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68 SCHWEIZER JOURNALIST #06-07/2017 Fotoreporter. Walter Bieri TEXT: ROGER ANDEREGG | FOTOS: WALTER BIERI/KEYSTONE „Oft muss ich die Leute zu ihrem Glück zwingen“ Seit 30 Jahren jagt Fotograf Walter Bieri für die Agentur Keystone von Termin zu Termin. Dazwischen entdeckt er zeitlose Bildmotive. Bieri ist einer der agilsten Fotografen der Branche. Er erzählt, wie er arbeitet und was ihn antreibt. Was ich hier gerade mache, bei diesem Heimspiel von GC hin- ter dem gegnerischen Tor, ist für mich alles, ist Hobby und Job zugleich. Das ist mein Traumberuf. Ich arbeite ger- ne, leidenschaftlich gerne, und selbst pri- vat habe ich stets eine Kamera dabei. Auch in die letzten Ferien, mit meiner Frau und meinen zwei Töchtern auf Sardinien, nahm ich drei Objektive mit. Meine Familie fin- det dann jeweils, ich könnte das auch mal lassen. Aber für einen Fotografen geht das nicht anders. Nicht selten schicke ich mei- nem Arbeitgeber, der Agentur Keystone, dann auch Bilder, die in meinen Ferien entstanden sind. Wie ich Agenturfotograf wurde? Ich habe mich immer für Fotografie interessiert und schon früh mit einer Kamera herumge- macht, damals völlig hobbymässig. Dann habe ich aus eigenem Antrieb begonnen, Zeitungen mit Schwarz-Weiss-Bildern zu beliefern, vorzugsweise am Sonntagabend mit Fotos von den Sportanlässen des Wo- chenendes: „Zürichsee-Zeitung“, „Ta- ges-Anzeiger“, „Blick“ und „Sport“, den es damals noch gab. Denen habe ich jeweils Couverts mit meinen Bildern in den Brief- kasten geworfen. Ab und zu bekam ich einen Auftrag. Le- ben konnte ich davon natürlich nicht; ich arbeitete zu dieser Zeit hauptberuflich beim Fernsehen DRS. Ich hote, irgendwie einen Einstieg als Fotograf zu finden. Jetzt gab es schon regelmässig Aufträge vom „Sport“, und dann hörte ich, dass die Agentur Keystone einen Fotografen such- te. Ich bewarb mich und bekam den Job, weil Hans-Ueli Blöchliger, dem Chefre- daktor von Keystone, meine Sportbilder gefielen. Das war 1985, und ich war 30. Bei Keystone bin ich heute noch. Gut, dazwischen war ich mal zwei Jahre Foto- graf bei der „Sonntagszeitung“. Aber ich wurde da nicht glücklich. Mal hierhin, mal dorthin, und immer zusammen mit einem Journalisten, der sagte, welche Bilder er wollte. Ich empfand mich als Teil eines Systems. Brachte ich tolle Bilder zurück, die aber nicht eins zu eins zur Geschichte des Journalisten passten, flogen sie raus. So merkte ich bald einmal, dass die Agen- tur für mich der richtige Ort ist. Bei Keystone habe ich viel mehr Freiheit, ein viel grösseres Mass an Selbstbestim- mung. Ich entscheide selber – natürlich in Absprache mit der Redaktion –, wohin ich gehe, wann ich gehe, wann ich zurück bin und was ich an Bildern bringe. Da ich nicht mit einem Journalisten unterwegs bin, muss ich alles selber organisieren, mich über den Anlass informieren und darüber, was dort abgeht und was even- tuell passieren könnte. Wer sind die wich- tigen Leute, wer die möglichen Gegen- spieler? Und auch für die ganze Logistik – wie komme ich hin, wie zurück, wie kann ich die Bilder übermitteln? – bin al- lein ich zuständig und verantwortlich. Natürlich ist, was ich mache, oft Alltags- büetz. Aber sie gibt mir die grösstmögliche Freiheit. Ich kann meinen Arbeitstag sel- ber einteilen. Aufs Büro muss ich fast nie. Viele Einladungen kommen inzwischen direkt zu mir, andere leitet das Keystone- Büro an mich weiter. Und natürlich hab ich den Compi stets dabei und übermittle die Bilder gleich vor Ort. Manche Zeitungs- fotografen hetzen zurück ins Büro. Dort erfahren sie dann von der Bildredaktion oder vom Journalisten, welches Motiv man von ihnen möchte und in welchem Format, hoch oder quer. Ich verwerte meine Auf- nahmen direkt vor Ort. Ich habe normale Arbeitszeiten und nor- male Freizeit. Es kann allerdings vorkom- Natur-Fotografie: Shot auf Nebelmeer und Berge vom Säntis aus am Montag, 17. Oktober 2005.

ROGER ANDEREGG WALTER BIERI/KEYSTONE „Oft … · nicht anders. Nicht selten schicke ich mei-nem Arbeitgeber, der Agentur Keystone, ... er machte das natürlich kein zweites Mal

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68 SCHWEIZER JOURNALIST #06-07/2017

Fotoreporter. Walter Bieri

TEXT: ROGER ANDEREGG | FOTOS: WALTER BIERI/KEYSTONE

„Oft muss ich die Leute zu ihrem Glück zwingen“Seit 30 Jahren jagt Fotograf Walter Bieri für die Agentur Keystone von Termin zu Termin. Dazwischen entdeckt er zeitlose Bildmotive. Bieri ist einer der agilsten Fotografen der Branche. Er erzählt, wie er arbeitet und was ihn antreibt.

Was ich hier gerade mache, bei diesem Heimspiel von GC hin-ter dem gegnerischen Tor, ist

für mich alles, ist Hobby und Job zugleich. Das ist mein Traumberuf. Ich arbeite ger-ne, leidenschaftlich gerne, und selbst pri-vat habe ich stets eine Kamera dabei. Auch in die letzten Ferien, mit meiner Frau und meinen zwei Töchtern auf Sardinien, nahm ich drei Objektive mit. Meine Familie fin-det dann jeweils, ich könnte das auch mal lassen. Aber für einen Fotografen geht das nicht anders. Nicht selten schicke ich mei-nem Arbeitgeber, der Agentur Keystone, dann auch Bilder, die in meinen Ferien entstanden sind.Wie ich Agenturfotograf wurde? Ich habe mich immer für Fotografie interessiert und schon früh mit einer Kamera herumge-macht, damals völlig hobbymässig. Dann habe ich aus eigenem Antrieb begonnen, Zeitungen mit Schwarz-Weiss-Bildern zu beliefern, vorzugsweise am Sonntagabend mit Fotos von den Sportanlässen des Wo-chenendes: „Zürichsee-Zeitung“, „Ta-ges-Anzeiger“, „Blick“ und „Sport“, den es damals noch gab. Denen habe ich jeweils Couverts mit meinen Bildern in den Brief-kasten geworfen.Ab und zu bekam ich einen Auftrag. Le-ben konnte ich davon natürlich nicht; ich arbeitete zu dieser Zeit hauptberuflich beim Fernsehen DRS. Ich hoffte, irgendwie einen Einstieg als Fotograf zu finden. Jetzt gab es schon regelmässig Aufträge vom „Sport“, und dann hörte ich, dass die Agentur Keystone einen Fotografen such-

te. Ich bewarb mich und bekam den Job, weil Hans-Ueli Blöchliger, dem Chefre-daktor von Keystone, meine Sportbilder gefielen. Das war 1985, und ich war 30.Bei Keystone bin ich heute noch. Gut, dazwischen war ich mal zwei Jahre Foto-graf bei der „Sonntagszeitung“. Aber ich wurde da nicht glücklich. Mal hierhin, mal dorthin, und immer zusammen mit einem Journalisten, der sagte, welche Bilder er wollte. Ich empfand mich als Teil eines Systems. Brachte ich tolle Bilder zurück, die aber nicht eins zu eins zur Geschichte des Journalisten passten, flogen sie raus. So merkte ich bald einmal, dass die Agen-tur für mich der richtige Ort ist.Bei Keystone habe ich viel mehr Freiheit, ein viel grösseres Mass an Selbstbestim-mung. Ich entscheide selber – natürlich in Absprache mit der Redaktion –, wohin ich gehe, wann ich gehe, wann ich zurück bin und was ich an Bildern bringe. Da ich nicht mit einem Journalisten unterwegs bin, muss ich alles selber organisieren, mich über den Anlass informieren und darüber, was dort abgeht und was even-tuell passieren könnte. Wer sind die wich-tigen Leute, wer die möglichen Gegen-spieler? Und auch für die ganze Logistik – wie komme ich hin, wie zurück, wie kann ich die Bilder übermitteln? – bin al-lein ich zuständig und verantwortlich.Natürlich ist, was ich mache, oft Alltags-büetz. Aber sie gibt mir die grösstmögliche Freiheit. Ich kann meinen Arbeitstag sel-ber einteilen. Aufs Büro muss ich fast nie. Viele Einladungen kommen inzwischen

direkt zu mir, andere leitet das Key stone-Büro an mich weiter. Und natürlich hab ich den Compi stets dabei und übermittle die Bilder gleich vor Ort. Manche Zeitungs-fotografen hetzen zurück ins Büro. Dort erfahren sie dann von der Bildredaktion oder vom Journalisten, welches Motiv man von ihnen möchte und in welchem Format, hoch oder quer. Ich verwerte meine Auf-nahmen direkt vor Ort. Ich habe normale Arbeitszeiten und nor-male Freizeit. Es kann allerdings vorkom-

Natur-Fotografie: Shot auf Nebelmeer und Berge vom Säntis aus am Montag, 17. Oktober 2005.

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men, dass ich zehn Tage am Stück arbeite. Dafür kann ich dann im Monat zweimal Ostern machen, ich meine verlängerte Wochenenden. Pressekonferenzen gehören zum Alltag, ebenso Porträts von Wirtschaftsgrössen und Politikern. Als Paparazzo verstehe ich mich aber nicht. Die grosse Paparazzo-Zeit waren die Jahre mit Lady Di. Das bedeu-tete dann eine Woche Skiferien in Klosters, und da habe ich, abwechslungsweise mit meinem Bündner Kollegen Arno Balzarini,

jeden Tag versucht, ein aktuelles Bild zu liefern.Lady Di lockte jeweils problemlos hun-dert Fotografen nach Klosters hinauf, vor allem Engländer. Dann gab es einen offi-ziellen Fototermin im Skigebiet, damit man die Herrschaften anschliessend in Ruhe lassen würde. Da fuhr also die ganze Fotografenmeute auf die Madrisa hoch. Dort wartete man endlos. Dann hiess es plötzlich: Sie kommen – 500 Meter von hier, in einer Viertelstunde! Schon rannten

alle Fotografen durch den Schnee, mit ih-ren Fototaschen und mit ihren Leitern, die Kettenraucher unter ihnen schwer atmend. Vorne hatte die Kapo das Gelän-de mit Seilen und mit Hunden abgesperrt. Dann kamen Prinz Charles und Lady Di, und Charles sagte: „Good morning gent-lemen“, und jeder Fotograf drückte ab wie wild und hatte exakt das gleiche Bild wie der neben ihm. Dann sagte Charles: „Have a nice day, gentlemen!“, und der Spuk war vorbei.

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Fotoreporter. Walter Bieri

te: Ich muss den Blocher auf den Uetli-berg-Turm prügeln, dort sind wir über dem Nebel – das ist das Bild! Er machte tatsächlich mit, und als er oben stand, fragte ich ihn: „Herr Blocher, können Sie fliegen?“ Er begriff sofort, was ich meinte, und breitete die Arme aus. Das war mein Bild! Die anderen Fotografen waren mir gefolgt, standen jetzt aber hinter mir, und er machte das natürlich kein zweites Mal. Dieses Bild ist mega oft gedruckt worden.Ein anderes Mal war Li Keqiang, Minis-terpräsident der Republik China, auf Staats-besuch und besichtigte zusammen mit Bundesrat Johann Schneider-Ammann einen Bauernhof in Embrach. In ihrem Schlepptau waren hundert chinesische Fotografen, dazu noch Security, und man kam gar nicht an den Ministerpräsidenten ran. Dann hat man die Fotografen in den Stall gelassen. Prima, dachte ich, der chi-nesische Premier mit Kühen oder einem Säuli oder so, aber auch da herrschte so ein Gedränge, ich kam gar nicht an ihn ran. Jetzt waren wir eine Stunde da, und ich hatte noch kein Bild, das ich in der Zeitung hätte sehen wollen! Das Beste, was ich bis dahin hatte, war ein Foto, auf dem er in einen Apfel biss.Dann stand da etwas abseits ein singendes Trachtenchörli. Das war meine Chance! Als dann der Chinese und Bundesrat Schneider-Ammann in dessen Nähe kamen, wusste ich: Ich muss sie mitten in dieses Trachtenchörli prügeln. Ich schaffte es, bis auf ein paar Meter an ihn heranzukommen, fragte: „Mr. Prime Minister, could we take a picture …?“ und zeigte auf den Trachten-

FOTOS: WALTER BIERI / KEYSTONE

People-Fotografie: Bundesrat Christoph Blocher auf dem Zürcher Uetliberg am Donnerstag, 28. Dezember 2006.

Feature-Fotografie: Badegäste geniessen das schöne Sommerwetter auf einem Steg in alwil (ZH) am Samstag, 3. August 2013.

mich auch heute noch, nach 30 Jahren im Metier. Da denk ich dann manchmal: Scheisse, jetzt sind wir in der zweiten Halbzeit des Matches, und ich hab noch nicht ein Bild, unter dem ich meinen Na-men sehen möchte! Aber ich hab auch das Vertrauen, dass es dann irgendwie schon noch gut kommt. Und oft steht einem das Glück bei. Obwohl das kein Fotograf ger-ne hört: Oft verhilft Glück zum guten Bild.Da war ich vor einem Jahr in Dublin, als die Schweizer Fussballnati gegen Irland spielte. Da sassen 50.000 Zuschauer im Stadion, und ich wollte ein Bild vom Schweizer Sturm im Angriff. Man wies mir aber einfach einen Platz zu: „Sorry Sir – you go left!“ Da hock ich dann also am völlig falschen Ort, nämlich mit Blick aufs Schweizer Tor. Dann passiert aber in der ersten Minute das 1 : 0 für Irland – und ich habe das perfekte Bild! Kein anderer Fo-tograf hatte das so gut. Das Foto war in vielen Zeitungen, vom „Tages-Anzeiger“ bis zu „"e Times“ – es war das Bild.Bei den Porträts ist es so, dass ja alle Leu-te auf einem Bild möglichst interessant und vorteilhaft erscheinen möchten. Und da muss ich sie dann oft zu ihrem Glück zwingen. Als Christoph Blocher noch Bun-desrat war, hielt er, zwischen Weihnach-ten und Neujahr, eine Rede auf Uto Kulm. Medienmässig herrscht in dieser Zeit so-wieso tote Hose, und so waren etwa 50 Journalisten da. Man konnte ihn nur am Rednerpult fotografieren, neben einem Blumentopf, und ich wusste: Es muss ein anderes Bild her! Da sah ich, dass draussen ein dichtes Nebelmeer lag, und ich dach-

In Klosters hatte ich mal ein spezielles Erlebnis. Ich stand in einer Kabine der Gon-delbahn Madrisa, schaute mich ein bisschen um und sah plötzlich: Himmel, das ist ja Charles mit seinen Bodyguards! Er stand vielleicht einen halben Meter neben mir. Ich hatte meine Apparate in der Tasche. Aber ich war so perplex, dass ich mich nicht getraute, die Kamera hervorzunehmen und ein Bild zu schiessen. Ich wüsste gerne, wie die Bodyguards reagiert hätten.An vielen traditionellen Anlässen, von der Generalprobe des Circus Knie bis zum Sechseläuten, bin ich jedes Jahr dabei. Das ist dann wiederum eine besondere Her-ausforderung: Wie komme ich zu einem Bild, das man so noch nicht gesehen hat? Das Martinsloch im Kanton Glarus zum Beispiel, durch das zweimal im Jahr die Sonne genau auf den Kirchturm von Elm scheint – wie will man das neu fotografie-ren? Viele Möglichkeiten bleiben da nicht. Vielleicht den Kirchturm anders ange-schnitten als beim letzten Mal …? Bei sol-chen Motiven versuche ich einfach, jedes Jahr ein noch besseres Bild zu machen.Wenn ich morgens aus dem Haus gehe, spüre ich oft: Heute läuft’s mir. Oder ich weiss: Heute ist gar nicht mein Tag. Und dann habe ich eben auch keine Idee. Das hängt von meiner Verfassung ab. Manch-mal weiss ich schon während des Anlasses: Ich brauche morgen gar keine Zeitung durchzublättern – ich fülle sie eh alle ab, alle werden meine Bilder bringen. Aber ich merke auch, wenn ich schlecht gear-beitet habe. Da weiss ich dann sehr wohl: Ich habe versagt! Ein solcher Reinfall ärgert

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Publikumsfotografie: Fans folgen dem Fussball-WM-Spiel Schweiz gegen Togo auf der Grossleinwand des Zürcher Sechseläutenplatzes am 19. Juni 2006.

Reportage-Fotografie: Ein Drogenkonsument setzt sich einen Schuss auf der offenen Drogenszene Letten an der Limmat in Zürich, aufgenommen am 13. Februar 1995.

Sport-Fotografie: Zürichs Steve von Bergen gegen uns Milaim Rama beim Super league-Spiel FCZ gegen un am 5. Mai 2007.

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chor. Er war sofort bereit – „of course, of course“ –, denn er wollte in der Schweiz schliesslich einen guten Eindruck hinter-lassen. Die Polizei liess mich gewähren – die kennen inzwischen mein Gesicht – und schon standen der chinesische Premier und unser Bundesrat mitten im Trachten-chörli. Schneider-Ammann sagte mir hin-terher: „Das haben Sie gut gemacht“, einer der Polizisten aber fand: „Das war jetzt schon ziemlich am Limit.“ Ich konnte das nachvollziehen, denn ich hatte das ganze Protokoll durcheinandergebracht. Denn natürlich wollten jetzt alle chinesischen Fotografen das Bild ebenfalls. Das liess mir Zeit, noch 30 Sekunden Video zu machen. Das war dann das erste Keystone-Video, das vom ZDF ausgestrahlt wurde.Bei solchen Sachen muss man spüren: Wie weit kann ich gehen? Was macht je-mand mit? Was liegt drin, und wo wird es unverschämt? Ich spüre das meistens. Manchmal muss ich Leute porträtieren, ich komme in ein Büro und weiss: Das wird schwierig. Wenn ich dann doch noch ein gescheites Bild hinkriege und es erscheint sogar in der Zeitung, dann ist das für mich ein Aufsteller.Eine Idee haben, und erst noch Glück dazu – das bringt oft die besten Resultate. Beim Streitgespräch der deutschen Kanz-lerkandidaten Edmund Stoiber und Ger-hard Schröder warteten 50 Fotografen vor dem TV-Studio in Berlin auf das Ende der Direktübertragung. Ich fotografierte die beiden frech zu Hause ab Bildschirm. So hatte ich das erste Bild wenige Minuten nach Beginn. Associated Press übernahm es für den Weltmarkt, und es landete auf der Front der „NZZ“.Auch Dranbleiben ist oft nicht schlecht. Nach einem Pressetermin bei der Fifa, der wegen einer Hausdurchsuchung abgesagt wurde, gaben fast alle Fotografen nach ein paar Stunden auf. Nur ein Kollege von Reuters und ich blieben bis spät in die Nacht. Dann war da plötzlich Licht im Büro von Sepp Blatter. Wir montierten unsere Teleobjektive. Das Bild ging um die Welt. Das war wieder einmal Paparazzo pur.Dann will man bei Keystone aber auch immer Feature-Bilder. In der Zeit, als die UBS grosse Probleme hatte und beinahe in Konkurs ging, brauchte man sozusagen täglich neue Fotos. Also fuhr ich die Bahn-hofstrasse hoch und runter und überlegte, Show-Fotografie: Entertainerin Madonna bei ihrem Schweizer Konzert am 18. August 2012. F

OTOS: WALTER BIERI

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was ich noch machen könnte. Es gab zum Beispiel das berühmt gewordene Bild eines Kollegen, auf dem die Banker über die vor dem Eingang sitzenden Juso-Demonstran-ten steigen. Oder ein anderer Kollege fand eine UBS-Filiale, vor der eine Kirchturmuhr fünf vor zwölf zeigt. Da entdeckte ich dann den UBS-Schriftzug an einem Hochhaus am Schanzengraben, der sich im Wasser spiegelte, das vom Wind aufgewühlt wur-de. So stand das Motiv symbolhaft für die UBS in stürmischen Zeiten. Das wurde dann oft gedruckt, unter anderem in der „In-ternational Herald Tribune“.In der Pressefotografie haben sich die Zeiten völlig gewandelt. In meinen ersten Jahren betrieb Keystone noch ein grosses Schwarz-Weiss-Labor mit zwei, drei La-borantinnen, die die Filme entwickelten. Danach schaute Chefredaktor Hans-Ueli Blöchliger die Negative am Leuchtpult mit der Lupe an und wählte die Motive aus. Man war nie so autonom wie heute, wo ich die Auswahl selber treffe.In den 90er-Jahren hatte jeder Fotograf sein Labor dabei und suchte stets einen Ort, wo er entwickeln, vergrössern und senden konnte. War man unterwegs und wollte einen Print übermitteln, zum Bei-spiel von der Tour de Suisse, ging man ins Hotel und entwickelte die Filme auf dem WC. Wir verlangten deshalb immer mög-lichst ein Zimmer ohne Fenster. Wir hatten auch schwarze Kehrichtsäcke dabei, um notfalls die Fenster zu verhängen. Man hatte einen Bildsender und musste bei der Post eine Bildleitung für die Übermittlung bestellen, was damals sieben Minuten dau-erte. Dann kam die Farbe hinzu. Da hat man, nach einem standardisierten Pro-gramm, die Farbprints übermittelt, was pro Bild 20 Minuten dauerte. Von einem Fussballmatch schaffte man da nicht mehr als sieben Bilder. Fotografiert hat man des-halb praktisch nur in der ersten Halbzeit, weil man nachher ja übermitteln musste.Die digitale Kamera hat eine tiefgreifen-de Veränderung gebracht. Heute geht alles viel schneller – in meinen Augen eindeutig zum Vorteil des Bildes. Bei einem Hockey-match zum Beispiel entstehen wahnsinnig viele Bilder, viel mehr als bei einem Fuss-ballmatch. Wenn ich das Gefühl habe, das war jetzt ein gutes Foto, halte ich die Ka-mera gegen den Boden und mache einen Leerschuss, weil ich so das vorangehende

Star-Fotografie: Fussballer Maradona tritt mit Napoli 1989 gegen Wettingen an.

Folklore-Foto-grafie: Die Landsgemeinde in Appenzell 1995.

Album-Foto-grafie: Die Schulreise des Bundesrates 1990 aufs Wildkirchli.

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Fotoreporter. Walter Bieri

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habe ich oft eine hohe Erfolgsquote; wenn in einem Spiel fünf Tore fallen, habe ich normalerweise drei davon im Bild. Ich bin aufmerksam, und ich kenne mit der Zeit die Spieler und ihre Vorlieben. Das erleich-tert die Arbeit sehr. Aber selbst hier gilt: Manchmal braucht es einfach auch Glück.Bilder ohne Aktualität, sogenannte Fea-tures, mache ich oft ohne Auftrag. Wenn ich Herbstblätter sehe, klettere ich auf einen Baum und fotografiere den Laubtep-pich von oben, vielleicht mit einem spie-lenden Kind drauf. Wenn so ein Foto dann in einer Zeitung erscheint, ist das natürlich eine besondere Freude, weil es ja nicht aus Gründen der Aktualität publiziert wird. Solche Bilder haben oft mit dem Wetter, mit der Saison, mit Stimmungen zu tun oder mit einem zeitlosen "ema. Das ma-che ich besonders gerne, weil mir da mehr Zeit bleibt, das grafisch zu komponieren. Denn eine persönliche Hand-schrift in meinen Bildern – doch, das möchte ich schon haben.

Bild beim Durchschauen schneller wieder finde. Über den Kamerachip lade ich das Bild direkt auf den Laptop.Dann bearbeite ich das Foto im Pho-toshop, wähle den richtigen Ausschnitt, kontrolliere Farben und Kontraste, schär-fe vielleicht noch ein wenig nach, was halt gerade so nötig ist. Dann brauche ich sicher stets ein Quer- und ein Hochformat, wie es dem klassischen Layout unserer Zeitun-gen entspricht. Wenn ich eine Superszene im Quer habe, mache ich vielleicht auch noch ein Hoch daraus, weil ich damit die Abdruckchancen erhöhe. Die Bildlegende habe ich vorbereitet und abgespeichert, so dass ich die gleich dazusetzen kann. Da steht dann, wer wo wann gegen wen ge-spielt hat, und ich setze nur noch die Na-men der Spieler ein, die man auf dem Bild sieht, und auch diese Namen sind bereits im System eingegeben und abrufbar.Über WLAN schicke ich die Bilder der Keystone auf einen Server, und dort wird das noch einmal angeschaut. Wenig später können die Keystone-Kunden die Bilder auf einem anderen Server mittels ihres Passwortes sehen und downloaden. Wenn’s pressiert, schicke ich die Bilder nicht der Keystone, sondern direkt auf den Kunden-server, und dann sieht sie der Kunde sofort. Aber ich bin mir immer bewusst: Der Kun-de sieht alles, was ich da schicke, weil der Filter der Redaktion nicht vorhanden ist.Heute rufen Gratisblätter wie „20 Minu-ten“ oder „Blick am Abend“ ihre Leserin-nen und Leser auf: „Werden Sie Leser-Re-porter!“ Sie sollen nicht nur Bilder ihrer

Katzen, sondern auch vom Töffunfall oder ffff

vom ausgebüxten Huhn auf der Autobahn per Smartphone übermitteln. Als Agentur bleiben wir davon verschont, und als Kon-kurrenz empfinde ich so etwas nicht.Die Hektik bei der Arbeit macht mir nichts aus, daran gewöhnt man sich. Stress spü-re ich keinen. Höchstens wenn mal ein Gerät nicht so funktioniert, wie es müsste, oder wenn ich gleichzeitig das Spielfeld im Auge behalten und übermitteln muss, dann entsteht ein bisschen Hektik. Beim Fussball

VITA

Kampfmaschine Bieri

Walter Bieri, 1955 geboren und in Meilen aufgewachsen, ist fotografischer Autodi-dakt. Aus eigenem Antrieb belieferte er, als Sportfreund und Hobbyfotograf und vorzugsweise an Sonntagabenden, lokale Zeitungen mit Fotos von den Sportanlässen des Wochenendes. Daraus entstanden erste Aufträge und 1985 ein Engagement bei Keystone, der grössten schweizeri-schen Bildagentur. Ihr blieb er – mit einem zweijährigen Zwischenspiel als Fotograf der „Sonntagszeitung“ – bis heute treu.www.keystone.ch

Event-Fotografie: Fussballer Cristiano Ronaldo feiert seine Wahl zum FIFA-Spieler des Jahres im Kongresshaus Zürich am 12. Januar 2015.

ROGER ANDEREGG ist freier Journalist in Zürich.

[email protected]