Rückmeldung an Enrico Dörre

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  • 8/16/2019 Rückmeldung an Enrico Dörre

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    @Enrico Dörre – Facebook lässt es nicht zu, deine Statements zu kommentieren. Aus diesemGrund mein Kommentar als pdf – I’m so sorry.

    Siehe selbst, so reagiert Facebook auf mein Kommentar 8-((

    @Enrico Dörre – danke für die diversen Inputs. Die zwei nachstehenden Statements möchteich gerne kommentieren.

    „Enrico Dörre: (..) und die Sanktionen fallen vom Himmel oder wie? Dafür muss man schonwas tun bzw. nichts tun und der Meinung sein „(..)Arbeit ist was für Doofe und ich bin nichtdoof, sollen doch die anderen arbeiten (..)“ – oder ähnliches (..)“

    ..und

    „Enrico Dörre: @Annegret Koch – Du möchtest also Deine Träume verwirklichen underwartest, dass andere dafür morgens aufstehen und arbeiten. Schon mal auf die Ideegekommen, dass Freiheit nicht darin bestehen kann auf Kosten anderer zu leben (..)“

    Ich gehe im Moment nicht darauf ein, welchen Mehrwert in Franken gerechnet Menschen mitSanktionen an der Gemeinschaft erbringen, wenn sie überhaupt dazu noch in der Lage sindund die Kraft dafür aufbringen können. Und wie stark Erwerbstätige dazu beitragen, in derGesamtkostenrechnung gesehen, die humanen und erstrebenswerten Ziele einer Gemeinschaftzu untergraben.

    Also – legen wir los. Was sind Sanktionen, was bewirken Sanktionen, welchen Zweck habenSanktionen, wohin wird es letzten Endes führen? Und genau deshalb sind Sanktionen indieser Form keinesfalls tolerierbar!

    Wir sollten, bzw. wir müssen davon ausgehen, dass die heute stattfindenden Prozesse oderGeschehnisse unter bestimmten Voraussetzungen bzw. bei Gegebenheit bestimmter Faktenals “faschistisch” zu bezeichnen sind. Es ist gleichzeitig die Frage danach, wieso wir soempfindlich und oft mit schärfster Abwehr reagieren, wenn einer diese Behauptung aufstellt:

     jawohl, es gäbe wieder faschistische Geschehnisse und Prozesse in der Schweiz, Deutschland– in Europa.

    Wenn also Faschismus ein so singuläres historisches Phänomen war, dann kann manverstehen, dass bestimmte Leute schwer beleidigt sind, wenn man ihre Äusserungen zumfaschistischen “Vorfeld” erklärt: zu etwas, was – weiter gedacht – Terrorstaat undMenschenvernichtung den Weg bereiten könnte. Wie sieht es zum Beispiel aus mit denMassenverelendungsprogrammen wie «TAP» (Kt. BE), «Passage» (Kt. ZH) und«Perspektive» im Kanton Solothurn, das direkt oder indirekt in der Schweiz eine ganze Reihevon Todesopfern gefordert hat? Holdger Platta spricht sich gegen eine zu eingeschränkteVerwendung des Faschismusbegriffs aus und fordert: “Wehret den Anfängen!”

    Ich vermute, die meisten von uns reagieren deswegen derart heftig mit einem Gefühl derAbwehr, wenn Gegenwärtiges als “faschistisch” ausgegeben wird, weil uns allen angesichts

  • 8/16/2019 Rückmeldung an Enrico Dörre

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    solcher Behauptungen auf's klarste die ungeheure Schrecklichkeit dessen, was Faschismustatsächlich war, vor Augen tritt. Um es nur auf zwei Begriffe zu bringen: Faschismus, das warder terroristische Überwachungsstaat und die systematische, fabrikmässig betriebene,Ermordung von Juden und anderen (zumeist zusammengefasst unter dem Begriff“Auschwitz”).

    Insofern steckt in dieser spontanen – fast möchte man sagen: reflexartigen – Reaktion auf dieBehauptung, womöglich seien auch heutige Geschehnisse oder Prozesse bereits als“faschistisch” zu bezeichnen, ein zutiefst humanes Moment bzw. ein zutiefst humanes Motiv!Es tritt in dieser heftigen Reaktion zutage, dass der Betreffende sehr genau weiss, wasFaschismus tatsächlich ist: die schlimmste Menschenverrohung, die sich denken lässt, einMenschheitsverbrechen schlechthin, im Kern und im Wesentlichen kaum etwas anderes alsfurchtbarste Menschenverfolgung und Genozid. Dieses Wissen zeigt, dass der betreffendeMensch gerade nicht, was die Vergangenheit in der Schweiz/Deutschland angeht, Opfer vonVerleugnungs- und Verdrängungstendenzen im eigenen Inneren ist; und dieses Wissen, diesespontane reflexartige Zurückweisung des Faschismus-Vorwurfs, zählt daher auch zum

    Humansten in uns: es schützt die Vergangenheit vor ihrer Verharmlosung durch Abwehrunangemessener Skandalisierung von Geschehnissen und Prozessen in unserer Gegenwart.Auch als sachlich falsch oder verkehrt erscheint uns diese Abwehr deshalb nicht. Faschismus,das ist doch unüberbietbares Unmass des Verbrechens, im Namen des Staates zudem,Faschismus, das ist Bruch mit jeglicher Menschlichkeit, Faschismus, das ist mit nichtsanderem vergleichbar, deswegen auch die dem Faschismus – völlig zu Recht! –zugeschriebene “Singularität”.

    Und diese Feststellung trifft auch zu angesichts des Umstandes, dass man diese“Singularitäts”-These missverstehen könnte. In dem Sinne nämlich, die “Einmaligkeit” vonAuschwitz sei auch verbunden mit Nichtwiederholbarkeit dieses Ereignisses. Die Tatsache,dass es Auschwitz einmal gegeben hätte – als “einmalig” zu nennende Tatsache gegeben hätte–, dies würde mithin bedeuten, dass damit die Geschichte vor jedwedem neuen Auschwitzgefeit wäre. Selbstverständlich ein Missverständnis, denn derart magischen Selbstschutz derGeschichte vor seiner Wiederholung gibt es nicht. Gleichwohl bleibt die Frage:

    Wie kann man auch nur annähernd irgendetwas in der Schweiz/Deutschland als “faschistisch”oder “Faschismus” bezeichnen? Nun, weil ich meine, dass an dieser Stelle eine Frage an dieseFrage zu stellen ist, eine wichtige Frage sogar. Und diese Frage lautet: ist “Faschismus” (und“faschistisch”) tatsächlich nur das: Auschwitz nämlich und Terrorstaat? Was auch die Frageheraufbeschwört: Ist diese zutiefst humane Reflexreaktion auch eine durch und durch

    reflektierte Reaktion?Ich möchte diese Frage mit einer Gegenfrage konfrontieren, mit einer Frage, die zubeantworten wahrlich nicht belanglos ist. Wird, wenn wir dieses – Auschwitz und Terrorstaat– zum alleinigen Massstab nehmen, nicht unweigerlich zu einer Barriere aufgebaut, die allesblockiert, was Fragen nach der vergleichsweise “harmlosen” Vor- undVerursachungsgeschichte des Faschismus stellt? Und geht aus dieser Reduktion vonFaschismus auf Auschwitz und Terrorstaat nicht sogar ein totales Benennungsverbot hervorgegenüber der Vor- und Verursachungsgeschichte des Faschismus? Schlicht deswegen, weilda alles noch erheblich harmloser war? Aber konkret:

    Darf demzufolge – gemessen an der furchtbaren Monstrosität von Auschwitz – dieKleinigkeit eines einzigen Buches, Hitlers Machwerk „Mein Kampf“ nämlich, deswegennicht mehr als faschistisch bezeichnet werden? Ist es faschistisch eben deswegen nicht, weil

  • 8/16/2019 Rückmeldung an Enrico Dörre

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    es im Vergleich zu Auschwitz halt nur Geschreibsel war, eine Banalität, eine Kleinigkeit, dievöllig zu vernachlässigen ist? Oder, um ein zweites Bespiel zu erwähnen: ist der Slogan, mitdem die NSDAP ihren “Durchbruchswahlkampf” im Spätsommer 1930 bestritt, der Slogan„Schlagt sie zusammen!“, deswegen nicht faschistisch, weil es doch nur Propaganda wäre undläppische Kraftmeierei, lediglich Geschrei und Druckerschwärze – gemessen am tatsächlich

    existierenden terroristischen Gestapostaat später? Zugespitzt: gewalttätige, faschistischeSlogans, die gäbe es demzufolge gar nicht? Faschismus, das wäre nur reale Gewalt, und zwarsystematisch ausgeübte, terroristische Gewalt von Seiten eines Staates? Faschismus alsDenken und Psychologie, Faschismus als Propaganda und Verwaltungshandeln vor derSchwelle zu Auschwitz, diesen Faschismus gäbe es nicht?

    Ich stelle damit Fragen nach Anfangsphänomenen des Faschismus, und – was bedeutendwichtiger ist – ich stelle damit Fragen nach den Ursachen von Faschismus, nach frühenErscheinungsformen von Faschismus und Anfangskausalitäten, die gleichsam naturgemäss –der Logik wie der Sache nach – zumeist ungleich kleiner und unbedeutender erscheinenmüssen als das, was schliesslich als Resultat aus diesen Anfängen erwächst. Im Vergleich und

    als Erscheinungsformen von Faschismus mögen diese frühen Phänomene von Faschismusallesamt „Bagatellen“ sein, in ihrer kausal-konditionalen Funktion für den Geschichtsverlauf,für Aufstieg und Sieg des Faschismus sind sie es nicht, ganz im Gegenteil. Es handelt sich umgenau jene Anfänge, die gemeint sind, wenn im Zusammenhang von Faschismus – gerade beider Auseinandersetzung darüber – derart oft von der Maxime des „Principiis obsta!“ die Redewar. Genau dieses sind die Anfänge, im Denken und im Fühlen, im Schreiben und in derPropaganda, die später dann – mit anderen Ursachen zusammen – zu den Folterkellern derGestapo und zu den deutschen KZ-Systemen führten. Kurz:

    Der graduell selbstverständlich immense Unterschied zwischen „Mein Kampf“, einemblossen Buch, und Auschwitz, diesem gigantischen Menschenmassenvernichtungssystems,mag schier unüberbrückbar gross erscheinen: gleichwohl ist das eine Vorbote und Mitursachedes anderen, und in der – faschistischen! – Qualität sind beide einander gleich! Anders: fastimmer sind die Ursachen von Massenverbrechen kleiner als die Massenverbrechen selbst. AlsUrsache, da genügt hin und wieder schon ein bloss mündlich ausgesprochener Befehl (wie einTeil der Historiker annimmt, was die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“ betrifft!). Kurz:es gehört zur Logik fast eines jeden Geschehens, dass der Anfang zumeist sehr viel kleinererscheint als dessen Ergebnis, unscheinbarer als das womöglich furchtbarste Geschehen, dasdieser Anfang dann heraufbeschwört. Gleichwohl gehört beides, der “kleine” Anfang wie dasalles Menschenmass sprengende Ende, qualitativ derselben Kategorie und Geschichte an.Woraus, für mich jedenfalls, unabweisbar folgt:

    Wir können und dürfen nicht erst dann von “Faschismus” sprechen und gegen ihnanzuschreiben versuchen, wenn dieser bereits wieder das gesamte Staats- undGesellschaftswesen usurpiert hat und wenn es bereits wieder ein Auschwitz gibt – erst dannalso, wenn es wieder einmal zu spät ist. Würden wir unser Verständnis von Faschismus aufdessen entsetzlichste Realisierungsformen reduzieren – auf Terrorstaat und Auschwitz – undFaschismus damit nur vom Ende her verstehen, dann etablierten wir damit gleichzeitig eineArt von Verbot, alles, was Vorgeschichte dazu ist, als faschistisch bezeichnen zu dürfen. Einderartig reduziertes Faschismusverständnis etablierte in unserem Wahrnehmen und Denken,in unserem Sprechen und Schreiben die Maxime eines prinzipiellen Zu-Spät! Dieses wäre dieeine furchtbare Folge daraus. Und die andere (wie es Adorno in „Was ist Aufarbeitung der

    Vergangenheit?“ formuliert hat): „Das Unmass des Verübten schlüge dem Verbrechen zumVorteil aus.“ Heisst: nur, was in seiner Entsetzlichkeit Auschwitz gleichkommt, dürftedeshalb noch als Faschismus oder faschistisch bezeichnet werden. Alles, was dahinter

  • 8/16/2019 Rückmeldung an Enrico Dörre

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    zurückbliebe oder davor steckenbliebe, bliebe von dieser Bezeichnung verschont. Diesesantifaschistische Faschismusverständnis schlüge um zur Schutzfunktion für jeden Faschismus,der noch nicht das Entsetzlichste zu realisieren begonnen hat.

    Und damit zurück in unsere Gegenwart:

    - Wer aus Opfern, welche die Millionen Erwerbslosen nahezu ausnahmslos sind – fastniemand von ihnen wurde oder bleibt freiwillig erwerbslos! –, Schuldige macht – und eineweitestverbreitete Propaganda tut dies seit Jahren –;

    - wer darüber hinaus diese vermeintlich Schuldigen mit unsagbarem Leid überzieht, werdiesen Millionen Menschen in Europa also ein Leben weit unterhalb des Existenzminimumszumutet, sie demütigt, ausgrenzt und mit Feindseligkeiten der verschiedensten Art überzieht:

    der etabliert in einem wichtigen Teilbereich der Gesellschaft – im Teilbereich ausgerechnetder Sozialpolitik – bereits heute einen neuen Faschismus und bereitet erneut einen Faschismusin Europa vor. Münteferings Aussage „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“ war ein KZ-Spruch, auch wenn es die dazugehörigen KZs noch nicht gibt. Der Planungsvorschlag derChemnitzer “Wissenschaftler” Thiessen/Fischer, den Regelsatz auf 139,- Euro pro Person undMonat zu kürzen, war faschistisch, weil in der Wirkung ein Todesurteil, auch wenn dieserFaschismus – zum Glück – nicht in die Tat umgesetzt worden ist. Anderes zu behaupten, lügtan der Wahrheit vorbei. Und wer das verbal wattieren wollte – alsokommunikationsstrategisch die Begriffe „Faschismus“ oder „faschistisch“ vermiede –, werdas als Faschismus in Abrede stellen wollte, stellte sich auf die Seite der Verdrängung. Ichmeine: ein bestimmtes Erkennen der Gegenwart ist ohne Wiedererkennen der Vergangenheit

    nicht wirkliches Erkennen der Gegenwart.

    Wir dürfen nicht – so meine Ansicht – aus zutiefst humaner Bagatellisierungsangst gegenüberden Ereignissen im Dritten Reich einem zutiefst inhumanem Bagatellisierungszwanggegenüber heutigen Geschehnissen zum Opfer fallen. Wir würden damit unserenAntifaschismus in der Geschichte begraben. Anders: das wäre Ritualisierung des Gedenkensim Sinne einer völligen Entleerung dieses Gedenkens, was die Relevanz dieses Gedenkens fürdie Gegenwart betrifft. Erinnerung dieser Art an Geschichte wäre also zugleich Entsorgungvon dieser Geschichte! Und wieder einmal hätten wir aus der Geschichte nichts gelernt.

    So paradox es auch klingen mag: wenn sich diese undurchschaute Mischung ausBagatellisierungsangst und Bagatellisierungszwang durchsetzte in unserem Fühlen undDenken, dann hielte die Ungeheuerlichkeit des Faschismus von gestern noch jedenAntifaschisten heute davon ab, sich erneut gegen Faschismus zu engagieren. DieUngeheuerlichkeit von Auschwitz als “Eintrittsvoraussetzung” zu betrachten dafür, dassetwas zum Geltungsbereich des Begriffes “Faschismus” zählt, würde bedeuten, dass wir diegesamte Vorgeschichte von Auschwitz rauswerfen müssten aus diesem Geltungsbereich. DieMaximalisierung unseres Faschismus-Begriffs führte zu einer Minimalisierung seinerWarnfunktion. Und ausgerechnet alles, was kausal und konditional allerwichtigsteVoraussetzungen für Entstehung, Aufstieg und Sieg des Faschismus gewesen ist (und wiederwerden könnte), fiele diesem – im Wortsinn! – fatalen Reduktionismus zum Opfer.

    Die Fixierung des Faschismusbegriffs auf Auschwitz würde alles aussperren aus unseremDenken und Analysieren, was gestern zu Auschwitz geführt hat und morgen eventuell wieder

  • 8/16/2019 Rückmeldung an Enrico Dörre

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    zu Auschwitz führen könnte. Auch wenn es aberwitzig klingen mag: Wer Auschwitzverhindern will, muss selbst das Scheinbar-noch-ganz-Harmlose auf seine kausal-konditionaleQualitäten hin untersuchen, die in einem neuen Auschwitz enden könnten. Die Überprüfungund Einschätzung von “Bagatellen” gehören also ganz ausdrücklich mit zu diesemForschungs- und Verhinderungsprogramm. Und wir werden auszuhalten haben, dass damit

    Auschwitz auch zurückgeholt wird aus dem Dämonisierungsabstand und uns als niemals ganzauszuschliessende Möglichkeit der Geschichte wieder ganz nahe rückt. Es gibt keinenlegitimen Sicherheitsabstand zu “Auschwitz”. Folglich dürfen wir auch den Begriff“Faschismus” nicht scheuen, da wir ansonsten in der Gefahr stehen, den Blick auf dieWirklichkeit zu scheuen. Pauschalabwehr besitzt keinen Rechtfertigungsgrund. Und gebenwir bitte nicht als Stilkritik aus, was in Wahrheit nur Realitätsflucht wäre! Dabei hat natürlichals Selbstverständlichkeit zu gelten, dass der Begriff „Faschismus“ niemals als blosseTotschlags- und Etikettierungsvokabel missbraucht werden darf, sondern stets nur als Resultatsorgfältig-differenzierender Analyse Geltung für sich beanspruchen kann.

    „Das Böse“, sagte der ehemalige Generalsekretär der UNO, Kofi Annan, einmal, „braucht das

    Schweigen der Mehrheit.“ Auch das verbale Wegbeschönigen von heutigenFaschismusvorzeichen käme einem bösartigen Verschweigen gleich.“

    Quelle: http://tapschweiz.blogspot.ch/2015/03/b240112.html