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Orpheus, Eurydike und die kirchliche Schwangerschaftsgymnastik Referat von Prof. Paul M. Zulehner (Wien) über eine Kirche im Umbruch, beim 5. Forum von „Kirche für morgen e.V.“, am 25. Februar im Bernhäuser Forst (bei Stuttgart) Einen nicht ganz typisch kirchlichen Einstieg in eine sehr aktuelle Fragen in der Evangelischen Kirche, bot der katholische Pastoraltheologe Paul M. Zulehner (Universität Wien) seinen rund 300 Zuhörern in der Evangelischen Tagungs- und Bildungsstätte Bernhäuser Forst in Stetten auf den Fildern bei Stuttgart. Dorthin hatte „Kirche für morgen“, eine Initiative zur Reform der Evangelischen Kirche in Württemberg zu ihrem 5. Forum eingeladen: „Kirche im Umbruch – den Wandel gestalten und nicht nur erleiden“. Zulehner führte seine Zuhörer zunächst in die griechische Mythologie, um darauf aufbauend seine Vision einer Kirche für morgen und ihren visionsangemessenen Strukturen zu verdeutlichen. Es ging um den Mythos vom Spielmann Orpheus, der mithilfe seiner Lyra in das Totenreich geht, um seine große Liebe Eurydike zurückzuholen, auf dem Rückweg aber scheitert, weil er sich – gegen die ausdrückliche Auflage der Götter – umschaut nach Eurydike. Bereits in der frühen Christenheit wurde dieser Mythos auf Christus (Orpheus) und die Welt (Eurydike) umgedeutet. Und die Lyra, diesmal in der Hand des Christus, war die Kirche. Und anders als der griechische Orpheus, scheitert Christus, der liebende Spielmann Gottes nicht, er gelangt mit Eurydike wieder zurück in das Leben. Der Überfluss und die Überflüssigen Wie es Eurydike, der Welt, heute geht und was die Menschen umtreibt, waren die nächsten Fragen, die Zulehner in den Mittelpunkt stellte. Zwei Herausforderungen sind es nach seiner Ansicht, denen wir uns zu stellen haben: Gerechtigkeit und Wahrheit, im Referat exemplarisch ausgeführt an den Begriffen Solidarität und Spiritualität. In einer Gesellschaft im Überfluss steht die Solidarität dann auf dem Prüfstand, wenn „morgen jeder von uns überflüssig werden“ kann (Hans Magnus Enzensberger). Das trifft auf den Langzeitarbeitslosen ebenso zu, wie auf die Alten, Kranken und Schwachen (Kinder und Sterbende). Dieser Hang zur „Ent-Sorgung“ der Überflüssigen in unserer Gesellschaft ist laut Zulehner nicht nur immer deutlicher zu erkennen, er wird auch immer häufiger verlangt. Letztlich aber haben wir uns damit selber aufgegeben. Das Leiden am permanenten Fragment Davon nicht zu trennen ist das zweite Thema, die Spiritualität. Heute leben wir zwar länger, aber insgesamt kürzer – so der französische Philosoph Philippe Aries: Denn früher lebten die Leute 30 Jahre plus ewig und heute nur noch 90 Jahre. Gefragt ist heute das optimal leidfreie Glück. Zugleich wird der Mensch nicht mehr auf das Jenseits, sondern auf das Diesseits vertröstet. Das ‚Leben als letzte Gelegenheit’ wird dabei immer schneller, überfordernder, angstbesetzter, entsolidarisierender. Das, was uns so sehr Angst macht dabei, ist das uns bis ans Lebensende begleitende sichere Gefühl, dass wir das optimale leidfreie Glück nie schaffen werden. Wir leiden an dem permanenten Fragment, an der Unvollendeten (unserem Leben). Darum auch der zunehmende Rückgriff auf das „da muss doch noch mehr sein“, die Rückkehr in die Spiritualität jeglicher Couleur. Der Mensch ist inmitten aller Auflösungsprozesse, Ängste zerstören den Wunsch nach Solidarität, sie entsolidarisieren, und aller Selbstentfremdung auf einer Reise ins Innere. Weil er nicht bei sich ist, sucht er nach Techniken und Instrumenten (wie z.B. Meditation und Kontemplation), um wieder in die Mitte zurückzufinden.

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Orpheus, Eurydike und die kirchliche Schwangerschaftsgymnastik Referat von Prof. Paul M. Zulehner (Wien) über eine Kirche im Umbruch, beim 5. Forum von „Kirche für morgen e.V.“, am 25. Februar im Bernhäuser Forst (bei Stuttgart) Einen nicht ganz typisch kirchlichen Einstieg in eine sehr aktuelle Fragen in der Evangelischen Kirche, bot der katholische Pastoraltheologe Paul M. Zulehner (Universität Wien) seinen rund 300 Zuhörern in der Evangelischen Tagungs- und Bildungsstätte Bernhäuser Forst in Stetten auf den Fildern bei Stuttgart. Dorthin hatte „Kirche für morgen“, eine Initiative zur Reform der Evangelischen Kirche in Württemberg zu ihrem 5. Forum eingeladen: „Kirche im Umbruch – den Wandel gestalten und nicht nur erleiden“. Zulehner führte seine Zuhörer zunächst in die griechische Mythologie, um darauf aufbauend seine Vision einer Kirche für morgen und ihren visionsangemessenen Strukturen zu verdeutlichen. Es ging um den Mythos vom Spielmann Orpheus, der mithilfe seiner Lyra in das Totenreich geht, um seine große Liebe Eurydike zurückzuholen, auf dem Rückweg aber scheitert, weil er sich – gegen die ausdrückliche Auflage der Götter – umschaut nach Eurydike. Bereits in der frühen Christenheit wurde dieser Mythos auf Christus (Orpheus) und die Welt (Eurydike) umgedeutet. Und die Lyra, diesmal in der Hand des Christus, war die Kirche. Und anders als der griechische Orpheus, scheitert Christus, der liebende Spielmann Gottes nicht, er gelangt mit Eurydike wieder zurück in das Leben. Der Überfluss und die Überflüssigen Wie es Eurydike, der Welt, heute geht und was die Menschen umtreibt, waren die nächsten Fragen, die Zulehner in den Mittelpunkt stellte. Zwei Herausforderungen sind es nach seiner Ansicht, denen wir uns zu stellen haben: Gerechtigkeit und Wahrheit, im Referat exemplarisch ausgeführt an den Begriffen Solidarität und Spiritualität. In einer Gesellschaft im Überfluss steht die Solidarität dann auf dem Prüfstand, wenn „morgen jeder von uns überflüssig werden“ kann (Hans Magnus Enzensberger). Das trifft auf den Langzeitarbeitslosen ebenso zu, wie auf die Alten, Kranken und Schwachen (Kinder und Sterbende). Dieser Hang zur „Ent-Sorgung“ der Überflüssigen in unserer Gesellschaft ist laut Zulehner nicht nur immer deutlicher zu erkennen, er wird auch immer häufiger verlangt. Letztlich aber haben wir uns damit selber aufgegeben. Das Leiden am permanenten Fragment Davon nicht zu trennen ist das zweite Thema, die Spiritualität. Heute leben wir zwar länger, aber insgesamt kürzer – so der französische Philosoph Philippe Aries: Denn früher lebten die Leute 30 Jahre plus ewig und heute nur noch 90 Jahre. Gefragt ist heute das optimal leidfreie Glück. Zugleich wird der Mensch nicht mehr auf das Jenseits, sondern auf das Diesseits vertröstet. Das ‚Leben als letzte Gelegenheit’ wird dabei immer schneller, überfordernder, angstbesetzter, entsolidarisierender. Das, was uns so sehr Angst macht dabei, ist das uns bis ans Lebensende begleitende sichere Gefühl, dass wir das optimale leidfreie Glück nie schaffen werden. Wir leiden an dem permanenten Fragment, an der Unvollendeten (unserem Leben). Darum auch der zunehmende Rückgriff auf das „da muss doch noch mehr sein“, die Rückkehr in die Spiritualität jeglicher Couleur. Der Mensch ist inmitten aller Auflösungsprozesse, Ängste zerstören den Wunsch nach Solidarität, sie entsolidarisieren, und aller Selbstentfremdung auf einer Reise ins Innere. Weil er nicht bei sich ist, sucht er nach Techniken und Instrumenten (wie z.B. Meditation und Kontemplation), um wieder in die Mitte zurückzufinden.

Gott im Rücken, die Menschheit vor sich – welche Lieder soll die Lyra heute spielen? In einem dritten Schritt fragte Prof. Zulehner danach, wofür die Kirche – die Lyra des liebenden Spielmann Gottes – denn heute stehen soll. Letztlich geht es um eine Spiritualisierung und Diakonisierung der Kirche. Für die spirituell Suchenden braucht es eine spirituell starke Kirche, und für die, die unter die Räder des Unrechts kommen, braucht es eine diakonisch starke Kirche. Hier gilt nicht das entweder – oder, sondern die Formel: „Wer bei Gott eintaucht, der taucht neben den Armen wieder auf“ (und umgekehrt). Die Kirchen, dieser Gedanke lässt sich wirklich nur ökumenisch durchbuchstabieren, müssen spirituell wieder so erstarken, das sie zum „Immanuel“, zum Gott mit uns werden. Das heißt für den einzelnen Christen auch, wieder Position zu beziehen, in einer Gesellschaft des dauernden Wechsels. Gleichzeitig muss uns klar sein, dass wir keine theologische Keule schwingen, ehe wir auch nur ahnen, was die Leute suchen. Dieses Zukurzgreifen ist, laut Zulehner, eher ein Zeichen für den eigenen Vogel, als für den Heiligen Geist. Alles gleich als „pfui“ zu klassieren, was nicht in unsere theologische Monokultur passt, nichts ist demütigender für die spirituell Suchenden. Daneben gibt es die „spirituellen Vagabunden“, die nicht mit Suchenden in einen Topf geworfen werden können. Es sind Menschen, die mit ihrer Spiritualität bei uns – in unserer Kirche, Gemeinde – andocken wollen. Was haben wir ihnen zu sagen, zu bieten? Um sich diesen Aufgaben stellen zu können, braucht es nach Zulehner:

� Spirituelle Orte: Haben wir eigene Adressen, oder müssen wir uns immer die katholischen Brüder einladen, so Zulehner mit einem Augenzwinkern?!

• Spirituelle Personen: gefragt sind nicht (nur) die großen Persönlichkeiten aus Geschichte und Gegenwart, sondern die Alltagsmystiker, die in ihrer eigenen und der Geschichte anderer je eine eigene „kleine heilige Schrift“ sehen, die es zu lesen gilt.

• Spirituelle Vorgänge, zum Beispiel in unseren Gottesdiensten. Zulehner führte hier als Beispiel das Abendmahl an und es gelang ihm, ohne seine katholische Herkunft zu verleugnen, unter der Überschrift, das Abendmahl als „Gottesgefahr“, den Gedanken der Ver-Wandlung auch für uns Protestanten neu zu denken: es könnte revolutionäre Wandlung geschehen („Nichts ist politisch revolutionärer als das Abendmahl“); aus angstbesetzt Ichbesorgten könnten angstfrei Liebende werden; lassen wir Gottes Geist, den wir herabrufen (Epiklese), wirklich wandeln (die Art der Begegnung mit ihm, uns, unsere Gemeinde)? Gleichzeitig ist diakonische Spiritualität gefragt (nach Exodus 3, 7-10). Es braucht:

• Offene Augen: hinschauen in einer Kultur des Wegsehens. • Wachen Verstand: verhindern statt versorgen; eine interessante Anfrage Zulehners:

bringen wir in unseren Gemeinden, unseren Kirchen eigentlich noch Politiker hervor?

• Mitfühlende Herzen: Erbarmen in einer Kultur der angstbesetzten Erbarmungs-losigkeit.

• Zupackende Hände: nicht nur auf-, sondern eintreten für die Armen; Spiritualität und Solidarität gehören zusammen.

Gottes Zukunft anschaulich leben Welche Strukturen erforderlich sind, um den Übergang, den Umbruch der Kirche zu gestalten, erläuterte Zulehner in einem letzten Abschnitt. Eine Kirche, die diesen Übergang wirklich bestehen will, braucht seiner Meinung nach

• Zeugen, die Gottes Zukunft jetzt schon anschaulich leben. • einen pastoralen Ultraschall: Was wird kommen?

• Eine pastorale Schwangerschaftsgymnastik: Was kann jetzt schon – inmitten der alten

Kirchenstruktur – begonnen werden? Z.B. durch eine Aufwertung des Ehrenamts (Bildung von Netzwerken), pastorale Zentren (Konzentration von Hauptamtlichen), pastorale Projekte (Medien, Bildung, Diakonie), ökonomische Alternativen (Kirche nach Kirchensteuer, neue Finanzierungsweisen) Vor allem aber gelte es, „guter Hoffnung“ zu sein, statt zu jammern und statt des Denkens in „nur noch“ Kategorien, radikal aus der Mitte des Evangeliums heraus Kirche zu sein im Wissen: „Wenn der Herr das Haus nicht baut…“ (Ps 27), saniert uns McKinsey vergeblich. Und „ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?“ (Röm 8,31) (gekürzte Nachschrift eines mündlichen Vortrags) Es gilt das gesprochene Wort