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8/15/2019 Rödl Selbstgesetzgebung Antrittsvorlesung (2) http://slidepdf.com/reader/full/roedl-selbstgesetzgebung-antrittsvorlesung-2 1/14  1 Selbstgesetzgebung 1  Einleitung Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend, und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er sich selbst als Urheber betrachten kann) unterworfen, angesehen werden muß. (GMS 70-1) Das schreibt Immanuel Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Man hat gesagt, diese Passage spreche den grundlegenden Gedanken der Philosophie der Moderne aus: die unbedingte Freiheit des Subjekts. Da der Wille sich selbst das Gesetz gibt, gebe es nichts, das ihn beschränken könne. Dagegen sei nach Aristoteles und seiner antiken Sicht des Kosmos unser Wille einem Gesetz unterworfen, das er sich nicht selbst gibt, sondern das ihm mit der  Natur des Menschen vorgegeben ist. Die Auslegung der Idee der Selbstgesetzgebung durch den Kontrast von Antike und Moderne, Aristoteles und Kant, ist ein Klischee, das uns in einer undurchschauten Metaphysik des Willens festhält, die uns hindert, die Materialität der menschlichen Vernunft zu begreifen. Ich will das erklären und versuchen, über das Klischee hinauszugelangen. Die zitierte Passage artikuliert einen Begriff des Willens, den Aristoteles tatsächlich unverständlich fände. Dies jedoch nicht, weil sich nach Aristoteles der Wille nicht selbst das Gesetz gäbe. Allerdings beschreibt Aristoteles die menschliche Natur als Prinzip des menschlichen Willens. Aber das hieße nur dann, daß der menschliche Wille sich nicht selbst das Gesetz gibt, wenn unser Menschsein eine Gewalt wäre, die von außen über unseren Willen hereinbricht und ihn sich unterjocht. Hier liegt die Kluft, die Kant von Aristoteles trennt. Nach Kant ist es dem menschlichen Willen äußerlich, Wille eines Menschen zu sein. Die menschliche Natur ist ein dem Willen überhaupt und deshalb dem menschlichen Willen fremdes Prinzip. Diese Metaphysik des Willens ist aber nicht das Prinzip der modernen Philosophie. Wenn sie es wäre, müßten wir Hegel, Marx und Wittgenstein als vormodern einordnen. 1  Mein Verständnis des Gegenstands dieses Essays ist tief geprägt von Michael Thompsons Arbeit. Der Leser vergleiche sein „Apprehending Human Form“.

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Selbstgesetzgebung1 

Einleitung

Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er

auch als selbstgesetzgebend, und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er sich

selbst als Urheber betrachten kann) unterworfen, angesehen werden muß. (GMS 70-1)

Das schreibt Immanuel Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Man hat gesagt,

diese Passage spreche den grundlegenden Gedanken der Philosophie der Moderne aus: die

unbedingte Freiheit des Subjekts. Da der Wille sich selbst das Gesetz gibt, gebe es nichts, das

ihn beschränken könne. Dagegen sei nach Aristoteles und seiner antiken Sicht des Kosmos

unser Wille einem Gesetz unterworfen, das er sich nicht selbst gibt, sondern das ihm mit der

 Natur des Menschen vorgegeben ist. Die Auslegung der Idee der Selbstgesetzgebung durch

den Kontrast von Antike und Moderne, Aristoteles und Kant, ist ein Klischee, das uns in einer

undurchschauten Metaphysik des Willens festhält, die uns hindert, die Materialität der

menschlichen Vernunft zu begreifen. Ich will das erklären und versuchen, über das Klischee

hinauszugelangen.

Die zitierte Passage artikuliert einen Begriff des Willens, den Aristoteles tatsächlich

unverständlich fände. Dies jedoch nicht, weil sich nach Aristoteles der Wille nicht selbst das

Gesetz gäbe. Allerdings beschreibt Aristoteles die menschliche Natur als Prinzip des

menschlichen Willens. Aber das hieße nur dann, daß der menschliche Wille sich nicht selbst

das Gesetz gibt, wenn unser Menschsein eine Gewalt wäre, die von außen über unseren

Willen hereinbricht und ihn sich unterjocht. Hier liegt die Kluft, die Kant von Aristoteles

trennt. Nach Kant ist es dem menschlichen Willen äußerlich, Wille eines Menschen zu sein.

Die menschliche Natur ist ein dem Willen überhaupt und deshalb dem menschlichen Willen

fremdes Prinzip. Diese Metaphysik des Willens ist aber nicht das Prinzip der modernen

Philosophie. Wenn sie es wäre, müßten wir Hegel, Marx und Wittgenstein als vormodern

einordnen.

1 Mein Verständnis des Gegenstands dieses Essays ist tief geprägt von Michael Thompsons Arbeit.

Der Leser vergleiche sein „Apprehending Human Form“.

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Aristoteles und Kant sind einander nicht so entgegengesetzt, daß nach Aristoteles die

menschliche Natur dem Willen sein Gesetz gibt, während nach Kant der Wille selbst sich sein

Gesetz gibt. Vielmehr ist einmal der Wille, der sich das Gesetz gibt, der menschliche Wille,

während es das andere Mal der Wille überhaupt ist, dem es zufällig ist, daß das Leben, in dem

er sich verwirklicht, das eines Menschen ist. Wenn man sagt, daß Kant einen Begriff der

Freiheit expliziere, den Aristoteles nicht kenne, und nicht vielmehr eine Metaphysik des

Willens, die den menschlichen Willen vom menschlichen Leben abtrennt, trägt man diese

Metaphysik in den Begriff der Freiheit ein. Es ist dann ein analytischer Satz, daß unsere

Freiheit darin liegt, das Joch unseres Menschseins abzuwerfen. Ob das wahr ist oder nicht,

wir dürfen unsere Begriffe nicht so bilden, daß wir danach nicht mehr fragen können.

Die zum Klischee erstarrte Deutung der Selbstgesetzgebungsformel, die in ihr eineFreiheit des Subjekts ausgesprochen findet, die die Antike nicht kannte, versteht schon Kant

nicht. Ich werde zuerst erläutern, weshalb der Begriff der Freiheit, den diese Auslegung in

Kant findet, leer ist. Dann sage ich, was, wie ich denke, Kant meint, wenn er sagt, der Wille

gebe sich sein Gesetz. Daraus wird hervorgehen, daß das nur dann ausschließt, daß die

menschliche Natur das Prinzip des menschlichen Willens ist, wenn wir ein bestimmtes

empiristisches Dogma zugrundelegen. Dieses Dogma versperrt den Weg zum Begriff einer

wesentlich menschlichen Vernunft. Es ist nicht die Idee der Freiheit, sondern der Empirismus,

der die Moderne prägt, jedoch nicht als eine Erkenntnis, die die Moderne errungen hat,

sondern als eine Krankheit, von der sie sich zu heilen sucht.

Die paradoxe Deutung

Wir sind frei, das heißt, nichts beschränkt uns in dem, was wir wollen. Andererseits sind wir

vernünftig, und darin sind wir an Regeln gebunden. Wir können verstehen, wie wir ebenso

frei wie vernünftig sein können, wenn wir nur an Regeln gebunden sind, an die uns zu binden

wir frei gewählt haben. Wir sind frei und vernünftig, da wir allein Gesetzen unterworfen sind,

denen wir uns unterworfen haben. So erklärt es Robert Brandom:

Kant’s practical philosophy [...] takes its characteristic shape from his dual commitment to

understanding us as rational and as free. To be rational, for him, means to be bound by rules.

But Kant is concerned to reconcile our essential nature as in this way bound by norms with

our radical autonomy [...] in the thesis that the authority of these rules over us derives from

our acknowledgment of them as binding on us. Our dignity as rational beings consists

 precisely in being bound only by […] rules we have freely chosen [...] to bind ourselves with.

( Making It Explicit , 50.)

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Wir geben uns selbst ein Gesetz. Da wir das tun, sind wir noch an nichts gebunden. Erst

nachdem wir uns das Gesetz gegeben haben, sind wir gebunden, nämlich an dieses Gesetz.

Das ist jedoch schwer zu verstehen. Wir waren durch nichts gebunden, uns das Gesetz zu

geben, das wir uns gegeben haben. Was soll uns dann hindern, uns von diesem Gesetz wieder

loszubinden? Wenn wir sagen, daß wir, da wir uns das Gesetz gegeben haben, nun daran

gebunden sind, behaupten wir, daß der Akt, in dem wir uns an das Gesetz binden, den Akt, in

dem wir uns von ihm lossagen, verbietet. Offenbar können wir hier vom Gesetz selbst ganz

absehen; es ist ein fünftes Rad am Wagen. Es gibt nur zwei Akte, deren einer den anderen soll

gebieten oder verbieten können. Aber das ist unverständlich, denn beide Akte unterscheiden

sich in nichts. Genauer unterscheiden sie sich allein darin, daß der eine früher als der andere

ist. Aber ein zeitlicher Unterschied begründet keinen Unterschied der Autorität, es sei denn,

ein Gesetz schreibt ihm eine solche Bedeutung zu. Aber wir wollten ja erklären, wie ein

Gesetz gelten kann.

Man kann die Schwierigkeit so formulieren, daß wir uns nur ein Gesetz geben können,

wenn der Akt, in dem wir uns an es binden, gerade nicht durch nichts beschränkt ist, sondern

schon einem Gesetz untersteht, welchem wir dann jedoch nicht deswegen unterstehen, da wir

es uns gegeben haben. So beschreibt es Terry Pinkard:

If the will imposes such a ‘law’ on itself, then it must do so for a reason (or else be lawless);a lawless will, however, cannot be regarded as a free will; hence, the will must impose this

law on itself for a reason that then cannot itself be self-imposed […]. The ‘paradox’ is that

we seem to be both required not to have an antecedent reason for the legislation of any basic

maxim and to have such a reason. (German Philosophy 1760-1860, 226.)

Pinkard nennt das das „Kantian paradox“, denn es soll eines sein, in das man sich verstrickt,

wenn man anzugeben sucht, was es bedeutet, daß der Wille sich selbst sein Gesetz gibt.

Pinkard glaubt, daß Hegels Philosophie wesentlich ein Versuch ist, mit diesem Paradoxzurechtzukommen.

It is probably not going too far to say that Hegel viewed the ‘Kantian paradox’ as the basic

 problem that all post-Kantian philosophies had to solve; and the solution had to be to face up

to the paradox and to see how we might make it less lethal to our conception of agency while

still holding onto it. (German Philosophy 1760-1860, S. 226-7.)

Eine Weise, mit dem Paradox leben zu wollen, von der gesagt wird, sie sei in Hegels

Schriften zu finden, etwa im Selbstbewußtseinskapitel der Phänomenologie, erklärt, daß nicht

ein Subjekt allein sich ein Gesetz gebe, sondern wenigstens zwei Subjekte, die wechselseitig

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füreinander gesetzgebend seien. Sie geben sich ein Gesetz, indem der eine den anderen dem

Gesetz unterwirft, und dieser seinerseits jenen. Da ich dir ein Gesetz gebe, und du dasselbe

mir, sind wir beide dem Gesetz unterworfen, aber ich nicht durch meinen gesetzgebenden

Akt, was nicht zu verstehen wäre, und du nicht durch deinen, sondern ich durch deinen und

du durch meinen. Indem ich dir ein Gesetz gebe, bin ich schon an ein Gesetz gebunden, an

das, welches du mir gibst. Und indem du mir ein Gesetz gibst, bist du an das Gesetz

gebunden, das ich dir gebe. So sind wir beide dem Gesetz ebenso unterworfen, wie wir es

einsetzen. Auf diese Weise, scheint es, können zwei gemeinsam, was einer allein nicht kann:

sich selbst ein Gesetz geben.

Diese Weise, das Paradox zu behandeln, wird nur für einen Augenblick befriedigen.

Daß das zweite Subjekt nichts hilft, sieht man, sobald man bemerkt, daß erneut das Gesetz einfünftes Rad am Wagen ist, und wir nur die Beziehung der gesetzgebenden Akte zueinander

 betrachten müssen. Es ist klar, daß dein Akt mich nicht binden kann, es sei denn, hinter ihm

steht ein Gesetz, das ihn autorisiert. Dieses Gesetz soll dasjenige sein, das ich dir gebe. Dem

unterstehst du jedoch nur, wenn mein Akt dich binden kann, was er nur kann, wenn hinter

ihm ein Gesetz steht, das ihn autorisiert. Nun soll umgekehrt dieses Gesetz dasjenige sein, das

du mir gibst. Aber wir versuchen erst zu verstehen, wie es möglich ist, daß du mir ein Gesetz

gibst. Wenn man sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann, helfen zwei im

Sumpf Versinkende sich nicht, indem sie einander an den Haaren packen.

An dieser Stelle ist es in der Literatur populär, der horizontalen Dimension der

wechselseitigen Anerkennung eine vertikale Dimension der historischen Beziehung

hinzuzufügen. Die Struktur der Schwierigkeit ist jedoch zu einfach, als daß man nicht sähe,

daß das das Paradox nur erneut verschieben, aber nicht beheben kann. Das bedeutet nicht, daß

wechselseitige Anerkennung und historische Tradition in einer Erläuterung menschlicher

Freiheit keine Rolle spielen. Es bedeutet, daß es mit den gegebenen begrifflichen Mitteln

nicht möglich ist zu verstehen, welche Rolle sie spielen. Wechselseitige Anerkennung und

das geschichtliche Verhältnis sind vermittelt durch die Freiheit der Selbstgesetzgebung,

weshalb wir jene erst begreifen, wenn wir diese verstehen.

Kants Begriff der Selbstgesetzgebung

Wir sind die übliche Deutung der Selbstgesetzgebungsformel durchgegangen, um zu sehen,

daß sie der Rede davon, daß der Wille sich selbst das Gesetz gibt, keinen Sinn geben kann.

Sie verstrickt sich in ein Paradox, da sie meint, Selbstgesetzgebung bedeute, daß ich mir ein

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Gesetz gebe, während ich noch an kein Gesetz gebunden bin, woraufhin ich in dem, was ich

weiterhin will und tue, an dieses Gesetz gebunden bin. Kant muß etwas anderes meinen.

Lesen wir nach.

Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß erauch als selbstgesetzgebend [...] angesehen werden muß.

Kant sagt, der Wille ist dem Gesetz so unterworfen, daß er gesetzgebend ist. Die Worte „sich

das Gesetz geben“ bezeichnen also eine Weise, in der etwas einem Gesetz unterworfen sein

kann. Wenn wir sagen, daß der Wille sich das Gesetz gibt, beschreiben wir ihn als diesem

Gesetz unterworfen; wir sagen, wie er ihm unterworfen ist. Mir selbst das Gesetz zu geben, ist

nichts, was ich tue, ohne noch diesem Gesetz unterworfen zu sein. Daß ich mir das Gesetz

gebe und daß ich ihm unterworfen bin, sind nicht zwei Sachverhalte, deren einer dem anderen

zugrunde liegt. Es ist ein Sachverhalt. Wir müssen also fragen, wie der Wille einem Gesetz

unterworfen ist, wenn die Weise, in der er ihm unterworfen ist, so zu beschreiben ist, daß er

sich selbst dieses Gesetz gibt.

In der Deutung der Selbstgesetzgebungsformel, nach der sie paradox und also leer ist,

spielt das selbstgegebene Gesetz keine Rolle. Wir können von ihm absehen und müssen nur

fragen, wie ein Akt den anderen binden kann, um zu finden, daß er das nicht kann. In Kants

Text spielt das selbstgegebene Gesetz eine wesentliche Rolle. Es ist ja ein formales Merkmal

des fraglichen Gesetzes, daß der Wille ihm so unterworfen ist, daß er es sich selbst gibt.

Unser Gegenstand ist also eine bestimmte Art von Gesetz. Kant sagt nun nicht nur, daß der

Wille sich selbst das Gesetz gibt, sondern häufiger und gleichbedeutend, daß der Wille sich

selbst Gesetz ist. Ein Gesetz, dem der Wille so unterworfen ist, daß er es sich selbst gibt, ist

ein Gesetz, das der Wille selbst ist. Um weiterzukommen, müssen wir zunächst überlegen,

was der Wille ist. Dann können wir fragen, wie er sein eigenes Gesetz sein kann.

Der Wille ist ein Vermögen, das sich manifestiert, wenn jemand etwas will oder

willentlich tut. Kant charakterisiert es so.

Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das

Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien zu handeln, oder einen

Willen. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfodert wird, so ist der

Wille nichts anders, als praktische Vernunft. (GMS 36)

Der Wille ist praktische Vernunft. Damit uns das etwas sagen kann, müssen wir zuerstverstehen, was Vernunft ist, und dann, was sie praktisch macht. Vernunft ist das Vermögen,

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Allgemeines als solches vorzustellen, und also das logische Verhältnis, in dem das

Allgemeine zu dem steht, was unter es fällt. So wissen wir etwa, daß Eisen rostet, wenn es

feucht ist. Was wir da wissen, ist etwas Allgemeines, also nichts, was hier und jetzt ist. Was

hier und jetzt ist, kann dieses Allgemeine exemplifizieren, etwa die Gartenschere, die draußen

liegengeblieben und daher gerostet ist. Wenn wir erklären, daß die Schere gerostet ist, weil sie

der Feuchtigkeit ausgesetzt war, repräsentieren wir das, was geschehen ist, als Fall des

allgemeinen Sachverhalts, daß Eisen bei Feuchtigkeit rostet. Kant nennt eine Vorstellung, die

etwas Allgemeines als solches vorstellt, einen Begriff.

Diese Weise, den Ausdruck „Begriff“ zu verwenden, weicht von einer heute

verbreiteten ab. Nach dieser verfügt etwa ein Schimpanse über den Begriff des Menschen,

wenn er auf Menschen (in Versuchen oft: auf Bilder von Menschen) anders reagiert als aufanderes. Allgemein verfügt ein Lebewesen über einen Begriff, wenn es sich nach einer Regel

verhält, die man nicht artikulieren kann, ohne diesen Begriff zu verwenden. Im Beispiel wäre

die Regel: Wenn dem Schimpansen ein Bild eines Menschen gezeigt wird, tut er dies und das,

was er nicht tut, wenn auf dem Bild kein Mensch zu sehen ist. Indem wir das Verhalten des

Schimpansen unter diese Regel bringen, repräsentieren wir etwas Allgemeines, nämlich den

durch die Regel artikulierten allgemeinen Zusammenhang, und das logische Verhältnis dieser

Regel zu etwas, das sie exemplifiziert. Das heißt, wir verwenden einen Begriff im Kantischen

Sinn. Dagegen folgt daraus, daß der Schimpanse sich nach der Regel verhält, nicht, daß er

selbst diese Regel repräsentiert und das, was er tut, unter diese Regel bringt. Es folgt nicht,

daß er im Kantischen Sinn Begriffe verwendet. Es ist gleichgültig, welche Wörter man wofür

verwendet. Man kann sagen, daß Schimpansen über Begriffe verfügen. Wenn man allerdings

anschließt, das zeige, daß die Philosophie zu Unrecht behauptet habe, daß allein der Mensch

Begriffe verwende, läßt man sich von Wörtern irreführen.

Kant sagt, der Wille sei praktische Vernunft. Da Vernunft das Vermögen ist,

Allgemeines vorzustellen, ist der Wille das Vermögen, Allgemeines praktisch vorzustellen.

Das können wir so erläutern. Der Schimpanse handelt in dem Sinn nach einer Regel, daß das,

was er tut, diese Regel exemplifiziert und durch sie verstanden werden kann. Das schließt

nicht ein, daß er die Regel vorstellt und das, was er tut, ihr unterordnet. Wer nun Vernunft

hat, tut auch dies. Er handelt nach der Regel, und er ordnet das, was er tut, der Regel unter.

Damit ist aber sein Vorstellen noch nicht praktisch, sofern nämlich beides unverbunden

nebeneinander steht: daß er die Regel exemplifiziert und daß er sich unter die Regel bringt.

Das Vorstellen ist praktisch, wenn beides dasselbe ist: wenn er die Regel so exemplifiziert,

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daß er das, was er tut, der Regel unterordnet, wenn er also, wie Kant es in der oben zitierten

Passage ausdrückt, sein Handeln aus der Regel ableitet.

 Nehmen wir ein Beispiel. Ich backe einen Pflaumenkuchen, mache mich an die Arbeit

und setze den Vorteig an. Da ich das tue, exemplifiziere ich den Begriff des Pflaumenkuchen-

 backens. Wenn mich nun einer fragt, warum ich Milch über die Hefe träufle, erkläre ich: „Ich

 backe einen Pflaumenkuchen, und da setzt man zunächst einen Vorteig an, usw.“ Und auch

wenn mich niemand fragt und ich, da ich Milch über die Hefe träufle, über Kant und

Aristoteles nachdenke, weiß ich doch, daß ich, da ich den Vorteig ansetze, einen Pflaumen-

kuchen backe. Indem ich den Vorteig ansetze, exemplifiziere ich also nicht nur den Begriff

des Pflaumenkuchenbackens; ich ordne das, was ich tue, diesem Begriff unter. Weiter steht

 beides nicht unverbunden nebeneinander. Es geschieht nicht zunächst etwas, das den Begriffexemplifiziert, welches ich dann unter den Begriff bringe. Sondern ich exemplifiziere den

Begriff des Pflaumenkuchenbackens, indem ich aus ihm ableite, was zu tun ist, wenn man

einen Pflaumenkuchen backt: den Vorteig ansetzen, etwas gehen lassen, kneten, wieder gehen

lassen, usw. Der Begriff ist also nicht von dem, was unter ihn fällt, abgeleitet; es ist nicht die

Instanz gegeben, und der Begriff wird auf sie angewendet. Sondern umgekehrt ist die Instanz

des Begriffs von diesem abgeleitet; der Begriff wird so angewendet, daß eine Instanz des

Begriffs wirklich wird. Mein Begriff des Pflaumenkuchenbackens regiert einen Vorgang, der,

wenn er glücklich an sein Ende gelangt, darin mündet, daß ein Pflaumenkuchen gebacken ist,

womit eine Instanz dieses Begriffs vorliegt.

Kant bestimmt den Willen als „Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze [...] zu

handeln.“ Diese Vorstellung ist praktisch, da ich nicht einerseits in dem, was ich tue, das

Gesetz exemplifiziere, und andererseits das, was ich tue, unter es bringe, sondern vielmehr so

handle, daß ich das, was ich tue, aus dem Gesetz ableite. Aristoteles trifft dieselbe

Unterscheidung, wenn er die Tugend als hexis meta tou orthou logou unterschieden von einer

hexis kata ton orthon logon bestimmt. Der praktische Begriff ist der, mit dem man handelt. Es

überrascht nicht, daß wir Kants Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft

 bei Aristoteles finden, denn Aristoteles ist ihr Urheber.

Der Wille ist praktische Vernunft, das Vermögen, Allgemeines praktisch vorzustellen,

das heißt so, daß man nach dieser Vorstellung handelt. Bevor wir angeben, was es heißt, daß

der so bestimmte Wille sein eigenes Gesetz ist, müssen wir noch einen Punkt festhalten, der

später wichtig werden wird. Wenn ich einen Begriff praktisch anwende, so, daß ich mit ihmhandle, also aus ihm ableite, was zu tun ist, um etwas zu tun, das unter ihn fällt, wird das, was

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unter ihn fällt, erst wirklich, indem ich ihn so anwende. Ich weiß also praktisch, und das heißt,

nicht empirisch, was ich willentlich tue. Ich wende einen Begriff empirisch an, wenn das, was

unter ihn fällt, mich sinnlich affiziert. Dazu muß das, worauf ich den Begriff anwende,

unabhängig davon wirklich sein, daß ich ihn darauf anwende, was gerade nicht der Fall ist,

wenn ich mit dem Begriff handle. Da ich den Vorteig ansetze, weiß ich, daß ich einen

Pflaumenkuchen backe. Ich weiß das, nicht indem ich beobachte, daß etwas vor sich geht, das

unter diesen Begriff fällt, sondern indem ich mit diesem Begriff handle. Das sieht man daran,

wie ich antworte, wenn mir jemand, dem ich sage, daß ich Pflaumenkuchen backe, vorhält,

„Du sagst, du backst Pflaumenkuchen? Aber du nimmst ja Schweineschmalz.“ Da sage ich

nicht, „Sieh an, ich habe mich geirrt. Ich backe gar keinen Pflaumenkuchen. Laß uns sehen,

was ich tue. Vielleicht brate ich ein Kotelett.“ Sondern ich sage: „Wie dumm von mir. Jetzt

muß ich noch einmal von vorne anfangen. Oder vielleicht kann ich es noch retten und den

Schmalz herausholen.“ Da ich das sage, backe ich weiter Pflaumenkuchen.

Kehren wir zurück zu der Formel, der Wille sei sich Gesetz. Kant erklärt, der Wille sei

sich Gesetz, wenn er sein eigener Bestimmungsgrund ist. „Bestimmungsgrund des Willens“

ist dabei so zu verstehen. Wenn ich sage, daß jemand gerade dies und das tut, etwa einen

Pflaumenkuchen backt, gebe ich eine Bestimmung seines Willens, und zwar beschreibt eine

solche partikulare Aussage einen Akt seines Willens. Man kann nun nach dem Grund dieser

Bestimmung fragen, danach also, wodurch verstanden werden kann, warum er dies tut. Weiter

gebe ich eine Bestimmung seines Willens, wenn ich sage, was er im allgemeinen tut, etwa

sonntags Tennis spielt. Eine solche allgemeine Aussage gibt ein Gesetz seines Willens.

Wieder kann ich nach dem Grund der gegebenen Bestimmung fragen, nach dem, wodurch

verstanden werden kann, warum das Gesetz seinen Willen regiert. Daß der Wille sein eigener

Bestimmungsgrund ist, heißt dann, daß man, um zu erklären, warum er dem fraglichen Gesetz

unterliegt, sich nur auf den Willen selbst beziehen muß. Wir können das negativ formulieren

und sagen, daß man keine äußerlichen Bedingungen anführen muß, in denen sich der

fragliche Wille zufällig findet. Und wir können es positiv formulieren und sagen, daß das

fragliche Gesetz in allem seinem Wollen und willentlichen Tun immer schon wirksam ist.

Dabei ist die negative Formulierung durch die positive zu verstehen: Daß etwas dem Willen

äußerlich ist, bedeutet, daß es nicht jedem Wollen als solchem schon zugrunde liegt.

Kants Ausschluß des Menschen

Schauen wir einen Moment zurück, um uns zu orientieren. Die Selbstgesetzgebungsformel

wird oft als Ausdruck einer spezifisch modernen Idee der Freiheit angesehen, nach welcher

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Tennisspiel, und die ist die Bedingung dafür, daß ich mir die Regel „Spiele sonntags Tennis“

zum Prinzip mache.

Kant erklärt, in diesem Fall sei „dieses Prinzip [...] jederzeit empirisch“ (ebd.). Ich

weiß nur empirisch, daß es meinen Willen bindet. Hier müssen wir uns zunächst klar machen,

was es bedeutet zu wissen, daß mein Wille einem Gesetz untersteht. Ich kann wissen, daß ich

einem positiven Gesetz unterstehe, ohne daß dieses Gesetz meinen Willen bestimmt, ohne daß

es also ein Gesetz meines Willens ist. Ich weiß dann, daß das fragliche Gesetz dies und das zu

tun vorschreibt, womit für mich jedoch noch offen ist, was ich tue. Ein Gesetz meines Willens

dagegen ist eines, das ich praktisch vorstelle, eines, mit dem ich handle, eines, aus dem ich

ableite, was zu tun ist. Anstelle des Gerundivs „zu tun“ können wir auch sagen, daß ich das,

was ich gemäß dem Gesetz tue, als etwas vorstelle, das ich tun sollte oder das zu tun gut ist.Dabei ist wichtig, daß die Ausdrücke „gut“ und „sollen“ als solche keine moralische

Bedeutung haben, sondern nur angeben, wie das Gewollte als solches vorgestellt wird. So

antworte ich auf die Frage „Was machen wir heute abend?“: „Wir sollten ins Kino gehen“

oder „Kino wäre gut“.

Wenn also „Ich spiele sonntags Tennis“ eine Regel ist, die meinen Willen bestimmt,

repräsentiere ich mein sonntägliches Tennisspielen als gut. Und zwar ist es gut, weil es mir

Spaß macht. Nun weiß ich aber, daß es mir Spaß macht, Tennis zu spielen, und daherTennisspielen gut ist, da ich es ausprobiert und so gefunden habe. Ich weiß empirisch, daß es

mir Lust macht. Das gilt allgemein.

Es kann aber von keiner Vorstellung irgend eines Gegenstandes [...] a priori erkannt werden,

ob sie mit Lust oder Unlust verbunden, oder indifferent sein werde. Also muß in solchem Fall

der Bestimmungsgrund der Willkür jederzeit empirisch sein, mithin auch das praktische

materiale Prinzip, welches ihn als Bedingung voraussetzt. (KpV, 39)

Das ist analytisch und liegt im Begriff der Lust. Der erste Ausdruck der Lust, oft von Kindern

zu hören, ist: „Mehr!“, „Weiter!“, „Noch einmal!“ Was Lust macht, ist als solches das

Fortgesetzte oder Wiederholte. Daher weiß ich nur, daß etwas mir Lust macht, da ich es schon

tue oder getan habe. Wenn also der Bestimmungsgrund meines Willens die Lust ist, weiß ich

mich nur dadurch der fraglichen Regel unterworfen, daß ihr Gegenstand mich affiziert, denn

nur dadurch repräsentiere ich die Regel praktisch, nämlich das, was sie vorschreibt, als gut.

Mein Wille kann jedoch auch einer Regel wie dieser unterstehen: „Ich halte, was ich

versprochen habe.“ Zwar läßt sich dem Satz nicht ansehen, ob es sich mit dieser Regel nicht

so verhält wie mit der obigen. Es ist möglich, daß ich bemerkt habe, daß ich mich gut fühle,

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wenn ich tue, was ich versprochen habe, und daß dies der Bestimmungsgrund meines Willens

ist. Dann weiß ich empirisch, daß man tun sollte, was man versprochen hat. Es ist aber

möglich, daß die Regel meinen Willen auf andere Weise bestimmt. Vielleicht weiß ich, daß es

gut ist, sein Versprechen zu halten, nicht weil ich es ausprobiert und gefunden habe, daß mir

dann wohl ist. Das würde sich daran zeigen, daß ich denke, daß ich mein Versprechen halten

sollte, auch wenn ich mir keine Lust erwarte. Das schließt nicht aus, daß ich Lust empfinde,

wenn ich tue, was ich versprochen habe. Aber die Lust ist nicht der Bestimmungsgrund des

Willens, sondern eine Folge davon, daß mein Wille durch das Gesetz bestimmt ist. Ich weiß,

daß es gut ist zu tun, was man versprochen hat, nicht weil es mir Lust bereitet. Sondern es

 bereitet mir Lust, weil es gut ist. Ich weiß also nicht empirisch, nicht dadurch, daß mich der

Gegenstand des Gesetzes affiziert, daß ich dem Gesetz unterstehe.

Wir haben zwei Regeln betrachtet, „Spiele sonntags Tennis“ und „Halte dein Wort.“

Im einen Fall weiß ich empirisch, im anderen nicht empirisch, daß mein Wille der Regel

unterworfen ist. Nun erklärt Kant, daß der Bestimmungsgrund des Willens der Wille selbst

ist, wenn ich mich einem Gesetz nicht empirisch unterworfen weiß, während umgekehrt der

Bestimmungsgrund eine dem Willen äußerliche Bedingung ist, wenn ich nur empirisch weiß,

daß das Gesetz meinen Willen regiert. Wir verstehen, weshalb das so ist, wenn wir uns an den

Punkt erinnern, den wir oben gleichsam auf Vorrat gemacht haben. Wir haben gesagt, daß ich

nicht empirisch, sondern praktisch weiß, daß ich etwas willentlich tue: nicht indem ich

 beobachte, daß ich unter einen Begriff falle, sondern indem ich mit diesem Begriff handle.

Weiter haben wir erklärt, daß ein Gesetz, das mein Wille sich selbst ist, in jedem Akt meines

Willens immer schon wirksam ist. Ich muß daher, um ein solches Gesetz zu erkennen, nur auf

diese Akte reflektieren. Da ich nun von meinem willentlichen Tun nicht empirisch weiß, ist

auch mein Wissen um das Gesetz meines Wollens nicht empirisch. Wenn ich umgekehrt nur

empirisch weiß, daß ein Gesetz mich bestimmt, beweist das, daß es nicht in meinem Wollen

immer schon enthalten ist, sondern ich ihm unter einer Bedingung unterstehe, die meinem

Willen äußerlich ist und die ich deswegen nicht allein durch Reflexion auf mein Wollen

erkennen kann.

Kant verwendet die Formeln „Der Wille ist sich das Gesetz“ und „Der Wille gibt sich

das Gesetz“ austauschbar. Wir können jetzt sagen, weshalb sie dasselbe bedeuten. Wenn mein

Wille sich selbst Gesetz ist, gibt er sich dieses Gesetz. Denn ich weiß mich dem Gesetz nicht

empirisch unterworfen, sondern allein durch Reflexion auf mein Wollen. Mit meinem Willen

verfüge ich daher über alles, was ich brauche, um das Gesetz praktisch vorzustellen. Das

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Vermögen, das durch das Gesetz gebunden ist, mein Wille, erklärt allein, weshalb ich mich

unter dem Gesetz weiß. Deshalb sagt Kant, ich sei dem Gesetz so unterworfen, daß ich es mir

gebe: Daß ich dem Gesetz unterworfen bin, enthält, daß ich es praktisch vorstelle und in

diesem Sinn mir gebe.

Ein selbstgegebenes Gesetz, das in jedem Akt meines Willens wirksam ist, erkenne

ich nicht empirisch, sondern praktisch, nämlich durch Reflexion auf mein Wollen, von dem

ich seinerseits praktisch weiß. Das ist ein analytischer Satz; er erläutert den Begriff des

selbstgegebenen Gesetzes. Aus ihm folgt weiter analytisch, daß die Lust meinem Willen

äußerlich ist. Denn es liegt im Begriff der Lust, daß ich nur empirisch weiß, was mir Lust

macht. Kant folgert nun weiter, daß die menschliche Natur nicht das Prinzip des Willens ist.

Und so verhält es sich, wenn die menschliche Natur nur empirisch erkannt wird. Der Menschkennt den Menschen nur empirisch: das ist nun kein analytischer Satz mehr, sondern das ist

das empiristische Dogma, von dem wir oben sprachen. Wir werden jetzt seine Wirkung

 beobachten und sehen, wie es Kants Metaphysik des Willens erzwingt.

Der Wille überhaupt ist das, was die oben gegebene formale Beschreibung des Willens

enthält: der Wille ist ein Vermögen, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln. Ein

willentliches Tun ist jedoch nicht nur durch diese Form, sondern darüber hinaus materiell

 bestimmt. Die Materie meines Wollens hängt nun überall von Bestimmungen desmenschlichen Lebens ab, die es als materiell charakterisieren. Zu diesen gehört etwa, was und

wie oft Menschen essen, wann und wie lange sie schlafen, wann ihre Nachkommen

selbständig lebensfähig sind, wie sie miteinander kooperieren, usw. Da dies alles nicht aus

dem formalen Begriff des Willens ableitbar ist, können wir uns mit einem Willen begabte

Lebewesen denken, deren Lebensform von unserer beliebig abweicht. Sie nehmen

kontinuierlich Nahrung auf. Sie schlafen nicht. Ihre Nachkommen sind unmittelbar ohne Hilfe

lebensfähig. Sie leben solitär. Es ist klar, daß die Materie ihres Wollens mit der unseres

Wollens wenig gemein hätte.

Kant erklärt, daß ich praktisch, durch Reflexion auf mein Wollen, allein seine Form

erkennen könne. Dagegen kennte ich die Materie meines Wollens nur empirisch. Jede

materielle Bestimmung meines Wollens gründete in der Lust an seinem Gegenstand. Wenn es

sich so verhält, weiß ich von jeder Willensbestimmung, die von der Natur des menschlichen

Lebens abhängt und meinen Willen als menschlichen charakterisiert, nur empirisch. Das ist

das empiristische Dogma.

Ich verstehe unter der Materie des Begehrungsvermögens einen Gegenstand, dessen

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Wirklichkeit begehret wird. [...] Der Bestimmungsgrund der Willkür ist alsdenn die

Vorstellung eines Objekts, und dasjenige Verhältnis derselben zum Subjekt, wodurch das

Begehrungsvermögen zur Wirklichmachung desselben bestimmt wird. Ein solches Verhältnis

aber zum Subjekt heißt die Lust an der Wirklichkeit des Gegenstandes. (KpV 38-9)

Ein Gesetz, das unseren Willen nicht vermöge der Lust an seinem Gegenstand

 bestimmt, gibt sich damit als selbstgegeben zu erkennen. Ein Beispiel eines Gesetzes, das wir,

wie ich hoffe, so auffassen, ist „Halte, was du versprochen hast“. Wenn wir das empiristische

Dogma zugrundelegen, nach dem alle Materie des Wollens ihren Ursprung in der Sinnlichkeit

hat und also umgekehrt die praktische Vernunft frei von jeder materiellen Bestimmung ist,

was bedeutet, daß sie nicht wesentlich Vernunft eines Menschen ist, dann ist zunächst nicht

zu verstehen, wie dieses Gesetz, „Halte, was du versprochen hast“, selbstgegeben sein kann.

Denn der Begriff des Versprechens ist nicht aus der formalen Definition des Willens

ableitbar. Er reflektiert ein menschliches Bedürfnis der Kooperation, welches nicht in jedem

mit Willen begabtem Leben vorliegen muß. Wenn wir dennoch das Gesetz als selbstgegeben

 beschreiben wollen, müssen wir den Bestimmungsgrund des Willens, insofern er durch das

fragliche Gesetz gebunden ist, angeben, ohne den Begriff des Versprechens zu verwenden.

Der Wille muß allein durch die Form des Gesetzes bestimmt werden, durch das also, was es

mit allen selbstgegebenen Gesetzen gemein hat, auch mit denen von Lebewesen, die den

Begriff des Versprechens nicht verstünden, weil sie das zugehörige Bedürfnis nicht kennen.

Wenn ein vernünftiges Wesen sich seine Maximen als praktische allgemeine Gesetze denken

soll, so kann es sich dieselbe nur als solche Prinzipien denken, die, nicht der Materie, sondern

 bloß der Form nach, den Bestimmungsgrund des Willens enthalten. [...] Nun bleibt von dem

Gesetze, wenn man alle Materie [...] (als Bestimmungsgrund) davon absondert, nichts übrig,

als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung. (KpV 48-9)

Das empiristische Dogma, das alle materiellen Bestimmungen aus dem Bereich praktischen Wissens ausschließt, impliziert, daß der Begriff des Versprechens nicht an sich

selbst ein Begriff der praktischen Vernunft ist. Die praktische Vernunft hat nur einen Begriff,

den Begriff des selbstgegebenen Gesetzes. Nach Aristoteles dagegen gehört der praktischen

Vernunft ein System materialer Begriffe, nämlich alle Tugendbegriffe, die allesamt Begriffe

des menschlichen Lebens sind. Damit verneint Aristoteles implizit das empiristische Dogma,

nach dem materielle Bestimmungen des Willens nur empirisch erkannt werden.

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Schluß

Kant trennt sich von Aristoteles, nicht da er sagt, daß der Wille sich selbst sein Gesetz gibt,

sondern da er erklärt, daß der Wille, der sich selbst das Gesetz gibt, nicht der menschliche

Wille ist, sondern der Wille überhaupt. Daß der Wille sich selbst Gesetz ist, schließt aus, daß

die menschliche Natur sein Prinzip ist, wenn es dem menschlichen Willen äußerlich ist, der

Wille eines Menschen zu sein. Daß Kant die Selbstgesetzgebung des Willens so versteht, liegt

nicht daran, daß er die Idee der unbedingten Freiheit des Subjekts gefaßt hat, sondern daran,

daß er einem empiristischen Dogma anhängt.

Ich weiß nicht empirisch, daß ich einem selbstgegebenen Gesetz unterstehe. Daraus

folgt, daß ein selbstgegebenes Gesetz meinen Willen nicht vermittels der Lust bestimmt, denn

was mir Lust bereitet, weiß ich nur aus Erfahrung. Kant geht weiter und schließt, daß der

Bestimmungsgrund meines Willens, wenn er durch ein selbstgegebenes Gesetz bestimmt ist,

allein in der formalen Bestimmung des Willens als Vermögen, nach der Vorstellung von

Gesetzen zu handeln, liegen kann. Diese formale Bestimmung charakterisiert meinen Willen

nicht als menschlichen Willen. Umgekehrt enthielte Gesetze, die meinen Willen als

menschlichen Willen bestimmten, wesentlich materielle Bestimmungen. Mein Wille, wie ich

ihn durch Reflexion erkenne, ist frei von jeder materiellen Bestimmung. Das Gesetz meines

Willens bindet mich, nicht insofern ich Mensch bin, sondern da ich noch ein anderes als ein

materielles Leben führe. Ich erkenne mich durch das selbstgegebene Gesetz als Noumenon.

Diese metaphysische Konsequenz ist unangreifbar, wenn eines zugestanden ist: daß

 jede materielle Bestimmung und damit die menschliche Natur nur empirisch erkannt wird.

Wir können die Vernunft nur als wesentlich menschliche Vernunft verstehen, wenn wir sehen,

daß und wie wir nicht empirisch vom Menschen wissen. Ich habe Pinkard mit der Behauptung

zitiert, die Philosophie nach Kant habe sich unter die Aufgabe gestellt, einen Weg zu finden,

mit dem Paradox der Selbstgesetzgebung zu leben. Diese Aufgabe gibt es nicht, denn es gibt

kein solches Paradox. Hegel und Marx, beide Aristoteliker, stellen sich eine andere Aufgabe:

zu begreifen, wie die Materialität des menschlichen Lebens seiner Vernunft nicht äußerlich

ist, so daß das menschliche Leben als menschliches Leben durch Vernunft erkannt und gelebt

werden kann. Sie stellen sich der Aufgabe, die Moderne von dem Empirismus zu befreien, der

den Menschen hindert sich selbst, nämlich eine Einheit von Vernunft und Materie, als

materielle Vernunft und vernünftige Materie, zu begreifen.