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Reihe Hanser
Es sind die Geschichten von Luise, Marte und der
Frau mit dem Hut. Alle handeln sie davon, dass ein
Mensch fortgeht und wie sehr wir ihn danach ver-
missen – oder auch nicht. Wie schwierig unsere Ge-
fühle sind, wenn jemand Abschied nimmt, davon
berichten Luise und die anderen Figuren – und von
all der Wut, dem Glück oder der Traurigkeit, die
dazugehören können.
Bart Moeyaert, geboren 1964 im flämischen Teil Bel-
giens, machte sich international einen Namen mit
dem Roman ›Bloße Hände‹ (dtv 62483), der mit zahl-
reichen renommierten Preisen, darunter dem Deut-
schen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. In
der Reihe Hanser erschienen außerdem sein Buch
›Brüder‹ (dtv 62360) und seine Geschichtensamm-
lung ›Mut für drei‹ (dtv 62463).
Rotraut Susanne Berner lebt als Illustratorin und Auto-
rin in München und wurde für ihre Arbeit vielfach
geehrt, u. a. mit dem Sonderpreis zum Deutschen
Jugendliteraturpreis für ihr Gesamtwerk.
Bart Moeyaert
Aus dem Niederländischen
von Mirjam Pressler
Mit Bildern von
Rotraut Susanne Berner
Deutscher Taschenbuch Verlag
Das gesamte lieferbare Programm der Reihe Hanser
und viele ander Informationen finden Sie unterwww.reihehanser.de
2012Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KGMünchen
© Text Bart Moeyaert 2008Titel der Originalausgabe: ›Missen is moeilijk‹bei Em. Querido’s Uitgeverij in Amsterdam
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:© Carl Hanser Verlag München 2010
Umschlag- und Innenillustrationen: Rotraut Susanne BernerDruck und Bindung: Druckerei C.H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany · isbn 978-3-423-62510-4
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Die Frau mit dem roten Hut sitzt am See. Sie sitzt schoneine ganze Weile da und bewegt sich nicht. Nur ihrHut, der flattert ein bisschen im Wind.Nanne folgt dem Blick der Frau. Der See ist leer undfast weiß. Kein Mensch ist da. Es ist Essenszeit. Nie-mand denkt ans Schlittschuhlaufen.Was betrachtet die Frau? Das Eis? Den grauen Him-mel? Die kann man doch gar nicht so lange betrachten?Auf dem Eis und am Himmel passiert nichts. Oderdoch: Weiter weg, wo Boote liegen, sind Enten. Sie hal-ten ein Loch im Eis offen. Ab und zu schnattern sielaut.
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Nanne schiebt ihre Hände tief in die Ärmel. Langsamgeht sie näher. Soll sie fragen, ob es der Frau gut geht?Vielleicht ist sie schon steif vor Kälte. Vielleicht sindihre Finger schon blau.In einiger Entfernung bleibt Nanne stehen. Sie seufzterleichtert. Sie hört die Frau singen. Ganz leise. DieFrau wiegt sich sogar ein bisschen hin und her.Plötzlich legt sie eine Hand auf ihren Hut. Sie schautüber die Schulter.„Ich weiß, dass du da bist, Kind“, sagt sie. Schon drehtsie sich wieder um.Nanne zögert einen Moment. Aber dann sagt sie dochetwas zu dem Hut. Sie sagt: „Sie werden sich erkäl-ten.“„Ach nein“, sagt die Frau. „Ich bin dick angezogen. Ichsitze gut hier. Mach dir keine Sorgen.“Nanne zieht die Augenbrauen hoch. Sie macht sichnämlich doch Sorgen.Vorsichtig tritt sie einen Schritt näher. Sie steht nunneben der Frau, direkt vor dem Eis.„Sie müssen …“, beginnt sie.„Still“, sagt die Frau. „Der Wind weint heute wieder.Das ist nicht gut. Ich weine schon lange nicht mehr.Aber der Wind manchmal schon noch. Dabei hat esdoch gar keinen Sinn. Tasja ist weg und bleibt weg.“
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Nanne nickt, weil die Frau auch nickt. Aber sie verstehtes nicht. Wer ist Tasja? Und warum hat Weinen keinenSinn?Sie schaut die Frau an. Die sagt nichts mehr. Die Frausingt und wiegt sich leicht hin und her. Ihr Hut flattertim Wind.
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„Tasja Mei schwimmt im See.
Ach, Tasja, lass das sein.
Tasja Mei trinkt aus dem See.
Sie kommt nie wieder heim“,
singt die Frau.
Nanne schluckt. Das Lied klingt schön, aber auch trau-
rig. Traurige Lieder sind immer schön, denkt sie. Ich
wünschte, ich könnte so schön singen. Dafür muss man
bestimmt sehr, sehr traurig sein. Und das bin ich nicht.
Auf einmal fühlt sich Nanne ganz seltsam. Die Stimme
der Frau klingt in ihrem Kopf nach.
Tasja Mei. Tasja Mei.
Ist Tasja Mei vielleicht eine Katze? Das könnte sein.
Katzen gehen weg und kommen nicht mehr heim. Nie
wieder. So sind Katzen eben.
„Wissen Sie das genau?“, fragt Nanne, ohne nachzu-
denken.
Die Frau mit dem roten Hut erschrickt.
„Was soll ich genau wissen?“, sagt sie.
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„Das mit Tasja“, sagt Nanne. „Dass sie weg ist und weg
bleibt.“
Die Frau dreht sich halb zur Seite. Sie betrachtet Nan-
ne. Ihr Mund wird zu einem schmalen Strich.
„Ja, liebes Kind“, sagt sie. „Das weiß ich ganz genau.“
Dann dreht sie sich wieder um und starrt vor sich hin.
Sie zieht den Hut tiefer über die Ohren.
„Oh!“, sagt Nanne. Sie hat zu viel gefragt. Jetzt ist die
Frau traurig. Nanne überlegt schnell. Sie sucht nach
Worten. Nach Worten mit Trost.
„Lilas Katze ist aber wiedergekommen“, sagt sie plötz-
lich. „Zu viert sind sie heimgekommen. Echt wahr, Lila
aus meiner Klasse hat es selbst gesagt.“
Nanne macht den Mund schnell zu.
Mit einem Ruck steht die Frau auf. Sie schnappt nach
Luft. Sie sieht nicht getröstet aus. Mürrisch klopft sie
sich den Schnee vom Mantel.
„Tasja Mei war keine Katze“, zischt sie. Mit großen
Schritten läuft sie weg. Nach ein paar Metern dreht sie
sich noch einmal um.
„Du bist ein freches Kind!“, ruft sie. Ihre Stimme schallt
über den See. Kind, Kind, Kind, antwortet der Wind.
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Nanne versteht es nicht. Die Frau mit dem roten Hut ist
schon lange weg. Schon über eine Stunde.
Trotzdem ist es, als wäre sie noch da. Sie spukt in Nan-
nes Kopf herum. Die Essenszeit ist vorbei. Auf dem Eis
sind wieder Schlittschuhläufer. Die Enten sind jetzt
verschwunden. Das Loch im Eis ist ein dunkler Fleck.
Nanne steht allein am Ufer. Sie schaut zu ihrer Schwes-
ter hinüber. Willemien läuft Achter und Nullen. Nan-
ne schaut zwar hin, aber sie sieht ihre Schwester nicht
wirklich. Sie ist mit ihren Gedanken woanders. Tasja
ist keine Katze, denkt sie die ganze Zeit. Vielleicht,
ganz vielleicht, ist Tasja ein Mensch. Ein Kind. Kinder
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können schwimmen und sich dumm anstellen. Manch-
mal gehen sie fort und kommen nie mehr zurück. Aber
wo ist Tasja dann?
„Steh nicht rum und träume, Nanne“, sagt Willemien.
„Ich habe es dir doch gesagt. Die Frau ist verrückt. Der
Wind heult, weil da Bäume stehen. Das ist die Natur.
Und niemand kann jetzt im See schwimmen. Ich wüss-
te nicht, wo oder wie! Unter dem Eis vielleicht? Denk
mal nach!“
Willemien fährt ihren großen Achter nicht zu Ende.
Sie bleibt auf einer Null mit einem Schnörkel stehen.
„Vergiss diesen Blödsinn“, sagt sie seufzend. „Komm
aufs Eis. Oder willst du warten, bis es taut?“
Nanne lächelt kurz. Willemien hat bestimmt recht. Sie
ist älter, sie kann es wissen. Die Frau mit dem roten Hut
ist verrückt. Tasja ist ein Hirngespinst. Etwas Unheim-
liches, um ihr Angst zu machen. Nanne seufzt erleich-
tert. Sie gleitet vorsichtig auf die Eisfläche. Das Eis ist
so glatt wie Omas Fußboden.
„Komm“, sagt Willemien. „Wir fahren ein bisschen.
Bleib mit den Füßen gut auf dem Eis.“
Nanne lacht lauter, als sie will. Sie gleitet vorwärts,
ohne zu laufen.
Willemien zieht sie hinter sich her. Bis mitten auf den
See.
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„Hier lasse ich dich stehen,
Schwesterchen“, sagt Wille-
mien. „Jetzt musst du allein
laufen.“
Willemien läuft davon.
Nanne schaut ihr nach. Sie mault.
Was für ein gemeiner Streich! Die Mitte des Sees ist
weit weg vom Ufer. Jetzt muss sie alles zurücklaufen.
Hinter ihrem Rücken ertönt Gelächter.
„Nanne, Nanne, Nanne, huuu! Fällst gleich auf die
Nase, duuu!“
Nanne dreht sich um und erschrickt. Sie steht direkt
vor einer Schlitterbahn. Der Schlitterbahn der Brüder
Neuling. Sie versucht, nicht ängstlich auszusehen.
„Redest du mit mir?“, fragt sie.
„Nein, ich rede mit meinem Bruder.“ Neuling der
Dümmste lacht laut. Er gibt Neuling dem Kleinsten
einen Stoß.
Neuling der Kleinste lacht nun auch.
Nanne verdreht die Augen und schaut zur Seite. An-
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geber! Sie muss bloß zum Ufer. Zum Ufer ist es noch
ein ganzes Stück. Aber sie kommt nicht weit. Die Brü-
der halten sie zurück.
„Wo willst du hin?“
„Zurück“, sagt Nanne. Sie läuft weiter. Vorsichtig, da-
mit sie nicht hinfällt. Aber schnell.
Neuling der Kleinste ist schneller. Nanne hört ihn
kommen.
„Bleib stehen!“, ruft er. Mit einem lauten Schrei wirft er
sie um.
Sie fällt auf den Po. Hart gegen weich. Sie schnappt
nach Luft. Als ob das Eis durch ihren Mund atmen
müsste. Keuchend dreht sie sich zur Seite. Sie kauert
auf Knien und Händen. Vor Schmerz macht sie die
Augen zu.
Die Brüder schlagen sich gegenseitig auf die Schultern
vor Lachen. Plötzlich verschlucken sie ihr Gelächter.
Das Eis zittert. Es gibt ein unheimliches, singendes Ge-
räusch von sich.
Die Neulings bleiben stehen. Die anderen Leute ver-
gessen weiterzulaufen. Sie schauen sich um.
Nannes Augen werden groß. Unter dem Eis ist etwas!
Sie weiß es genau. Unter dem Eis bewegt sich etwas.
Hat sie das wirklich gesehen? Unwillkürlich fängt sie
an zu schreien. So laut hat sie noch nie geschrien.
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Jemand zerrt an Nannes Pullover, aber Nanne bewegt
sich nicht. Siewill sich nicht bewegen.
„Nanne, was ist los? Ich bin es,Willemien.“
Nanne schüttelt den Kopf und schaut nicht hoch. Sie
drückt denKopf zwischen ihreArme.
„Lass los, Nanne, kommmit.“
„Nein!“
Willemien will sie hochziehen, aber es gelingt ihr
nicht.
„Nanne, steh auf!“
„Nein!“
„Warumnicht?“
„Darumnicht.“
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EinenMoment lang bleibt es still. Sind alleweg?Nanne
späht unter ihrem Arm hervor. Zuerst sieht sie nur
Füße mit Schlittschuhen. Eine ganze Menge Füße von
schweigenden Menschen. Ein Schlitten wird vor ihr
Gesicht geschoben.
„Hebt sie darauf“, hörtNanne.
Sie spürt vier Hände um ihreArme. Sie schwebt durch
die Luft. Nun muss sie aufschauen. Zwei Männer hal-
ten sie fest. Sie kennt sie nicht.
Die Brüder Neuling stehen weiter weg. Neuling der
DümmstegrinsthinterseinerHand.NeulingderKlein-
ste sieht blass aus. Er grinst nicht. Nicht mal ein biss-
chen.
Rechts neben ihr steht Willemien auf ihren Schlitt-
schuhen. Sie schüttelt böse denKopf.
„Dickkopf!“, sagt sie.
Mit einem Knall landet Nanne auf dem Schlitten. Sie
schämt sich.
„Und wofür war das Theater nötig?“, sagt Willemien.
„Ich habe gedacht, dir ist was passiert.“
„Das Eis“, flüstertNanne.
„Das Eis?Dubist nicht ganz gescheit!“Willemiennickt
den beiden Männern zu. Sie tippt sich an den Kopf.
„Was istmit demEis?“
„Esmacht Krach.“
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„Natürlich macht Eis Krach. Eis lebt. Du würdest auch
stöhnen, wenn so viele Leute auf dir herumtrampeln.“
Nanne schaut Willemien an. Na so was, denkt sie. Der
Wind kann nicht weinen, hat Willemien vorhin ge-
sagt. Aber Eis lebt! Willemien weiß nicht, was sie sagt.
Nanne glaubt ihr kein Wort. Sie holt tief Luft und
deutet nach unten.
„Da ist was unter dem Eis“, sagt sie.
Willemien grinst. Sie zieht Nanne auf dem Schlitten
zu sich heran. Ihre Gesichter sind jetzt ganz nahe bei-
einander.
„Ach ja? Vielleicht ein Monster mit einem langen
Hals?“
„Nein“, sagt Nanne. „Ein Mädchen, denke ich.“
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Willemien presst die Lippen zusammen. Sie wird ein
bisschen rot im Gesicht.
„Jetzt reicht es aber“, sagt sie. „Du hast nur Unsinn im
Kopf. Unsinn von der verrückten Frau! Sie hat dir Un-
sinn eingeredet!“
Willemien schnauft böse. Sie fasst tief in ihre Jacken-
tasche.
„Hier hast du Geld“, sagt sie. „Kauf dir was dafür.
Einen Apfelkrapfen oder so. Kauf dir einen Apfel-
krapfen und geh nach Hause. Mit dir ist doch immer
was.“
Nanne betrachtet das Geld in ihrer Hand. Und vom
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Geld schaut sie zu Willemien. Die schnaubt. Sie zieht
ihre Jacke zurecht und läuft davon.
Nanne bleibt sitzen. Ihr Po tut weh. Sie betrachtet den
Stand am See. Dampfwolken kommen heraus. Der Ge-
ruch nach Gebackenem. Nach Zucker und Zimt.
Langsam steht Nanne vom Schlitten auf. Eigentlich hat
sie keine Lust auf Apfelkrapfen. Aber wenn sie isst, hat
sie was zu tun. Dann braucht sie nicht an die Frau zu
denken. Oder an Tasja Mei.
Sie läuft zwischen den Menschen hindurch zum Ufer.
Vorsichtig setzt sie einen Fuß vor den anderen. Dabei
spitzt sie immer wieder die Ohren. Beim Eis weiß man
nie. Eis kann krachen. Boden unter den Füßen ist fe-
ster. Nanne fühlt sich erst am Ufer sicher. Sie geht ihrer
Nase nach. Dem Geruch vom Stand.
Der Mann vom Stand schnauft. Er sieht aus, als wäre er
selbst fast gar gekocht.
Nanne will um einen Apfelkrapfen bitten, aber der
Mann hat keine Geduld.
„Einen oder zwei?“, fragt er.
„Einen“, flüstert Nanne.
„Hier, Kind“, sagt der Mann. „Ich kann keine Apfel-
krapfen mehr sehen.“ In die eine Hand drückt er ihr
eine spitze Tüte, in die andere das Wechselgeld.
Nanne nickt nur.
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„Das soll wohl höflich sein“, brummt der Mann.
Nanne hört ihn, aber es ist zu spät für eine Antwort.
Sie dreht sich um und beißt in den Krapfen.
Das ist dumm. Der Krapfen ist heiß.
Nanne kaut sehr schnell. Sie wird knallrot. Und was
noch schlimmer ist: Jemand starrt sie an. Es dauert eine
Weile, bis sie erkennt, wer es ist.
Neuling der Kleinste.
Nanne versinkt fast im Boden. Bestimmt lacht er sie
aus!
Aber Neuling der Kleinste lacht nicht. Er kommt einen
Schritt näher.
„Nanne“, sagt er.
„Was issen?“, sagt Nanne. Sie schluckt den Bissen hi-
nunter.
Neuling der Kleinste zieht die Schultern hoch.
„Es tut mir leid, das von vorhin“, sagt er.
Nanne schaut in die andere Richtung.
„Ach ja, ehrlich?“, murmelt sie.
„Ja, ehrlich. Es tut mir echt leid. Tut es dir weh?“
Nanne pustet auf ihren Apfelkrapfen.
„Ja“, sagt sie. „Ich bin ganz krumm vom Hinfallen. Und
es wird nie wieder gut. Durch deine Schuld.“
Neuling der Kleinste schweigt. Er scharrt mit dem Fuß
im Schnee.