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Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann Professor für Intensivpädagogik, Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf Bereichsleiter Leinerstift e.V. evangelische Kinder-, Jugend- und Familienhilfe Großefehn/ Ostfriesland Riskant agierende Kinder und Jugendliche im Sozialraum - welche Systeme brauchen wir, um >>Systemsprenger<< zu verhindern?

Riskant agierende Kinder und Jugendliche im … · Menno Baumann Professor für Intensivpädagogik, Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf Bereichsleiter Leinerstift e.V. evangelische

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Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann

Professor für Intensivpädagogik, Fliedner-Fachhochschule DüsseldorfBereichsleiter Leinerstift e.V. evangelische Kinder-, Jugend- und Familienhilfe Großefehn/ Ostfriesland

Riskant agierende Kinder und Jugendliche im Sozialraum - welche Systeme brauchen wir, um >>Systemsprenger<< zu verhindern?

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Ein „Einschulungsschlager“…

Ein jeder darf kommen…

Alle Großen alle Kleinen,auch die, die ab und zu mal weinen,alle Starken, alle Schwachen,auch die alles dreckig machen,alle Dummen, alle Schlauen,auch die ab und zu mal hauen,alle Doofen alle Netten,auch die Dünnen und die Fetten:wer mitmachen will hat bei uns Platz!

auch die ab und zu mal hauen,

Will ich, dass meine Kinder in eine Schule gehen, in der man hauen „darf“?

???

Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann

Wann ist denn „ab und zu“ am Ende?

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Wer sind „die Schwierigsten“?

In Gruppen von Kindern/ Klienten/ Patienten etc. ist immer irgendwer „am schwierigsten“.

Auch andere Termini wie z.B. „Hoch-Risiko-Klientel“, „Systemsprenger“ oder „besonders herausfordernde Jugendliche“ bleiben unbefriedigend, weil inhaltlich unbestimmt.

Auf der Symptomebene zeigen diese jungen Menschen das volle Spektrum der als schwierig wahrgenommenen Verhaltensweisen.

Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann

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Aus psychiatrischer Sicht trifft dies oft Kinder und Jugendliche mit Mehrfachdiagnosen

Andererseits betrifft dies Kinder und Jugendliche, die als „nicht therapierbar“ eingestuft werden, da pädagogisch-erzieherische Probleme im Vordergrund zu stehen scheinen und die Lebenssituation für effektive Therapie ungünstig erscheint

Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann

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Pädagogisch sind besonders folgende Verhaltensweisen als besonders kritisch zu betrachten:

Gewaltförmige Verhaltensweisen auch gegen körperlich deutlich unterlegene Kinder oder auch gegen Erwachsene/ Mitarbeiter_innen

Drogenkonsum auch in den Einrichtungen inklusive Weitergabe/ Handel mit Substanzen und Einbezug anderer Jugendlicher

Häufige Entweichungen/ Trebegänge, v.a. verbunden mit riskanten Verhaltensweisen während der AbwesenheitExtreme Formen der Selbstverletzung

Was bedeutet „Hoch-Risiko-Klientel“?

Zündeln und BrandstiftungProf. Dr. phil. habil. Menno Baumann

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Versuch einer Annäherung

„Schön das Du da bist – Du wirst Dich bestimmt wohlfühlen!“

Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann

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Die fachliche Annäherung

„Kinder, die Systeme sprengen ?!☠

welches sich in einer durch

Brüche geprägten negativen Interaktionsspiralemit dem Hilfesystem, den Bildungsinstitutionen und der Gesellschaft befindet und diese durch als schwierig wahrgenommene Verhaltensweisen aktiv mitgestaltet.

(Baumann 2014)

Hoch-Risiko-Klientel

Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann

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Entlassung/ Rauswurf/ Beendigung der Maßnahme

Rückkehr nach Hause mit erneuter niedrigschwelliger Hilfe

Unterbringung in einer anderen Einrichtung

Suche nach intensiveren Maßnahmen (Pädagogischer Auslandsaufenthalt, geschlossene Unterbringung etc.)

Kinder- und Jugendpsychiatrie

Jugendvollzugsanstalt

StraßeDas Kind braucht Therapie!

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Gefahr der zirkulären Verschiebung…

Überforderungssituationen im Unterricht

Klassenkonferenzen und Elterngespräche

erste Suspendierung

Verkürzung des Stundenplans

Antrag auf Schulbegleitung

Teilnahme an einem Spezialprojekt

Versetzung an eine andere Schule gleicher Schulform

Doch Förderschule (wenn möglich)

Verschiebung: Der braucht Therapie!

Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann

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Mechanismen in diesem Prozess:

In einem in festen Settings, Hilfeformen und Zuständigkeiten denkendem System führen diese Kinder zu Etablierung spezifischer Delegationsmechanismen, die der Logik des Hilfesystems immanent sind:

- „Prinzip des Durchreichens“ i.d.R. bei Verschärfung der Maßnahmen

- „Nicht-Zuständigkeits-Erklärung“

- „Institutionelles Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom“

In der Konsequenz führt dies zu Prozessen der- Parallelität- des Nacheinanders und- des Gegeneinanders von Hilfen und Helfersystemen

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Viele vermeintliche „Systemsprenger“ gehen umso massiver in die Konfrontation, je „besser“, beziehungsorientierter und strukturierter das Angebot ist!

Unerwünschte Nebenwirkungen:

Das Kind wird zum „Profi“, pädagogische Bemühungen wieder abzuschütteln und ins Leere laufen zu lassen.

Das Helfersystem schafft seinerseits neue Diskontinuität!

Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann

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Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann

Aber warum heißt die Antwort „Vernetzung“ und „Kontinuität“?

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Cluster 4: Akzeptanz - VariablenWie erfolgreich wird die Arbeit des Projektes empfunden?

bezogen auf Unterricht und schulische Förderung: 0,79

bezogen auf die Unter-stützung von Familien und jungen Menschen: 0,89

bezogen auf die Verbesserung der Arbeits-bedingungen und Entlastung der Pädagogen:

0,89

Gesamt: 0,82

Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann

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Mädchen Jungen64 56

leichte Gewalterfahrungen 17 17

% 26,56% 30,36%schwere/

regelmäßige Gewalterfahrungen

9 13

% 14,06% 23,21%

Realschule Hauptschule33 45

leichte Gewalterfahrungen 7 17

% 21,21% 37,78%schwere/

regelmäßige Gewalterfahrungen

2 11

% 6,06% 24,44%

Differenz

Differenz

3,79%

9,15%

Differenz

Differenz

16,57%

18,38%

Baumann 2012

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Neighborhood Disorder

Social Cohesion

Parenting Behavior

+

-

Peer Deviance

-

+

-

Individuell Offending

Integration into School-

System+

+

+ / -

-

Ein Modell der Zusammenhänge riskant agierender junger Menschen

Vgl. Baumann 2012; Chung & Steinberg 2007

Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann

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Was braucht Pädagogik für den Umgang mit dieser Zielgruppe?Angebote, die…

… konfliktsicher, deeskalierend und präsent,

… reflektiert bezüglich Nähe-Distanz, Bindung-Abgrenzung,… dranbleibend, haltend ausgerichtet und nicht (so schnell)

abzuschütteln,

… Kontinuität vermittelnd, auch über Phasenverläufe hinweg,

… in ihrer Haltung verstehenden und traumasensiblen Ansätzen verpflichtet,

… mit Konzepten des (emotionalen) Schutzes und der Sicherung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ausgestattet,

… flexibel in der Umgestaltung des Settings, wenn nötig… sind.

Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann

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Aus Fallanalysen von vermeintlichen „Systemsprengern“ konnte ein Motiv herausgearbeitet werden, das in unterschiedlichen Nuancen ein Rolle bei dieser Eskalationslogik spielt (vgl. Baumann 2010, Kap. 6):

Kontrolle

Kontrolle situativer Unsicherheiten Kontrolle im Rahmen der

eigenen Biographie über/ gegen das Hilfesystem

Kontrolle über die Tragfähigkeit des umgebenen Netzes

Welcher Sinn kann eskalierendem Verhalten zugeordnet werden?

Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann

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Was bedeutet die Arbeit mit diesen jungen Menschen und ihren Familien?

Gewährleistung der Versorgung und des Schutzes des jungen Menschen vor weiteren schädigenden Einflüssen (versorgende Dimension).Konfrontation des jungen Menschen mit gesellschaftlichen Werten und Normen des Zusammenlebens (erzieherische Dimension).

Unterstützung bei der Entwicklung einer Zukunftsperspektive und Eröffnung möglichst vielfältiger Handlungsspielräume (bildungsorientierte Dimension).

Etablierung tragfähiger Beziehungs- und Bindungsangebote, mittels derer der junge Mensch Sicherheit gewinnen und seine Identität „reiben“ kann (therapeutische Dimension).

Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann

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In der Arbeit bedeutet dies eine enge Verzahnung von Angeboten…

… mit dem Ziel, Kontinuität in die Hilfeverläufe zu bringen!

… mit dem Ziel, anstatt „try & error“ –Kreisläufen frühzeitig „das Passende“ entgegenzusetzen!

… mit dem Kerngedanken, Familien und Sozialraum nicht aus der Verantwortung zu lassen, sondern in die Prozesse aktiv einzubinden

Das heißt: Statt „Null-Toleranz-Forderungen“, mittels derer Probleme lediglich verschoben werden, tritt die Devise

Vernetzung und Angebot!

Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann

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Erziehung und Förderung in natürlichen Kontexten durch Familie, Erzieher, Lehrer, Vereine etc.

Sozialtraining, Deeskala-tionstraining (Peer-oder Gruppenbezogen)

Schulung der Pädagogen und Sensibilisierung für Risikokinder und spe-zifische Problem

lagen

Formen kollegialer Beratung

Raumkonzepte (Rück-

zugsräume und offene

Räume in krisensitua-

tionen ; interne Inobhut-nahm

ekonzepte)

Individuelle Fallberatung, Hilfekonferenz

Förder- und Hilfe-planung/ Diagnostik/ Anamnese

Kriseninterventionen/ Konfliktmanagement/ Unterrichtsbegleitung

Krisengespräche/ Aushandlung von Betreuungsverträgen

Eltern-und Familienarbeit

Netzw

erkarbeit/ Jugend-arbeit/ Verknüpfung m

it Freizeitbereich

Lernwerkstätten/ Dezentralisierte Lern-orte / gemeindenahe Praktikumsbetriebe/ „Notfallplätze“

Soziale Gruppenarbeit (auch im Vormittags-bereich)

Intensive, ggf. isolierende Angebote

Zune

hmen

de In

tens

ivie

rung

und

Indi

vidu

alis

ieru

ng

der H

ilfen

Stufe 0:

Stufe 1: präventive und nicht-kategorisierende Unterstützung

Stufe 2:Individuelle, fallbezogene Unterstützung

Stufe 3:Intensive Intervention kurzfristige Betreu-ungsübernahme

Die „Klaviatur“ pädagogischer Unterstützungsmöglichkeiten

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Systemebenen der Wahrnehmung:

Familie

Positivsicht NegativsichtErziehungs- und Sozialisationsinstanz

statistisch gefährlichster Ort für Kinder

SchuleBildung Selektion

JugendhilfeHilfe Kontrolle

Kinder- und JugendpsychiatrieHeilung/ Therapie Ruhigstellung in Krisen

SozialraumIdentifikation mit Quartier

Zunehmende Anonymisierung

JustizVorrang der Erziehung

Strafend oder „zu lasch“

Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann

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Kontakt:[email protected]

Fort- und Weiterbildungen:www.leinerstift-akademie.de

Berufsintegrierender Master-Studiengang „Intensivpädagogik“:www.fliedner-fachhochschule.deLiteratur:Baumann, Menno: Verstehende Subjektlogische Diagnostik bei Verhaltensstörungen; Hamburg, 2009

Baumann, Menno: Kinder, die Systeme sprengen – Wenn Jugendliche und Erziehungshilfe aneinander scheitern; Baltmannsweiler, 2010

Baumann, Menno: Systemsprenger in der Schule – Der Ansatz der AktiF-Gruppe. In: Evangelische Jugendhilfe 4/2011; S. 210-218

Erscheint im Oktober:

Baumann, M. (Hrsg.): Neue Impulse in der Intensivpädagogik. EREV: Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe Band 11. Hannover