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IN|FO|NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 2012 Vol. 14, Nr. 5 3 Editorial Zwangsbehandlungen psychisch kranker Menschen stellen immer einen erheblichen Grundrechtseingriff dar und bedürfen daher einer sicheren gesetzlichen Grundlage. In seinem Urteil vom 23. März 2011 hat das Bundes- verfassungsgericht zur Zulässigkeit von Zwangsbehand- lungen psychisch kranker Menschen (hier einer im Maßregelvollzug untergebrachten Person) dezidiert Stellung genommen und den § 6 Abs. 1 Satz 2 des rhein- landpfälzischen Maßregelvollzugsgesetz als mit dem Grundgesetz unvereinbar und für nichtig erklärt. Die Folge dieses Urteils ist nun nicht, dass Zwangs- behandlungen grundsätzlich unzulässig sein sollen, sondern dass sie nur so lange unzulässig sind, wie der Gesetzgeber, und das sind im Falle der Maßregelvoll- zugsgesetze und Psychisch-Kranken-Gesetze die Bun- desländer, keine konkrete gesetzliche Grundlage für die Anwendung von Zwangsbehandlungen geschaffen hat. Einige Gerichte haben dementsprechend inzwischen Zwangsbehandlungen nach Betreuungsrecht und Psy- chisch-Kranken-Gesetz nicht zugelassen, beziehungs- weise untersagt. Das Bundesverfassungsgericht hat genau festgelegt, unter welchen Voraussetzungen Zwangsbehandlungen grundsätzlich zulässig sein können. Dazu gehört, dass der Untergebrachte krankheitsbedingt unfähig ist zur Einsicht in die Schwere seiner Krankheit und in die Notwendigkeit von Behandlungsmaßnahmen, und dass er nicht in der Lage ist, gemäß solcher Einsicht zu han- deln. Darüber hinaus müssen folgende weitere Voraus- setzungen vorliegen: Die Behandlung muss erfolgversprechend sein. Eine weniger eingreifende Behandlung ist nicht mög- lich. Es muss vorher ernsthaft versucht worden sein, die Zustimmung des Untergebrachten zu erhalten. Der Eingriff muss bezüglich der Dauer, der Art der Medikation etc. „eng“ umschrieben sein. Die Behandlung muss mehr Nutzen als Schaden haben. Darüber hinaus müssen folgende formellen Vorausset- zungen vorliegen: Eine vorherige Ankündigung muss ausreichend Zeit für die Einholung von Rechtsschutz lassen. Die Anordnung und Überwachung muss durch einen Arzt erfolgen. Die Zwangsbehandlung muss dokumentiert werden. Vor der Anordnung muss eine Überprüfung der Zwangsbehandlung durch eine unabhängige Stelle (z.B. Betreuer, Gericht, Ombudsmann etc.) mit ge- sicherter Unabhängigkeit von der Unterbringungs- einrichtung erfolgen. Dies alles muss in einer klaren gesetzlichen Grund- lage geregelt sein. Die Aufgabe der Länder muss nun – falls noch nicht geschehen – sein, die gesetzlichen Grundlagen im Maß- regelvollzugsgesetz beziehungsweise im Psychisch- Kranken-Gesetz so zu verändern, dass die Persönlich- keitsrechte der Patienten möglichst weit geschützt werden, aber gleichzeitig die Psychiatrie als therapeu- tische Disziplin handlungsfähig bleibt. Insbesondere die Universitätskliniken und Fachkliniken sollten mit ihren entsprechenden Ministerien eng zusammen arbeiten, um hier schnell zu einer sicheren Rechtsgrundlage zu kommen. Klaus Lieb, Mainz Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Rechtsgrundlage für Zwangsbehand- lungen muss schnell geschaffen werden Professor Dr. med. Klaus Lieb, Mainz Editorial Board Prof. Dr. W. Gaebel, Düsseldorf Prof. Dr. M. Gastpar, Berlin Prof. Dr. W. Hacke, Heidelberg Prof. Dr. H. P. Hartung, Düsseldorf Prof. Dr. U. Hegerl, Leipzig Prof. Dr. S. Herpertz, Heidelberg Prof. Dr. C. W. Hess, Bern Prof. Dr. H. C. Hopf, Mainz Prof. Dr. S. Kasper, Wien Dr. O. Kastrup, Essen Prof. Dr. T. Kircher, Marburg Prof. Dr. J. Kornhuber, Erlangen Prof. Dr. K. Kuchelmeister, Gießen Prof. Dr. K.-H. Mauritz, Berlin Prof. Dr. H.-J. Möller, München Prof. Dr. W. E. Müller, Frankfurt a. M. Prof. Dr. D. Naber, Hamburg Prof. Dr. W. Oertel, Marburg Prof. Dr. W. Poewe, Innsbruck Prof. Dr. H. Reichmann, Dresden Prof. Dr. H. Remschmidt, Marburg PD Dr. P. Reuther, Bad Neuenahr Prof. Dr. D. Riemann, Freiburg i. Br. Prof. Dr. N. Scherbaum, Essen Prof. Dr. J. Schramm, Bonn Prof. Dr. S. Schwab, Erlangen Prof. Dr. C. Sommer, Würzburg Prof. Dr. D. Timmann, Essen Prof. Dr. K. Toyka, Würzburg Prof. Dr. U. Voderholzer, Prien Prof. Dr. C. Weiller, Freiburg Prof. Dr. M. Weller, Zürich Prof. Dr. F. Zipp, Mainz Schriftleitung Prof. Dr. M. Berger, Freiburg Prof. Dr. H.-C. Diener, Essen Prof. Dr. Ch. Gerloff, Hamburg Prof. Dr. K. Lieb, Mainz Wissenschaftlicher Beirat Prof. Dr. St. Bleich, Hannover Prof. Dr. B. Bogerts, Magdeburg Prof. Dr. T. Brandt, München Prof. Dr. C. Elger, Bonn Prof. Dr. M. Forsting, Essen

Rechtsgrundlage für Zwangsbehandlungen muss schnell geschaffen werden

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Page 1: Rechtsgrundlage für Zwangsbehandlungen muss schnell geschaffen werden

IN|FO|Neurologie & Psychiatrie 2012 Vol. 14, Nr. 5 3

Editorial

■ Zwangsbehandlungen psychisch kranker Menschen stellen immer einen erheblichen Grundrechtseingriff dar und bedürfen daher einer sicheren gesetzlichen Grundlage.

In seinem Urteil vom 23. März 2011 hat das Bundes-verfassungsgericht zur Zulässigkeit von Zwangsbehand-lungen psychisch kranker Menschen (hier einer im Maßregelvollzug untergebrachten Person) dezidiert Stellung genommen und den § 6 Abs. 1 Satz 2 des rhein-landpfälzischen Maßregelvollzugsgesetz als mit dem Grundgesetz unvereinbar und für nichtig erklärt.

Die Folge dieses Urteils ist nun nicht, dass Zwangs-behandlungen grundsätzlich unzulässig sein sollen, sondern dass sie nur so lange unzulässig sind, wie der Gesetzgeber, und das sind im Falle der Maßregelvoll-zugsgesetze und Psychisch-Kranken-Gesetze die Bun-desländer, keine konkrete gesetzliche Grundlage für die Anwendung von Zwangsbehandlungen geschaffen hat. Einige Gerichte haben dementsprechend inzwischen Zwangsbehandlungen nach Betreuungsrecht und Psy-chisch-Kranken-Gesetz nicht zugelassen, beziehungs-weise untersagt.

Das Bundesverfassungsgericht hat genau festgelegt, unter welchen Voraussetzungen Zwangsbehandlungen grundsätzlich zulässig sein können. Dazu gehört, dass der Untergebrachte krankheitsbedingt unfähig ist zur Einsicht in die Schwere seiner Krankheit und in die Notwendigkeit von Behandlungsmaßnahmen, und dass er nicht in der Lage ist, gemäß solcher Einsicht zu han-deln. Darüber hinaus müssen folgende weitere Voraus-setzungen vorliegen:

Die Behandlung muss erfolgversprechend sein. Eine weniger eingreifende Behandlung ist nicht mög-lich.

Es muss vorher ernsthaft versucht worden sein, die Zustimmung des Untergebrachten zu erhalten. Der Eingriff muss bezüglich der Dauer, der Art der Medikation etc. „eng“ umschrieben sein. Die Behandlung muss mehr Nutzen als Schaden haben.

Darüber hinaus müssen folgende formellen Vorausset-zungen vorliegen:

Eine vorherige Ankündigung muss ausreichend Zeit für die Einholung von Rechtsschutz lassen. Die Anordnung und Überwachung muss durch einen Arzt erfolgen. Die Zwangsbehandlung muss dokumentiert werden. Vor der Anordnung muss eine Überprüfung der Zwangsbehandlung durch eine unabhängige Stelle (z.B. Betreuer, Gericht, Ombudsmann etc.) mit ge-sicherter Unabhängigkeit von der Unterbringungs-einrichtung erfolgen. Dies alles muss in einer klaren gesetzlichen Grund-lage geregelt sein.

Die Aufgabe der Länder muss nun – falls noch nicht geschehen – sein, die gesetzlichen Grundlagen im Maß-regelvollzugsgesetz beziehungsweise im Psychisch-Kranken-Gesetz so zu verändern, dass die Persönlich-keitsrechte der Patienten möglichst weit geschützt werden, aber gleichzeitig die Psychiatrie als therapeu-tische Disziplin handlungsfähig bleibt. Insbesondere die Universitätskliniken und Fachkliniken sollten mit ihren entsprechenden Ministerien eng zusammen arbeiten, um hier schnell zu einer sicheren Rechtsgrundlage zu kommen.

Klaus Lieb, Mainz

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Rechtsgrundlage für Zwangsbehand-lungen muss schnell geschaffen werden

Professor Dr. med. Klaus Lieb, Mainz

Editorial Board

Prof. Dr. W. Gaebel, DüsseldorfProf. Dr. M. Gastpar, BerlinProf. Dr. W. Hacke, HeidelbergProf. Dr. H. P. Hartung, DüsseldorfProf. Dr. U. Hegerl, LeipzigProf. Dr. S. Herpertz, HeidelbergProf. Dr. C. W. Hess, BernProf. Dr. H. C. Hopf, MainzProf. Dr. S. Kasper, WienDr. O. Kastrup, EssenProf. Dr. T. Kircher, Marburg

Prof. Dr. J. Kornhuber, ErlangenProf. Dr. K. Kuchelmeister, GießenProf. Dr. K.-H. Mauritz, BerlinProf. Dr. H.-J. Möller, MünchenProf. Dr. W. E. Müller, Frankfurt a. M.Prof. Dr. D. Naber, HamburgProf. Dr. W. Oertel, MarburgProf. Dr. W. Poewe, InnsbruckProf. Dr. H. Reichmann, DresdenProf. Dr. H. Remschmidt, MarburgPD Dr. P. Reuther, Bad Neuenahr

Prof. Dr. D. Riemann, Freiburg i. Br.Prof. Dr. N. Scherbaum, EssenProf. Dr. J. Schramm, BonnProf. Dr. S. Schwab, ErlangenProf. Dr. C. Sommer, WürzburgProf. Dr. D. Timmann, EssenProf. Dr. K. Toyka, WürzburgProf. Dr. U. Voderholzer, PrienProf. Dr. C. Weiller, FreiburgProf. Dr. M. Weller, ZürichProf. Dr. F. Zipp, Mainz

SchriftleitungProf. Dr. M. Berger, FreiburgProf. Dr. H.-C. Diener, EssenProf. Dr. Ch. Gerloff, HamburgProf. Dr. K. Lieb, Mainz

Wissenschaftlicher BeiratProf. Dr. St. Bleich, HannoverProf. Dr. B. Bogerts, MagdeburgProf. Dr. T. Brandt, MünchenProf. Dr. C. Elger, BonnProf. Dr. M. Forsting, Essen