüber stolzist. Diese Sanktionen kommen nur demStrafbedürfnis einiger Patienten entge-gen und werden zum Aufbau hierarchi-

ständnis um die Sucht im klinischenAlltag umsetzen zu können. Neben demsicherlich wirksamen Effekt der Vor-bildfunktion hat diese Praxis mehrSchaden als therapeutischen Nutzengehabt. Ich bin vor Jahren mit einerKombination von professionellen The-rapeuten und Exusern angetreten undhabe sehr bald dieses System verlassen.Solange diese Mitarbeiter mangelhaftoder nicht ausgebildet waren, neigtensie zu einem selbstgerechten Agierenund der Verbreitung eines Elitebewußt-seins, welches ihre Defektkompetenzidealisieren sollte. Es kam zu einer Sta-gnation in der Konzeptentwicklungund einer Verzögerung der Entwick-lung einer anspruchsvollen Behand-lungskultur.

Um eine kompetente therapeuti-sche Arbeit zu leisten, bedarf es nichtper se langjähriger Eigenerfahrungen,es können vielmehr auch Anfänger imBerufsalltag der Klinik bisweilen einegute Arbeit leisten, wenn sie über eingewisses Talent, eine eigene Stabilitätund die nötige Empathie verfügen. Sieholen während ihrer Arbeit berufsbe-gleitend in Ausbildungsgängen theore-tische Kenntnisse nach und fundierendurch Wissen und Supervision ihre an-fänglich instinktive Haltung. Ohne dieAneignung fundierter theoretischerKenntnisse laufen Therapeuten jedochGefahr, sich sehr bald ausgebrannt zufühlen und aus Enttäuschung und nichtzur eigenen Fortentwicklung den Ar-beitsplatz zu wechseln.

Der Behandlungsansatz

Da seriöse Psychotherapeuten nichtüber magische Kräfte verfügen undSuggestionen vermeiden sollten, ist je-de Psychotherapie immer eine Hilfe zurSelbsthilfe. Hat in der Suchtentwick-lung der Mißbrauch von Substanzenauch dazu gedient, Befindlichkeiten zusteuern und Affekte abzuwehren, sokann Therapie nicht nur den Drogen-verzicht meinen. An die Stelle, an derzuvor die Drogeneinnahme stand, istfür die Zukunft das Ausfüllen dieses da-mit entstehenden Vakuums lebensnot-wendig. Unsere Erfahrungen beruhenauf dem Behandlungsmodell der The-rapeutischen Gemeinschaft [21]. In ei-ner langjährigen Praxis hat sich dieÜberzeugung gefestigt, daß hierbei ei-ne sehr lebensnahe Atmosphäre ge-

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Übersicht

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scher Vorstellungen unter den Patien-ten benutzt. Sie erzeugen im besten Fal-le ein Anpassungsverhalten beim Pati-enten, das beim Verlassen der Klinikwieder zusammenbricht. Es erscheintwesentlich sinnvoller, regelverletzendesVerhalten in den Bereich der psycho-therapeutischen Behandlung zu über-nehmen und darüber Einsichten zu er-zeugen.

Permissives Verhalten versusstrenges Vorgehen

Ähnlich wie in der gesamten drogenpo-litischen Diskussion, die um den wah-ren Weg in der Suchtbehandlung kon-trär argumentiert, bildet sich diese Po-larisierung auch in den Kliniken bzw.deren Behandlungskonzepten ab. We-der gewährendes Verhalten, das viel-leicht die Haltequote verbessert, nochein allzu strenges Regime, das mit demRisiko des Abbruches einhergeht, wer-den der Beschreibung einer notwendi-gen therapeutischen Haltung gerecht.Beide polare Seiten sind in dem Patien-ten repräsentiert. Er beansprucht einezügellose Freiheit gegenüber ein-schränkenden Strukturen, gegen die er„einen Aufstand macht“ und zeigt an-dererseits eine Selbstvernarrtheit ge-genüber seiner Selbstzerstörung.

Eine stationäre Therapie kannnicht vom Idealismus Einzelner alleingetragen werden, sondern von dem,was Ploeger [16] die „therapeutischeKultur“ nennt. Neben dem Rahmen derOrganisationsform der Klinik wird die-se wesentlich von der empathischenHaltung der Mitarbeiter geprägt und istin Konzepten häufig kaum herauszule-sen.

Psychotherapie versus Pädagogik

Es hat sich als nützlich erwiesen, einedeutliche Trennung der DisziplinenPsychotherapie und Pädagogik vorzu-nehmen, um nicht Reibungsverluste zuerleiden. In den eher pädagogisch ange-leiteten Arbeitsgruppen geht es um kla-re Aufgabenstellungen, um ein reali-tätsgerechtes Arbeiten, wobei Neigun-gen zur Regression vermieden werdenmüssen. Sobald hier die Aufgabenaus-führung durch interne Konflikte verlo-ren geht, kommt es zur Regression undzu destruktivem Verhalten. Patientenweichen bekanntlich häufiger bei der

ge diesem die Chance, zu einer Ent-wicklung und korrigierenden Erfah-rung zu gelangen.

Ebenso wie das Prinzip der Selbst-verantwortung ist das Prinzip derSelbstkontrolle von wesentlicher Be-deutung. Auch das geschulteste und er-fahrenste Mitarbeiterteam wäre aufDauer nicht in der Lage, ein Haus mitvorwiegend jungen abhängigen Patien-ten „clean“ zu halten, wenn nicht dieMitglieder der therapeutischen Gruppeselbst ein wirkliches, ureigenes undüberlebensnotwendiges Interesse dar-an hätten. Es gibt nach wie vor kein Ge-fängnis, kaum eine psychiatrische An-stalt, in der nicht weiter Drogen gehan-delt und konsumiert werden.

Nur durch die wache Wahrneh-mung der Vorgänge in einer Gemein-schaft, durch die Interaktionen der Pa-tienten untereinander, durch die selbst-regulierenden und selbstkontrollieren-den Aspekte, ist die vordringlichsteAufgabe, eine drogenfreie Umgebungzu garantieren, möglich.

Die Behandlungselemente(Therapieinhalte)

In der Therapie mit Drogenabhängi-gen, die meist chronisch regressiv ge-lebt haben, ist die Regression daher un-erwünscht bzw. zu begrenzen. Manmuß sich darum anderer Prinzipien be-dienen. Ein wesentliches Element isthierbei das „Prinzip der Antwort“, wiees Heigl u. Heigl-Evers [6], Heigl-Evers,Schultze-Dierbach u. Standke [7] sowieHeigl-Evers, Helas u. Vollmer [8] be-schrieben haben. Damit ist ein antwor-tendes Verhalten des Therapeuten ge-meint, ein aktiveres und aktivierendesVorgehen, welches an die Stelle derDeutung in der Psychoanalyse tritt.

Die Psychotherapie

Aus der Vielzahl der Therapieformen,die im Klinikalltag angewandt werdenkönnen, haben sich vor allem verhal-tenstherapeutische und psychoanalyti-sche Elemente durchgesetzt. Sie werdendurch das neue Psychotherapeutenge-setz auch in Zukunft die Therapieland-schaft bestimmen. PsychoanalytischeDenkmodelle werden in ihrem ur-sprünglichen Setting kaum in Drogen-kliniken zur Anwendung kommen. Siehaben aber erheblich die Haltung, das

Arbeit auf innere Schwierigkeiten ausund reklamieren die sofortige psycho-therapeutische Bearbeitung. Wird hierdie Grenze unklar, wo was hingehört,kommt es schnell zu einer allgemeinenKonfusion im Klinikalltag. Unklarhei-ten beider Bereiche fördern auch dieKonkurrenz unter den Mitarbeitern umden besonderen Wert der eigenen Posi-tion.

Selbstverwaltung und Selbstkontrolle

Es gilt bei der Darstellung des Behand-lungsansatzes auf ein Strukturelementbesonders einzugehen, das der Selbst-verwaltung. Unter dem Gesichtspunktund Vollzug der Selbstverwaltung dertherapeutischen Gruppe erhält diestrukturelle Vorgabe der Therapie erstihren eigentlichen Sinn, ihre lebendigeAusgestaltung. Soweit es unter medizi-nischen, sozialen und psychologischenGesichtspunkten möglich ist, verwaltetsich die Gemeinschaft der Patientenselbst. Dieses Prinzip ist wichtig, da nurdadurch der passive und konsum-akti-ve Charakter des Abhängigen reali-stisch thematisiert und in seiner Dyna-mik aufgearbeitet werden kann. EinOpiatabhängiger würde z.B. in der her-kömmlichen Klinik, die ihn versorgtund verwaltet, nur die Fortsetzung sei-ner bisherigen Verantwortungsprojek-tion erleben und zur Konfliktbearbei-tung innerhalb seiner Phantasie ermu-tigt. Es gilt daher als Kunstfehler, ver-sorgende Inhalte in der Therapie Ab-hängiger bereitzustellen; ein karitativesVerständnis in der Sucht, das solangeadäquate Erfolge vereitelt hat.

Zur Förderung der Verantwor-tungsbereitschaft, die im Laufe derSuchtentwicklung fast völlig verloren-gegangen ist, sowie zum Aufbau stabilerSelbstanteile von Patienten mit einemeher passiven Beziehungsangebot istdieser Eckpfeiler unverzichtbar. Diemeisten Fehler werden aber gerade in-nerhalb dieses Aspektes begangen, ge-prägt durch ein traditionelles Krank-heitsverständnis. Ähnlich wie in der Er-ziehung, gehören in der SuchttherapieMut und die Fähigkeit sich zurückzu-nehmen zum therapeutischen Stil, umdie Autonomie des Betroffenen zu er-möglichen. Die Abnahme von Verant-wortung und die Übernahme von Tä-tigkeiten durch Mitarbeiter anstelle desPatienten nehmen im gleichen Umfan-

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Verständnis um süchtige Entwicklungund die Sprache der Mitarbeiter ge-prägt, so z.B. das Verständnis von Über-tragungen und Gegenübertragungen.Neben der Verhaltenstherapie, der Fa-milientherapie und Entspannungstech-niken spielt die Gruppentherapie einezentrale Rolle, auf die wir näher einge-hen wollen.

Gruppentherapie

Unter diesem Begriff haben sich in denKliniken sehr unterschiedliche und viel-fältige Verfahren angesammelt, wie Ta-ges- und Arbeitsbesprechungen, Konfe-renzen, Plenarsitzungen und psycho-therapeutische Klein- wie Großgrup-pen. Im folgenden gehen wir von derGroßgruppe einer Klinik aus.

Die Gruppe stellt eine regressive Si-tuation dar, vergleichbar der einer Fa-milie, die darum innerhalb dieses Gefü-ges zwangsläufig individuelle und so-ziale Schwierigkeiten hervorbringt. Eskommt notgedrungen in dem organi-sierten sozialen Gefüge zu einer Wie-derbelebung eigener spezifischer Pro-bleme.Auch durch den Effekt gemeinsa-mer Vorerfahrungen fehlt es nicht anProjektionen und ängstlichen Aspekten.Die große Zahl der Teilnehmer schafftaußerdem regelmäßig einen Konkur-renzkampf um Aufmerksamkeit undZuwendung, also infantile Muster, dieals individuelle Eckwerte des Einzelnenhervortreten. Der therapeutische Inhalteiner solchen Gruppe im Klinikalltagwird meist durch den realen Hinter-grund der Konflikte bestimmt, die sichdurch das Leben in der Gemeinschaftanhäufen und die ihrer Fülle wegenkaum alle aufgegriffen werden können.Die Inhalte müssen nicht wie in der am-bulanten Therapie von außen herange-holt und berichtet werden.

In der Gruppentherapie unter-scheidet man zwischen 2 sehr unter-schiedlichen Ansätzen: der eine Aus-gangspunkt betrachtet die Gruppe im-mer als Ganzes wie ein abgegrenztes In-dividuum, der andere Ansatz ist als Ein-zelbehandlung in der Gruppe zu be-zeichnen.

Einzeltherapie vor dem Hintergrundder Gruppe

Foulkes [3, 4] vertritt den Ansatz derTherapie des Einzelnen innerhalb der

nerhalb derer der Patient versucht, sichzunächst wohlzufühlen bzw. sich einenlebensfähigen Raum zu schaffen. Eskommt hierbei häufig zu einem projek-tiven Verlust. Voller Ehrfurcht vor derGruppe ist der Einzelne bescheiden, ru-hig und zurückhaltend. Er empfindetsich nicht edel genug, seine Fähigkeitenzu gering, als daß er sie in den Vorder-grund zu stellen wagte.

Ein Stück weiter auf dem Weg indie Therapie wird die Bewältigung vonAbhängigkeitsbedürfnissen zum Pro-blem. Hierin gehört auch die Aufleh-nung gegenüber Autoritäten, den Ver-tretern der etablierten Gesellschaft so-wie der Kampf, selbst als eine Personvon gewissem Wert anerkannt zu wer-den. Therapie heißt aber auch, daß sichder Therapeut bei geeigneter Gelegen-heit eindeutig durchsetzt.Wer nie gelei-tet wurde und Grenzen erfahren hat,kann sich offenbar selbst nicht führenund sucht Halt bei allen möglichenfraglichen Gestalten.

In einer weiteren Phase beobach-ten wir eine Periode der Depressionund Hoffnungslosigkeit, die die anfäng-liche Begeisterung ablöst. Es entstehthier häufig eine negative Übertragungauf die Gemeinschaft, die als störend,verschlingend, einengend und manipu-lierend erlebt wird. Nicht selten erfolgthier auch die Rückkehr zu früherenMitteln und Gepflogenheiten, zu einemeher süchtigen Verständnis der Alltags-bewältigung. Viele Patienten vergewis-sern sich quasi, ob sie ihre altenSchlupfwinkel immer noch besitzen. Eskommt häufig zu paranoiden Klassen-und Gruppenkämpfen mit hitzigen mo-ralischen Gefechten. Der einzelne Pati-ent vermeidet dabei offenbar, in per-sönlichen Interaktionen sein eigenesSelbst zu behaupten. Seine eigenen An-gelegenheiten werden zur Angelegen-heit der Allgemeinheit deklariert, da-mit persönliche Probleme nicht ansLicht geraten. Aus der Sicht des Thera-peuten ist dies eine schwierige Phase,da er unbedingt zur Auflösung diesesPhänomens beitragen muß, wenn esnicht zu anonymen Gruppenkämpfenüber allgemeine Prinzipien kommensoll.

Im Laufe der Zeit werden Verände-rungen von dem Einzelnen verlangt,wenn er bleiben und in Harmonie mitseinen Mitpatienten wohnen will. Indiesem Stadium zieht er sich entweder

Gruppe. Er geht davon aus,„daß die In-dividuen Knotenpunkte eines Netzwer-kes sind, sie es erzeugen, während sievon ihm selbst durchwirkt werden“. DasErkennen von Konflikten bei anderenGruppenmitgliedern hat danach Rück-wirkungen auf die Wahrnehmung undLösung eigener Konflikte. Somit profi-tiert jedes Gruppenmitglied immerauch per Identifikation von der Arbeitam Einzelnen.

Die Therapie der Gruppe als Ganzes

Bion [1] begründete diese Sichtweise,wonach die Gruppe in der Beziehunggegenüber dem Therapeuten beschrie-ben wird. Die Gruppe wird stets alsGanzes betrachtet, ihr gegenüber stehtder Therapeut. Durch die Zurückhal-tung des Gruppentherapeuten wird dieRegression innerhalb der Gruppe ge-fördert. Der mit dieser Regression ver-bundene Verlust an Individualität istAnreiz für den Einzelnen, Kontakt undKohäsionen herzustellen, will er nichtuntergehen. Die gemeinsam entstehen-den Phantasien und Aktivitäten sindder Stoff, aus dem die persönliche Dif-ferenzierung und Bearbeitung eigenerKonflikte abgeleitet werden können.

Diese Ansätze haben sich als sehrnützlich für das Verständnis von Grup-pen an der Klinik herausgestellt. Manmuß es dem Verlauf der Ereignisseüberlassen, die eine oder andere Rich-tung einzuschlagen. So erfordern vorallem depressive und aggressive Stim-mungen von der Gruppe als Ganzemauszugehen und damit sehr viel Zeit zuverbringen, um die Kohäsion zu för-dern und vor allem das Arbeitsbündniszu stabilisieren. Gerade zur Aufrechter-haltung stabiler Beziehungen und zumAufbau positiver Übertragungen eignetsich die Vorgehensweise nach Bion.

Gibt es insgesamt weniger gesamt-atmosphärische Spannungen, kehrenwir auch über Wochen wieder zur Ar-beit mit dem Einzelnen zurück ganz imSinne von Foulkes.

Einige kritische Therapiephasen

Die fortschreitende Entwicklung einesPatienten mit Hilfe einer relativ bewußtstrukturierten und emotional betontentherapeutischen Situation hat z.T. kriti-sche Verläufe. Am Anfang steht zu-nächst eine Zeit der Orientierung, in-

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Übersicht

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Literatur1. Bion WR (1971) Erfahrungen in Gruppen

und andere Schriften. Klett-Verlag, Stuttgart

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Der Internist 6·99 | 639

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Zusammenfassung

Ausgehend von der Sichtweise, daß derschwere Konsum illegaler Drogen im-mer eine Folge einer zugrundeliegen-den Psychopathologie ist, wurde imvorliegenden Artikel die stationäre Ent-wöhnung von Abhängigen illegalerDrogen genauer unter die Lupe genom-men. Auf der Grundlage der körperli-chen Verfassung, der psychosozialen Si-tuation sowie der vorhandenen Psycho-pathologie der Patienten wurde auf denBehandlungsansatz, einzelne Behand-lungselemente und einige Besonderhei-ten im Therapiealltag genauer einge-gangen.

Um der Verantwortungsprojektionder Patienten entgegenzutreten, basiertder Behandlungsansatz auf den Prinzi-pien der Selbstverwaltung und Selbst-kontrolle (Behandlungsmodell einerTherapeutischen Gemeinschaft). Da-durch wird die passive und konsumie-rende Grundhaltung der abhängigenPatienten auf einer realistischen Grund-lage thematisiert und gleichzeitig dieMöglichkeit geschaffen, diese Dynamikzu bearbeiten.

Das therapeutische Handeln imengeren Sinne ereignet sich im Span-nungsdreieck Patient-Therapeut-Kli-nik auf sehr unterschiedlichen Wahr-nehmungs- und Erlebnisdimensionen,meist zwischen den Polen Rationalität-Emotionalität, Gewähren-Versagen, amhäufigsten zwischen innerer Realitätdes Patienten und äußerer Notwendig-keit. Ein wesentliches Merkmal im Ver-gleich zu anderen (auch psychosomati-schen) Krankheitsbildern ist die Forde-rung, gleich zu Beginn der Behandlungauf das Symptom zu verzichten. In Be-zug auf die therapeutische Grundhal-

tung der Behandler gilt es, eine ange-messene Einstellung zu entwickeln, dieweder zu permissiv noch ausschließlichstrafend ist.

Bei den Behandlungselementennimmt die Gruppentherapie eine zen-trale Funktion ein. Hier unterscheidenwir zwischen der Therapie des Einzel-nen innerhalb der Gruppe (dem Ansatzvon Foulkes) und der Therapie derGruppe als Ganzes (Ansatz von Bion).Die Befreiung aus der Abhängigkeitläuft über eine Orientierungsphase, dieBewältigung von Abhängigkeitsbedürf-nissen, Depression bis schließlich Ver-änderungen des eigenen Verhaltensmöglich werden.

Fazit für die Praxis

Die psychische Struktur von Drogenabhän-gigen ist in aller Regel hochgradig gestört.Sogenannte präödipale Frühstörungen do-minieren bei den meist 18–24-jährigen zu80% den klinischen Alltag. Dieser Perso-nenkreis steht an der Schwelle zur persön-lichen Identität und deren Ausreifung. DasScheitern in der realen Welt, Entwicklungs-stillstand, Unterordnung aller Energien un-ter den Drang zur Drogenbeschaffung undRealitätsverlust sind nur einige der charak-teristischen Merkmale.

Bei den Behandlungsansätzen be-wegt man sich – nicht ganz unähnlich wiein der Kindererziehung – zwischen denbeiden Polen Gewähren-Versagen. Zu vielKonsequenz und Kontrolle des Therapeu-ten ist ebenso problematisch wie zu we-nig. Daß dazu keine eindeutigen Regle-ments gegeben, sondern nur an der Per-sönlichkeit des Behandelten orientierte re-gulierende Maßnahmen getroffen werdenkönnen, leuchtet ein und ist, verkürzt ge-sagt, eine der wesentlichen Aussage dieserArbeit.

Die Gruppentherapie, die zugleichAbhängige an die reale Alltagssituationgewöhnen soll, steht im Mittelpunkt undwird durch die Einzeltherapie im gegebe-nen Fall ergänzt. Auch wenn die Gruppen-therapie zu Regression und Verlust an In-dividualität führt, ist sie doch ein zwin-gender Ansatz, Initiativen zu ergreifenund Kontakte herzustellen, also Aktivitä-ten, die eine persönliche Differenzierungund Konfliktbewältigung fördern. Dasbrauchen Drogenabhängige, um eines Ta-ges wirklich „clean“ zu werden und vor al-lem zu bleiben.