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Roman eines Schicksallosen - · PDF file7 gen falsch aus, denn sie hat gl eich etwas hinzu-gefügt, in dem Sinn, daß sie mir keineswegs zu nahe treten wollte mit dieser Ermahn ung

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Page 1: Roman eines Schicksallosen - · PDF file7 gen falsch aus, denn sie hat gl eich etwas hinzu-gefügt, in dem Sinn, daß sie mir keineswegs zu nahe treten wollte mit dieser Ermahn ung

Leseprobe aus:

Imre Kertész

Roman eines Schicksallosen

Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.

Copyright der deutschen Ausgabe © 1996 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

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Heute war ich nicht in der Schule. Das heißtdoch, ich war da, aber nur, um mir vom Klas-senlehrer freigeben zu lassen. Ich habe ihm dasSchreiben meines Vaters überbracht, in dem erwegen «familiärer Gründe» um meine Frei-stellung nachsucht. Der Lehrer hat gefragt,was das für familiäre Gründe seien. Ich habegesagt, mein Vater sei zum Arbeitsdienst ein-berufen worden; da hat er weiter keineSchwierigkeiten gemacht.

Ich bin losgeeilt, aber nicht nach Hause, son-dern gleich zu unserem Geschäft. Mein Vaterhatte gesagt, sie würden mich dort erwarten.Er hatte noch hinzugefügt, ich solle mich be-eilen, vielleicht würden sie mich brauchen.Eigentlich hat er mir gerade darum freigebenlassen. Oder vielleicht, um mich «an diesemletzten Tag an seiner Seite zu wissen», bevor er«seinem Zuhause entrissen wird»: denn auchdas hat er gesagt, allerdings, ja, zu einem ande-ren Zeitpunkt. Er hat es, wenn ich mich rechterinnere, zu meiner Mutter gesagt, als er am

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Morgen mit ihr telefonierte. Es ist nämlichDonnerstag, und an diesem Tag und sonntagshat strenggenommen meine Mutter Anrechtauf meinen Nachmittag. Doch mein Vater hatihr mitgeteilt: «Es ist mir heute nicht möglich,Gyurka zu dir hinüberzulassen» und hat dasdann so begründet. Oder vielleicht doch nicht.Ich war heute morgen ziemlich müde, wegendes Fliegeralarms in der Nacht, und erinneremich vielleicht nicht richtig. Aber daß er es ge-sagt hat, da bin ich sicher. Wenn nicht zu mei-ner Mutter, dann zu jemand anderem.

Ich habe dann mit meiner Mutter ebenfallsein paar Worte gewechselt, worüber, das weißich nicht mehr. Ich glaube, sie war mir dannauch ein wenig böse, denn wegen der Anwe-senheit meines Vaters blieb mir nichts anderesübrig, als mit ihr etwas kurz angebunden zusein: schließlich muß ich mich heute nach ihmrichten. Als ich schon im Begriff war aufzu-brechen, hat auch meine Stiefmutter noch einpaar vertrauliche Worte an mich gerichtet, imFlur, unter vier Augen. Sie hat gesagt, siehoffe, an diesem für uns so traurigen Tag beimir «mit einem angemessenen Verhaltenrechnen zu können». Ich wußte nicht, was ichda hätte sagen sollen, und so habe ich nichtsgesagt. Aber vielleicht legte sie mein Schwei-

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gen falsch aus, denn sie hat gleich etwas hinzu-gefügt, in dem Sinn, daß sie mir keineswegs zunahe treten wollte mit dieser Ermahnung, die– das wisse sie – sowieso unnötig sei. Denn siezweifle ja nicht daran, daß ich als fast fünf-zehnjähriger großer Junge selbst fähig sei, dieSchwere des uns ereilenden Schicksalsschlageszu ermessen, so hat sie sich ausgedrückt. Ichhabe genickt. Mehr brauchte es auch nicht, wieich gemerkt habe. Sie hat noch eine Bewegungmit den Händen in meine Richtung gemacht,so daß ich schon Angst hatte, sie wolle michvielleicht umarmen. Das hat sie dann dochnicht getan und nur tief geseufzt, mit einemlangen, bebenden Atemzug. Ich habe gesehen,daß ihr auch die Augen feucht wurden. Es warunangenehm. Dann durfte ich gehen.

Von der Schule bis zu unserem Geschäft binich marschiert. Es war ein klarer, lauer Morgen– dafür, daß der Frühling erst anfängt. Ichhätte mir gern den Mantel aufgeknöpft, habees mir aber dann anders überlegt: im leichtenGegenwind könnte das Revers zurückklappenund den gelben Stern verdecken, was gegen dieVorschrift wäre. In einigen Dingen muß ichjetzt doch schon umsichtiger verfahren. UnserHolzkeller befindet sich hier in der Nähe, ineiner Nebenstraße. Eine steile Treppe führt

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hinunter in dämmeriges Licht. Ich habe mei-nen Vater und meine Stiefmutter im Büro an-getroffen: einem engen, wie ein Aquarium be-leuchteten Glaskäfig direkt unterhalb derTreppe. Auch Herr Süto war da, den ich nochaus der Zeit kenne, als er bei uns in einem An-stellungsverhältnis war, als Buchhalter undVerwalter unseres anderen, unter freiem Him-mel gelegenen Lagers, das er uns inzwischenabgekauft hat. So sagen wir es wenigstens.Herr Süto trägt nämlich, da bei ihm in rassi-scher Hinsicht alles in bester Ordnung ist, kei-nen gelben Stern, und das Ganze ist eigentlich,soviel ich weiß, nur ein Geschäftstrick, damiter auf unseren Besitz dort achtgibt und auch,nun ja, damit wir unterdessen nicht ganz aufunsere Einnahmen verzichten müssen.

Ich habe ihn irgendwie schon ein bißchenanders gegrüßt als früher, denn er ist ja in ge-wisser Hinsicht jetzt höhergestellt als wir;auch mein Vater und meine Stiefmutter sindaufmerksamer zu ihm. Er hingegen legt um sogrößeren Wert darauf, meinen Vater weiterhin«Herr Direktor» und meine Stiefmutter «ver-ehrte gnädige Frau» zu nennen, als wäre nichtsgeschehen, und auch den Handkuß läßt er beiihr nie aus. Auch mich hat er in dem gewohn-ten scherzenden Ton begrüßt. Meinen gelben

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Stern schien er gar nicht zu bemerken. Dannbin ich stehengeblieben, wo ich gerade stand,nämlich bei der Tür, während sie fortfuhren,wo sie bei meinem Eintreffen aufgehört hat-ten. Wie mir schien, hatte ich sie irgendwie beieiner Besprechung unterbrochen. Zuerst ver-stand ich gar nicht, wovon sie sprachen. EinenMoment hielt ich sogar die Augen geschlos-sen, denn sie flimmerten mir noch ein wenigvom Sonnenschein oben. Unterdessen sagtemein Vater etwas, und als ich die Augen wie-der aufmachte, sprach Herr Süto. Auf seinembräunlichen runden Gesicht – mit dem dünnenSchnurrbärtchen und der kleinen Lücke zwi-schen den breiten weißen Schneidezähnen –hüpften orangerote Sonnenflecken, wie Ge-schwüre, die aufbrechen. Den folgenden Satzhat wieder mein Vater gesagt, es war darinvon irgendeiner «Ware» die Rede und daß «esam besten wäre», wenn Herr Süto «sie gleichmitnähme». Herr Süto hatte nichts dage-gen einzuwenden; daraufhin hat mein Vaterein in Seidenpapier gewickeltes und mit einerSchnur zusammengebundenes Päckchen ausder Schreibtischschublade genommen. Da ersthabe ich gesehen, um was für eine Ware es sichhandelte, denn ich habe das Paket gleich an sei-ner flachen Form erkannt: die Schatulle war

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darin. In der Schatulle aber sind unsere wich-tigeren Schmuckstücke und andere solche Sa-chen. Ja, ich glaube sogar, daß sie extra meinet-wegen von «Ware» sprachen, damit ich dieSchatulle nicht erkenne. Herr Süto hat sie so-gleich in seiner Aktentasche verschwindenlassen. Dann aber ist eine kleine Diskussionzwischen ihnen entstanden: Herr Süto hattenämlich seinen Füllfederhalter hervorgeholtund wollte meinem Vater für die «Ware» un-bedingt eine «Bescheinigung» geben. Er hatlange nicht lockergelassen, obwohl ihm meinVater sagte, das seien «Kindereien» und «zwi-schen uns ist so etwas doch nicht nötig». Mirschien, Herr Süto hörte das gern. Er hat dannauch gesagt: «Ich weiß, daß Sie mir vertrauen,Herr Direktor; aber im praktischen Leben hatalles so seine Ordnung.» Er zog sogar meineStiefmutter zu Hilfe: «Nicht wahr, gnädigeFrau?» Sie hat aber bloß ein müdes Lächeln aufden Lippen gehabt und etwas gesagt wie: siemöchte die ordnungsgemäße Erledigung die-ser Angelegenheit völlig den Männern über-lassen.

Mir war das Ganze schon etwas verleidet, alser dann endlich seinen Füllfederhalter dochweggesteckt hat; dann aber fingen sie an, inder Angelegenheit dieses Lagers hin und her

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zu reden: nämlich was sie mit den vielen hierbefindlichen Brettern machen sollten. Wie ichhörte, war mein Vater der Meinung, manmüsse sich beeilen, bevor die Behörden «even-tuell die Hand auf das Geschäft legen», und erhat Herrn Süto ersucht, meiner Stiefmutter indieser Angelegenheit mit seiner Erfahrungund seiner Sachkenntnis beizustehen. HerrSüto hat sich sofort zu meiner Stiefmutter ge-wandt und erklärt: «Das ist doch selbstver-ständlich, gnädige Frau. Wir bleiben ja wegender Abrechnungen sowieso in ständigem Kon-takt.» Ich glaube, er meinte unser Lager, dasjetzt bei ihm ist. Irgendwann fing er endlich ansich zu verabschieden. Er schüttelte meinemVater lange die Hand, mit betrübter Miene.Doch er war der Meinung, daß «in einem sol-chen Augenblick viele Worte fehl am Platz»seien, und er wollte deshalb nur ein einzigesAbschiedswort an meinen Vater richten, näm-lich: «Auf ein baldiges Wiedersehen, Herr Di-rektor.» Mein Vater hat mit einem kleinen,schiefen Lächeln geantwortet: «Hoffen wir,daß es so sein wird, Herr Süto.» Gleichzeitighat meine Stiefmutter ihre Handtasche geöff-net, ein Taschentuch herausgenommen undes sich geradewegs an die Augen gehalten.In ihrer Kehle gurgelten seltsame Töne. Es

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wurde still, und die Situation war sehr pein-lich, weil ich auf einmal so ein Gefühl hatte,auch ich müßte etwas tun. Aber der Vorfallhatte sich ganz plötzlich ereignet, und mir istnichts Gescheites eingefallen. Wie ich sah, wares auch Herrn Süto unbehaglich: «Aber gnä-dige Frau», ließ er sich vernehmen, «das soll-ten Sie nicht. Wirklich nicht.» Er schien einbißchen erschrocken. Er hat sich vorgebeugtund meiner Stiefmutter den Mund geradezuauf die Hand fallen lassen, um bei ihr den ge-wohnten Handkuß zu verrichten. Dann ist ergleich zur Tür geeilt: ich hatte kaum Zeit, bei-seite zu springen. Er hat sogar vergessen, sichvon mir zu verabschieden. Nachdem er drau-ßen war, hörten wir noch lange seine schwerenSchritte auf den hölzernen Stufen.

Nach einigem Schweigen hat mein Vater ge-sagt: «Na schön, um soviel wären wir jetztleichter.» Worauf meine Stiefmutter, noch mitleicht verschleierter Stimme, meinen Vater ge-fragt hat, ob er den fraglichen Beleg nicht dochhätte von Herrn Süto annehmen sollen. Dochmein Vater hat erwidert, solche Belege hättenkeinerlei «praktischen Wert», abgesehen da-von, daß es noch gefährlicher wäre, so etwasversteckt zu halten, als die Schatulle selbst.Und er hat ihr erklärt, wir müßten jetzt «alles

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auf eine Karte setzen», auf die nämlich, daßwir Herrn Süto voll und ganz vertrauen, inAnbetracht dessen, daß es für uns im Augen-blick sowieso keine andere Lösung gibt. Dar-auf hat meine Stiefmutter nichts mehr gesagt,dann aber bemerkt, mein Vater möge wohlrecht haben, sie aber würde sich trotzdem si-cherer fühlen «mit einem Beleg in der Hand».Sie war allerdings nicht imstande, das entspre-chend zu begründen. Mein Vater hat daraufhinzur Eile gemahnt: die Arbeit warte, sie solltenendlich anfangen, da, wie er sagte, die Zeitdrängt. Er wollte ihr nämlich die Geschäftsbü-cher übergeben, damit sie sich da auch ohneihn zurechtfinden kann und das Geschäft nichtlahmliegen muß, wenn er im Arbeitslager ist.Zwischendurch hat er auch mit mir ein paarflüchtige Worte gewechselt. Er fragte, ob manmir ohne Schwierigkeiten freigegeben habeund so weiter. Schließlich sagte er, ich sollemich setzen und mich ruhig verhalten, bis erund meine Stiefmutter alles erledigt hättenmit den Büchern.

Bloß hat das sehr lange gedauert. Eine Zeit-lang versuchte ich, geduldig auszuharren, undbemühte mich, an meinen Vater zu denken,genauer daran, daß er morgen weggeht undich ihn wahrscheinlich dann lange nicht mehr

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sehen werde; aber nach einer Weile war ichvon diesem Gedanken müde, und da ich fürmeinen Vater sonst nichts tun konnte, ist esmir langweilig geworden. Auch das Herumsit-zen machte sehr müde, und so bin ich, einfachum eine Abwechslung zu haben, aufgestandenund habe Wasser vom Wasserhahn getrunken.Sie haben nichts gesagt. Später bin ich aucheinmal nach hinten gegangen, zwischen dieBretter, um ein kleines Geschäft zu erledigen.Als ich zurückkam, habe ich mir die Händeüber dem angeschlagenen rostigen Waschbek-ken gewaschen, dann habe ich mein Pausen-brot aus der Schultasche gepackt und gegessen,und zum Schluß habe ich wieder vom HahnWasser getrunken. Sie haben nichts gesagt. Ichhabe mich an meinen Platz zurückgesetzt.Dann habe ich mich noch sehr lange fürchter-lich gelangweilt.

Es war schon Mittag, als wir zur Straßehochgestiegen sind. Wieder hat es mir vor denAugen geflimmert, diesmal wegen der Hellig-keit. Mein Vater hat sich lange, ich hatte fastschon das Gefühl, absichtlich, mit den beidengrauen Eisenschlössern abgemüht. Dann hater die Schlüssel meiner Stiefmutter überge-ben, da er sie ja nie mehr brauchen wird. Dasweiß ich, weil er es gesagt hat. Meine Stief-

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mutter hat ihre Handtasche geöffnet, ichfürchtete schon, es sei wieder wegen des Ta-schentuchs: aber sie hat bloß die Schlüssel ver-sorgt. Wir haben uns in großer Eile auf denWeg gemacht. Nach Hause, wie ich anfangsdachte; doch nein, wir sind zuerst noch einkau-fen gegangen. Meine Stiefmutter hatte eineganz ausführliche Liste von all den Dingen, diemein Vater im Arbeitslager brauchen würde.Um einen Teil hatte sie sich schon gestern ge-kümmert. Das andere hingegen mußten wirjetzt besorgen. Es war irgendwie ein bißchenunbehaglich, mit ihnen zu gehen, so zu drittund alle drei mit dem gelben Stern. Wennich allein bin, amüsiert mich die Sache eher.Mit ihnen zusammen hatte es beinahe etwasUnangenehmes. Ich könnte nicht erklären,warum. Später habe ich dann nicht mehr dar-auf geachtet. In den Geschäften waren überallviele Leute, außer in dem, wo wir den Ruck-sack kauften: da waren wir die einzigen Kun-den. Die Luft war ganz durchtränkt mit demscharfen Geruch von präpariertem Leinen. DerLadenbesitzer, ein vergilbtes altes Männchen,mit einem blitzenden künstlichen Gebiß undÄrmelschonern über den Ellbogen, und seinedicke Frau waren sehr freundlich zu uns. Siehäuften die verschiedensten Artikel vor uns

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auf den Ladentisch. Ich machte die Beobach-tung, daß der Ladenbesitzer die alte Frau«mein Kleines» nannte und daß immer sienach den Waren laufen mußte. Übrigenskenne ich das Geschäft, es liegt nicht weit vonunserer Wohnung, aber drinnen war ich nochnie. Eigentlich ist es eine Art Sportgeschäft,wobei sie auch anderes anbieten. Neuerdingsgibt es bei ihnen auch gelbe Sterne aus eigenerHerstellung zu kaufen, denn an gelbem Stoffherrscht jetzt natürlich großer Mangel. (Waswir brauchten, hat meine Stiefmutter nochrechtzeitig besorgt.) Wenn ich es richtig sehe,besteht ihre Erfindung darin, daß der Stoff ir-gendwie auf ein Stück Karton gespannt ist,und das ist natürlich hübscher, ja, und dannsind auch die Zacken der Sterne nicht so lä-cherlich verschnitten wie bei mancher Heim-anfertigung. Ich habe bemerkt, daß ihnen daseigene Produkt selbst auf der Brust prangte.Und das war, als würden sie es nur tragen, umdie Käufer zu animieren.

Aber da ist schon die alte Frau mit den Wa-ren gekommen. Noch davor hatte der Laden-besitzer gebeten, ihm die Frage zu gestatten,ob wir den Einkauf vielleicht im Hinblick aufden Arbeitsdienst tätigten. Das Ja hat meineStiefmutter gesagt. Der Alte hat traurig ge-

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nickt. Er hat sogar seine vergreisten, leberflek-kigen Hände hochgehoben und dann mit einerGeste des Bedauerns wieder auf den Laden-tisch zurücksinken lassen. Dann hat meineStiefmutter erwähnt, daß wir einen Rucksackbrauchten, und sich erkundigt, ob sie welchehätten. Der Alte hat gezögert und dann gesagt:«Für die Herrschaften ja.» Und seine Frau hater angewiesen: «Mein Kleines, für den Herrnholst du einen aus dem Lager!» Der Rucksackwar gleich der richtige. Aber der Ladenbesitzerhat seine Frau noch nach ein paar anderen Sa-chen geschickt, die – so meinte er – meinemVater «dort, wo er hingeht, nicht fehlen dür-fen». Im allgemeinen sprach er sehr taktvollund mitfühlend zu uns, und er vermied esnach Möglichkeit immer, den Ausdruck «Ar-beitsdienst» zu gebrauchen. Er zeigte uns al-lerhand nützliche Dinge, einen luftdicht ver-schließbaren Blechnapf, ein Taschenmessermit vielerlei Instrumenten, eine Umhängeta-sche und sonst noch Dinge, nach denen, wie ererwähnte, «unter ähnlichen Umständen» beiihm oft gefragt werde. Meine Stiefmutter hatdann für meinen Vater das Taschenmesser ge-kauft. Mir gefiel es auch. Als alle Einkäufe bei-sammen waren, hat der Ladenbesitzer seineFrau angewiesen: «Kasse!» Darauf zwängte

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die alte Frau ihren weichen, in ein schwarzesKleid gehüllten Körper unter etlichen Schwie-rigkeiten zwischen die Registrierkasse undeinen mit Kissen gepolsterten Lehnstuhl. DerLadenbesitzer hat uns noch bis zur Tür beglei-tet. Dort hat er gesagt, er hoffe, «ein andermalwieder die Ehre zu haben», dann hat er sichvertraulich zu meinem Vater gebeugt und leisehinzugefügt: «So, wie wir das meinen, dergnädige Herr und ich.»

Jetzt endlich haben wir uns dann doch aufden Nachhauseweg gemacht. Wir wohnen ineinem großen Mietshaus, in der Nähe desPlatzes, wo auch die Straßenbahnhaltestelleist. Wir waren schon auf unserem Stockwerk,als meiner Stiefmutter einfiel, daß sie verges-sen hatte, die Brotmarken einzulösen. In dieBäckerei habe ich dann zurück müssen. DenLaden konnte ich erst nach ein bißchenSchlangestehen betreten. Zuerst mußte ichmich vor die blonde, großbusige Bäckersfrauhinstellen: sie schnitt das entsprechende Qua-drat von der Brotmarke ab, dann weiter, vorden Bäcker, der das Brot abwog. Er hat meinenGruß gar nicht erwidert; es ist ja in der Gegendallgemein bekannt, daß er die Juden nicht mag.Deshalb hat er mir auch um etliche Gramm zuwenig Brot hingeworfen. Ich habe aber auch

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schon sagen gehört, daß auf diese Weise proRation etwas für ihn übrigbleibt. Und irgend-wie, wegen seines wütenden Blicks und seinergeschickten Handbewegung, habe ich auf ein-mal die Richtigkeit seines Gedankengangs ver-standen, nämlich warum er die Juden in derTat nicht mögen kann: sonst müßte er ja dasunangenehme Gefühl haben, er betrüge sie. Sohingegen verfährt er seiner Überzeugung ge-mäß, und sein Handeln wird von der Richtig-keit einer Idee gelenkt, was nun aber – das sahich ein – etwas ganz anderes sein mag, natür-lich.

Ich beeilte mich, von der Bäckerei nachHause zu kommen, da ich schon recht hungrigwar, und so bin ich gerade nur auf ein Wort mitAnnamaria stehengeblieben: als ich eben dieTreppe hinauf wollte, kam sie herunterge-hüpft. Sie wohnt auf unserem Stock, bei denSteiners, mit denen wir uns jeweils bei den al-ten Fleischmanns treffen, neuerdings jedenAbend. Früher haben wir von der Nachbar-schaft nicht sonderlich Kenntnis genommen:aber jetzt hat sich eben herausgestellt, daß wirvon der gleichen Sorte sind, und das verlangtnach einem kleinen abendlichen Gedanken-austausch, die gemeinsamen Aussichten be-treffend. Annamaria und ich reden während-

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dessen über andere Dinge, und so habe ich er-fahren, daß die Steiners eigentlich bloß ihrOnkel und ihre Tante sind: ihre Eltern lebennämlich in Scheidung, und da sie sich bis dahinihretwegen nicht einigen konnten, haben siebeschlossen, daß sie dann lieber hier sein soll,wo sie bei keinem von beiden ist. Zuvor war siein einem Internat, aus demselben Grund, sowie übrigens früher auch ich. Auch sie ist vier-zehn, so ungefähr. Sie hat einen langen Hals.Unter ihrem gelben Stern beginnt sich schonihr Busen zu runden. Sie mußte auch geradezur Bäckerei. Sie wollte noch wissen, ob ich amNachmittag nicht Lust hätte auf ein bißchenRommé, zu viert, mit ihr und den beidenSchwestern. Diese wohnen einen Stock überuns. Annamaria ist mit ihnen befreundet, ichhingegen kenne sie nur flüchtig, vom Gangund vom Luftschutzkeller. Die kleinere siehterst so nach elf oder zwölf aus. Die größere ist,wie ich von Annamaria weiß, genauso alt wiesie. Manchmal, wenn ich gerade in unseremZimmer auf der Hofseite bin, sehe ich sie aufdem gegenüberliegenden Gang, wie sie geradeforteilt oder nach Hause zurückkehrt. Einpaarmal bin ich ihr auch schon unter dem Torbegegnet. Ich dachte bei mir, dann könnte ichsie jetzt ein bißchen näher kennenlernen: Lust

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