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22 MMW-Fortschr. Med. Nr. 21 / 2012 (154. Jg.) AKTUELLE MEDIZIN REPORT Provozierendes Studienergebnis Profitieren Infarkt-Patienten von Chelat-Therapien? Eine alternativmedizinische Doppel- blindstudie sorgte beim US-Herzkon- gress für Überraschung: Eine Chelat- Therapie half stabilen Postinfarkt- Patienten – ein bisschen zumindest. Vor allem Diabetiker profitierten. _ Die Infusion von Komplexbildnern wie EDTA hat einen Stellenwert in der Behandlung von Intoxikationen, v. a. mit Schwermetallen. Serielle Infusionen werden von Alternativmedizinern auch in der Herz-Kreislauf-Medizin ange- wendet und wurden lange Zeit als eine Art „Rohrfrei für die Arterien“ bewor- ben. Die Theorie: Schwermetalle im Körper wie Blei und Cadmium begüns- tigen die Wirkung von freien Radikalen und somit LDL-Oxidation, Endothel- dysfunktion und Atherosklerose. Aderlass fürs Portemonnaie In den USA erfreut sich die Therapie zu- nehmender Beliebtheit: 2007 wurden dort über 100 000 Patienten Chelat-The- rapien unterzogen. Für einen vollen Zy- klus muss der Patient 5000 Dollar aus der eigenen Tasche berappen, berichtete Prof. Paul W. Armstrong von der Uni- versität Edmonton in Kanada. – Hierzu- lande gibt es sogar eine Deutsche Gesell- schaft für Chelat-Therapie, die sich in- zwischen in „Ärztegesellschaft für kli- nische Metalltoxikologie“ umbenannte. Auf einer noch 2012 aktualisierten In- ternetseite heißt es, dass die Infusion- Behandlung „ausgezeichnete Ergeb- nisse“ bei verschiedensten Gefäßerkran- kungen bewirke. Bisher gab es dafür kaum wissenschaftliche Belege. Die TACT-Studie Vor diesem Hintergrund empfanden viele Kardiologen auf der AHA-Tagung die Ergebnisse der sog. TACT-Studie (Trial to Assess Chelation Therapy) gera- dezu als provozierend. Die Studie, unter- stützt vom „National Center for Comple- mentary and Alternative Medicine“ so- wie dem „National Heart, Lung and Blood Institute“ hatte 1708 Postinfarkt- patienten doppelblind und randomisiert mit Chelat-Therapie und hoch dosierten Vitaminen, nur einer der beiden Behand- lungen oder Placebo behandelt. Verab- reicht wurden in wöchentlichen Abstän- den bis zu 40 mindestens dreistündige Infusionen einer Chelat-Therapie mit zahlreichen Inhaltsstoffen, darunter 3 g EDTA, Ascorbinsäure, B-Vitamine, Ma- gnesiumchlorid, Procain, Natriumchlo- rid, Bicarbonat, 2500 Einheiten Heparin. Die Patienten waren stabile Postin- farktpatienten (Durchschnittsalter 65 Jahre), zu über 80% revaskularisiert, aber ganz überwiegend frei von KHK- Beschwerden und ohne Einschrän- kungen der Pumpfunktion. 31% der Pa- tienten waren Diabetiker. 76% erhielten wenigstens 30 der EDTA-Infusionen. 55 000 Infusionen verhinderten 39 klinische Ereignisse Nachdem über 55 000 Infusionen verab- reicht und die Patienten im Mittel 55 Monate nachbeobachtet worden waren, zeigte sich eine signifikante Senkung des primären Endpunktes: 222 (26%) der Pa- tienten in der ETDA-Gruppe sowie 261 (30%) der Placebogruppe hatten entwe- der einen Herzinfarkt, einen Schlagan- fall, eine Koronar-Revaskularsation oder Klinikaufnahme wegen Angina erlitten oder waren gestorben, so Studienautor Dr. Gervasio A. Lamas, Mount Sinai Me- dical Center in Miami Beach. Dies ent- spricht einer relativen Risikoreduktion um 18%. Die beschwerliche Behandlung war gut vertragen worden. Therapieeffekt bei Diabetikern Bemerkenswert: 35 der 39 durch die Che- lat-Therapie verhinderten Ereignisse wurden in der Subgruppe der Diabetiker beobachtet. Hier schien die Behandlung besonders wirksam (HR: 0,61, p = 0,002). Patienten ohne Diabetes hatten hingegen keinen Vorteil. Bei Diabetikern lag die NNT über fünf Jahre bei 7, im Gesamt- kollektiv mussten hingegen 18 Patienten fünf Jahre lang behandelt werden, um ei- nen Endpunkt zu verhindern. DR. MED. DIRK EINECKE Quelle: AHA-Jahrestagung, Los Angeles, 4.11.– 7.11.2012; Late Breaking Clinical Trials 1 Chelatinfusion: wirksam gegen Athero- sklerose? ©ineula/fotolia American Heart Association mahnt zur Zurückhaltung Deutliche Kritik an der Methodik der noch nicht publizierten Studie äußerte der von der AHA bestellte Diskutant Prof. Paul Armstrong aus Edmonton. Er berichtete, dass die Studie in ihrem Verlauf mehrfach gestoppt, wieder aufgenommen sowie im Design geändert wurde. Die Studienergebnisse generieren Hypothesen, aber keine Therapieempfehlungen, so Armstrong. Auch die AHA sah sich zu einer offiziellen Stellungnahme veranlasst: „Die verblüf- fenden und unerwarteten Ergebnisse sollten nicht so interpretiert werden, dass jetzt eine Indikation für die Chelat-Therapie in der klinischen Praxis vorliegt.“ Es sei noch viel mehr Information nötig, welche Bestandteile der komplexen Infusi- onsmixtur nützlich seien, und warum nur Diabetiker profitieren, erklärte Dr. Elliot Antman, Brigham and Women’s Hospital, Boston, und Programmdirektor des AHA- Jahreskongresses 2012. Noch viele Fragen offen

Profitieren Infarkt-Patienten von Chelat-Therapien?

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Page 1: Profitieren Infarkt-Patienten von Chelat-Therapien?

22 MMW-Fortschr. Med. Nr. 21 / 2012 (154. Jg.)

AKTUELLE MEDIZIN–REPORT

Provozierendes Studienergebnis

Profitieren Infarkt-Patienten von Chelat-Therapien?Eine alternativmedizinische Doppel-blindstudie sorgte beim US-Herzkon-gress für Überraschung: Eine Chelat-Therapie half stabilen Postinfarkt-Patienten – ein bisschen zumindest. Vor allem Diabetiker profitierten.

_ Die Infusion von Komplexbildnern wie EDTA hat einen Stellenwert in der Behandlung von Intoxikationen, v. a. mit Schwermetallen. Serielle Infusionen werden von Alternativmedizinern auch in der Herz-Kreislauf-Medizin ange-wendet und wurden lange Zeit als eine Art „Rohrfrei für die Arterien“ bewor-ben. Die Theorie: Schwermetalle im Körper wie Blei und Cadmium begüns-tigen die Wirkung von freien Radikalen und somit LDL-Oxidation, Endothel-dysfunktion und Atherosklerose.

Aderlass fürs PortemonnaieIn den USA erfreut sich die Therapie zu-nehmender Beliebtheit: 2007 wurden dort über 100 000 Patienten Chelat-The-rapien unterzogen. Für einen vollen Zy-klus muss der Patient 5000 Dollar aus der eigenen Tasche berappen, berichtete Prof. Paul W. Armstrong von der Uni-versität Edmonton in Kanada. – Hierzu-lande gibt es sogar eine Deutsche Gesell-

schaft für Chelat-Therapie, die sich in-zwischen in „Ärztegesellschaft für kli-nische Metalltoxikologie“ um benannte. Auf einer noch 2012 aktualisierten In-ternetseite heißt es, dass die Infusion-Behandlung „ausgezeichnete Ergeb-nisse“ bei verschiedensten Gefäßerkran-kungen bewirke. Bisher gab es dafür kaum wissenschaftliche Belege.

Die TACT-StudieVor diesem Hintergrund empfanden viele Kardiologen auf der AHA-Tagung die Ergebnisse der sog. TACT-Studie (Trial to Assess Chelation Therapy) gera-dezu als provozierend. Die Studie, unter-stützt vom „National Center for Comple-mentary and Alternative Medicine“ so-wie dem „National Heart, Lung and Blood Institute“ hatte 1708 Postinfarkt-patienten doppelblind und randomisiert mit Chelat-Therapie und hoch dosierten Vitaminen, nur einer der beiden Behand-lungen oder Placebo behandelt. Verab-reicht wurden in wöchentlichen Abstän-den bis zu 40 mindes tens dreistündige Infusionen einer Chelat-Therapie mit zahlreichen Inhaltsstoffen, darunter 3 g EDTA, Ascorbinsäure, B-Vitamine, Ma-gnesiumchlorid, Procain, Natriumchlo-rid, Bicarbonat, 2500 Einheiten Heparin.

Die Patienten waren stabile Postin-farktpatienten (Durchschnittsalter 65 Jahre), zu über 80% revaskularisiert, aber ganz überwiegend frei von KHK-Beschwerden und ohne Einschrän-kungen der Pumpfunktion. 31% der Pa-tienten waren Diabetiker. 76% erhielten wenigstens 30 der EDTA-Infusionen.

55 000 Infusionen verhinderten 39 klinische EreignisseNachdem über 55 000 Infusionen verab-reicht und die Patienten im Mittel 55 Monate nachbeobachtet worden waren, zeigte sich eine signifikante Senkung des primären Endpunktes: 222 (26%) der Pa-tienten in der ETDA-Gruppe sowie 261 (30%) der Placebogruppe hatten entwe-der einen Herzinfarkt, einen Schlagan-fall, eine Koronar-Revaskularsation oder Klinikaufnahme wegen Angina erlitten oder waren gestorben, so Studienautor Dr. Gervasio A. Lamas, Mount Sinai Me-dical Center in Miami Beach. Dies ent-spricht einer relativen Risikoreduktion um 18%. Die beschwerliche Behandlung war gut vertragen worden.

Therapieeffekt bei DiabetikernBemerkenswert: 35 der 39 durch die Che-lat-Therapie verhinderten Ereignisse wurden in der Subgruppe der Diabetiker beobachtet. Hier schien die Behandlung besonders wirksam (HR: 0,61, p = 0,002). Patienten ohne Diabetes hatten hingegen keinen Vorteil. Bei Diabetikern lag die NNT über fünf Jahre bei 7, im Gesamt-kollektiv mussten hingegen 18 Patienten fünf Jahre lang behandelt werden, um ei-nen Endpunkt zu verhindern.

Dr. meD. Dirk einecke ■■ Quelle: AHA-Jahrestagung, Los Angeles, 4.11.–

7.11.2012; Late Breaking Clinical Trials 1

Chelatinfusion: wirksam gegen Athero-sklerose?

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American Heart Association mahnt zur ZurückhaltungDeutliche Kritik an der Methodik der noch nicht publizierten Studie äußerte der von der AHA bestellte Diskutant Prof. Paul Armstrong aus Edmonton. Er berichtete, dass die Studie in ihrem Verlauf mehrfach gestoppt, wieder aufgenommen sowie im Design geändert wurde. Die Studienergebnisse generieren Hypothesen, aber keine Therapieempfehlungen, so Armstrong.

Auch die AHA sah sich zu einer offiziellen Stellungnahme veranlasst: „Die verblüf-fenden und unerwarteten Ergebnisse sollten nicht so interpretiert werden, dass jetzt eine Indikation für die Chelat-Therapie in der klinischen Praxis vorliegt.“ Es sei noch viel mehr Information nötig, welche Bestandteile der komplexen Infusi-onsmixtur nützlich seien, und warum nur Diabetiker profitieren, erklärte Dr. Elliot Antman, Brigham and Women’s Hospital, Boston, und Programmdirektor des AHA-Jahreskongresses 2012.

Noch viele Fragen offen