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1 Qi Gong und christliche Tanzmeditation im Vergleich am Beispiel eines „Vater unser“ Gebets in Übungsformen des Qi Gong Abschlussarbeit der Qi Gong-Kursleiter-Ausbildung an der Qi Gong-Schule Bergstraße, Leitung: Marita Oriolo und Caterina Oriolo vom 26. August 2011 bis 10. Februar 2013 vorgelegt im Dezember 2012 von: Hannelie Jestädt Anton-Holz-Straße 9 48351 Everswinkel Tel. 02582-1729 www.hannelie-jestaedt.de

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Qi Gong und christliche Tanzmeditation

im Vergleich

am Beispiel eines „Vater unser“ Gebets

in Übungsformen des Qi Gong

Abschlussarbeit

der Qi Gong-Kursleiter-Ausbildung

an der Qi Gong-Schule Bergstraße,

Leitung: Marita Oriolo und Caterina Oriolo

vom 26. August 2011 bis 10. Februar 2013

vorgelegt im Dezember 2012 von:

Hannelie Jestädt

Anton-Holz-Straße 9

48351 Everswinkel

Tel. 02582-1729

www.hannelie-jestaedt.de

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Inhaltsverzeichnis

0 Einführung ………………………...…… 3

1 Meditation ……………………………... 4

2 Leib, Geist, Seele (Atem) ……………………………… 5

2.1 … im Christentum ……………………………... 5

2.2 … im Daoismus ……………………… 7

2.2.1 Yin und Yang ……………………………………… 8

2.2.2 die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM)…. ….…… 9

2.3 Zusammenschau und Abgrenzung ……………….…..….. 10

3 Meditation in Bewegung im Qi Gong …..…………… 11

4 Meditation in Bewegung im Tanz …..………….... 13

5 Tanz als Erlebnis- und Ausdrucksform im

Vergleich mit Qi Gong Übungen ..……….……… 15

5.1 Der Tanzraum des Tänzers und der Bewegungsraum

im Qi Gong ……. ………..... 15

5.2 Prinzipien von Yin und Yang im Tanz und im Qi Gong 16

5.3 Bewegungsrichtung – Antriebselemente- Antriebsreaktionen 17

5.4 Zusammenfassung ….…………… 18

6 Beispiele aus Kreistänzen ….…………… 18

7 Das „Vater unser“ im Qigong ….…………… 20

7.1 Beschreibung und Deutung ….…………… 22

8 Christliches Beten und Qi Gong ………………. 27

9 Literaturverzeichnis ….…………… 29

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0 Einführung

Es gibt nur eine Wahrheit, aber viele Wege dorthin. Davon bin ich

überzeugt. Es gibt nur einen Gott. Und die Weisen, sich ihm, der letztlich

uns Menschen ein Geheimnis bleibt, zu nähern, sind vielfältig. Seit ca. 25

Jahren begegne ich mir selbst und meinem Gott, dem Gott Jesu Christi,

beim meditierenden Tanzen, das ich als Gebet verstehe und auch in

Liturgien einbringe.

Zugleich praktiziere ich seit einigen Jahren Qi Gong. Diese achtsam

ausgeführten ganzheitlichen Bewegungen habe ich zunächst aus rein

gesundheitlichen Aspekten wertgeschätzt. Doch mehr und mehr

entdeckte ich in den Bewegungsformen Übereinstimmungen mit den

Gebärden des Tanzens. Auch merkte ich, dass die zugrunde liegenden

Erkenntnisse und Erfahrungen von ganzheitlichem Denken, Energiefluss,

Spannung und Entspannung, die Dynamik widerstrebender und

vereinender Kräfte und vieles mehr in beiden Bewegungsformen

gleichermaßen vorkommen. Dabei sind Grundlagen von Kreistänzen

genau so gemeint wie von Gebärden im Gebetsausdruck. Speziell zum

„Vater unser“, dem ältesten gemeinsamen Gebet der Christenheit,

entwickelte ich eine Gebetsform, die aus Qi Gong Bewegungen besteht.

Ich erlebe die Bedeutung des Gebetstextes durch meinen Körper noch

viel intensiver, als es im Sprechen und Denken je möglich wäre.

Hier möchte ich nun aufzeigen, wo Gemeinsamkeiten, also

„Schnittmengen“ liegen von Tanz als Meditations- und Gebetsform und

Qi Gong als chinesischer Heilgymnastik. Ist es legitim, solche

Zusammenhänge zu schaffen? Lässt sich ein christliches Gebet darstellen

mittels Bewegungen, die aus Jahrtausende alten Erfahrungen eines

daoistisch, also heidnisch geprägten Landes kommen? Oder lässt sich

explizit hieran feststellen, dass Bewegungs- und Ausdrucksformen des

Menschen und damit die Körpersprache und Körpererfahrung universell

gleichen Ursprungs sind?

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1 Meditation

Meditation wird in fast allen Religionen gelehrt und auch in

religionsfreien Meditationszentren. Der Mensch wird mit seiner

Aufmerksamkeit so nach innen gelenkt, dass er seine Außenwelt kaum

noch wahrnimmt und seine Gedanken loslässt. Seine Konzentration ist

absichtslos im Hier und Jetzt. Ja, er ist beinahe zeitlos anwesend. Yogis

schaffen es, in einem solchen Zustand tagelang auszuharren.

Wege und Intensität von Meditationsübungen unterscheiden sich jedoch.

Wir finden fernöstliche Meditationstechniken im Zen, dem Sitzen in

Stille, und im Yoga, ebenso in der Kampfkunst, im Tai Chi Chuan und

im Stillen Qi Gong, Jinggong, und dem Fang Song Gong sowie in der

Gehmeditation (Guo Lin Qi Gong). Qi Gong Übungen haben alle

insofern Meditationscharakter, als sie die Achtsamkeit schulen und

Bewegung und Ruhe miteinander korrespondieren. Es liegt Ruhe in der

Bewegung und explizit bei der Meditationsform wird die Bewegung in

der Ruhe bedacht.

Muslime meditieren mit ihrer Gebetsschnur einhundert Namen Allahs.

Die Derwische kommen durch tänzerisches Kreisen um ihre Körpermitte

zu ihrer Herzensmitte und in die Meditation.

Die christliche Tradition kennt vor allem das Herzensgebet als sich

wiederholende Anrufungen Jesu. Das Mönchtum entwickelte die

Meditation bzw. die Kontemplation des Wortes Gottes zum Dreischritt

von lectio – meditatio – oratio, wobei das in der Meditation Erfahrene im

Gebet vor Gott gebracht wird. Auch die Ruminatio, das „Wiederkäuen“

des gehörten Schriftwortes, gehörte zur Meditationspraxis.

In den letzten Jahren findet die christliche Jugend in Taizé, Frankreich,

durch meditative Gesänge zur Stille und zu innerer Einkehr. Durch die

ruhige Wiederholung einfacher Liedverse wird der Mensch frei von sich

selbst und gibt dem Geist Gottes in seinem Inneren Raum. Gesungene

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Litaneien führen wie Mantras in die Meditation. Musik und Tanz können

als Hilfsmittel zur Meditation dienen.

Auch die Medizin nutzt die heilende Wirkung dieser Methoden, ebenso

die Psychologie, diese insbesondere zur Stressbewältigung, z. B. gegen

Burn out. Durch die gesteigerte Achtsamkeit bauen Meditierende äußere

Spannungen ab.

Man könnte auch sagen: Die Meditation bringt Körper, Geist und Seele

in Einklang, unterstützt durch den gleichmäßig fließenden Atem. Auch,

wenn die chinesische Lehre den Begriff Seele nicht kennt, ist das Ziel der

Meditation doch dasselbe. Inhaltlich steht für Seele oder Psyche „Shen“,

der Geist. Geist aber auch verstanden als Gott hat seinen Sitz im Herzen

des Menschen. Auch im Qi Gong als Meditationsform geht es darum, die

Harmonie von Körper und Geist zu erreichen, Körper, Geist und Atmung

in Einklang zu bringen.

2 Leib, Geist, Seele (Atem)

2.1 im Christentum

In diesem Dreiklang lässt sich bildhaft auch der christliche Glaube

denken, dessen Gott ein dreifaltiger ist: Vater, Sohn und Geist, die im

Einklang leben, so dass es ein einziger Gott ist. Das Zusammenspiel

dieser drei Personen lässt sich vage vergleichen mit dem Geist als Gott

Vater, der am Anfang war und die Welt, die Materie und das Leben,

erschuf. So auch den menschlichen Körper, in dem sich Gott selbst als

Mensch in Jesus offenbarte. An dieser Inkarnation haben wir Menschen

Anteil. In jedem Menschen ist ein göttlicher Kern.

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Am Anfang schwebte der „Geist Gottes (Ruah) über den Wassern“

(Genesis 1,2). Der Jahwist1 schreibt „Dann bildete Jahwe Gott den

Menschen aus Staub von dem Erdboden und blies in seine Nase einen

Lebenshauch. So wurde der Mensch ein lebendes Wesen.“ (Genesis 2,7).

Das hebräische Wort „nefesch“ – „Lebenshauch“ meint das lebende

Individuum, so dass der Mensch nicht nur eine „nefesch“ hat, sondern

„nefesch“ ist, Seele ist. Die Priesterschrift2, ein anderer Erzählstrang der

Bibel, berichtet: „Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, nach

dem Bilde Gottes schuf er ihn, als Mann und Frau schuf er sie.“ (Gen

1,27) Die Erschaffung „als Mann und als Frau“ weist auf die Einheit des

Individuums „Mann“, „Frau“ ihn.3

Das Verständnis von Körper und Geist wurde im frühen Christentum

vom altgriechischen dualistischen Menschenbild geprägt. Der Leib

wurde als Gefängnis der Seele betrachtet. Daher rührt eine frühe

Missachtung der Leiblichkeit des Menschen und des leiblichen

Ausdrucks wie zum Beispiel des Tanzens. Wie der Kirchenlehrer

Augustinus (4./5. Jhdt) in seiner Epistula erwähnt, war der Tanz in den

Kirchen strikt untersagt. „Wer nämlich tanzt, bewegt seine Glieder zum

Gesang, jene hingegen, die der Weisung Gottes entsprechend tanzen –

qui saltant ad praeceptum dei –, richten ihr Tun nach dem Klang dieser

Weisung.“

Christliche Philosophen und philosophische Anthropologen der Neuzeit

und Theologen, zum Beispiel Romano Guardini (19./20. Jhdt), sehen den

Menschen als vergeistigte Leiblichkeit, d. h., der Mensch hat nicht nur

einen Leib, er ist Leib. Mit seinem Leib bringt er sich selbst zur Sprache,

tritt er mit anderen in Beziehung. Damit ist auch die Angewiesenheit des

Geistes auf Verleiblichung ausgesprochen: Der Mensch ist ebenso eine

verleiblichte Geistigkeit. er bedarf des Mediums „Leib“, er kann sich nur

mittels der Leiblichkeit (Sprache, Gebärde u. a.) „zur Sprache“ bringen.

1 Überlieferungsstrang des Alten Testamentes um 1000 v. Chr 2 um ca. 500 v. Chr. 3 Dieses Zusammenspiel zweier Aspekte, die zusammen ein ganzes Vollkommenes

ergeben, finden wir weiter unten bei Ausführungen über Yin und Yang wieder.

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Leib/Körper und Geist stehen in wechselseitiger Beziehung. Der Leib ist

das Ausdrucksfeld des Geistes und zugleich der Ort, wo Geistiges – z. B.

persönliche Beziehung - wahrgenommen wird und auf den Menschen

wirkt. So haben körperliche Erfahrungen auch Einfluss auf das geistige

Wohlbefinden. Es besteht eine Dynamik von außen nach innen und von

innen nach außen. Davon ist heute nicht nur die Philosophie überzeugt,

sondern auch die Medizin bekennt sich immer mehr zu dem

Zusammenhang von Psyche und Physis, z. B. durch die Anerkennung

Psychosomatischer Erkrankungen.

2.2 im Daoismus

Das Zusammenspiel von Körper und Geist sowie dem Atem ist ein

wesentlicher Aspekt des Daoismus und aller ostasiatischen

Weltanschauungen und Religionen.

Daoismus, auch als Taoismus bezeichnet, ist eine chinesische

Philosophie und Weltanschauung, und wird als Chinas eigene und

authentische Religion angesehen. Seine historisch gesicherten Ursprünge

liegen im 4. Jahrhundert v. Chr. Neben Konfuzianismus und Buddhismus

ist der Daoismus eine der Drei Lehren, durch die China maßgeblich

geprägt wurde. Auch über China hinaus haben diese drei Lehren

wesentlichen Einfluss auf die Religion und die Geisteswelt der Menschen

in Asien ausgeübt. In China beeinflusste der Daoismus die Kultur in den

Bereichen der Politik, Wirtschaft, Philosophie, Literatur, Kunst, Musik,

Ernährungskunde, Medizin, Chemie, Kampfkunst und Geographie.

Zur Lehre des Daoismus gehören die Fünf Wandlungsphasen, die Lehre

vom Qi, Yin und Yang und das Yi Jing (I Ging, das Buch der

Wandlungen), aber auch die Tradition der Körper- und

Geisteskultivierung wie Qi Gong und Tai Chi Chuan. Sie dienen der

Gesunderhaltung, bzw. der Vorbeugung von Krankheiten sowie der

Heilung. Das größte Glück eines Chinesen ist ein langes Leben, das er in

Harmonie verbringen darf, im Einklang mit sich selbst und seiner

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Umgebung, ja das eigentliche Ziel ist es, die Unsterblichkeit zu erlangen.

Die Lehre des Buddhismus spezifiziert diesen Weg durch die Lehre der

Wiedergeburt. Das Zeitverständnis ist nicht linear sondern zyklisch. Der

Mensch bestimmt durch ein gutes Leben selbst seine Zukunft, so dass er

ins Nirwana, die absolute Leere, in totaler Harmonie mit der Schöpfung

eingehen kann.

2.2.1 Yin und Yang

Das Dao ist die anfängliche Einheit, das kosmische Gesetz und Absolute.

Es ist das Unfassbare und Unsagbare, die unbegrenzte Transzendenz, wie

auch die dem Kosmos innewohnende Immanenz.

Das Symbol dieser Lehre, das den Spannungsbogen dieser zwei Kräfte

ausdrückt, ist das Dao-Zeichen. Ein Kreis wird mit einem Bogen - „S“ -

geteilt. Diese zwei Kräfte Yin und Yang, im Symbol hell und dunkel,

stellen als dynamisches Paar Gegensätze dar, die es in ihrer reinen Form

nicht gibt. Im Yin ist immer etwas Yang enthalten und umgekehrt im

Yang etwas Yin. Im Symbol wird es durch den je andersfarbigen Punkt

gekennzeichnet. Das Symbol bezeichnet die Ergänzung widerstreitender

und sich vereinigender Kräfte. Beide zusammen bilden

die Gesamtheit, das Ganze. Wächst Yang, verringert sich

Yin und umgekehrt. Im gesunden Leben sind beide Kräfte

in einem ausgewogenen Verhältnis. Steht Yang für den

verbrauchenden Prozess, so steht Yin für den ansammelnden Prozess.

Yang gehört zu den Kräften, die der Anwendung dienen, Yin zu den

Kräften, die der Pflege des Inneren dienen. Die Kräfte der Natur lassen

sich ebenso zuordnen. So gehört zum Beispiel zu Yang die Sonne, die

Helligkeit, der Tag, Feuer und Energie. Yin ist demnach der Mond, die

Dunkelheit, die Nacht, Wasser und Materie.

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2.2.2 Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM)

Die Traditionelle Chinesische Medizin, TCM, ist eng mit der Denkweise

des Daoismus verbunden. Sie geht davon aus, dass ein Körper gesund ist,

wenn sein Energiehaushalt in Ordnung ist, wenn die Lebensenergie, das

Qi, frei fließt, das heißt, dass Yin- und Yangenergien im ausgewogenen

Verhältnis stehen.

Die Leitbahnen des Qi sind die Meridiane, die feinschichtig und

vielschichtig den ganzen Körper durchziehen. Im Wesentlichen werden

12 Hauptmeridiane und zwei zentral mittig den Körper in der Vertikalen

entlang laufende Sondermeridiane (Du Mei und Ren Mei) unterschieden.

Ihre Existenz und Funktionsweise lässt sich aus Jahrtausende alten

Erfahrungen beschreiben. Die im Körper verlaufenden Meridiane, denen

Organfunktionskreise zugeordnet sind, kann man ebenfalls in Yin- und

Yangmeridiane unterscheiden, ebenso die zugehörigen Organe. Im

Groben sind Speicherorgane Yin-Organe, Hohlorgane gehören zum

Yang. An manchen Stellen des Körpers treten die Meridiane mehr an die

Oberfläche. Mit diesen Akupunkturpunkten beeinflussen Mediziner den

Energieausgleich und lösen Blockaden. Sie werden aber auch bei Qi

Gong Übungen aktiviert und ebenso bei der Tui Na An Mo, einer

Selbstmassage.

Wie in jeder ganzheitlichen Medizin wird auch in der TCM jede

Krankheit, jede Störung des Energieflusses, mit ihrem Zusammenhang

auf der psychischen Ebene gesehen. Diesen Zusammenhang zeigt

insbesondere die Fünf Elemente Lehre auf, worauf ich hier nicht weiter

eingehen möchte. Zur TCM gehören Moxa (Beeinflussung des Qiflusses

durch Erwärmung), Kräuter (Ernährung), Nadeln (Akupunktur),

Steinchen (Reflexzonen/Schröpfen) und im Wesentlichen Qi Gong und

Tui Na.

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2.3 Zusammenschau und Abgrenzung von Daoismus

und Christentum

Es ging mir in diesem Kapitel um die Einheit und dynamische

Verbundenheit von Leib, Geist, Seele in zwei ansonsten völlig

verschiedenen Religionen und Weltanschauungen. Den wesentlichen

Unterschied will ich deshalb hier nicht außer Acht lassen.

Geht es dem Daoismus primär um den Ausgleich aller Kräfte, so dass der

Mensch in vollkommener Harmonie leben und dann ins absolute

Universum, das dem Dao entspringt, eingehen kann, in die absolute

Leere, die Zugleich seine Erfüllung darstellt, - der Buddhismus nennt es

Nirwana -, so sieht sich das Christentum einem Schöpfergott gegenüber,

den es als Person versteht, ja als einen Gott in drei Personen.

Der Christ findet seine Identität von Leib, Geist und Seele, insofern er

seinem ihm von Gott zugedachten Bild entspricht und sich dahin

entwickelt. C. G. Jung spricht vom Prozess der Individuation. Indem der

Mensch sich selbst findet, findet er Gott. So spricht Meister Eckhart4:

„Mensch suche dich selbst, und wenn du dich gefunden hast, lass ab von

dir!“ Dies gilt auch wechselseitig: Insofern der Mensch Gott findet,

findet er sich selbst. Die Heilige Theresia von Avila kann daher Gott

sprechen lassen: “ Oh Seele suche dich in Mir. … Und wenn dein Sehnen

Mich nicht findet, dann such nicht dort und such nicht hier, gedenk, was

dich im Tiefsten bindet, und, Seele, suche Mich in dir.“ Dieses Ziel, diese

Gott-Einheit, lässt sich aus menschlicher Kraft nicht erreichen. Der

Christ sieht sie als Gnade, als Geschenk Gottes.

Im christlichen Glauben kommt Gott in seiner unendlichen Liebe dem

Menschen entgegen, nimmt ihn bedingungslos an und schließt mit ihm

einen Bund der Liebe5, so dass er ihm Partner ist und der Mensch ihn

ansprechen kann im Gebet. Gott ist Schöpfer der Welt und ein sich in der

Geschichte immer wieder offenbarender Gott. Davon spricht die Bibel,

das kann jeder Christ im persönlichen Leben erfahren.

4 Mystiker, 13. Jhdt 5 Bund u. a. mit Abraham, Isaak, Noah, Hagar, - im Christentum speziell durch Jesus, persönlich in der Taufe

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Dieses Gottesbild unterscheidet sich radikal vom Denken des Daoismus,

der keinen Gott, erst recht keinen persönlichen Gott, kennt. Wohl ist von

dem „Unsterblichen“ zu hören, auch in Qi Gong Übungen, der das Ziel

des ewigen Seins erreicht hat durch das „Geschehen lassen“, das Wu wei.

Dadurch zeigen sich dann auch Unterschiede in der Frage der sozialen

Mitverantwortung, der Nächstenliebe und Weltveränderung, die auf der

einen Seite China, andererseits die westliche Welt, das „christliche

Abendland“ bis in die Neuzeit geprägt haben.

Wer die Gegenwart Gottes im eigenen Herzen intensiv erlebt, erkennt

seine Gegenwart in allen Menschen, besonders in den Kranken und

Armen und fühlt sich herausgefordert zur Gottes- und Nächstenliebe, die

untrennbar miteinander verbunden sind.

Auch unterscheidet sich das zyklische Zeitverständnis des Daoismus

(Reinkarnation) von dem linearen des Christentums (von der Erschaffung

bis zur Vollendung der Welt). Ein wesentlicher Unterschied im Kern des

Glaubens ist die Frage der Selbsterlösung gegenüber dem

Erlösungsglauben durch Jesus Christi Tod und Auferstehung.

Uns beschäftigen hier primär die philosophischen Zusammenhänge wie

oben beschrieben, die Einfluss auf die Meditations- und

Bewegungsübungen Qi Gong und Tanz haben.

Auf dieser Basis möchte ich mich einem weiteren Vergleich stellen und

nachprüfen, wie christliches Gebet als Körperausdruck sich mit

Bewegungen des Qi Gong erfahren lässt. Lässt sich christlicher Inhalt in

einer Körpersprache, die dem daoistischen Denken entspringt, mitteilen?

Gibt es Grundzüge der Ausdrucks- und Wirkweisen des Qi Gong, die

universal gültig sind?

3 Meditation in Bewegung im Qi Gong

Qigong zählt durch die meditativen Techniken zur inneren Alchemie des

Daoismus. Alles Leben ist Bewegung. Auch der regungslos in sich

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versunken erscheinende Mensch ist in Bewegung. Das Blut fließt, der

Atem fließt, das Qi, die Lebensenergie, fließt. Stünde es still, wäre der

Mensch gestorben. Insbesondere im Qi Gong zeigt sich der

Zusammenhang und das Wechselspiel von Ruhe und Bewegung. Mal

liegt der Schwerpunkt auf der Bewegung in der Ruhe und mal auf der

Ruhe in der Bewegung. Neidan, das innere Elixier, bezeichnet

Atemübungen und innere, meditative und konzentrierende Qigong-

Übungen. Innerhalb des Neidan gibt es Unterscheidungen zwischen

Übungen mit Bewegung oder in bestimmten Körperhaltungen, Übungen

des Nährens des Qi, Massage (Tui Na) und medizinisches Qigong. Alle

Übungsformen des Qi Gong wollen Geist und Körper mit Hilfe der

Atmung, Bewegung und Vorstellungskraft zur Harmonie führen. Dabei

gilt es, folgende Prinzipien zu berücksichtigen:

Entspannung, Ruhe und Natürlichkeit

Vorstellungskraft und Qi folgen einander

Bewegung und Ruhe gehören zusammen

Oben leicht, unten fest

das richtige Maß

Schritt für Schritt üben6

Die Qi Gong Übungen bestehen aus einfachen, leicht zu erlernenden und

doch intensiv wirkenden Bewegungsabfolgen. Trotz der Sanftheit und

Elastizität haben sie eine effektiv wahrnehmbare medizinische Wirkung

auf die Blutgefäße und Gewebe und harmonisieren die inneren

Organfunktionen.

Qi Gong ist kein stumpfes Training, sondern inspiriertes Tun. Der

Vorstellungskraft kommt eine große Bedeutung zu. Die Namen der

Übungen beeinflussen die Vorstellung. Doch noch wichtiger ist es, die

Gedanken auf Punkte, Funktionskreise, Meridiane oder Energiezentren

im Körper zu zentrieren. Somit entsteht eine bewusste innerliche

Bewegung.

6 nach Prof. Jiao Guorui

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Die einzelnen Übungen berücksichtigen die Prinzipien des Yin und

Yang. Sie aktivieren gezielt Meridiane durch dehnen und

zusammenziehen, anspannen und entspannen, steigen und sinken mit

dem Körper, einatmen und ausatmen. Wringende und drehende

Bewegungen aktivieren ebenso das Qi. Die konzentriert ausgeführten

Bewegungen beeinflussen den Energiefluss und machen den Geist frei.

Sie führen in die Ruhe und Ausgeglichenheit. Durch die

Vorstellungskraft als aktive Imagination erfährt der Übende in den

verschiedenen Körperhaltungen und Bewegungen Gefühle, die dem

gedachten Bild entsprechen. Die Symbole entfalten ihre Symbolkraft,

ohne dass sie bewusst gemacht werden muss. Zum Beispiel kann die

Übung „Den Affen abwehren“ zum aktiven Selbstschutz beitragen, und

„Fliegen wie eine Wildgans“ ein leichtes frohes Gefühl entwickeln. „In

den ‚Reitersitz‘ gehen und stoßen“ gibt Kraft und lenkt Aggressionen

kontrolliert nach außen. Und „Das Qi in die Mitte zentrieren“ lenkt die

Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt in die Körpermitte. Der Geist und die

Gedanken kommen zur Ruhe bei gleichzeitiger großer Wachheit.

Die Formenvielfalt des Qi Gong geht in die Tausende. In China werden

diese Übungen seit mehr als 2000 Jahren praktiziert und haben sich in

einzelnen Regionen unterschiedlich weiterentwickelt. Alle entsprechen

den oben genannten Prinzipien.

4 Meditation in Bewegung im Tanz

Eine Sonderform der Meditation, die in Deutschland in den 1970er

Jahren insbesondere durch den Balletttänzer Bernhard Wosien neu

entdeckt und später durch seine Tochter Maria-Gabriele weiterentwickelt

wurde, ist die Meditation des Tanzes. Wosien bemerkte bei seinen Reisen

vornehmlich nach Ost-Europa, dass das Tanzen dort zum öffentlichen

Leben dazu gehört. Schnell finden sich Gruppen zum Kreistanz

zusammen. Die wiederkehrenden Schrittfolgen wirken ähnlich wie ein

Mantra oder ein getanztes Mandala und „verdichten“ das

gemeinschaftliche Erleben.

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Maria-Gabriele Wosien sieht im Tanzen traditioneller Reigentänze

rückbeziehend auf die griechische Mythologie eine Möglichkeit der

Selbsterfahrung in Gemeinschaft, einen „Wegweiser für eine neue

Innerlichkeit“. „Durch das Zusammenwirken musischer Kräfte und

ganzheitlicher Bewegungsinhalte wird jede fixierte Position

eingeschmolzen. In völliger Sammlung, im Gleichgewicht des Körpers

und des Geistes, wird im Tänzer gesteigerte Klarheit und

Empfindsamkeit geweckt.“7 Die Seele, der Geist, wird frei. Der Tanz ist

nicht nur gemeinschaftsstiftend, sondern führt den Menschen zu sich

selbst, zu seiner Mitte, zu einer inneren Gelöstheit. Meditierendes Tanzen

„vermittelt ein Wissen um das Auf-dem-Weg-Sein, ja des

Geführtwerdens. Es vermag den Menschen innerlich weit und bereit zu

machen, sich zu öffnen für das, was ihn übersteigt, für das Geschenk des

‚zweiten Schrittes‘ von ‚innen‘ nach ‚oben‘, von der Selbst-Erfahrung

zur Du-Erfahrung.“8 Der Tanzende öffnet sich für das, was ihn

übersteigt: die Transzendenz. Ist der Tanzende ein Christ, wird die

religiöse Dimension im Tanz mit seinem Glauben korrespondieren. Er

wird tanzend seinem Gott näher kommen.

Nicht jede Tanzmeditation ist automatisch Gebet, was leider unreflektiert

oft gesagt wird.9 Aber sie kann zum Gebet werden. Die Bibel liefert

vielfache Hinweise auf Tanzen als Gebetsform, insbesondere in den

Psalmen. „Schließt Euch zusammen zum Reigen“ (Psalm 118), „Seinen

Namen sollen sie loben beim Reigentanz“ (Psalm 149), „Lobt ihn mit

Pauken und Tanz“ (Psalm 150). Im Buch Samuel heißt es, „David und

das ganze Haus Israel tanzten und sangen vor dem Herrn mit ganzer

Hingabe. (2. Buch Samuel)

7 Maria-Gabriele Wosien, Sakraler Tanz, Der Reigen im Jahreskreis, München1988 8 vgl. Gabriele Wollmann, Christliche Tanzmeditation in „Christ in der Gegenwart“ 1992 9 z. B. von Marie-Luise Soltmann, vgl. Im Kreis um die kosmische Mitte, Meditatives Tanzen, Freiburg i. Br., 1989

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5 Tanz als Erlebnis- und Ausdruckform im Vergleich

mit Qi Gong Übungen

5.1 Der Tanzraum des Tänzers und der

Bewegungsraum im Qi Gong

Wie sich der Mensch beim meditierenden Tanzen erleben kann, habe ich

im vorherigen Abschnitt angedeutet. Doch so wie der Tanz, insbesondere

der Meditationstanz, Einfluss auf den Menschen hat, ist Tanz auch eine

„Sprache“, ein Ausdrucksmittel des Menschen für seine Befindlichkeit.

Je stimmiger der Tanz ist, je mehr er im Herzen des Tanzenden Raum

gewinnt, umso eher kann der Tanzende in den Gebärden und Schritten

sich selbst zur Sprache bringen.

Im Gegensatz zur Pantomime und zu anderen menschlichen

Bewegungen, geht es beim Tanzen nicht um eine zweckgebundene

Handlung oder um eine körperliche Ertüchtigung (Sport), sondern primär

um einen Ausdruck einer Befindlichkeit, einen Ausdruck der Seele.

Dieser Ausdruckstanz lässt sich nur schwer beschreiben. Rudolf von

Laban10

fand dazu Mitte des letzten Jahrhunderts einige Kriterien, die ich

hier gerne erwähnen möchte, da ich diese Qualitäten bei Qi Gong

Übungen wieder entdecke.

Da ist zunächst der Tanzraum des Tänzers selbst. Um unseren Körper

herum befindet sich die „Kinesphäre“, unsere Bewegungskugel. Sie

reicht so weit, wie unsere Gliedmaßen ihn umschreiben können, es ist der

so genannte Umraum des Tänzers. Ein zweiter Tanzraum ist der

Innenraum. Das Augenmerk liegt auf der inneren Bewegung. Ein

geschulter Tänzer kann seine Gefühle sprechen lassen ohne großartiges

Gestikulieren. Der dritte Tanzraum ist die Weite. Tanz kann den

physikalischen Raum überschreiten, in die Welt hinaus agieren und diese

in die Wahrnehmung hineinholen.

Qi Gong Übungen erfassen ebenfalls alle drei Räume. Der Schwerpunkt

Weite ist dabei m. E. vermehrt dem Tai Chi zuzusprechen. Alle

10 ungarischer Tänzer und Choreograf

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Bewegungen im Umraum werden von Innen her aus der Körpermitte

gesteuert, in der der Übende stabil ist. Nur so kann er seinen Umraum

nutzen und sich in die Weite öffnen. Ein guter Tänzer ist beim Tanz in

allen seinen Muskeln „Zuhause“. Seine Aufmerksamkeit gilt dem

gesamten Körper und nicht nur den sich gerade bewegenden Gliedern. So

sind auch Qi Gong Übende bei allen Bewegungen mit ihrer

Aufmerksamkeit im inneren Geschehen. Dabei liegt der Schwerpunkt in

etwa im Verhältnis 70 : 30 beim Innen gegenüber dem Außen und beim

Unten gegenüber Oben.

5.2 Prinzipien von Yin und Yang im Tanz und im Qi Gong

So, wie sich tänzerisches Erleben und tänzerischer Ausdruck gegenseitig

bedingen, so sind auch im Qi Gong innere und äußere Bewegungen

miteinander verbunden. Die Lehre von Yin und Yang (s. o.) bringt diesen

Zusammenhang zur Sprache.

Ausdehnende Bewegungen werden dem Yang zugeordnet,

zusammenziehende dem Yin, einatmen und steigen dem Yang, ausatmen

und sinken dem Yin. Das Steigen beruht auf dem Sinken, Yang gründet

sich auf Yin.

Bei Meditationstänzen als formgebundene Kreistänze hat sich eine feste

Handhaltung entwickelt: Die rechte Handfläche zeigt nach oben, die

linke nach unten. Hilda-Maria Lander und Maria Regina Zohner, zwei

Choreografinnen, verweisen auf ägyptische Wandmalereien, bei denen

unter anderem Tempeltänzerinnen in dieser Haltung dargestellt sind.

Zusätzlich ist hier die rechte Hand erhoben, die linke gesenkt. Ihre

Deutung: Sie tragen den Himmel und stützen die Erde weiter. Der

Mensch ist eingebunden zwischen Himmel und Erde, das ist auch eine

Grundaussage und Erfahrung des Qi Gong. Wir stehen zwischen Yin, der

Erdkraft, und Yang, der Himmelskraft. Wenn beim Tanzen sich die linke

Hand auf die rechte der Partnerin legt, wird ein Energiekreis geschlossen.

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5.3 Bewegungsrichtung – Antriebselemente

- Antriebsreaktionen

Schauen wir auf den Tanzraum, in dem sich ein Tänzer bewegt, so

erkennen wir zu jeder Bewegungsrichtung eine Gegenrichtung. Die

Hauptrichtungen sind hoch – tief, rechts – links, vorne – hinten. Diese

lassen sich nun noch durch Diagonale und Bögen umschreiben. Der

Bewegungsraum beim Qigong ist derselbe.

Der Tanz und das Qi Gong kennen Antriebselemente, die deutlich

Kontraste aufweisen. Eine Bewegung kann sein:

- fest (kraftvoll) oder zart,

- direkt oder indirekt (= flexibel),

- plötzlich oder allmählich.

Laban unterscheidet entsprechend den Antriebselementen acht

elementare Antriebsreaktionen:

1. drücken ist fest, direkt, allmählich

2. flattern ist zart, flexibel, plötzlich

3. stoßen, ist plötzlich, direkt, fest

4. schweben (fliegen) ist allmählich, flexibel, zart

5. wringen ist flexibel, allmählich, fest

6. tupfen ist direkt, plötzlich, zart

7. peitschen ist plötzlich, fest, flexibel

8. gleiten ist allmählich, zart, direkt

Ferner lassen sich Bewegungen der Gliedmaßen in synchron und

asynchron unterteilen.

Qi Gong Kenner entdecken unschwer die Möglichkeit, ihre Übungen

diesem Vokabular zuzuordnen.

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18

5.4 Zusammenfassung

Wenn nun beide Bewegungsarten, Tanz und Qi Gong, denselben

Bewegungskriterien entsprechen und beide zur Meditation und zum

ganzheitlichen Erleben von Körper, Geist (Seele) und Atmung führen,

dann muss meditierendes Tanzen sich des Spannungsfeldes von Yin und

Yang bewusst sein, dann müssen sich Qi Gong Formen in den Tanz

integrieren lassen und dann muss auch ein Gebet mit Qi Gong Übungen

möglich sein.

Bei allen meinen Choreografien von Kreis- und Gebetstänzen bemühe

ich mich seit langem, den Aspekten von Yin und Yang Rechnung zu

tragen, und merke an den Reaktionen der Teilnehmenden, dass darin ein

großer Gewinn liegt. Teilnehmer/innen nehmen diese Tänze als

besonders stimmig mit ihrem Fühlen und als heilsam wahr, ohne dass sie

die Hintergründe reflektieren, wie wir das hier tun.

6 Beispiele aus Kreistänzen

Jetzt ausführlich Tänze zu erläutern würde den Rahmen genauso

sprengen, wie die Schilderung gezielter Qi Gong Übungen.

Beispielhaft sei ein einfacher Reigen genannt. „Tatenda“ zur Musik von

Johnny Lamprecht im 6/8 Takt. Der Kreis bewegt sich mit 2 Schritten zur

Mitte (Yin), mit 2 schnelleren Schritten nach rechts, d. h. in die

Tanzrichtung, der Sonne entgegen (Yang), mit 2 Schritten rückwärts

zurück (dehnt sich aus - Yang), dann wird der freie Fuß bewusst an den

anderen angestellt (erdbetont – yin).

Weiter verweise ich auf meinen Tanz „Tambe“, Musik: Johnny

Lamprecht, wird veröffentlicht in Jestädt, Neue Traumtänze, Münster

2013. Die Übersetzung des Textes: „Singt und tanzt unserem Gott,

halleluja.“ In einem ersten Teil tanzen wir zu dieser afrikanischen Musik

mit Stampfschritten zur Kreismitte, dann stampfen wir mit denselben

Schritten, jedoch mit dem Blick nach außen zurück. Wir betonen also die

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Erdverbundenheit und Wahrnehmung von Innen und Außen. In einem

zweiten Teil bewegen wir aus der Körpermitte heraus die Arme parallel

in der Horizontalen wie „zwei Mühlsteine drehen“. Die inhaltliche

Deutung: Wir sprechen die Welt an (Bewegung nach außen – Yang,

Blick zur Kreismitte (Yin). Der dritte Teil legt Wert auf eine Ausrichtung

des ganzen Menschen zu Himmel. Die Arme werden erhoben. Der

Körper steht still – fest -: Sammlung, tiefer Atem. Das leichte Yang des

Himmels wird aufgenommen, bevor wir wieder mit festem Schritt

erdzugewandt weitertanzen.

Ein drittes Beispiel: Ein Kanontanz

1. Teil: „Bleib bei uns, Herr Jesus, bleib bei uns, damit sich hier und

jetzt – Erde und Himmel berühr‘n.“

2. Teil: „Regenbogen, Zeichen für uns, dass sich – Erde und Himmel

berühr’n.“

3. Teil: „Mutter Erde, erzähle uns neu, wie sich – Erde und Himmel

berühr’n.“ (Musik: Ulrich Walters)

Wenn auch in drei unterschiedlichen Gruppen getanzt wird, so finden

sich doch alle Tanzenden zu „Erde und Himmel berühr’n“ wieder als ein

Kreis zusammen und zwar derart, dass – in Ähnlichkeit zu „Das Flugrad

drehen“ aus 18 Bewegungen Tai Chi Qi Gong, Teil 1 – sich alle nach

rechts unten wenden, mit beiden Armen parallel einen Kreisabschnitt

beschreiben, die rechte Hand auf Brusthöhe anhalten mit der Handfläche

nach oben. Den linken Arm drehen sie weiter, so dass er sich mit der

Handfläche nach unten auf die rechte Hand der linken Nachbarin legen

kann. Der Energiekreis (s. o.) ist geschlossen.

Zum ersten Kanonteil verdichtet sich der Kreis und dehnt sich wieder aus

(Yin und Yang), zum zweiten Teil praktizieren alle „den Regenbogen

schwingen“ aus 18 Bewegungen, Teil 1 (Yang). Im dritten Teil gehen die

Tanzenden mit festen Schritten, bei denen sie das Körpergewicht bewusst

an den Boden abgeben (Yin) in Tanzrichtung, gegensonnen (Yang).

Das soll als Beispiel aus der Praxis von Kreistänzen reichen.

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7 Das „Vater unser“ im Qi Gong

Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen und Tanzgebärden näher

betrachten. Wie beim „Regenbogen schwingen“ (s. o.) sich schon gezeigt

hat, gibt es zwischen Worten und Bewegungen oft eine

Deckungsgleichheit. Wenn eine Jahrtausende alte Qi Gong Bewegung

mit dem Körperausdruck und der Körpererfahrung stimmig ist, kann sich

eine authentische Tanzgebärde zum selben Thema in ihrer Wirkung nicht

so arg davon unterscheiden.

In vielen Gemeinden ist es heute üblich, das „Vater unser“, das Gebet

Jesu, mit Gebärden darzustellen. Ich selbst habe es in vielen Gruppen,

auch Kindergruppen, erarbeiten lassen, oft mit der Frage: „Wenn ihr

nicht reden könntet,…“, immer aber auch mit dem Hinweis: „Wir

machen keine Pantomime! Was bewegt Euch bei den Sätzen? Was

empfindet ihr? Wie zeigt sich das?“

Ich beziehe mich hier auf den lateinischen und den deutschen Text. Man

kann die Bewegungen vollziehen und innerlich den Text sprechen. Das

bietet sich an, um nicht an ein zeitliches Schema gebunden zu sein.

Ich bewege mich gerne zu der lateinischen Fassung von Franz Liszt.

Dieser choralähnliche Gesang ist vom Ursprung her meditativ angelegt.

Choräle sind seit dem 6. Jhdt Bestandteil der Liturgie und werden heute

vor allem in Klöstern weiter gepflegt. Eine andere meditative Vertonung

auf Deutsch findet sich auf der CD: Gesänge aus Taizé.

Ich beziehe mich mit den Übungsformen auf Qi Gong Übungen aus dem

Tai Chi-Qi Gong, 18 Bewegungen Teil 1 nach der Lehre von Prof. h. c.

Sui QingBo und Meisterin Du Hong Lena, LaoShan Zentrum Hamburg

und Peking, sowie Formen des Herz Qi Gong aus dem Daoyin

Yangsheng Gong.

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1 Pater noster

qui es in coelis

Vater unser im

Himmel

„Die Brust öffnen und

weitherzig sein“

(18 Bewegungen 1, Übung 2)

2 sanctificétur nomen

tuum

geheiligt werde

dein Name

„Den Regenbogen schwingen“

(18 B 1/ Ü 3)

3 adveniat regnum

tuum

dein Reich komme Das Qi in den Körper fließen

lassen. Handflächen zeigen zum

Körper

4 fiat voluntas tua dein Wille

geschehe

Die Handflächen vor dem

Unterbauch übereinanderlegen –

Lao Gong auf Lao Gong, leicht

neigen

5 sicut in coelo et in

terra.

wie im Himmel so

auf Erden

„Die Wolken teilen“ (18 B 1/ Ü

4)

6 Panem nostrum

cotidianum da

nobis

hodie

Unser tägliches

Brot

gib uns

heute

Handflächen vor dem unteren

Dantian als Schale übereinander

legen, Handflächen oben, Lao

Gong auf Lao Gong,

„Ball halten“, die li Hand

wendet sich,

den Ball ziehen, bis li Hand

über der re Hand der li

Nebenstehenden ist.

(Ballhaltung mit dem Nachbarn)

und zurückführen.

7 et dimitte nobis

debita nostra

und vergib uns

unsere Schuld

Schlussteil aus „Der Pirol

flattert mit seinen Flügeln“

(Herz Qi Gong, 4): Hände nach

vorne wenden, Handrücken

streichen unter den Achseln her

den Rücken entlang nach unten.

Schultern drehen.

8 sicut et nos

dimittimus

debitoribus nostris

wie auch wir

vergeben unseren

Schuldigern

„Den Körper drehen und den

Mond anschauen“ (18 B 1/ Ü 8)

9 et ne nos inducas in

tentationem;

und führe uns nicht

in Versuchung

„Den Affen abwehren“ (18 B 1/

Ü 5)

10 sed libera nos a

malo

sondern erlöse uns

von dem Bösen

Hände als Dreieck öffnen, zum

großen Kreisbogen

auseinanderziehen bis seitl. an

den Körper.

11 Quia tuum est

regnum, et

potestas, et Gloria

in saecula

Denn Dein ist das

Reich und die

Kraft und die

Herrlichkeit in

Ewigkeit

„Das Qi in den Körper füllen“

(18 B 1 und 18 B 2 / Ü 18), Yin-

Energie aufnehmen, mit Yang-

Energie mischen und in den

Körper füllen bis ins untere

Dantian.

12 Amen Amen Gürtelmeridian ausstreichen,

Handflächen zusammenlegen

und verneigen.

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7.1 Beschreibung und Deutung

zu 1 – Vater unser im Himmel

„Die Brust öffnen und weitherzig sein“ ist eine Übung, die das Qi, die

Lebensenergie aufweckt und den Körper weitet. Die Hände werden

schulterbreit bis Brusthöhe gehoben. Dann drehen sich die Handflächen

zueinander. Die Arme werden in Schulterhöhe auseinandergezogen.

Leicht werden die Handgelenke gesenkt und die Pulse zueinander

bewegt. Jetzt werden die Handinnenflächen wieder nach unten gedreht

und je nach Zeit, bzw. Tonträger, wieder gesenkt oder direkt über den

Kopf erhoben, um in die nächste Bewegung zu münden.

Der Mensch steht fest im Hier und Jetzt. Die Wahrnehmung geht in die

Weite. Die Bewegung entspricht einem Kreuz-Zeichen mit einer

vertikalen und einer horizontalen Bewegungsrichtung. Dabei nimmt der

Betende für einen Moment die Orantehaltung ein, die wohl älteste

Gebetsgebärde. Kindern sage ich gerne dazu: Es ist, als ob der gute Gott

als dein Vater dich umarmen möchte.

zu 2 – geheiligt werde dein Name

„Den Regenbogen schwingen“: Über dem Kopf sind die Arme parallel

mit den Handflächen zueinander, die Beine stehen jetzt etwas breiter

auseinander. In einer schwingenden Bewegung richtet sich eine Hand mit

dem Lao Gong Punkt (Mittelpunkt der Handinnenfläche) auf die

Kopfmitte (Baihui). Beugen, d. h., auf dieser Seite leicht in die Knie

gehen, das andere Bein strecken. Die andere Hand senkt sich in einem

leichten Bogen zur Seite mit der Handfläche nach oben. Der Blick geht

über diese Hand hinaus in die Weite. Dann richten wir uns wieder auf,

führen die Hände in die Parallele nach oben und neigen uns zur anderen

Seite.

Der Regenbogen ist ein wichtiges altes biblisches Symbol. Er steht für

den Bund Gottes mit seinem Volk (Buch Noah). Das Volk gedenkt

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immer wieder des Bundes mit Gott und lobt ihn. Den Namen Gottes

heiligen heißt, ihn als Bundesgott achten und ehren.

zu 3 – dein Reich komme

Indem ich aus dem aufrechten Stand die Hände mit den Handflächen zum

Körper parallel herunter führe nehme ich die Kraft, das Qi, aus der Höhe

auf. Ich stelle mich unter das Reich Gottes. Ich erwarte es, lasse es

einfließen.

zu 4 – dein Wille geschehe

Ich sammle mich, lege die Hände vor dem Unterbauch aufeinander – Lao

Gong auf Lao Gong. Sieht es zufällig so aus, als seien sie gefesselt? Ich

füge mich Gottes Willen und neige mich leicht zur Erde.

zu 5 – wie im Himmel, so auf Erden.

Die vorher beschriebene Ausgangshaltung für „die Wolken teilen“ wird

fortgeführt. Die zusammengelegten Hände werden gerade nach vorne

und oben bis über den Kopf gehoben, dem Himmel entgegen. Der Körper

steigt. Dann öffnen sich die Hände, die Handflächen werden nach außen

gedreht und entspannt seitlich kreisförmig nach unten geführt. Yang-Qi,

Himmels-Qi, fließt vom Kopf an den Beinaußenseiten nach unten.

Gedanklich öffne ich die „Tür des Himmels“, den Scheitelpunkt (Baihui).

Ich verbinde Himmel und Erde.

zu 6 – Unser tägliches Brot gib uns heute

In einer fließenden Bewegung werden die Hände weitergeführt. Sie

bilden vor dem Bauch eine Schale. Lao Gong auf Lao Gong. Ist die

rechte Hand unten (bei den Frauen sollte es so sein), ist es die Haltung

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für den Kommunionempfang bei den Katholiken. Ich kann aus dieser

Haltung heraus weitertanzen oder wenn es die Zeit zulässt, mich mit den

anderen verbinden. Dazu wendet sich die linke Hand nach unten, so dass

wir „einen Ball halten“. Diese Energie zwischen den Lao Gong Punkten

kann ich nun dehnen und die linke Hand über die rechte Hand der links

von mir Stehenden führen, während die rechts von mir Betende ihre linke

Hand über meine Rechte hält und mir von sich, ihrer Energie abgibt. Ein

schönes Symbol für die Gemeinschaft und das Teilen! Die Hände finden

wieder zur Ballhaltung zurück.

zu 7 – und vergib uns unsere Schuld

Jetzt wenden wir die Finger zueinander und zum Körper und weiter über

oben nach vorne. Sie beschreiben einen kleinen Kreis und führen die

Arme gestreckt nach vorne. Vom kleinen Finger her werden die Finger

und Arme eingerollt. Die Finger gehen zu den Achselhöhlen. Dann

öffnen sich die Hände und streichen mit dem Handrücken den Rücken

entlang bis zum Gesäß. Die Handflächen bleiben nach hinten gerichtet,

die Arme werden bis Schulterhöhe gehoben. Dann wenden sich die

Handflächen nach vorne. Soweit der Teil der Bewegung aus dem Herz Qi

Gong „Der Pirol flattert mit den Flügeln“.

In der TCM steht der Pirol für Freundschaft. Bei der Bewegung spüre ich

das Abwaschen der schädlichen Einflüsse. Zunächst halte ich die leeren

Hände hin, dann darf ich das Negative abstreifen. Hier wird auch einmal

die Körperrückseite berührt. Zuletzt befreie ich mich aus der

„verdrehten“ Haltung. Schön wäre, wenn die Zeit es zulässt, hier die

Übung noch fortzusetzen, indem sich die Hände einander vor der Brust

nähern und in horizontaler Richtung ausgeschüttelt werden. So kann ich

alles Schlechte loslassen, - abschütteln.

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zu 8 – wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.

Für diese Übung „Den Körper drehen und den Mond schauen“ werden

die Hände vor dem Körper so gedreht, dass die linke nach oben, die

rechte nach unten zeigt. Der Oberkörper dreht sich von der Wirbelsäule

her nach links hinten. Dabei weist der linke Arm schräg nach hinten in

Kopfhöhe, Handfläche zeigt schräg nach oben. Der rechte Arm ist

angewinkelt vor der Brust. Die Fingerspitzen der rechten Hand sind ca.

auf Höhe des linken Ellenbogens. Wir schauen über die linke Handfläche

hinweg in die Ferne, als würden wir zum Mond schauen. Nun wenden

sich beide Hände, sinken in einem Kreis vor den jetzt wieder nach vorne

zeigenden Körper und drehen sich durch die Wirbelsäulendrehung weiter

auf die rechte Seite.

Wenn ich anderen vergeben will, muss ich mich ihnen zuwenden, denen,

die meist in meinem Schatten sind, die ich hinter mir lassen, mit denen

ich nichts zu tun haben will. Ich muss einen anderen Blickwinkel

einnehmen, über mein ICH hinausschauen. Zurückschauen auf das

erlebte Unrecht. Der Mond ist das Symbol für das Unbewusste und

Verborgene, dem ich nun ins Gesicht schauen mag.

zu 9 – Und führe uns nicht in Versuchung,

Eine schwer verständliche Bitte! Führt Gott uns in Versuchung? Andere

Übersetzungen sagen. Und führe uns in der Versuchung, damit wir ihr

nicht erliegen. Ich denke in dem Sinne: Halte die Versuchung von mir

Ferne. Hilf mir, sie abzuwehren. Die Übung „den Affen abwehren“

stammt ursprünglich aus dem Tai Chi, der mehr kämpferischen Form des

Qi Gong.

Die linke Hand wird nach vorne abwehrend ausgestreckt, die Handfläche

zeigt nach vorne. Währenddessen beschreibt die andere einen großen

ausholenden Kreis, über unten nach hinten, oben und wird dann mit den

Fingerspitzen voran am Ohr vorbei geführt, um an der nun sich von

vorne zurückziehenden linken Hand, Handfläche nach oben, vorbei selbst

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in die Abwehrhaltung zu gehen. Jetzt ist die linke Hand schon auf dem

Weg nach hinten in den Kreisbogen. Der Körper dreht sich entsprechend

mit. Der Blick folgt der Handbewegung. Auch die linke wird nach vorne

ausgestreckt, parallel zu der rechten.

zu 10 – sondern erlöse uns von dem Bösen,

Aus der vorherigen Position drehen wir leicht die Fingerspitzen

zueinander und beschreiben nach oben, zu den Seiten und unten einen

großen Bogen, die rechte Hand nach rechts, die linke nach links bis

seitlich an den Körper. Dabei dehnt sich der Brustkorb.

Es sieht aus, als ob die Sonne aufgeht, oder ein Vorhang weggenommen

wird. Das Herz wird weit und frei. Wir stehen aufrecht. Beim Öffnen

werden die Laogong Punkte in den Handinnenflächen und die Shenmen-

Punkte (Tor der Götter) an den äußeren Handgelenken gedehnt.

zu 11 – denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in

Ewigkeit.

Der Körper senkt sich, die Handflächen nehmen seitlich am Körpr

Kontakt zum Boden auf, wenden sich dann, als wollten sie das schwere

Qi der Erde tragen. Beim Aufrichten öffnet sich gefühlsmäßig der ganze

Körper. Die Hände steigen bis über den Kopf. Dabei werden sie ab

Schulterhöhe gefühlt leichter. Das schwere Qi der Erde mischt sich mit

dem leichten Qi des Himmels. Die Handflächen wenden sich zum

Scheitel (Baihui). Beim Senken der Hände vor dem Körper strömt

gedanklich das Qi, die Lebenskraft, in den Körper ein. Die Hände bleiben

vor dem Unterbauch und strahlen dieses Zentrum, das untere Dantian mit

der Qi-Kraft an.

„Ja, Dein ist die Kraft und Herrlichkeit, Dein sind Erde und Himmel und

ich darf an diesen Anteil haben. Du schenkst Deinen Segen, Gott, Du

legst ihn auf mein Herz. Ich darf mich füllen lassen von Dir, denn nur Du

erfüllst mich ganz und stärkst mich.“

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zu 12 – Amen

Die Daumen streichen am Gürtelmeridian (Gürtellinie) entlang nach

außen zu den Körperseiten. Im Kreisbogen werden die Hände vor die

Brust geführt und gegeneinander gelegt. Wir verneigen uns. – „Amen“ -

„So sei es!“ -

Anmerkung zur Ausführung

Ich habe diese Übungen nicht bis ins Detail genau beschrieben, so habe

ich u. a. die Atmung unbeachtet gelassen und das Heben und Senken des

Körpers. Es geht mir darum, eine Idee vorzustellen, wie Qi Gong

Übungen mit ihrem Symbolgehalt, ihrer Wirkung, ihrem

Erscheinungsbild und Empfindungswert mit einem christlichen Gebet

korrespondieren können. Wer Qi Gong kennt kann sicherlich die

Bewegungen nachempfinden. Auch verzichte ich, für Qi Gong unüblich,

auf Wiederholungen.

8 Christliches Beten und Qi Gong

Alle Menschen sind Leib-Geist-Seele-Wesen. Die Jahrtausende alten

Bewegungs-, Erfahrungs- und Ausdrucksformen des Qi Gong haben

allgemein gültigen Charakter. Sie beziehen sich auf Grundlagen des

menschlichen Lebens, die die Grundlage jeder Weltanschauung und

Religion sind.

Für einen Christen, eine Christin kommt eine Glaubensbotschaft hinzu,

die aber nicht den Grunderfahrungen des Menschseins, wie im Qi Gong

erlebbar, widerspricht. So schreibt Sebastian Painadath11

(kath.

Theologe): „Das Erwachen des menschlichen Geistes zum

innewohnenden göttlichen Geist ist das Grundanliegen und die bleibende

11 in Christ in der Gegenwart, Nr. 15/2012

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Gnade des echten Gebets. Eine innere Befreiung von der festgefahrenen

Ich-haftigkeit ist die Grundlage des geistlichen Lebens. ‚Wer an seinem

Leben festhält, wird es verlieren!‘ (Johannesevangelium 12,25) … Durch

das Jesusgebet12

erwacht der Übende zur Gegenwart Christi im ganzen

Kosmos. Da ‚alles in Christus, durch Christus und auf ihn hin geschaffen

ist‘ (Paulus im Kolosserbrief 1,16) wird der Kosmos …durchströmt vom

verwandelnden Geist.“

Christen sollen die Grundhaltung Mariens einnehmen, deren „Ja“-Wort

bei der Verkündigung der Geburt Jesu durch den Engel Gabriel

Grundlage für die Menschwerdung Gottes in Jesus war. Maria sprach:

„Fiat mihi“ übersetzt: „Mir geschehe“ (Wu wei), aber dann „secundum

verbum tuum“ - „nach Deinem Wort“. Der christliche Glaube ist nicht zu

denken ohne das DU, den liebenden Gott, dem wir uns vertrauensvoll

„lassen“ können.

12 s. S. 4 „Jesusgebet“ ist gleich „Herzensgebet“

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9 verwendete Literatur:

Kursunterlagen, Ausbildung zum Qi Gong Kursleiter, Marita und

Caterina Oriolo, Qi Gong-Schule Bergstraße, Im Schelmböhl 53, 64665

Alsbach-Hähnlein 2010/2011

Jiao Guori, Qigong Yangsheng, Chinesische Übungen zur Stärkung der

Lebenskraft, Fft/M 1996

Wikipedia, freie Enzyklopädie im Internet, Artikel „Daoismus“,

November 2012

Maria-Gabriele Wosien, Sakraler Tanz, Der Reigen im Jahreskreis,

München 1988

Gabriele Wollmann, Christliche Tanzmeditation in „Christ in der

Gegenwart“ 1992

Marie-Luise Soltmann, Im Kreis um die kosmische Mitte, Meditatives

Tanzen, Freiburg i. Br., 1989

Kursunterlagen Frieder Mann, Ausdruckstänzer und Choreograph, Das

Leben tanzen, Choreografie-Workshop Stuttgart, 1997

Hinweis zur anliegenden DVD:

Musik:

Franz Liszt, Paternoster

gesungen vom Chor Chiaroscuro Münster

J. Berthier, Taizé, Vater unser

auf der CD: Gesänge aus Taizé

Bemerkung:

Bei Figur 6 „unser tägliches Brot gib uns heute“ zeige ich zwei

Varianten. Zu der lateinischen Fassung dehne ich den „Ball“ zu den

Seiten, so dass beim Kreistanz die danebenstehenden Personen ihre Hand

über bzw. unter meine Hände halten können und wir miteinander einen

„Ball halten“ (Laogong zu Laogong). Bei der kürzeren Taizéfassung

verzichte ich auf diese Gebärde.