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ERNEST HARMS, NEW YORK ZUR ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG RELIGiöSEN SYMBOLERLEBENS BEI KINDERN '> Um das religiöse Symbolerleben bei Kindern in befriedigender Weise zu verstehen, muß man die in ihnen vorhandene allgemeine Tendenz und ihre Neigung zum Symboldenken von ihrer tatsächlichen Beziehung zu beste- henden religiösen Symbolen trennen. Die symbolische Ausdrucksweise ist wahrscheinlich beim Kinde die am frühesten vorhandene Möglichkeit, sich selbständig und unabhängig zu äußern. Oft ist sie noch vor der Sprachentwicklung entstanden. Wir alle er- kennen diese Tendenz ·in der Neigung des Kindes, sich malerisch oder zeich- nerisch zu betätigen, die wohl die elementarste Form der Symbolik ist. über den Sinn dieser Symbolik erfahren wir etwas, wenn wir verfolgen, wie das Kind eine der realsten Formen gestaltet, d. h. wie es einen Menschen zeich- net. Jedem, der mit Kindern zu tun hat, ist bekannt, wie gern sie Papas, Mamas oder jede andere menschliche Gestalt zeichnen. Wir alle staunen über die seltsamen Formen dieser menschlichen Wesen, für die der Ausdruck "Krebse" gebräuchlich geworden ist. Denn diese "menschlichen Wesen" haben mehr .i\.hnlichkeit mit "Weichtieren" als mit irgend etwas anderem. Sie bestehen aus einem Kreis, von dem mehrere strahlenförmig angeordnete Striche abgehen, die augenscheinlich eine undefinierbare Zahl von Extremitä- ten darstellen sollen .. Bisweilen enthält der Kreis einige Striche für Augen, Nase und Mund, woraus man schließen kann, daß er den menschlichen Kopf darzustellen hat. Diese Art, eine menschliche Figur zu zeichnen, hat ihren Grund offensicht- lich darin, daß das Kind den Menschen als vorwiegend aus einem Kopf be- stehend wahrnimmt, wo alle Sinnesorgane, Auge, Ohr, Geruchs- und Ge- schmackssinn lokalisiert sind. Wenn im weiteren Verlauf der Entwicklung mehr vom Körper wahrgenommen und erlebt wird, verwandelt das Kind seine strahlenförmigen ·Extremitäten in einen langen Strich, von dem vier kurze Striche abgehen, wodurch eine Skelettskizze des Körpers entsteht. Erst sehr viel später erhalten wir eine detaillierte, zweidimensionale Darstellung. Diese Zeichnungen sind als Teil des kindlichen Lernprozesses anzusehen. Sie entsprechen der naturgetreuen Vorstellung vom menschlichen Körper beim Erwachsenen nicht, wie Florence Goodenough sie deutet, die sie ihrem Ent- wicklungstest zugrunde gelegt hat. * Vortrag vor der Society for the Scientific Study of Religion an der Columbia University 1957. Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected]) © Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

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ERNEST HARMS, NEW YORK

ZUR ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG RELIGiöSEN

SYMBOLERLEBENS BEI KINDERN '>

Um das religiöse Symbolerleben bei Kindern in befriedigender Weise zu verstehen, muß man die in ihnen vorhandene allgemeine Tendenz und ihre Neigung zum Symboldenken von ihrer tatsächlichen Beziehung zu beste­henden religiösen Symbolen trennen. Die symbolische Ausdrucksweise ist wahrscheinlich beim Kinde die am frühesten vorhandene Möglichkeit, sich selbständig und unabhängig zu äußern. Oft ist sie noch vor der Sprachentwicklung entstanden. Wir alle er­kennen diese Tendenz ·in der Neigung des Kindes, sich malerisch oder zeich­nerisch zu betätigen, die wohl die elementarste Form der Symbolik ist. über den Sinn dieser Symbolik erfahren wir etwas, wenn wir verfolgen, wie das Kind eine der realsten Formen gestaltet, d. h. wie es einen Menschen zeich­net. Jedem, der mit Kindern zu tun hat, ist bekannt, wie gern sie Papas, Mamas oder jede andere menschliche Gestalt zeichnen. Wir alle staunen über die seltsamen Formen dieser menschlichen Wesen, für die der Ausdruck "Krebse" gebräuchlich geworden ist. Denn diese "menschlichen Wesen" haben mehr .i\.hnlichkeit mit "Weichtieren" als mit irgend etwas anderem. Sie bestehen aus einem Kreis, von dem mehrere strahlenförmig angeordnete Striche abgehen, die augenscheinlich eine undefinierbare Zahl von Extremitä­ten darstellen sollen .. Bisweilen enthält der Kreis einige Striche für Augen, Nase und Mund, woraus man schließen kann, daß er den menschlichen Kopf darzustellen hat. Diese Art, eine menschliche Figur zu zeichnen, hat ihren Grund offensicht­lich darin, daß das Kind den Menschen als vorwiegend aus einem Kopf be­stehend wahrnimmt, wo alle Sinnesorgane, Auge, Ohr, Geruchs- und Ge­schmackssinn lokalisiert sind. Wenn im weiteren Verlauf der Entwicklung mehr vom Körper wahrgenommen und erlebt wird, verwandelt das Kind seine strahlenförmigen ·Extremitäten in einen langen Strich, von dem vier kurze Striche abgehen, wodurch eine Skelettskizze des Körpers entsteht. Erst sehr viel später erhalten wir eine detaillierte, zweidimensionale Darstellung. Diese Zeichnungen sind als Teil des kindlichen Lernprozesses anzusehen. Sie entsprechen der naturgetreuen Vorstellung vom menschlichen Körper beim Erwachsenen nicht, wie Florence Goodenough sie deutet, die sie ihrem Ent­wicklungstest zugrunde gelegt hat.

* Vortrag vor der Society for the Scientific Study of Religion an der Columbia University 1957.

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Diesen Lernvorgang möchte ich an einem außergewöhnlichen Fall aufzeigen, den ich beobachten konnte. Es handelt sich hier um ein abnormes religiöses Symbolerleben. Im allgemeinen stimme ich nicht mit der Auffassung Freuds überein, daß wir durch das Studium pathologischer Vorgänge auch am mei­sten über das Normale lernen. Für diesen Fall jedoch trifft die Freudsche These zu. Er wurde bereits im Journal of Child Psychiatry (Vol. 1, No. 3, 1948) veröffentlicht, sowie als Child Care Monographie No. 2 im Jahre1949. In der vorliegenden Arbeit werde ich einige bisher noch nicht behandelte Aspekte dieses Falles darstellen. Es handelt sich um die Geschichte eines achtjährigen Patienten im Kings Park State Hospital, N. Y. Obwohl der Junge bereits lesen und schreiben gelernt hatte, war er im Verlauf des zweiten Schuljahres in den Zustand einer völligen Demenz geraten. Seine Sprache bestand nur mehr aus unzusammen­hängenden Worten und seine Schrift war zu unleserlichen Hieroglyphen geworden. Er war wegen des Verdachtes schizophrener Veränderungen zur Beobachtung überwiesen worden. Nach einiger Zeit äußerte er den Wunsch zu zeichnen und produzierte eine Serie konfuser Bilder. In der Mitte all dieser Zeichnungen befanden sich die Umrisse zweier typischer Formen, die eine war von länglicher Gestalt (sie ähnelte einem Flugzeug oder einem Baum) und wurde von ihm als "ein Er" bezeichnet, die andere Figur war meist wie ein Dreieck gestaltet (und ähnelte einem Schiff, einer Hütte oder einem Tisch) und wurde von ihm als "eine Sie" bezeichnet. Da in dem Ge­stammel des Jungen häufig Rudimente eines primitiven, vulgären Sexual­jargons enthalten waren, vermutete ich, daß diese Zeichnungen auf seine frühreifen sexuellen Kenntnisse hinwiesen. Um Grad und Charakter ihrer bewußten Verarbeitung festzustellen, zeigte ich dem Buben Photographien unbekleideter griechischer Statuen. Er war indessen unfähig, sie korrekt zu unterscheiden und zu bezeichnen. So konnte er Apoll als "eine Sie" und Diana als "einen Er" deuten. Kurze Zeit nach diesem Experiment brachte er eine Zeichnung, auf der in primitiver Weise Mann und Frau durch die Kleidung unterschieden dargestellt waren, und eine andere Zeichnung, die zweifellos eine symbolische Darstellung der Vagina enthielt. Etwas später erschien auf einem neuen Bild das Gesicht einer Frau und zwei vaginale Symbole, die verschiedene Erregungsgrade zum Ausdruck bringen sollten. Dies war ein für sein Alter erstaunlicher Erlebnisausdruck und zeigte einen Lernprozeß, wo mit Hilfe einer symbolischen Darstellung sehr niedriger Bewußtseinsstufe ein Verständnis erzielt werden sollte. Offenbar erreicht jedesKind durch die symbolische Darstellung bestimmter Erlebnisse ein bewußtes Verständnis. So gehört die Symbolisierung zu den wichtigsten und kraftvollsten Bildungsmitteln der frühesten Kindheit.

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Dieser Junge erweckte mein Interesse noch besonders dadurch, daß in seinen Zeichnungen ein eigenartiges religiöses Symbol in Erscheinung trat. Dies in einem Zustand besonderer Erregung entstandene Bild zeigte zweifellos eine aus dem Mittelalter stammende Symbolik; Sonne und Mond, wie sie in der Zauberflasche miteinander in Beziehung treten. Dies erinnert ·an die von C. G. Jung vor vielen Jahren erwähnte Beobachtung, daß er das Sonne­Penis-Symbol in den Zeichnungen Geisteskranker gefunden hatte. In diesem Kind war zweifellos ein archaischer oder kollektiv-unbewußter Komplex ähnlicher Art wirksam. In meiner langen Erfahrung mit seelisch abnormen Kindem habe ich nur zwei oder drei Mal einen ähnlichen Fall erlebt. Durch das Studium der mittelalterlichen Sonne-Mond-Symbolik war mir die Be­deutung dieser Darstellungen bekannt. Die Sonne sollte den Mond und die mit ihm verbündeten bösen Mächte überwältigen. Ohne spekulativ werden zu wollen, nahm ich mir vor zu untersuchen, was wohl in der Seele dieses Knaben geschehen würde, wenn ich diese Art symbolischen Erlebens bei ihm unterstützte. Entweder ich hielt ihm in den folgenden Stunden das erwähnte Bild immer wieder vor Augen, oder ich machte mir sein Weltbild schein­bar zu eigen, indem ich fragte, wie es denn heute mit Sonne und Mond stehe oder was er darüber empfände. Wie die Bildserie zeigt, kam all­mählich wieder Klarheit in seine Seele. Die Zeichnungen wurden einfacher. Die Fähigkeit des Lesens und Schreibens kehrte allmählich zurück. Auf den sich immer wiederholenden Bildern von Sonne und Mond wurde die Sonne immer dominierender; bis auf der letzten Zeichnung der Mond in den spinnenartigen Strahlen der Sonne gefangen und überwältigt erschien. Diese letzte Zeichnung trug die Inschrift "Scott-Ende". Scott war der Name der unbeliebten Hausmutter des Knaben-Pavillons. Die Inschrift brachte in konfuser Weise die gemischten Gefühle des Knaben zum Ausdruck und seine Hoffnung, daß die Zeit im Scott-Pavillon bald enden möge. Ober die Entstehung dieser aus dem Mittelalter stammenden religiösen Symbolik möchte ich keinerlei Theorien aufstellen. Einen Beweis für ihre Eigenständigkeit sehe ich darin, daß sie verschwand, weil sie "ausgelebt'' werden konnte, wie es auch bei einer im Mittelalter lebenden Person nicht anders geschehen wäre. Ob es sich bei diesem psychotischen Kind um einen einer früheren Kulturperiode angehörenden Seelenzustand gehandelt hat, oder ob diese Symbolik infolge bestimmter pathologischer Bedingungen aus seinem kollektiven Unbewußten aufgetaucht war, vermag ich nicht zu ent­scheiden, weil eine derartige Überlegung den Rahmen objektiver und kontrollierbarer Forschung überschreitet. Mit diesem Fall möchte ich einen biographischen Beitrag für die Beschrei­bung der Entstehung religiöser Symbolerfahrung beim normalen Kind brin-

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gen. Der Fall dieses psychotischen Kindes diente uns als Beweis für das Vorhandensein religiöser Symbole in der kindlichen Seele. Was können wir nun über die Beziehung der Kinder zu diesen Symbolen feststellen? Wäh­rend mehrerer Jahre testeten wir eine große Zahl von Schulkindern aller Altersstufen. Da wir die Religion für eine Weise der menschlichen Erfahrung halten, die jenseits der intellektuell-rationalen Sphäre liegt, und da Kinder ihre Erlebnisse besser bildnerisch als sprachlich zum Ausdruck bringen können, haben wir einen Zeichentest als Methode der Wahl angewendet. Diese Arbeit, die im American Journal of Sociology (Vol. 50, No. 2, 1944) veröffentlicht worden ist, unterscheidet drei verschiedene Stufen religiöser Erfahr.ung bei Kindern. Hier möchte ich diese drei Stadien in ihrer Bezie­hung zum Symbolerleben selbst untersuchen. Die jüngste Gruppe, Kinder bis zum Alter von fünf Jahren, hatten die Aufgabe, ein Bild vom lieben Gott zu zeichnen. Obwohl sich das Vorschul­kind fast ganz in einer kindlich determinierten Symbolwelt befindet, ent­wickelt sich doch langsam über diese Märchen- und Phantasiewelt hinaus eine echte Erfahrung der realen Umwelt. Die Gotteserfahrung oder etwas ihr Entsprechendes nennen wir religiös. Diese religiöse Erfahrung beginnt jedoch nicht mit etwas Kultähnlichem oder mit institutionellen Religions­formen, sondern mit dem, was das Kind für "groß" oder verehrenswürdig hält, wie zum Beispiel seinen Vater oder Großvater. Ein dreijähriger Knabe, dessen Gottesbild von seiner Mutter stammte, schockierte sie am Tag darauf mit der Frage, ob der Portier oder der Schutz­mann Gott seien. Die vielen hundert Zeichnungen, die wir von Kindern aus Kindergärten oder Kinderkrippen erhielten, zeigten immer wieder die infantamorphe Darstellung einer menschlichen Gestalt. Oft hatte der kleine Künstler sich selbst unten auf der Erde und in der Luft oder auf einer höheren Stufe Gott als menschliche Gestalt schwebend dargestellt. Ein recht verspielter und sehr begabter Vierjähriger gab mir eine Zeichnung, auf dem ein Tier, das einem Eisbären ähnelte, über die ganze obere Bildhälfte hinge­streckt lag, und hineingeschrieben stand "Gott". Als ich ihn fragte, ob er denn wirklich glaube, daß dies Gott sei, kicherte er und meinte: "Vielleicht ist er so." Wenn man Kinder befragt, die im Kindergottesdienst den üblichen Unter­richt erhalten haben, findet man, daß die Entwicklung nicht über das

· Märchenalter hinausgeht. Verlangt man von ihnen die Wiedergabe tradi­tioneller Symbole, beispielsweise des Kruzifixes, so erhält man erzwungene Darstellungen ohne jeden Gefühlsgehalt. Wir dürfen daraus wohl schließen, daß es bei dem Vorschulkind eine über die Märchensymbolik hinausgehende spezifisch religiöse Symbolerfahrung noch nicht gibt.

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Gänzlich anders dagegen sieht die religiöse Vorstellungswelt beim Schul­kind aus. Wir nannten sie in unserer früheren Darstellung die realistische Phase. Wir forderten diese Altersgruppe auf, eine bildliehe Darstellung Got­tes zu geben, die sie als religiös ansahen. Dadurch wurde ihnen natürlich ein viel größerer Rahmen geboten. Kinder dieses Alters haben im Religions­unterricht schon feste dogmatische Vorstellungen erhalten. Dies zeigte sich bei der Analyse der Gesamtheit ihrer Zeichnungen, besonders derjenigen, die unter einem gewissen Druck oder Zwang entstanden waren. Wh forder­ten die Kinder auch auf, eine Erklärung unter ihre Bilder zu schreiben, die oft lautete: "Ich weiß wirklich nicht, wie Gott aussieht, aber dem Lehrer zuliebe habe ich dies Bild gemacht." Auf dem Bild war ein achtjähriges Kind zu sehen, das mit gefalteten Händen am Fenster stand, "zu Gott betend, den niemand malen kann". Fast 30 % dieser Altersgruppe ent­hielten eine derartige Symbolik. Ich sah darin die realistische Tendenz dieser emotional sonst so labilen Altersgruppe. Wollen sie sich ihren emotionalen Neigungen gegenüber in realistischer Weise verhalten, so gelingt es ihnen über den Weg der Symbolisierung besonders leicht. Das bezieht sich beim jungen Schulkind auch auf außerreligiöse Bereiche, wie ihr Interesse am "Supermann", "Davy Crocket"-Emblemen, Polizeiuniformen un'd anderen Symbolen der Heldenverehrung beweist. Es ist offensichtlich, daß das religiöse Symbol spontan erscheint. Aber wir fragen nicht nach dem, was erscheint, sondern wie und warum es erscheint. Einige Kinder interessieren sich überhaupt nicht für religiöse Themen, und am wenigsten dann, wenn man sie in dieser Beziehung testen will. Um die Testaufgabe zu erfüllen, zeichnen sie ein Kreuz, einen Davidsstern oder irgendein anderes ihnen gerade einfallendes traditionelles Symbolzeichen. ·Von dieser Art Symbol­darstellung können wir nicht viel lernen, weil ihr kein persönliches Erleben zugrunde liegt. Der erste persönliche Eindruck ist das Geständnis dieser Kinder, daß sie nicht wissen, wie sie eine derartige Gottesgestalt darstellen sollen. Wir hören von einer großen Zahl, daß sie nicht wüßten, wie Gott aussähe, aber "dem Lehrer zuliebe" zeichnen sie ein Symbol, das darauf hinweist, "daß sie im Kindergottesdienst gelernt haben, daß man das Kreuz am meisten verehren müsse" oder daß "mein Vater (oder Groß­vater) mir gesagt hat, daß der Davidsstern das Symbol unserer Religion sei und daß ich ihn deshalb hierher gezeichnet habe". Zweifellos wird das kindliche Bedürfnis zu symbolisieren im religiösen Be­reich sehr gefördert. Aber abgesehen von einigen mehr erzwungenen dog­matischen und autoritativen religiösen und kultischen Formen gibt es in der Schulkindergruppe keinen Beweis dafür, daß diese Kinder echte, durch einen Kult geprägte religiöse Erlebnisse haben. Nichtsdestoweniger hat die

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Symbolisierung selbst eine so große Bedeutung, daß man sie fast als eine religiöse Erlebnisform bezeichnen könnte, wie das folgende Beispiel zeigen wird. Der Sohn eines augenscheinlich ungläubigen Lehrerehepaares schrieb: "Meine Eltern haben mich gelehrt, nicht an Gott zu glauben. Wir sind alle nur Menschen, und sollten auf der ganzen Erde gute Menschen sein." Auf seiner Zeichnung war ein Kreis mit einer Pyramide zu sehen, eine Dar­stellung, die seit der New Yorker Weltausstellung zu einem internationalen Symbol geworden war. Unsere Untersuchung über die religiösen Antriebe bei Kindern führte uns zu dem Ergebnis, daß sich die Grundhaltung des Kindes in den ersten 15 Lebensjahren zweimal radikal verändert. Diese Veränderung ist in der dritten Periode im Vergleich zu den beiden vorhergesehenen am stärksten. Ich habe diese Periode die im eigentlichen Sinn individuelle genannt. Der Jugendliche ist in dieser Zeit von einem tiefen Verlangen nach direkter religiöser Erfahrung beseelt und möchte sie, mehr als es jemals später wieder der Fall sein wird, in individueller und persönlicher Weise zum Ausdruck bringen. Bei einer früheren Gelegenheit habe ich die individualistische reli­giöse Erfahrung des Jugendlichen in drei Gruppen unterteilt: 1. die dog­matische, 2. die emotionale und 3. die personale. Zur dogmatischen Gruppe gehören jene Schüler, die religiöse Zeichen und Symbole hauptsächlich deshalb darstellen, weil sie ihre Bedeutung im Unter­richt gelernt haben, ohne ein persönliches Erleben damit zu verbinden. Eine gewisse Zahl Jugendlicher verbleibt immer auf dieser Stufe. Sie haben keine eigene religiöse Vorstellungskraft und bewegen sich innerhalb des Bereichs konventioneller Begriffe und Symbole. Ein gewisser Grad von Individuali­tät wird im Jugendalter erworben, und es entscheidet sich jetzt, welche Bedeutung die Religion für ihr Leben haben wird. Während dieser Periode werden praktisch alle Formen religiöser Symbolik bildhaft dar­gestellt. Im Vergleich mit Bildern Erwachsener sind diese Zeichnungen Jugendlicher jedoch kaum jemals Kopien, sondern zeigen die Frische des individuellen Ausdrucks. Das Symbolisierungsbedürfnis Jugendlicher ist nicht mehr so stark wie das der Schulkinder. Aber wo immer wir die Tendenz zur Anwendung von Symbolen finden, sind diese sinnerfüllt. Nie würde ein Symbol nur zur Verzierung auftauchen oder um in spielerischer Weise das Blatt auszufüllen, wie ich es bei Schulkindern gefunden habe. Im allgemeinen will ein Jugendlicher durch die Verwendung eines Symbols etwas Persönliches aussagen, selbst wenn es in konventionellen Formen ge­schieht. Bei der zweiten oder emotionalen Gruppe tritt der individualistische Cha­rakter noch mehr in den Vordergrund. Bei diesen Kindern hat sich ein vom

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dogmatischen Hintergrund ganz unabhängiges und eigenständiges religiöses Erleben ausgebildet. So meinen sie die ihnen gestellte Aufgabe - über ihre · religiöse Erfahrung zu berichten - dann am besten zu erfüllen, wenn sie sie in bildhafter Weise zum Ausdruck bringen. Wir erhalten emotional ge­tönte Bilder zu Themen wie Sünde und Tugend, Tod und Ewigkeit, Freude und Trauer, Hoffnung und Glaube. Viele bringen diese Gefühle auch in farbigen Darstellungen oder abstrakten Formen zum Ausdruck und schließ­lich erhalten wir auch Symbolisierungen. Da gibt es zuerst rein natura­listische Symbole wie durch Wolken brechendes Licht, Sonnenauf- und untergänge als Ausdruck religiösen Lichtkults. Es werden Regenbögen und sonstige "Himmelspforten" gezeichnet. Wir finden die "Weltschmerz"­Symbolik und zahlreiche Versuche mythologischer Darstellungen, wie bei­spielsweise Charon und Apoll. Offensichtlich sind diese Jugendlichen nicht mehr im Bereich der herkömmlichen dogmatischen Inhalte zu befriedigen. Es bedeutet daher keine Abschweifung, wenn sie uns mit diesem scheinbar von weit hergeholten Material konfrontieren. Bei einer Anzahl von Fällen konnte man beobachten, daß sie sich während des Maiens mit einem bestimmten Motiv oder Symbol von den verschie­densten individuellen Aspekten aus beschäftigten. Es erscheint daher ge­rechtfertigt, wenn wir sagen, daß sie während der Arbeit gleichsam über seine Bedeutung meditierten. Die bei Erwachsenen auftretende Symbolik bezieht sich meist auf ein kul­tisches oder überindividuelles Erleben. So repräsentiert die Flagge das Land oder die Nation und das religiöse Symbol den Kult oder die Religion selbst. Die Symbolik Jugendlicher hat dagegen immer einen persönlichen Sinn und bedeutet einen persönlichen emotionalen Ausdruck. Es ist sein Glück, sein Glaube, sein Credo, sein Anteil am Weltschmerz. Immer ist es eine mehr oder minder individualisierte Erfahrung, die er zum Ausdruck bringen möchte. Selbst wenn sehr allgemeine Begriffe gewählt werden wie "Himm­lische Liebe", oder "Heil", oder "Glaube und Hoffnung", wird sofort hin­zugefügt: "damit meine ich". Seine Erlebnisse und die dafür verwendete Symbolik schließen immer das persönliche "Ich" mit ein. Bei der letzten Gruppe, der personalistischen, erhielten wir bei diesen sich über viele Jahre erstreckenden Untersuchungen die erstaunlichsten Resultate. Die Kinder dieser Gruppe verfügen nicht nur über die intensivsten religiö­sen Erlebnisse überhaupt, sondern sie gehen weit über jedes dogmatische System hinaus. Das bezieht sich in gleicher Weise auf die Religion der Eltern, der Familie oder der sozialen Schicht, der sie angehören. Wir finden nicht nur eindeutige Fälle eines natürlichen Unglaubens bei Kindern, die aus einem "streng religiösen" Elternhaus stammen, sondern auch Jugendliche, die

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die moderne Maschine oder den Arzt zu "ihrem" oder "der Menschheit" Gott machen wollen. Merkwürdiger ist die Hinwendung dieser Jugendlichen zu Religionsformen, die von ihrem "elterlichen Familienglauben" weit ent­fernt sind. Es gab junge Leute, die sich als Buddhisten oder Taoisten oder Anhänger indianischer Religionen bezeichneten. Und es kam sogar vor, daß ein katholischer Jugendlicher behauptete, die jüdische Religion sei besser als die seiner Eltern. Schließlich möchte ich von den ungewöhnlichen Fällen jener Jugendlicher berichten, die uns sowohl mit ägyptischen und keltischen Sonnenkulturen konfrontierten als auch mit Religionsformen aus dem Mit­telalter. Wir konnten mit Sicherheit feststellen, daß sie niemals mit einer entsprechenden Informationsquelle in Berührung gekommen waren. Diese Fälle, die nicht so selten sind, als man vermuten könnte, zeigen das gleiche Phänomen wie bei dem Jungen im King's Park Hospital. Es erscheint näm­lich eine religiöse Erfahrung, die eine unbewußt "archaisch" oder "kollek­tiv" erinnerte symbolische Darstellung aus der Vergangenheit ist. Da ich die Ebene rein wissenschaftlicher Beobachtung nicht verlassen möchte, verzichte ich auf jede spekulative Deutung über die Art und Weise, in der eine der­artige Symbolik in der kindlichen Phantasie auftritt. Die sorgfältige Unter­suchung einer Anzahl von Zeichnungen hat jedoch ergeben, daß diese Kin­der seelisch völlig normal waren und gute Schulleistungen aufwiesen. Sie alle ließen sich typologisch als nachdenklich, nach innen gerichtet, "intro­vertiert" beschreiben. Zweifellos ist diese Gruppe die individualistischste. Sie stellen eine Art höherer Synthese dar zwischen der Symbolisierungs­weise des Kleinkinds und dem Symbolerleben des dogmatischen Typs. Betrachtet man die religiösen Ausdrucksbilder vom Gesichtspunkt der weiteren Lebensentwicklung aus, so ist zu sagen, daß, wenn man von eini­gen ausgesprochen sektiererischen Gruppen absieht, niemals wieder ein so hoher Grad von Individualisierung und Sensitivität des religiösen Erlebens erreicht wird. Abschließend ein kurzes Wort zur religiösen Erziehung. Ich weiß, daß die dogmatisch eingestellten Erzieher meinen hier und früher gemachten Ausführungen nicht zustimmen werden. Meines Erachtens sind Kinder vor dem zehnten Lebensjahr für echte religiöse Erfahrungen noch nicht reif. Beginnen sie selbständig religiös zu empfinden, so sehen wir, daß sie religiöse Individualisten sind und sich dogmatischen Lehrsystemen nur ungern anpassen. Als Ergebnis unserer Untersuchungen kommen wir zu der Schlußfolgerung, daß Kindern bis zur Einschulung religiöse Inhalte nur im undogmatischen "Märchenstil" dargeboten werden sollten. Moralische Forderungen sollten ihnen nicht in autokratisch lehrhafter Weise, sondern an Hand von Beispielen nahegebracht werden. Vor der Einschulung sollte jeder eigentliche Religionsunterricht unterbleiben. Im Schulalter sollten die

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Kinder eine historische Einführung in die religiöse Tradition ihrer Eltern erhalten. Kultformen sollten ihnen als Hilfsmittel für ein besseres Leben nahegebracht werden. Es wäre weise, die endgültige Wahl des Glaubens den Kindern selbst zu überlassen, wenn sie das Jugendalter erreicht haben. Gleichzeitig mit den Problemen der körperlichen Reife geraten die Jugend­lichen auch in heftige innere Kämpfe um das Gleichgewicht im Hinblick auf metaphysische Fragen. Bei einer überwältigend großen Zahl junger Men­schen werden diese Probleme heute nicht in adäquater Weise gelöst, sondern unterdrückt. Dies wiederum erzeugt Neurosen. Die entstehende soziale und moralische Unsicherheit kann sich viel später im Leben manifestierende schwere neurotische Störungen zur Folge haben. Als Ergebnis unserer intensiven Untersuchungen kann ich daher nicht nachdrücklich genug dar­auf hinweisen, daß ein guter Teil neurotischer und instabiler Zustände innerhalb unseres Kulturkreises durch diesen grundlegenden Fehler in der· religiösen Erziehung der Kinder und Jugendlichen bedingt ist.

(Aus dem Englischen übertragen von Dr. med. V. Seemann, Bad Salzuflen)

(Anschrift des Verfassers: Dr. Ernest Harms, 158 East 95th Street, New York City, USA.)

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