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Qumran und das Neue Testament Qumran-Kongress Tel Aviv, Dez. 1997 Die Qumran Funde sind schnell nach ihrem ersten Bekanntwerden Thema der neutestamentlichen Wissenschaft geworden. Texte aus der direkten zeitlichen und räumlichen Umwelt Jesu waren dazu angetan, den Erforschern des frühen Christentums neues Material an die Hand zu geben, mit dem die Entstehung der neuen Religion vielleicht etwas genauer verstehbar wurde. Allerdings hat schon bald nach dem Bekanntwerden der Schriftrollen der Nestor der ntl. Forschung, R. Bultmann, sehr skeptisch gemeint: Eine andere jüdische Sekte aus der Zeit; wir wußten von der Existenz solcher Sekten, viel Neues ist daraus also nicht zu lernen (Vorwort zur Neuauflage der ntl. Theologie). Umgekehrt haben jüdische Forscher nach anfänglichem Interesse, zu dem v.a. auch J. Licht gehört, für einige Jahre das Interesse an Qumran beinahe ganz verloren und mußten es in breiterem Umfang erst wieder zurück gewinnen. Nicht umsonst trägt ein relativ neues Buch von L. Schiffman den Titel Reclaiming the Dead Sea Scrolls. Dabei haben einige Thesen diese Wissenschaft zeitweilig in Gang gehalten und auch für - mehr unwissenschaftliches - Spektakel gesorgt. Für die Folge ist eine Einschränkung wesentlich: Das NT spiegelt nicht eine frühe christliche Theologie wieder, sondern mehrere. Was in den folgenden Ausführungen über frühes Christentum gesagt wird, ist daher zu einem nicht unwesentlichen Teil Ergebnis von Rekonstruktion und historischer Wertung, die als solche notwendigerweise relativ bleiben muß (vgl. Yairas Worte über Lichts Bezug zur Bibelwissenschaft!) Im Gegensatz zu diesem wissenschaftgeschichtlichen Bild wird man aber davon ausgehen müssen, daß in Qumran nicht ein einziger neutestamentlicher Text gefunden wurde. Das berühmte Fragment aus Höhle 7 ist zum einen zu kurz, zum anderen zu lückenhaft, um wirklich als Text des Mk- Evangeliums gelten zu können. Selbst wenn sich diese These dennoch behaupten sollte, würde das einzige Fragment nicht allzu viel am allgemeinen Befund ändern. Noch schlimmer steht es mit Behauptungen, der Lehrer der Gerechtigkeit sei im Grunde der Herrenbruder Jakobus. Über Jakobus wissen wir derartig wenig, daß man ihm fast alles nachsagen kann, ohne auch nur das geringste beweisen zu können. Aber das ist nicht die einzige Zielrichtung, in die eine Untersuchung dieser beiden jüdischen Bewegungen aus dem Ende

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Qumran und das Neue Testament

Qumran-Kongress Tel Aviv, Dez. 1997

Die Qumran Funde sind schnell nach ihrem ersten Bekanntwerden Thema der neutestamentlichen Wissenschaft geworden. Texte aus der direkten zeitlichen und räumlichen Umwelt Jesu waren dazu angetan, den Erforschern des frühen Christentums neues Material an die Hand zu geben, mit dem die Entstehung der neuen Religion vielleicht etwas genauer verstehbar wurde. Allerdings hat schon bald nach dem Bekan-ntwerden der Schriftrollen der Nestor der ntl. Forschung, R. Bult-mann, sehr skeptisch gemeint: Eine andere jüdische Sekte aus der Zeit; wir wußten von der Existenz solcher Sekten, viel Neues ist daraus also nicht zu lernen (Vorwort zur Neuauflage der ntl. Theologie). Umgekehrt haben jüdische Forscher nach anfänglichem Interesse, zu dem v.a. auch J. Licht gehört, für einige Jahre das Interesse an Qumran beinahe ganz verloren und mußten es in breiterem Umfang erst wieder zurück gewinnen. Nicht umsonst trägt ein relativ neues Buch von L. Schiffman den Titel Reclaiming the Dead Sea Scrolls. Dabei haben einige Thesen diese Wissenschaft zeitweilig in Gang gehalten und auch für - mehr unwissenschaftliches - Spektakel gesorgt.

Für die Folge ist eine Einschränkung wesentlich: Das NT spiegelt nicht eine frühe christliche Theologie wieder, sondern mehrere. Was in den folgenden Ausführungen über frühes Christentum gesagt wird, ist da-her zu einem nicht unwesentlichen Teil Ergebnis von Rekonstruktion und historischer Wertung, die als solche notwendigerweise relativ bleiben muß (vgl. Yairas Worte über Lichts Bezug zur Bibelwis-senschaft!)

Im Gegensatz zu diesem wissenschaftgeschichtlichen Bild wird man aber davon ausgehen müssen, daß in Qumran nicht ein einziger neute-stamentlicher Text gefunden wurde. Das berühmte Fragment aus Höhle 7 ist zum einen zu kurz, zum anderen zu lückenhaft, um wirklich als Text des Mk-Evangeliums gelten zu können. Selbst wenn sich diese These dennoch behaupten sollte, würde das einzige Fragment nicht al-lzu viel am allgemeinen Befund ändern. Noch schlimmer steht es mit Behauptungen, der Lehrer der Gerechtigkeit sei im Grunde der Her-renbruder Jakobus. Über Jakobus wissen wir derartig wenig, daß man ihm fast alles nachsagen kann, ohne auch nur das geringste beweisen zu können.

Aber das ist nicht die einzige Zielrichtung, in die eine Untersuchung dieser beiden jüdischen Bewegungen aus dem Ende der Epoche des zweiten Tempels, der Qumrangemeinde und des frühen Christentums, zu gehen hat. Zwar ist die Essener-Theorie seit der Entdeckung von 4QMMT neuen Debatten ausgesetzt, die noch nicht als abgeschlossen gelten können, aber egal, ob die Qumraner Essener oder eher eine Seitengruppe der Sadduzäer waren: Als Essener oder als Bewohner von Qumran werden sie im NT nirgends erwähnt. Das ist umso er-staunlicher, als die Essener nach Josephus immerhin die dritte Philosophenschule der Juden darstellten.

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Wenn eine jüdische Gruppe am Toten Meer über einen längeren Zeitraum hinweg bestehen konnte,

wenn dieser Gruppe in der modernen Forschung ein beträchtlicher Teil der Aufmerksamkeit geschenkt wird, die u.a. davon abhängt, daß man in den Rollen von Qumran mehr als eine unwichtige Split-tergruppe sehen will,

wenn dieser „Muttersiedlung” von Qumran mehrere Ableger durchs Land verteilt zugesprochen werden

dann muß man sich der Frage stellen, wie es kommen konnte, daß am Ende eine konkurrierende Gruppe aus derselben Epoche von jener anderen einfach keine Kenntnis zu nehmen scheint.

Zwar hat man gelegentlich versucht, hinter den im NT genannten „Schreibern” eine Anspielung auf die Qumraniten zu sehen; aber die Versuche sind problematisch.

Dieses Schweigen der neutestamentlichen Quellen ist umso mehr ein beredtes, als das frühe Christentum konkurrierende Bewegungen und andere Problematiken gerade nicht ausklammert (wie etwa ל¢זח), son-dern betont anspricht: Zwei Evangelien belehren uns, daß die Mutter Jesu zur Zeit ihrer Empfängnis verlobt war - womit zumindest einige halachische Probleme besonders für den Sohn gegeben sind. Aus dem NT entnehmen wir, daß Johannes der Täufer seine eigenen Jünger hatte, von denen einige zu Jesus wechselten, d.h. die Täuferbewegung ist eine Konkurrenz zu der Jesu. Diese Einsicht macht die ganze Polemik um den Täufer im NT sehr viel eher verständlich als das rein theologische Problem, wonach der Gottessohn sich von einem Men-schen hat taufen lassen müssen. Dabei sehen wir von dem Streit zwi-schen Paulus und der Jerusalemer Gemeinde einmal ganz ab, den zu-mindest Paulus sehr ausgiebig vorträgt (Gal 2). M.a.W.: Das frühe Christentum hätte eine wirkliche Beziehung zur Qumrangemeinde mit einiger Sicherheit ansprechen müssen.

Man könnte geneigt sein, dieses Schweigen dadurch zu erklären, daß die ntl. Evangelien ausnahmslos aus der Zeit nach der Tempelzer-störung datieren (so jedenfalls die traditionelle Auffassung in der ntl. Forschung), deshalb also nur solche Gruppen namentlich aufführen, die in jenen Jahren zwischen dem großen Aufstand gegen Rom und der Bar-Kochba-Revolte noch eine gewisse Rolle spielten. Aber ein solches Argument stößt sich mit der Nennung der Hohen Priester, die ihre Rolle zu jener Zeit auch schon mehr oder weniger eingebüßt hatten, da es ja keinen Tempel mehr gab.

Man wird von hier aus zunächst ein genötigt, die Qumran-Gruppe aus einer etwas bescheideneren Perspektive zu sehen: Für die ntl. Autoren sind die Essener keine wirkliche Problematik.

Die intensive Beschäftigung mit den Qumran-Schriften hat der ntl. Wis-senschaft zwar das eine oder andere Detail erklärt (Lk 2: ישנא ןוצר ), let-ztlich aber weit weniger am Gesamtbild geändert als man sich hätte versprechen können. Es scheint, daß der Grund hierfür weniger im Status der Qumran-Gemeinde im Gesamtbild des damaligen Judentums

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liegt, einem Status, der geringer zu veranschlagen ist, als moderne Qumran-Forschung wahrhaben will, als vielmehr im Grundunterschied der Religionstypen beider Gruppen, der Qumraner und der frühen Christen.

Wir wissen verhältmäßig wenig über die Entstehung der Qumran-Gemeinde und über wesentliche Personen, wie den Lehrer der Gerechtigkeit. Umgekehrt wissen wir einiges mehr über die Grün-dungsstadien des frühen Christentums. Doch aufgrund unserer Kennt-nisse der Qumran-Schriften wird man sagen dürfen, daß die Gemein-schaft stark priesterlich geprägt war und ein außerordentliches Inter-esse am Tempel hatte. Nur so sind 4QMMT und 11Q Temp zu verste-hen. Die jährliche Wiederholung eines Bundesfestes - wie immer man dessen Einzelheiten bestimmen will - bezeugt per se ein kultisches An-liegen, wie ebenso die Zentralität des Kalenders. Die stark ausge-prägte eschatologische Hoffnung ist keineswegs spezifisch qum-ranisch, eher ist der ganze Komplex von Aufnahme, Bewährung in der Gemeinde und evtl. Bestrafung durch Ausschluß ein Charakteristikum dieser Gemeinschaft. Die starke Beschäftigung der Qumraniten mit kultischer Reinheit bedarf noch weiterer Diskussion im Rahmen an-derer jüdischer Gruppen der Zeit. Kurz: Der qumranische Typ von Reli-gion ist in weberschen Kategorien ein priesterlicher, konservativ-rhythmisch-kultischer.

All das für Qumran eigentlich Typische findet sich so im ntl. Christen-tum nicht: Von Anbeginn ist die Bewegung Jesu auf seine Figur, seine Taten, seine Worte und seinen Tod bezogen. Eine eigentliche Gemein-schaftsregelung (wie 1QS) kristallisiert sich erst mühsam Jahre nach dem Tod Jesu heraus, und auch hier ist weit weniger deutlich, ob und inwieweit die Schilderung von acta nicht idealisiert sind. Jedenfalls hat sich dieser Jerusalemer Gemeinde-Typ à la acta nicht durchgesetzt. Die Vielfalt von möglichen Organisationsformen und Theologien bleibt zunächst bestimmend. Im Gegensatz zu den wenigen Andeutungen bezüglich der Person des ‘Lehrers’ steht die evangelische Schilderung Jesu, die über Jahrzehnte hinweg so viel Glaubwürdigkeit ausstrahlte, daß die Leben-Jesu-Forschung ganze Bibliotheken von Jesus-Bibliogra-phien hervorbrachte. Diese Entwicklung ist durch Schweitzers ‘Geschichte der Leben-Jesu-Forschung’ zeitweilig abgeklungen, aber in den letzten 15 Jahren erneut ausgebrochen.

Ntl. Christentum beginnt erst in seiner Spätphase, sich in dieser Welt einzurichten, denn am Anfang steht die direkte apokalyptische Er-wartung: Das Gottesreich ist hereingebrochen und wird sich in Kürze mit Macht durchsetzen. Entsprechend heißt es im direkten Anschluß an die berühmte Antwort Jesu an den Täufer (Mt 11, 1-5) „Aber von den Tagen Johannes’ des Täufers an bis jetzt wird das Reich der Him-mel mit Gewalt erstrebt und gewaltsam Ringende reißen es an sich” (ebd. V. 12). Egal ob die Parallelität so historisch ist oder nicht - gemäß den Evangelien beginnen Jesus und der Täufer mit dem Bußruf (Mk 1,15): „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist genaht, tut Buße [und glaubt an das Evangelium]” (// Mt 3,12 über Johannes).

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Die Endzeiterwartung ist noch beim frühen Paulus derart hoch ges-pannt, daß er die Wiederkunft Jesu noch in seinen Tagen erwartet (1Thess 3); in den ersten beiden Generationen wird kaum historisch gedacht: Für die Geburt Jesu gibt uns das NT mindestens zwei ver-schiedene mögliche Termine an die Hand; sein Todesjahr ist nicht mehr sicher feststellbar. Das ändert sich erst mit dem Tod Pauli und der Zerstörung der Jerusalemer Gemeinde. Aber auch dann ist christliche Geschichtsschreibung zuerst noch Missionsliteratur. Erst die allmähliche Einsicht in die Verzögerung der Wiederkunft Jesu stellt die Redaktoren der Evangelien und spätere Theologen vor Probleme, die durch Eingriffe in die Tradition scheinbar bewältigt werden.

Man mag den Unterschied zwischen diesem apokalyptischen Bußruf Jesu und des Täufers einerseits und der qumranischen Endzeit-Er-wartung (wie z.B. in 1QM) als erlebte Apokalypse gegenüber einer eher etwas akademisch-theologischen Eschatologie nennen: 1QM und andere verwandte Texte zeigen ein ganzes System von Zukunftser-wartungen, deren Einwirkungen auf das Gemeindeleben dann durch eine Reihe von Vorschriften vielleicht deutlich gemacht werden kann, aber von der Einstellung des ntl. Christentums der ersten Generatio-nen völlig verschieden ist.

Die Unmittelbarkeit des Anrufs Jesu ist nicht gedacht, die so Angerufe-nen in eine Gemeinschaft zu rufen, ihnen eine Gemeindeordnung wie die Sektenrolle aufzustülpen, sie an Reinheitsgesetze zu erinnern etc. Es geht Jesus auch nicht um den geradezu kosmischen Kampf der Söhne des Lichtes gegen die Söhne der Finsternis. Selbst die apokalyp-tische Gerichtsschilderung z.B. Mt 24f aber auch schon Mk 13 sind im Prinzip an den Einzelnen gerichtet. Es geht dabei um das unmittelbare Erleben des bevorstehenden Gerichts, der damit für die meisten zusammenhängenden Verurteilung und Bestrafung als Anrede an den je Einzelnen. Johannes mag diese Sicht etwas übertrieben geschildert haben, aber im Prinzip ist er der Verkündigung Jesu durchaus nahe, wenn der jeweils Angeredete nach seiner Konzeption durch die Weige-rung, den Ruf anzunehmen, bereits gerichtet ist.

Diese Unmittelbarkeit der Anrede an den Einzelnen hat nun ihre di-rekte Fortsetzung in den - relativ wenigen - ethischen Anweisungen der frühntl. Literatur: Gebete sollen nicht auf den Marktplätzen, son-dern im verschlossenen Raum dargebracht werden, Fasten ist so zu üben, daß die Umwelt es nicht merkt, und Almosen sind im Verborge-nen zu geben (Mt 6). Damit ist der Religion der Gemeinde-Charakter genommen. Ähnliches gilt z.B. für das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner, die beide hineingehen, um zu beten: Der Pharisäer brüstet sich mit den Geboten, die er eingehalten haben will, der Zöll-ner bittet um Vergebung (Lk 18,9-14). Jesu Bevorzugung ist klar auf Seiten des Zöllners.

Es ist wesentlich, daß diese Individualisierung der Religion bereits mit Jesus selbst einsetzt. Sie wird mit Paulus in eine etwas andere Bahn gelenkt (Röm 6), wenn die Individualtaufe zur Erlösungsinstitution des Einzelnen wird. In die so fortgesetzte Bahn gehören letztlich auch Jesu

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Heilungswunder, die den Einzelnen für die Teilnahme am Gottesreich tauglich machen. Sie sind darin grundverschieden von den exorzistis-chen Anweisungen, die Bilha Nitzan besprochen hat.

M.a.W.: Die charismatische Bewegung um Jesus hat im Prinzip andere Anliegen als die priesterlich-konservative der Bewohner von Qumran: Heilung und Rettung des Einzelnen; hierzu gibt es eine Reihe von auch modernen Parallelen. Wenn man von diesen einmal ausgehen darf: Im Gefolge des Endes der Kolonialregierungen haben sich an einer Reihe von Orten neue pseudo-christliche Kulte gebildet, die ebenfalls haupt-sächlich auf die Heilung und Rettung des Einzelnen ausgehen. Solche Religionsformen sind besonders da erfolgreich, wo die eigenen na-tional-kulturellen-religiösen Wurzeln verloren gegangen sind. Die frühere Kolonial-Macht hat die bodenständigen Kulte durch Zwangsmission mit Christentum ersetzt. Aber mit dem Wechsel der Gewalten ist das „weiße Christentum” nicht mehr haltbar. Die frühere Religion aber ist nicht wieder herstellbar. So kommt es zu neuen synkretistischen Kulten, die - wie gesagt - im wesentlichen auf Heilung und Rettung des Einzelnen beruhen.

Man darf diese Situation mutatis mutandis auch für das Judentum der ausgehenden Periode des zweiten Tempels z.T. annehmen (Flint); sie gilt aber auch für eine größere Anzahl von Nicht-Juden jener Zeit, die ihre je eigene Erlösung in einer Reihe von religiösen Gemeinschaften suchen, welche jeweils nicht bodenständig gewachsene nationale kul-turelle Kulte waren, sondern nun durch Mission den Weg zu einer neuen Selbstdefinition des Einzelnen eröffnen. Interessanterweise läßt sich ein ähnlicher Vorgang in der hellenistisch-philosophischen Ethik beobachten.

Die Mitglieder der Gemeinde von Qumran dagegen sind zwar in die Wüste gezogen, haben also teilweise die angestammte Kultur verlassen (wobei man sich streiten mag, in welchem Umfang; haben sie am Opfer gar nicht mehr teilgenommen etc.?), aber sie halten dort eine Fiktion vom wahren Israel, vom Rest etc. aufrecht, d.h. sie stehen bewußt in Kontinuität einer kollektiven national-religiösen Selbstdefinition. An anderer Stelle habe ich versucht zu zeigen, wie sehr diese Fiktion selbst theologische Probleme erst schuf.

Die christliche Kirche wird über die Rettung und Heilung des Einzel-nen zu einer kollektiven Selbstdefinition als Kirche kommen - ein Prozeß der mit Paulus allmählich einsetzt, aber erst mit dem Eph wirk-lich deutlich wird und erst in den Pastoralbriefen zu einem vorläufigen Abschluß kommt. Aber dieses Kollektiv bleibt ein glaubensmäßiges, auf der religiösen Überzeugung des Einzelnen gegründetes, das nationale und kulturelle Grenzen bewußt überschreitet. Die Öffnung der Kirchentore für die Nicht-Juden war also nur eine notwendige Konse-quenz der Grundstruktur dieser religiösen Erscheinung. Mitglieder dieser charismatischen Gemeinschaft bleiben so in einer - wenn man so sagen darf - Religion der Entwurzelten. Die Qumrangemeinschaft mag den jüdisch nationalen Baum gestutzt haben, aber sie hält sich

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weiter für einen Zweig dieses Gewächses und steht deshalb in einer ganz anderen Religionsform.