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Insel Verlag Leseprobe Le Corff, Aude Das zweite Leben des Monsieur Moustier Roman Aus dem Französischen von Anne Braun © Insel Verlag insel taschenbuch 4620 978-3-458-36320-0

Roman Le Corff, Aude · Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel L’importun bei Stock, Paris. Erste Auflage 2018 insel taschenbuch 4620 ©der deutschen Ausgabe Insel Verlag

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  • Insel VerlagLeseprobe

    Le Corff, AudeDas zweite Leben des Monsieur Moustier

    RomanAus dem Französischen von Anne Braun

    © Insel Verlaginsel taschenbuch 4620

    978-3-458-36320-0

  • Als sie das Steinhäuschen ander bretonischenKüste zumerstenMal be-tritt, weiß sie, dass sie angekommen ist: Es duftet nach Jasmin, ein Ka-kadu singt aus einer Voliere, und der Garten erscheint ihr als paradiesi-scher Ort. Hier wird die junge Pariserin in Ruhe ihre Romane schreibenkönnen. Doch eines Tages steht plötzlich ein alterMann in ihremWohn-zimmer und spaziert mit größter Selbstverständlichkeit in den Werk-zeugkeller und den Rosengarten. Was er, Monsieur Moustier, dort zusuchen hat, verrät er nicht – dass er mit der Anwesenheit der jungenFrau nicht einverstanden ist, ist hingegen kaum zu übersehen. Mit vielGeduld und Einfühlungsvermögen gelingt es der neuen Hausbesitze-rin schließlich, das Eis zu brechen –und ihremLebenunddemdesmiss-launigen Monsieur Moustier eine völlig neue Wendung zu geben.

    Aude Le Corff, 1977 in Tokio geboren, studierteWirtschaft und Psycho-logie, bevor sie 2009 ihr mit dem Prix Elle ausgezeichnetes Blog Nectardu Net begann. Le Corff lebt mit ihrer Familie im französischen Nantes.

  • insel taschenbuch 4620Aude Le Corff

    Das zweite Leben des Monsieur Moustier

  • RomanÜberse� t von Anne BraunInsel Verlag

    Aude Le CorffDas zweite Leben des Monsieur Moustier

  • Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

    L’importun bei Stock, Paris.

    Erste Auflage 2018

    insel taschenbuch 4620

    © der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2016

    © Éditions Stock, 2015

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie

    der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

    Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm

    oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages

    reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

    vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

    Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

    Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

    Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

    Printed in Germany

    ISBN 978-3-458-36320-0

  • Das zweite Leben des Monsieur Moustier

  • Indem ihr starbt und nichts darüber sagtet,habt ihr eines Tages, unverhofft,einen großen Apfelbaum erblühen lassen,mitten im Winter.

    Jules Supervielle

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    AmRande einer Hafenstadt, in einemNatursteinhaus mit Back-steinumrandungen an den Fenstern, lebte ein alter Mann, zu-rückgezogen von derWelt. An diesemOrt voller Erinnerungenwurde er geboren, und hier hatte er seine Tage auch beschlie-ßenwollen, doch dann machte ihmdas Alter einen Strich durchdie Rechnung. Als er anfing, die Eier auf dem Herd und seinPortemonnaie im Lebensmittelgeschäft zu vergessen, trafen sei-ne Töchter eine Entscheidung, die in ihren Augen das Beste fürihnwar. Sie brachten ihn in einemHeim für betreutesWohnenunter, einem seelenlosen weißen Gebäude, in dem betagte Men-schen dahinscheiden, einer nach dem anderen. Damit er sichnicht allzu verloren fühlen würde, hatten sie immerhin dar-auf geachtet, dass er in seinem Stadtviertel blieb. Das Alters-heim lagnur fünfhundertMeter von seinem früherenHaus ent-fernt.

    Damien und ich kauften seinHaus, kurz nachdemder alteMannausgezogen war. Wir erwarteten unser zweites Kind, und ichwollte unbedingt von Paris wegziehen. Ich hatte eine sehr idyl-lische Vorstellung vom Leben in der Provinz und war über-zeugt, dass uns zum Glücklichsein nur ein heimeliges Kamin-feuer im Winter, im Sommer lange Abendessen im Garten unddie Annehmlichkeiten eines Lebens am Meer fehlten.Wir waren davon ausgegangen, dass eineWoche vor Ort rei-

    chenwürde, umunser Traumhaus zu finden. Doch dannmuss-tenwir feststellen, dassAnzeigentexte undRealität soweit aus-

  • einanderklafften, dass jeder Tag neue Enttäuschungen mit sichbrachte. Wir entdeckten Mängel, die auf den Fotos nicht sicht-bar oder in den Anzeigen nicht erwähnt worden waren: eineschlechte Lage, ein anderes Haus direkt vor dem Fenster, einelaute Straße. Das Haus des alten Herrn stand erst seit KurzemzumVerkauf, es war unsere letzte Besichtigung, bevor wir nachParis zurückfahren wollten.

    Von der Straße aus sah ich als Erstes die Zeder imGarten, danndas Schieferdach mit dem hübschen Dachfenster am Frontgie-bel. Eine dem Meer entflohene Möwe glitt über den riesigenBaum hinweg. Mein Puls ging mit einemMal schneller, und ichkonnte es kaum erwarten, das Haus auch von innen zu sehen.Zwei Frauen erwarteten uns: die Töchter des alten Herrn. DieJüngerewar freundlichundherzlich,während ihre ältere Schwes-ter distanziert und verschlossen wirkte.Der Eingangsbereich gefiel uns, ein gepflasterter Patio mit

    duftendem Jasmin und Klettergeranien, die von der Morgen-sonne angestrahlt wurden. Während wir uns unterhielten, er-regte plötzlich ein aufgehängter Käfig unsere Aufmerksamkeit:In ihm rührte sich etwas. Hinter den Stäben entfaltete ein wei-ßer Kakadu seine gelbe Haube zu einem Fächer. Mit einem nä-selnden Krächzenwarf er uns einWort zu, das ich jedoch nichtverstand. Ich war entzückt wie ein Kind und rief etwas zurück,und der Vogel schien sich zu freuen, dass er meine Neugier ge-weckt hatte. Seine kleine Einlage entspannte die Atmosphärespürbar.Eine zweite Tür führte ins Haus. DasWohnzimmer lag nach

    Norden undwollte so gar nicht zu dem freundlichen Eingangs-bereich passen. Nachdem sich meine Augen an die Düsternis

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  • gewöhnt hatten, konnte ich einenFernseher ausmachen, ein So-fa, eine Holzdecke mit Rissen, einige Bronzestatuen, zwei Holz-scheite und einen einsamen Blasebalg neben dem Kamin. DerGeruch von kalter Asche lag in der Luft. Hinter den Gardinenfuhr, wie ein Schatten, ein Auto vorbei.Wir verweilten hier nichtlange.Die Küche, rustikal und voller Bonsai-Bäumchen, ging nach

    Süden, zumGartenhin.DamiensBlick blieb andemwuchtigenBarometer hängen, an der Wachstuchtischdecke mit den Jagd-szenen und der Kaffeemühle aus Holz. Draußen war das Grasnicht gemäht worden, Kletterrosen rankten sich an den mit EfeubewachsenenMauern hinauf, und eine bestimmt hundertjähri-ge Glyzinie verdeckte einen Teil der Fassade. Unter der Zederstand ein unscheinbarer Schuppen voller Werkzeuge, Töpfe undSäcke mit Dünger. An einem Haken wartete ein abgewetzterStrohhut auf seinen Besitzer.

    Die beiden Schwestern schienen ganz unterschiedliche Erinne-rungen an ihre Kindheit zu haben. Die Nette, die uns von einemZimmer ins andere führte, war ein sehr mitteilsamerMensch. Inihrem altenZimmer erzählte siemir, dass sie sich trotz der eherschwierigen Beziehung zu ihrem Vater gern an ihre Kindheiterinnerte. Auf ihrem früheren Schreibtisch stand eine offeneReisetasche, anderWandhingenPostkarten –Barcelona,die klei-nen Felsbuchten von Piana auf Korsika – und es gab auch eineStaffelei ohne Bespannung. In einer Ecke des Regals saß eineHarlekin-Marionette, die melancholisch zum Schrank schaute.Die ältere der beiden Schwestern blieb distanziert. Ihre Mie-

    ne verfinsterte sich jedes Mal, wenn von ihrem Vater die Redewar. Sie war ausweichend, fast barsch, wenn ihre Schwester sie

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  • in die Unterhaltung mit einbeziehen wollte oder eine unsererFragen über den Zustand des Dachs und des Heizkessels ansie weitergab.Ich hörte den beiden aber kaum zu. Ihre familiären Unstim-

    migkeiten interessierten mich herzlich wenig, ich hatte ganzandere Dinge im Kopf. Wenn man ein Haus oder eine Woh-nung kaufen will, kümmert man sich nicht um die Vergangen-heit, die sich in den Räumen abgespielt hat – man achtet statt-dessen auf die Größe der Räume, darauf, ob man die Deckeabschleifenmuss, ob es amKüchentisch hell genug ist. Der offe-ne Kamin funktionierte. Der Speicher konnte ausgebaut wer-den. Das Haus war nicht perfekt, das Wohnzimmer zu düster,und es musste noch einiges getan werden, doch unsere Ent-scheidung fiel recht schnell. Hier würden unsere Kinder großwerden. Ich war so aufgeregt und überschwänglich, wie manes an der Schwelle zu einem neuen Leben voller Verheißungennur sein kann.

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    Die beiden Schwestern waren erleichtert, dass die Sache soschnell über die Bühne gegangen war. Sie lebten am anderenEnde Frankreichs und wollten möglichst rasch zu ihren Fami-lien zurück. Keine von ihnen schien sich allzu große Sorgenum ihrenVater zumachen, der nun allein in seinemWohnheim-zimmer saß. Sie nahmen die wertvolleren Bronzestatuen, eini-ge Bilder und ihre persönlichen Gegenstände mit und bestell-ten dann einen Trödler, der das Haus leer räumen sollte. Derentrümpelte zwar dieWohnetagen, doch die alten Kommodenund Schränke aus dem Keller wollte er nicht haben. Sie warenvoller Briefe und Bücher.Ich wusste natürlich nicht, wie viel dieser Ort dem ehema-

    ligen Besitzer bedeutete. Sein Großvater hatte das Haus voreinem Jahrhundert erbaut. In diesen alten Möbelstücken mitden klemmenden Schubladen und den windschiefen Türensteckte das Leben einesMannes und auch das seinerVorfahren.

    Der Keller war ihr Refugium gewesen, diese dunklen Räume,in die durch die Rauten des Fensters nur wenig Licht fiel. DieMänner dieser Familie hatten ihr handwerkliches Wissen wei-tergegeben, und dazugehörte Schlossern, Schustern, Schreinernund die Pflege ihrer Jagdutensilien. Werkzeuge, neueren Da-tums oder bereits ein Jahrhundert alt, lagen auf einer Werk-bank mit Arbeitslampe. An den Wänden, von denen der Putzabbröckelte, hingen Schraubenzieher, Hämmer, Sägen, Gabel-schlüssel und Rollgabelschlüssel fein säuberlich nebeneinander.

  • Elektrische Leitungen verliefen entlang der Decke und über-kreuzten sich in einem Kuddelmuddel, sämtliche Winkel wa-ren ausgenutzt und boten Platz für Arbeitshandschuhe, Nägel,Lederabfälle oder Holzreste, Polituren und Schutzbrillen. Au-ßerdemgab es hier eineUhr, die kurz nachunseremEinzug ste-hen blieb, einenAschenbecher, ein kaputtes Radio und Schwarz-weißfotos der Familie – unter anderem von einem Baby in ei-nem altmodischen Strampelanzug.Die Männer hatten dieselben Rituale gehabt. In ihrem Refu-

    gium, das vom Vater an den Sohn weitergegeben worden war,war wohl immer geraucht und geschraubt und gesägt worden,und es war, als hätte ein einzelner Mann hundert Jahre langdasselbeUntergeschoss genutzt. AmFußder Stufenwaren nochdie Krallenspuren all der Hunde zu sehen, die in diesem Hausaufeinandergefolgt waren.

    Nachdem sich der Trödler geweigert hatte, dieWerkzeugemit-zunehmen, dieMöbel ohneWert und die alten Bücher aus demKeller, haben sich die Schwestern nicht darum gerissen, sie zuentsorgen. Die Unterzeichnung des Kaufvertrags beim Notarfand einen Monat später statt, als mein Bauch schon deutlichsichtbar war. Gleich danach hatte Damienmit der Überwachungder Umbauarbeiten und seiner neuen Arbeitsstelle zu tun unddrängte nicht darauf, dass sie den Trödel abholten. Die Hinter-lassenschaften des alten Mannes faszinierten ihn, er wollte siespäter auch benutzen, und in diesem Haufen von Büchern be-fanden sich sicher auch ein paar ganz gute: Es gab Romane fürErwachsene, aber auch Kinder- und Jugendbücher mit verbli-chenen Seiten, für unsere Kinder, später, wenn sie lesen könn-ten. Und eine ganze Reihe vonWerken über den ZweitenWelt-

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  • krieg. In diesem Jahr des Gedenkens an die Befreiung warendie Medien voll damit, man konnte keinen Fernseher anma-chen und keine Zeitung aufschlagen, ohne auf eine Dokumen-tation, einen Fernsehfilm oder ein Dossier über dieses Themazu stoßen. Die früheren Besitzer hatten die deutsche Besatzungerlebt. Während der Luftalarme hatten sie sich vermutlich indiesen Keller geflüchtet. Die Nettere hatte mir erzählt, dass ihrGroßvater bei Kriegsende gestorbenwar, als er noch hier wohn-te. Ich fragte nicht nach und hatte den Eindruck, dass sie keinegroße Lust hatte, mir mehr darüber zu erzählen.Erst später habenwir dieHakenkreuze entdeckt, unterschied-

    lich groß und unbeholfen in ein Fensterbrett eingeritzt, im ers-ten Stockwerk, in einemderKinderzimmer.Und imKeller, hin-ter einer Reihe von Krimis, entdeckten wir mehrere Bücherüber Hitler und die Gestapo. Damien überflog ein paar Seitenund sagte dann spöttisch, dass wir vielleicht unwissentlich denZweitwohnsitz von Klaus Barbie gekauft hätten. Ich rang mirein gequältes Lächeln ab. Wir würden diesen ganzen Krempelwegwerfen, sobald wir etwas Zeit hätten. Der Keller war groß,und uns blieb noch genügend Platz für unsere Kartons, die nacheinemUmzug immer jahrelang herumstehen: mit demRaclette-Grill, Lucies Heften aus dem Kindergarten und alten Schuhen,dieman eines Tages eventuell wieder anziehenmöchte und diedoch nur verstauben.

    Es war mir nicht möglich, bei den Umbauarbeiten dabei zusein, doch ich hatte mit Damien zusammen alles ganz genaugeplant. Den Durchbruch einiger Zwischenwände, damit sichder Sonnenschein ungestört ausbreiten kann, die große Fens-terfront zumGarten hin, die neue Küche, der Ausbau des Spei-

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  • chers – das alles konnte ich vorläufig nur auf Fotos sehen. Weilder Geburtstermin schon zu dicht bevorstand, konnte ich nichtmehr reisen, ich verfolgte die Umbauarbeiten vonParis aus aufmeinem Computer. Mir war einerseits etwas langweilig, ande-rerseits genoss ich auch diese letzten ruhigen Tage, wohl wis-send, dass unser Leben bald eine entscheidendeWendung neh-men und diese uns ganz schön viel Kraft kosten würde. EinRoman von Jean-Paul Dubois ließ mich mitten im Pariser Som-mer mit strahlend blauem Himmel in einen Schneesturm ein-tauchen, der so gut beschrieben war, dass ich die Kälte und dieSchneegestöber auf der Haut zu spüren glaubte. Dann begannich zu stricken und versuchte,mich daran zu erinnern, wasmei-ne Großmutter mir beigebracht hatte. Ich hatte noch nie etwasSchwierigeres als einen Schal zustande gebracht, und deshalbbegann ich, ein langes blaues Band zu stricken, zu nichts nutze,das immer länger und länger wurde und sich dehnte wie dieendlosen Tage, die mich noch von der Entbindung trennten.

    Robinwurde zweiWochen vor dem berechneten Entbindungs-termin geboren. Ich lag noch im Krankenhaus, als Lucie einenfür die Sommermonate ungewöhnlichen Husten bekam undmich deshalb nicht besuchen durfte. Diese Zeit war für sie vol-ler Ängste und Sorgen. Für ihren kleinen Bruder interessiertesie sich kaum, doch sie konnte es nicht erwarten, mich wieder-zusehen. Sie wollte sich davon überzeugen, ob ich auch keinedubiosen Nachwirkungen meines mysteriösen Zustands zu-rückbehalten hatte, der mich zuerst dick und schwerfällig ge-macht und dann auch noch für mehrere Tage von zu Hauseweggebracht hatte, in ein großes weißes Gebäude voller Kran-ker, Rollstühle und Ärzte mit Kitteln. Und sie wollte wissen, obich sie immer noch ein bisschen lieb hatte.

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    Der Herbst neigte sich seinem Ende zu, als wir unser neuesHeim bezogen. Die ersten Monate in diesem Viertel, das so ru-hig und friedlich und das Gegenteil der Pariser Hektik war,hatten für mich einen bittersüßen Geschmack. Alles, was unsbei unserem ersten Besuch so gut gefallen hatte, war erloschen:die Birken, die Blumen, die Süße des Frühlings, das Lächeln derNachbarn, die auf der Schwelle ihrer Türenmiteinander geplau-dert hatten. DieHortensien streckten ihre langen, spindeldürrenFinger in einen bewölkten Himmel. Das Gras stand in Pfützen.In der feuchten Stille kam man sich auf den kalten, erstarrtenStraßen wie in einer Geisterstadt vor.Ich fragte mich, was mich gepackt hatte, als ich Paris aus ei-

    ner Laune heraus den Rückengekehrt hatte. Ein Bedürfnis nachVeränderung und nach mehr Platz mit diesem Baby, das baldgeborenwerdenwürde; die Lust, zu neuen Ufern aufzubrechen.Ich hoffte auch, damit die dumpfe Melancholie vertreiben zukönnen, diemichmanchmal beschlich, unddasGefühl vonUn-wirklichkeit abzuschütteln, dasmich dieWeltmit ungläubigenAugen sehen ließ.

    Wir bekamen einen Krippenplatz für Robin. Lucie geht in dieVorschule. Ich habewieder etwas Luft und kann michmeinemneuen Roman widmen. Es ist mein vierter, wieder ein psycho-logischer Thriller, der sich hoffentlich besser verkaufenwird alsdie früheren. Ich bin nie über zweitausend Exemplare hinaus-gekommen oder habe mich über einen Nachdruck freuen dür-

  • fen. Doch ich gebe die Hoffnung nicht auf, die französischeCamilla Läckberg zu werden, und deshalb schreibe ich wei-ter, weil ich sowieso nicht damit aufhören kann. Ein Kritikeraus Clermont-Ferrand hatte mich mit Frédéric Dard verglichen,und dieses Kompliment hilft mir, auch Momente des Zweifelsdurchzustehen.

    Wie viele Schriftsteller könnte ich von meiner Kunst nicht le-ben. Damien kommt für unseren Lebensunterhalt auf und un-terstützt meine bescheidene Karriere, und dadurch habe ichauch Zeit für die Kinder. Mir ist natürlich klar, dass ich keinVorbild für Unabhängigkeit und Feminismus bin, doch die-ses zweigleisige Leben sagt mir zu. Ich arbeite zu Hause, undwenn ich nicht gerade an meinem Manuskript schreibe, fühleich mich in der neuen Gegend etwas einsam. Ich kenne nochnicht viele Leute und finde dieses ehemalige Arbeitervierteleher trist. Frühere Konservenfabriken wurden in Tanzstudiosund Künstlerateliers umgewandelt, doch ein schöner Anblicksind diese Blechkästen von außen nicht. Alte Häuser sind durchGebäude ohne Charme ersetzt worden, Rentner, die nie aus ih-remViertel herausgekommen sind, leben Tür an Tür mit wohl-habenderen Familien aus Paris. ZumGlück führen diemit Bäu-men gesäumten Sträßchen in nur fünfzehn Gehminuten insStadtzentrum. Um nicht allzu träge zuwerden,mache ich öftermal einen Spaziergang in die Stadt, zu den Büchereien und Ki-nos, den Plätzen und ihren Brunnen, dem Theater, den Gebäu-den aus Quadersteinen und dem Hafen. Ich freue mich überdie Musikanten an den Straßenecken und die Bücherstände amWegesrand.

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  • Wenn ich in den Keller hinuntergehe, rechne ich immer halbdamit, flüchtige Schatten zu sehen oder Mäuse hinter den Kar-tons zu hören. In diesemvonderWelt isoliertenUntergeschoss,das an eine Krypta erinnert, inmitten der Bücher und Werk-zeuge des alten Mannes, frage ich mich manchmal, wie es ihmwohl geht. Ich weiß nichts über diese Gegenstände, die ihmge-hört haben. Ich weiß nicht, wer dieses Regal gebaut oder dasverstaubte Geschirr mit dem Blumenmuster gekauft hat, werdieses alte Werkzeug benutzt hat, geschweige denn, wofür manes überhaupt benutzt,werden kleinenKinderkopf in das StückHolz geschnitzt hat.An manchen Tagen stelle ich mir den alten Mann im Halb-

    dunkel sitzend vor oder leicht wie Luft; umgeben von seinenVorfahren, die mich mit ihren Blicken taxieren, wohlwollendoder voller Entrüstung.

    Hinundwieder fahrenwir nachParis, undLuciewill jedesMalunser altes Haus wiedersehen, den Hof mit den Lorbeerbäum-chen in Töpfen, den alten Aufzugmit denHolztäfelungen, denGlasmalereien und den Spiegeln, und die Concierge, die siemanchmal an sich drückte. Sie darf nicht mehr in ihr altes Zim-mer hochgehen, das tut ihr weh, und sie sagt, dass es hier schö-ner war.Damals hatte sie ihre Eltern für sich allein.Heutemusssie auf ihre Spielsachen aufpassen, Babygeschrei ertragen, dar-auf warten, bis sie an der Reihe ist, mit der latenten Angst le-ben, dass unsere Liebe nur demNeuankömmling gelten könn-te und für sie nur Brosamen übrig bleiben. Seit Robins Geburthat Lucie ein Revier zu verteidigen, Eltern, deren Aufmerksam-keit nicht mehr ihr allein gilt. Ihre Erinnerungen an unsere alteWohnung sinddadurch nur nochmehr eingefärbt, und ihrHeim-weh ist umso stärker.

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  • Doch je älter manwird, desto blasser wird die Erinnerungandie Stätte der frühen Kindheit, und bleiben werden nur flüch-tige, kaumwahrnehmbare Spuren. Und baldwird Lucie die al-ten Fotos aus Paris ungläubig betrachten, sie wird ihr Zimmervergessen haben, den Vornamen unserer Concierge, die sie soliebte, unddiesen vertrautenHof, den sie so oft überquerte,wäh-rend sie mit den Tauben redete.

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