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    ERWHLUNG UND VERGELTUNG. ZUR OPTIONALENSTRUKTUR RABBINISCHER SOTERIOLOGIE

    FRIEDRICH AVEMARIE

    New Testament Studies / Volume 45 / Issue 01 / January 1999, pp 108 - 126DOI: null, Published online: 08 September 2000

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    How to cite this article:FRIEDRICH AVEMARIE (1999). ERWHLUNG UND VERGELTUNG. ZUR OPTIONALEN STRUKTURRABBINISCHER SOTERIOLOGIE. New Testament Studies, 45, pp 108-126

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    New Test. Stud.vol. 45, 1999, pp. 108126 Copyright 1999 Cambridge University Press

    Printed in the United Kingdom

    ERWAHLUNGUNDVERGELTUNG.

    ZUROPTIONALENSTRUKTURRABBINISCHER

    SOTERIOLOGIE*

    FRIEDRICH AVEMARIE

    Evangelisch-theologisches Seminar, Institut fur antikes Judentum und hellenistische

    Religionsgeschichte, Liebermeisterstr. 12, D-72076 Tubingen, Germany

    Zur Beschreibung rabbinischer Soteriologie haben sich in der Forschungzwei kontrare Modelle etabliert: Dem einen zufolge entscheiden die Werkeeines Menschen uber seine Teilhabe an der kommenden Welt; dem anderenzufolge entscheidet seine Zugehorigkeit zum erwahlten Volk. BeideDenkmuster sind in Talmud und Midrasch reichlich belegt. HerkommlicheHierarchisierungen, die das eine Muster dem anderen starr uber- oderunterordnen, sind jedoch unangemessen. Vielmehr bringt die rabbinischeTradition Erwahlung und Vergeltung in stets wechselnden Proportionenzum Ausgleich, was bis zur scheinbaren Verabsolutierung des einen undIgnorierung des anderen der beiden Prinzipien reichen kann. RabbinischeSoteriologie ist in diesem Sinne optional strukturiert.

    I. DIEPROBLEMLAGE

    Die soteriologischen Vorstellungen der rabbinischen Uber-lieferung, ihre Ansichten uber die Umstande und Bedingungen,unter denen Gott dem Menschen Heil und Leben gewahrt, bildenein komplexes Themenfeld, das einer sorgfaltigeren Unter-suchung bedarf, als sie die folgenden Seiten leisten konnen. Derrabbinische Sprachgebrauch bezeichnet mit Leben im Sinne vonHeil nicht nur das Leben in der kommenden, sondern auch das in

    dieser Welt und kennt neben diesem individuellen Leben eineVielzahl anderer, auch kollektiver Guter, deren Heilscharaktersich daran ermessen lat, da ihr Besitz als Gewinn und ihrVerlust als schmerzhaft empfunden wird. Die Vielzahl der Heils-

    * Gekurzte und uberarbeitete Fassung eines Vortrags, der auf dem SNTS-Kongre 1997 in

    Birmingham gehalten wurde. Fur Kritik und Anregungen danke ich den Herren Prof. Dr M.Mach, Prof. Dr A. K. Petersen, Prof. Dr M. Seifrid und Prof. Dr P. Tomson.

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    guter wird besonders an midraschischen Reihenbildungen deut-lich, die etwa das Land Israel, den Tempel, das davidische Konig-tum, die Tora und das Priestertum Aarons, oder: die Tora, Himmelund Erde, Abraham, Israel und den Tempel, oder vergleichbare

    andere Begriffe analog nebeneinanderstellen.1

    Forscher christlicher Herkunft, wie P. Billerbeck, G. F. Mooreoder E. P. Sanders, ruckten bei der Darstellung rabbinischerSoteriologie zumeist die Frage nach dem Leben in der kommendenWelt in den Mittelpunkt.2 Leitete sie dabei auch das Interesse,einen Ansatzpunkt fur den Vergleich mit urchristlicher Theologiezu schaffen,3 so ist doch damit die individuell-eschatologischeFokussierung nicht zwangslaufig diskreditiert;4 die Quellen lassensie vielmehr als durchaus berechtigt erscheinen, denn rabbinischeTexte, die von der Teilhabe an der kommenden Welt sprechen, gibt

    es in groer Zahl.5

    Es kann darum nicht unsachgema sein, solcheTexte nach regelmaig wiederkehrenden Argumentationsmusternund damit nach gedanklicher Koharenz zu untersuchen. Man darfnur nicht vergessen, da man dann einen Ausschnitt vor sich hatund nicht die rabbinischen Heilsvorstellungen in ihrer Gesamt-heit.6

    Bekanntlich hat die Forschung zwei grundverschiedene Denk-figuren beobachtet, mit denen die Rabbinen auf die Frage nach derTeilhabe an der kommenden Welt antworteten. Die eine beruhtauf dem Vergeltungsprinzip: Wer gehorsam erfullt, was die Tora

    1 So inMek.YAmaleq/Yitro 2, zu Ex 18.27 (Horovitz/Rabin 201, mit Angabe von Parallelen)bzw. m.Av. 6.10 (Albeck 4.387, mit Angabe von Parallelen). Sachlich eng verwandt ist Rom 9.4.Eine Liste rabbinischer Begriffe zu erstellen, die im weitesten Sinne Heilsguter bezeichnen,ware eine Aufgabe fur sich, vermutlich eine mit offenem Ende.

    2Vgl. (H. L. Strack,) P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud undMidrasch4/1 (Munchen: Beck, 1928) 5; G. F. Moore, Judaism in the First Centuries of theChristian Era. The Age of the Tannaim2 (Cambridge, MA: Harvard University, 1927) 945; E.P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion (London/Philadelphia: SCM, 1977) 12557 und 180. Siehe auch schon F. Weber, Judische Theologieaufgrund des Talmud und verwandter Schriften gemeinfasslich dargestellt (3. Aufl.; hg. F.Delitzsch u. G. Schnedermann; Leipzig: Dorffling & Franke, 1897) 2789. Zur forschungsge-

    schichtlichen Wurdigung vgl. jetzt auch R. Deines, Die Pharisaer. Ihr Verstandnis im Spiegelder christlichen und judischen Forschung seit Wellhausen und Graetz (WUNT 101; Tubingen:

    Mohr/Siebeck, 1997) 24555, 25762, 37495.3Vgl. bes. Moore,Judaism, 945; Sanders,Paul and Palestinian Judaism, 1224 undpassim.4 Zum Problem der Vergleichbarkeit religioser Vorstellungswelten vgl. H.-M. Rieger, Eine

    Religion der Gnade. Zur Bundesnomismus-Theorievon E. P. Sanders, inBund und Tora. Zurtheologischen Begriffsgeschichte in alttestamentlicher, fruhjudischer und urchristlicher Tradi-tion (ed. F. Avemarie, H. Lichtenberger; WUNT 92; Tubingen: Mohr/Siebeck, 1996) 12961,hier: 1405.

    5Vgl. die Zusammenstellung bei A. Marmorstein, La participation a la vie eternelle dans la

    theologie rabbinique et dans la legende,REJ89 (1930) 30520. Weiteres Material im folgenden.6 In der Tat lat sich dieser Vorwurf gegen keinen der drei genannten Autoren erheben.

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    gebietet, wird dafur mit ewigem Leben belohnt (Weber, Biller-beck). Die andere folgt dem Grundsatz der Erwahlung: Wer zuIsrael gehort, hat damit Anteil an allem, was diesem Volkverheien ist, also auch an der kommenden Welt (Moore, Sanders).

    Beide Denkmuster lassen sich in der rabbinischen Literatur reich-lich belegen.

    Fur die Heilsbedeutung der Zugehorigkeit zu Israel wirdgewohnlich der erste Satz vonm.Sanh. 10.1 angefuhrt:

    Ganz Israel sie haben Anteil an der kommenden Welt, denn es heit: Unddein Volk sind alles Gerechte, fur ewig sollen sie das Land besitzen (Jes 60.21).

    Man hat dieser Aussage zu Recht ein hohes theologisches Gewichtbeigemessen, obwohl sie in wichtigen Textzeugen fehlt7 und auch

    aus inhaltlichen Grunden nicht zum ursprunglichen Bestand vonMischna Sanhedrin gehort haben kann: Denn nachdem in Kap.79 aufgezahlt wurde, welche Verbrechen mit dem irdischen Todzu ahnden sind, werden in Kap. 10 naheliegenderweise auchdiejenigen Verschuldungen benannt, durch die der Mensch sein

    ewiges Leben verwirkt,8 die Bestreitung der Totenauferstehung,die Bestreitung der Autoritat der Tora und anderes; der dieserAuflistung voranstehende Satz von der allgemeinen Teilhabe amewigen Leben fallt also aus dem Rahmen.9 Freilich spricht er nuraus, was im Folgenden impliziert sein mu, sofern hier der

    Ausschlu vom ewigen Leben analog zum Verlust des irdischenLebens gesehen wird: Normalerweise hat jeder Israelit Anteil ander kommenden Welt.10 Daruber hinaus zeigt die Einfugung, daKap. 10 auch unabhangig von seinem Zusammenhang mit denvorausgehenden Kapiteln wahrgenommen wurde, und gibt damit

    7 Unter anderem in Hs. Kaufmann und Hs. Cambridge. Ferner fehlt der Passus auch in den

    Gemaras des Yerushalmi (y.Sanh. 10.1) und des Bavli (b.Sanh. 90a) sowie in der tosefta-artigenElaborationvon m.Sanh.10.1inARNA 36 (Schechter, 1069). Dies deutet auf ein spates Datumdes Zusatzes hin.

    8 Zumal es in 6.2 heit, da die zum Tode Verurteilten vor der Hinrichtung ein Sundenbe-

    kenntnis ablegen sollen: Denn jeder, der (seine Sunden) bekennt, hat Anteil an der kommendenWelt.9 Das zeigt sich auch an der Form: Die Liste der zu Steinigenden beginnt in 7.4 mit

    , und analoge Einleitungen folgen in 8.7 und 9.1. Dementsprechend ist der eigentlicheBeginn von 10.1 der Satz , der im textus receptus an das Zitat aus Jes60.21 anschliet.

    10 Eine detaillierte Begrundung gibt E. Sjoberg, Gott und die Sunder im palastinischenJudentum, nach dem Zeugnis der Tannaiten und der apokryphisch-pseudepigraphischen Lit-eratur (WMANT 4/27; Stuttgart: Kohlhammer, 1939) 119, unter Berufung auf Moore undBillerbeck.

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    einen Eindruck von der rezeptionsgeschichtlichen Bedeutung die-ses Textes.11

    Zugleich ist inm.Sanh. 10.1 auch die andere Auffassung ausge-sprochen, wonachdas Tun und Lassen eines Menschen uber sein

    jenseitiges Heil entscheidet: Wer bestimmte Normen verletzt, wirdmit dem Verlust des Lebens in der kommenden Welt bestraft. Einpositiv formuliertes Beispiel gibt ein Diktum des R. Meir in Sifre

    Devarim: Jeder, der im Lande Israel wohnt und morgens undabends das Hore-Israel rezitiert und die heilige Sprache (d.h. he-braisch) spricht, der ist ein Sohn der kommenden Welt.12Auch dieVorstellung von einer gottlichen Abrechnung uber die Taten desMenschen setzt die Relevanz des individuellen Handelns voraus.Das bekannteste Beispiel ist das Oxymoron des R. Aqiva in m.Avot3.15 nach der Fassung des textus receptus: . . . in Gute wird die

    Welt gerichtet, und alles nach der Mehrheit der Tat.13

    Der Dissens in der Forschung bricht nicht daruber auf, da esbeide Vorstellungen, Heil durch Erwahlung und Heil durch Ver-geltung, bei den Rabbinen tatsachlich gibt. Das Faktum selbstwurde, soweit ich sehe, nie ernsthaft bestritten; die Bundesnomis-mus-Theorie von Sanders integriert die beiden Vorstellungenebenso wie das vormals klassische System der rabbinischenSoteriologie nach Weber und Billerbeck,14 auch wenn das leichtubersehen werden kann.

    Das Problem beginnt vielmehr mit der Bestimmung des Verhalt-

    nisses zwischen diesen beiden Prinzipien. Billerbeck stellte dieWerkgerechtigkeit in den Mittelpunkt, brachte sie aber mit demErwahlungsgedanken durch eine Art Fegfeuer-Lehre zum Aus-gleich; er sprach von der Suhne im zwischenzeitlichen Gehinnom-gericht: Durch Zuchtigung am endzeitlichen Strafort erlangtendie meisten derjenigen Israeliten, die aufgrund ihrer Werke verur-

    11 Davon zeugt unter anderem Machzor Vitry, der jenen nachgetragenen ersten Satz denPirqe Avot voranstellt (Hurwitz, 461).

    12 Sif.Dev. 333, zu Dtn 32.43 (Finkelstein, 383); vgl. y.Sheq. 3.4 (47c, 745). Weitere Beispielein negativer wie positiver Formulierung, teils auch nachtalmudischerHerkunft, bietet Marmor-

    stein, La participation,passim.13 So in Hs. Kaufmann und weiteren Handschriften. Zu Varianten vgl. S. Safrai, And All isAccording to the Majority of Deeds, Tarbiz53 (1983/84) 3340. Safrai halt die von Genizafrag-menten, Teilen der sephardischen Siddurtradition und mittelalterlichen Kommentaren be-

    zeugte Lesart . . . und nicht nach der Mehrheit der Tat fur ursprunglich. Es ware aber zuerwagen, ob die Paradoxalitat des textus receptus, die Safrai als storend empfindet, nicht eher

    zugunsten seiner Authentizitat spricht. Noch drastischer endet der Text in Hs. Cambridge: . . .und alles nach der Tat. Vgl. ferner t.Qid.1.1314;y.Qid. 1.10 (61d,2373).

    14 Naheres bei F. Avemarie, Tora und Leben. Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora inder fruhen rabbinischen Literatur(TSAJ 55; Tubingen: Mohr/Siebeck, 1996) 434.

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    teilt wurden, Suhne fur ihre Sunden und empfingen darum end-lich doch noch Anteil am ewigen Leben. So komme auch m.Sanh.10.1 zur Erfullung.15

    Sanders dagegen betonte den Erwahlungsgedanken, indem er

    der Toraobservanz die Zugehorigkeit zur Heilsgemeinschaft Is-raels, zum Bund, vor- und uberordnete: DasHineingelangen (get-ting in) in den Bund, zu dessen Heilsgutern von vornherein auchdas Leben der kommenden Welt gehore, beruhe allein auf GottesGnadenhandeln. Erst der weitere Erhalt der Zugehorigkeit zumBund (staying in) sei an die Bedingung personlichen Wohlverhal-tens geknupft. Zudem liege in der Gehorsamsforderung kein Per-fektionismus, es komme mehr auf die Absicht zu gehorchen als aufdie faktische Leistungsbilanz an, fast jede Ubertretung konnebereut, gesuhnt und vergeben werden, und Sunden, die den Ver-

    lust des ewigen Lebens nach sich zogen, kamen ohnehin praktischeinem erklarten Austritt aus dem Bunde gleich.16

    Was die Mittel und Wege betrifft, durch die die Verheiung vonm.Sanh. 10.1 auch Sundern zugute kommt, ist sicherlich eherSanders als Billerbeck beizupflichten. Die von Billerbeck so sehrbetonte postmortale Suhne spielt in Talmud und Midrasch nureine geringe Rolle;17 was Sanders dagegen uber die Vergebbarkeitfast aller Sunden, die Wirksamkeit der Umkehr und das weit-gehende Fehlen perfektionistischer Anspruche ausfuhrt, lat sichmit einer Fulle rabbinischer Zeugnisse untermauern.18 Da Sand-

    ers in diesen Punkten weithin das Richtige getroffen hat, wirdnicht zuletzt durch altere christliche Autoren bestatigt, die denTalmud noch mit Mastaben des Aufklarungszeitalters lasen unddie darum die fast grenzenlose Wirksamkeit von Suhne und Um-kehr fur moralisch bedenklich19 und das Vertrauen auf das auch

    15Vgl. Billerbeck, Kommentar 4/2.104359.16Vgl. Sanders, Paul and Palestinian Judaism,passim, sowie die Zusammenfassung 1824.17 Das bemerkte schon Sjoberg, Gott und die Sunder, 121 und 122, Anm. 2. Die Hauptlast von

    Billerbecks These tragt t.Sanh. 13.3 par b.RHSh. 16b17a; aussagekraftig scheinen auch dieBelege b.Qid. 31b; b.Hag. 15b;BerR 28.9; m.Ed. 2.10; b.BM58b; b.Er. 19a;ARNA 41 und einige

    nachtalmudische Stellen. Doch in zahlreiche weitere Texte hat Billerbeck die Vorstellungeinfach hineingelesen. Seine Insinuation, sie sei bereits im 2. Jahrhundert allgemein aner-

    kannt gewesen (Kommentar, 4/2.1045), ist irrefuhrend.18Vgl. Sanders,Paul and Palestinian Judaism,passim. Numerischen Perfektionismushatten

    allerdings auch Weber und Billerbeck dem Judentum nicht unterstellt. Ihrer Ansicht nachgenugte das Uberwiegen der guten uber die schlechten Werke; das Problem, das sie sahen, hie

    vielmehr Heilsunsicherheit freilich weit mehr ein Problem aus neuzeitlich-protestantischerals aus antik-rabbinischer Sicht.

    19Vgl. A. F. Gfrorer, Die Geschichte des Urchristenthums. Erstes Buch: Das Jahrhundert desHeils(2 Bde; Stuttgart: Schweizerbart, 1938) 2.194.

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    den Sundern zugesprochene endzeitliche Heil Israels fur par-tikularistische Uberheblichkeit20 hielten.

    Fur die systematische Zuordnung von Erwahlungsgnade undVergeltung scheint aber weder Sanders noch Billerbecks Modell

    eine vollauf befriedigende Losung zu bieten. Denn wahrend beidemit der eindeutigen Unterordnung jeweils eines der beiden Prin-zipien unter das andere operieren, gibt es Hinweise darauf, dadiese Prinzipien Heil durch Vergeltung und Heil durch Bundes-zugehorigkeit autonom und gleichrangig nebeneinander stehen.Nicht selten werden sie jeweils fur sich allein geltend gemacht,und wo sie in Konkurrenz zueinander treten, konnen sie auch inanderer Weise miteinander ausgeglichen werden, als es nach denTheorien von Sanders und Billerbeck zu erwarten ware.

    Einschlagiges Textmaterial soll im folgenden vorgestellt wer-

    den; damit dies aber nicht ins Blaue geschieht, seien einige grund-satzlichere Bemerkungen zur Eigenart der rabbinischen Uber-lieferung vorausgeschickt:

    Wie schon ein fluchtiger Blick lehrt, ist die talmudisch-midra-schische Literatur in hohem Mae fahig, auch divergente, ja wider-spruchliche Ansichten und Vorstellungen zu integrieren. Dashangt nicht nur mit ihrem kollektiven Charakter und ihrer ver-zweigten Entstehungsgeschichte, sondern auch mit einer eigen-tumlich facettenhaften Wahrnehmung zusammen, der Fahigkeit,einen Gegenstand gleichzeitig aus mehreren Blickwinkeln zu be-

    trachten oder innerhalb eines Gedankengangs unvermittelt denBlickpunkt zu wechseln eine Art von Wahrnehmung, die mit M.Hengel und in Anlehnung an E. Brunner-Traut am treffendsten alsAspektive zu bezeichnen ist.21 Um ein anschauliches Beispiel zugeben: In Sif.Dev. 48 wird vor allerlei eigennutzigen Motiven desTorastudiums gewarnt, dann aber wird diese Warnung mit demHinweis auf den verheienen Lohn des angemahnten Verhaltensbekraftigt als subjektiver Beweggrund soll das lange Leben in derkommenden Welt keine Rolle spielen, als objektive Folge kann esdagegen nicht in Zweifel stehen.22

    20

    So der aggressive polemische Tenor von J. A. Eisenmenger,Entdecktes Judenthum(2 Bde;2. Aufl.; Berlin [Impressum: Konigsberg], 1711) 2.274. Auf S. 27495 bietet Eisenmenger eineumfangreiche Sammlung von rabbinischen Texten daruber, wie den verstockten Juden ihrerMeinung nach, ihre Sunden vergeben, und versuhnet, und sie dadurch der ewigen Seligkeit

    theilhafftig werden.21Vgl. M. Hengel, Brief an E. Brunner-Traut, in: E. Brunner-Traut,Fruhformen des Erken-

    nens. Aspektive im Alten Agypten (3. Aufl.; Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft,1996) 1734. Hengel bezieht sich hier auf fruhjudische und neutestamentliche Apokalyptik.

    22 Sif.Dev. 48 (Finkelstein, 11314);ahnlich das Diktum des R. Benaja in Sif.Dev. 306 (Finkel-stein, 338). Vgl. auch Avemarie, Tora und Leben, 20711.

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    Doch auch da, wo offenkundig keine solchen aspektivischen Ver-schiebungen vorliegen, konnen gegensatzliche Auffassungengleichzeitig behauptet werden. Vielfach ist es dann nur die Zu-schreibung an konkurrierende Lehrautoritaten (Rabbi X sagt . . .

    Rabbi Y sagt . . .), durch die sich der Widerspruch vermitteln lat.Vordergrundig waltet hier das Bemuhen um Objektivitat, wie manes fur Tradenten einer Sammelliteratur billig annehmen darf.Dahinter verrat sich aber eine Haltung, die die kontraren Posi-tionen nicht nur referieren will, sondern sie auch als legitim an-zuerkennen bereit ist. Es ist dieselbe Haltung, wie sie im Streitzwischen hillelitischer und schammaitischer Lehre nicht zugun-sten der Hilleliten entscheiden kann, ohne zuvor festgestellt zuhaben: Diese und jene sind lebendige Gottesworte!23

    Diese Offenheit fur aspektivische Verschiebung und kontroverse

    Diskussion bedeutet jedoch keine prinzipielle Beliebigkeit.Aleatorisch gestaltet sich das rabbinische Denken nicht. Die Plu-ralitat existiert innerhalb bestimmter Grenzen, die kontroversenPositionen bleiben in einem wenn auch weit gesteckten Rahmen,auerhalb liegende Moglichkeiten werden nicht zugelassen. Eindrastisches Beispiel gibt ein Midrasch, der hypothetisch mit eineranscheinend schlussigen Umkehrung des Vergeltungsgedankensoperiert. Die Israeliten konnten argumentieren: Weshalb hat unsder Ort (d.h. Gott) Gebote gegeben? Nicht dazu, da wir (sie) tunund dafur Lohn empfangen? (Also) tun (wir sie) nicht und empfan-

    gen keinen Lohn! Die Antwort lautet, da Gott in diesem Fall dasVolk mit Pest, Krieg und Hunger uberziehen werde. Und nachdemich diese drei Strafgerichte nacheinander uber euch gebrachthabe, so will als Konig uber euch herrschen, zu eurem Zwang( ).24 Die Vorstellung, Israel habe die Wahl, sich durchLohnverzicht seiner Gehorsamspflicht zu entziehen, wird alsSchamlosigkeit empfunden. Wie sehr sich sonst der Lohngedankevariieren lassen mag, eine derartige Verdrehung ist fur den Mi-drasch unannehmbar.

    Dieser rabbinische Mittelweg, der von widerspruchsfreier Uni-formitat ebensoweit entfernt ist wie von schrankenloser Beliebig-

    keit, sei hier versuchsweise als der einer qualifiziertenOptionalitat bezeichnet. Dies meint, da gegenuber einem

    23y.Ber. 1.7 (3b);y.Yev. 1.6 Ende (3b);y.Sot. 3.4 (19a);y.Qid. 1.1 (58d); b.Er. 13b (Hinweis vonProf. P. Tomson). lat sich auch mit Worte des lebendigen Gottes ubersetzen,vgl. aber Apg 7.38. Rationalere Begrundungen fur die Pflege kontroverser Tradition gebenm.Ed. 1.46 undt.Ed. 1.45.

    24 Sif.Bam. 115, zu Num 15.41 (Horovitz, 128).Der Midrasch legt die Doppelung der WendungIch bin der Herr, euer Gottin Num 15.41 aus.

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    gegebenen Sachverhalt mehrere verschiedene Positionen ein-genommen werden konnen oder bei einem gegebenen Problemunter mehreren verschiedenen Losungsmoglichkeiten gewahltwerden kann, wobei die Menge der Moglichkeiten nicht unbe-

    grenzt ist. Das ist die Denkstruktur, die sowohl Aspektive als auchKontroverse ermoglicht.

    Da sich aus derart organisierten Denkgebauden kein wider-spruchsfreies theologisches System25 erheben lat, liegt auf derHand. Wenn aber aleatorische Beliebigkeit ausgeschlossen unddie Zahl der Moglichkeiten begrenzt ist, so kann der Versuch, nachKoharenz, nach konstanten Klassen von Aussagen, Motiven undSachzusammenhangen und damit letztlich nach den Rahmenvor-gaben eines solchen Denkens zu fragen, nicht von vornherein alsinadaquat abgewiesen werden. Darum sind die bekannten Unter-

    nehmen zur Rekonstruktion einer rabbinischen Soteriologie, vonWeber uber Billerbeck bis zu Sanders, methodisch grundsatzlichlegitim, auch wenn die Gegensatzlichkeit der Forschungs-posi-tionen den Verdacht nahrt, da mit der starren Hierarchisierungdes Verhaltnisses zwischen Erwahlung und Vergeltung hier wiedort die Systematisierung uberzogen wurde. Da ein Modell derqualifizierten Optionalitat, zumindest, was die Frage der Teil-habe an der kommenden Welt angeht, dem rabbinischen Denkenbesser gerecht wird, mogen die Texte zeigen, die im folgenden zuerortern sind.

    II. ERWAHLUNGUNDVERGELTUNGALSKRITERIENDERTEILHABEAN

    DERKOMMENDENWELT

    1. Das sicherste Indiz dafur, da der Vergeltungsgedanke auchohne Rucksicht auf das Erwahlungsprinzip geltend gemacht wer-den konnte, sind Texte, in denen die Teilhabe an der kommendenWelt Menschen zugesprochen wird, die nicht zu Israel gehoren,sondern sich nur durch ihr Verhalten hervortun.

    In grundsatzlicher Form wird das Problem des gerechten

    Heiden in einer tannaitischen Debatte erortert, die in t.Sanh. 13.2uberliefert ist.26 Der Streit wird uber eine Auslegung von Ps 9.18gefuhrt: Mogen die Frevler in die Scheol zuruckkehren, alle Volker,die Gott vergessen!R. Eliezer folgert, da uberhaupt kein Heide

    25 Zum Problem einer widerspruchslosen Systematik vgl. H. Stephan, Systematische

    Theologie,RGG2 5 (1931) 9712.26Vgl. auch b.Sanh. 105a; zum Textproblem vgl.Diqduqe Soferim, zur Stelle.

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    die kommende Welt erlange. R. Jehoschua versteht den Zusatz dieGott vergessen als Einschrankung und argumentiert: Wenn dieSchrift nur alle Volker gesagt und dann geschwiegen hatte,wurde ich sprechen wie du. (Doch da) nun die Schrift die Gott

    vergessensagt, so gibt es Gerechte unter den Volkern der Welt, diean der kommenden Welt Anteil haben.

    Das erwahlungstheologische Modell vermag die von R. Jeho-schua vertretene Ansicht nicht zu erklaren.27 Wenn das Heil vonder Zugehorigkeit zum Bund abhangt, kann es auerhalb IsraelsHeil nicht geben. Nach R. Jehoschua ist ein Gerechter unter denVolkern ein Heide, der Gott nicht vergit. Er wird nach demMastab seines Verhaltens, seiner Einstellung, seiner Moralitatbeurteilt.28 Fur R. Jehoschuas Ansicht bietet darum einzig eineSoteriologie, die sich auf das Vergeltungsprinzip grundet, einen

    passenden Rahmen.29

    Nun gibt es nicht viele rabbinische Texte, die von den Verdien-sten der Heiden handeln,30 und noch weniger solche, die ihneneinen Anteil an der kommenden Welt zusprechen.31 Um so gewich-tiger ist darum das Beispiel des Kaisers Antoninus, der als Be-schutzer und Forderer des Judentums den gerechten Heidenidealtypisch verkorpert. In b.AZ 10b mundet eine Schilderung der

    27 Sanders zitiert t.Sanh. 13.2 inPaul and Palestinian Judaismauf S. 209, stellt dann auf S.210 fest: The general impression is that the Rabbis were not ungenerous und folgert auf S. 211:We thus see that the Rabbis did not actually have a general and comprehensive soteriology.

    Auch nach Sanders eigenem Empfinden greift hier also sein bundesnomistisches Modell zu

    kurz.28Vorausgesetzt ist dabei, da nicht nur Gottes Vergeltungshandeln, sondern auch seinGebieten uber Israel hinausgreift. In der Tat ist der Gedanke einer auch den Heiden geltenden

    gottlichen Weisung von alters her im Judentum lebendig; vgl. K. Muller, Tora fur die Volker. Dienoachidischen Gebote und Ansatze zu ihrer Rezeption im Christentum (SKI 15; Berlin: InstitutKirche und Judentum, 1994) 6586; bes. 826 zu Maimonides systematischer Bestimmung derGerechten (bzw. Frommen) der Weltvolker als derer, die die Noachidengebote als Gebote

    Gottes annehmen.29 Fur Billerbeck spielte das Heil der gerechten Heiden allerdings keine wesentliche Rolle.

    Beilaufig wird festgestellt: Einige wenige Fromme aus ihrer [scil. der Heiden] Mitte mogen

    Anteil an der zukunftigen Welt gewinnen, die Menge ist eine massa perditionis, die fur denGehinnom da ist (Kommentar3.140; vgl. 4/2.1251). Doch in dem mageblichen Abschnitt Dassoteriologische System der alten Synagoge (4/1.36) wird dieser Gedanke nicht wieder auf-genommen.

    30

    Vgl. exemplarisch die Erzahlung von der Ehre, die der Heide Dama b. Netina seinem Vaterbezeugte,y.Pea. 1.1 (15c) und ofter; dazu J. Fraenkel, Das Verhaltnis von Juden und Heiden imTalmud, inLernen in Jerusalem Lernen mit Israel. Anstoe zur Erneuerung in Theologie und

    Kirche(ed. M. Stohr; VIKJ 20; Berlin: Institut Kirche und Judentum, 1993) 5969, hier 624.Vielfach wird jedoch die Fahigkeit der Heiden, die ihnen auferlegten Gebote zu erfullen,skeptisch beurteilt; vgl. S. Stern, Jewish Identity in Early Rabbinic Writings (AGAJU 23;Leiden, New York, Koln: Brill, 1994) 2006.

    31 Eine Zusammenstellung von Belegen bietet K. Muller, Tora fur die Volker, 801; sie umfatneben t.Sanh. 13.2und b.AZ 10b auch b. Sanh. 105a (s. unten, Anm. 48), b.Sanh. 10b und b.Hul.92a.

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    Ehren und Wohltaten, die Antoninus dem Patriarchen Jehudaerwies, in die Frage nach dem endzeitlichen Heil:

    Er (Antoninus) sagte zu ihm: Werde ich in die kommende Welt kommen? Er

    (Rabbi) sagte zu ihm: Ja. Er sagte zu ihm: Aber steht nicht geschrieben: Eswird dem Hause Esau kein Uberrest bleiben(Obd 18)? (Er sagte zu ihm: Dasgilt) von dem, der das Werk Esaus tut. . . . Er sagte zu ihm: Aber steht nichtgeschrieben:Da liegt Edom mit seinen Konigen und allen seinen Fursten (Ez32.29)? Er sagte zu ihm:seine Konige, aber nicht alle seine Konige,alle seineFursten(), aber nicht alle seine Obersten (). . . .32

    Antoninus unterscheidet sich von anderen Heiden dadurch, da ernicht die verwerflichen Werke Esaus tut. Es ist sein Verhalten,aufgrund dessen er der kommenden Welt teilhaftig wird.

    Weitere Beispiele bieten rabbinische Martyrererzahlungen. EinPhilosoph (), ein Heide also,33 wird Zeuge, wie R.

    Chananja ben Teradjon zusammen mit seiner Torarolle verbranntwird. Er warnt den Vertreter der Staatsgewalt () vor Uber-heblichkeit, denn die verbrannte Tora werde nur dorthin zuruck-kehren, von wo sie kam. Als ihn der e3paqvo| daraufhin zumgleichen Tod verurteilt, antwortet er: Du hast mir eine froheBotschaft verkundet, denn morgen wird mein Teil mit jenen in derkommenden Welt sein!34 Nach einer anderen Version bot derHenker dem sterbenden Rabbi an, seinen Tod zu beschleunigen,falls er ihn zum Leben der kommenden Welt fuhre. Der Rabbiwilligt ein, der Henker schurt das Feuer, entfernt die schutzende

    Wolle, die den Tod verzogern sollte, und als der Martyrer den Geistaufgibt, sturzt sich der Henker selbst in die Flammen. Eine Him-melsstimme verkundet: Rabbi Chanina ben Teradjon und derquaestionarius sind bestellt () zum Leben der kommendenWelt!35

    32 Im Anschlu an die beiden Antworten Rabbis wird jeweils die von Rabbi gegebene Aus-legung in Form einer Baraita wiederholt. Nach der Baraita zu Ez 32.29 heit es weiter: seine

    Konige, aber nicht alle seine Konige: ausgenommen ist Antoninus, der Sohn des Severus . . ..Deutlich anders akzentuiert sind die Paralleleny.Meg. 1.13 (72b,526);y.Meg. 3.2 (74a,348).

    33 Rabbinische Beispiele par excellence fur den Philosophen sind der Heidenprophet Bileam

    und der Kyniker Oenomaos von Gadara; vgl. BerR65.19 (Theodor/Albeck, 734); dazu M. Luz,Oenomaus and Talmudic Anecdote,JSJ23 (1992) 4280. Im vorliegenden Fall konnte, worauf

    der ungewohnliche Ausdruck frohe Botschaft ( ) hindeutet, an einen Heidenchristengedacht sein.34 Sif.Dev. 307 (Finkelstein, 346).35 b.AZ 18a. Vgl. auch b.Taan. 29a: Als ein Beschlu zur Hinrichtung Rabban Gamliels gefat

    wird, kommt ein Fremder ins Lehrhaus, veranlat den Rabbi zur Flucht und schlagt ihmheimlich vor: Wenn ich dich rette,bringst du mich in diekommendeWelt? Der Rabbi verspricht

    und beschwort es; der Fremde sturzt sich von einem Dach und stirbt. Offenbar war er selbsteiner der Verfolger, denn mit seinem Selbstmord wird jener Beschlu hinfallig. Da ging eine

    Himmelsstimme() aus und sprach: Dieser Herr ist bestellt () zum Leben der kommen-den Welt!

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    Eine abstrakte Reflexion uber die Bedingungen individuellerTeilhabe an der kommenden Welt liegt solchen Texten selbstver-standlich fern. Was hier als Topos wiederkehrt, ist die Uber-zeugungsmacht des eben geschehenden Martyriums, die selbst

    noch einen Missetater zu seinem Heil zu uberwaltigen vermag.36

    Und da der Zuspruch ewigen Lebens allein in dieser Topik begrun-det ist, kann er je nach Umstanden auch an einen Heiden ergehen.Fragen wir aber nach den gedanklichen Voraussetzungen, so istdeutlich, da der Heilszuspruch, als Antwort auf die mutige Tatdes sich Bekehrenden, in Vergeltung, nicht in Erwahlung grundet.In der Zusage an den Heiden liegt daher keine theologische Inkon-sequenz. Sie ist folgerichtig, setzt aber klar die soteriologischeRelevanz des Vergeltungsprinzips voraus.

    Ein vielzitiertes tannaitisches Traditionsstuck in dem es al-

    lerdings nicht um die Teilhabe an der kommenden Welt geht zeigt, da der gerechte Heide geradezu exemplarisch fur die Un-abhangigkeit des Verdienstprinzips gegenuber dem der Erwah-lung stehen kann. Es ist die R. Meir zugeschriebene Auslegung zuLev 18.5, welche der Mensch tue, da er durch sie lebe da es hierMensch heit, folgert der Tannait: Selbst ein Nichtjude ist, wenner sich mit der Tora befat, wie ein Hoherpriester.37 Der Fall, daein Heide die Tora studiert, ist gewi unrealistisch. Doch geradeals hypothetische Konstruktion ist er interessant. Die Wurde desHohenpriesters verdankt sich seiner Abstammung von Aaron, also

    einer Gnadenwahl. Um dieser Wurde eine andere gegenuberzu-stellen, die sich auf keine abstammungsbedingtenVorzuge stutzenkann, wird beispielhaft der Heide gewahlt. So lat sich in grund-satzlicher Form behaupten, da durch ein toragemaes Verhaltender gleiche Status man darf wohl auch sagen: der gleiche Heil-

    sstatus erreicht werden kann wie durch gottliches Erwahltsein.2. Texte, die den Zusammenhang von individuellem Handeln

    und ewigem Leben im Hinblick auf den einzelnen Israeliten the-matisieren, sind hinsichtlich der Alternative von Vergeltung undErwahlung weniger eindeutig. Wenn dem, der das Hore-Israelbetet und hebraisch spricht, das Leben der kommenden Welt ver-

    36Vgl. Lk 23.43.37 b.BQ 38a; in b.Sanh. 59a und b.AZ 3a heit es Sternenanbeter statt Nichtjude (). Eine

    starker abweichende Fassung wird in Sifra Ahare-mot, Pereq 13.3 (Weiss, 86b) dem TannaitenR. Jirmeja zugeschrieben.

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    heien wird,38 so lat sich diese Zusage39 ebenso aufgrund desVergeltungsprinzips formulieren wie im Rahmen einer Bundes-theologie, nach der das Tun eines Menschen nur fur den Erhaltseines Heilsstatus von Bedeutung ist.40 Das gleiche gilt fur negativ

    formulierte Aussagen wie die Warnung des R. Elazar ha-Modai inm.Avot 3.12:

    Wer die heiligen Dinge entweiht und wer die Festzeiten verachtet und wer dasGesicht an der Tora entblot ( ) und wer den Bund unseresVaters Abraham bricht und wer seinen Nachsten () beschamt auchwenn er gute Werke vorzuweisen hat,41 hat er keinen Anteil an der kommen-den Welt.42

    Der Inhalt der Warnung scheint eine bundesnomistische Interpre-tation nahezulegen; einige der Normen, um die es hier geht, beson-ders das Festhalten an der Tora, an den Feiertagen und am

    Abrahambund der Beschneidung, sind fur die judische Identitat sogrundlegend, da ihre Ubertretung als bewuter Selbstausschluvon Israels Heil empfunden werden konnte,43 zumal in den Tagendes R. Elazar ha-Modai, am Vorabend des Bar-Kochba-Aufstan-des.

    Ein eindeutiges Urteil erlauben Texte dieser Art jedoch nicht;das lehrt der Fortgang des schon erwahnten Kapitels m.Sanh. 10.Die Aufzahlung derer, die von der kommenden Welt ausgeschlos-sen sind, beginnt:

    Diese sind es, die keinen Anteil an der kommenden Welt haben: Wer sagt, es

    sei keine Auferstehung der Toten nach der Tora,44

    (und wer sagt,) die Tora seinicht vom Himmel, und der Epikureer (). Rabbi Aqiva sagte: Auchwer in apokryphen Buchern liest und wer uber der Wunde flustert undspricht: Keine der Krankheiten, die ich auf Agypten legte, werde ich auf dichlegen, denn ich bin der Herr, dein Arzt (Ex 15.26). Abba Schaul sagt: Auch werden (Gottes-)Namen nach seinen Buchstaben ausspricht.45

    38 Siehe oben.39 Moore,Judaism, 2.8990,und ofter, sowie Sanders,Paul and Palestinian Judaism, 13941,

    betonen zu Recht das starke padagogische Moment solcher Aussagen. Allerdings bleibt auch

    unter diesem Gesichtspunkt zu fragen, was die gedanklichen Voraussetzungen sind, unterdenen mit der Aussicht auf ewiges Leben geworben oder mit seinem Verlust gedroht werden

    kann.40 Gleichermaen ambivalentsind Texte, die von den Bedingungen der Bewahrung Israels vor

    der Holle sprechen, soMTannzu Dtn 33.2 (Hoffmann, 211), wo Gott zu den Israeliten spricht:Wenn ihr die Tora einhaltet, dann werdet ihr vor dem Gericht der Holle gerettet. Vgl. auchPesK10.4 (Mandelbaum, 1656); hier wird das Motiv des doppelt verkleideten Hauses in Spr31.21 auf paarige Gebote (wie das von Schaufaden und Gebetsriemen) gedeutet, die Israel vor

    der Hitze und Kalte der Holle bewahren.41 Wortlich: obwohl gute Werke in seiner Hand sind.42 Ubersetzung nach Hs. Kaufmann, Faksimile S. 341.43Vgl. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 134.44 Das Syntagma nach der Tora ( ) fehlt in einigen Textzeugen.45 Ubersetzt nach der Ausgabe von Albeck.

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    Der Epikureer ist nach rabbinischem Sprachgebrauch derjudische Freidenker, der die traditionellen Werte seines Volkesverachtet.46 Auch die ubrigen genannten Vergehen lassen sich alsVerstoe gegen die Grundlagen des Judentums interpretieren.

    Wer so handelt, wendet sich bewut von Israel ab und schlietsich damit von Israels Heil, also auch vom ewigen Leben aus.Sanders zitiert in diesem Zusammenhang zustimmend L. Finkel-stein: [T]hose who sinned so greatly as to be denied a share in thefuture life also forfeited the name of Israel.47

    Sodann werden in m.Sanh. 10.2 einige Gestalten aus IsraelsGeschichte aufgezahlt, die ebenfalls keinen Anteil an der kunf-tigen Welt haben: die Konige Jerobeam, Ahab und Manasse sowieBileam, Doeg, Ahitofel und Gehasi. Hier stot Sanders Modell auferste Schwierigkeiten. Wieso erscheint der Heide Bileam in der

    Liste? Da heidnische Frevler wie Haman oder der Pharao keinenAnteil am ewigen Leben haben, versteht sich von selbst; so konnteBileam deshalb erwahnt sein, weil man ihn, den inspiriertenPropheten, fur einen gerechten Heiden halten konnte, auch wenner das nach dem Urteil der Mischna nicht ist. Die babylonischeGemara folgert aus der Erwahnung Bileams, die Mischna setzehier die Ansicht R. Jehoschuas voraus, wonach es gerechte Heidengibt, die an der kommenden Welt teilhaben.48

    In 10.3 wird die Liste um einige Personengruppen erweitert: dieSintflutgeneration, das Geschlecht der Aufteilung (vgl. Gen

    10.25), die Sodomiter, die Wustengeneration, die nach Kanaanentsandten Kundschafter, die Rotte Korah und als letztes, in 10.4,die Bewohner der vom Bann getroffenen Stadt. An Apostasie unddamit implizit an einen ursprunglichen Heilsstatus ist bei denSodomitern und den besagten Geschlechtern der Urgeschichtewohl kaum gedacht. Offenbar mochte man die vorisraelitischeMenschheit aber nicht pauschal fur verdammt erklaren,49 und sowird nach der moralischen Verderbtheit geurteilt. Entscheidendist mithin das Vergeltungsprinzip.

    46Als Epikureer wird bezeichnet, wer Mose verleumdet (Sif.Dev.12, Finkelstein, 21), die

    Rabbinen und die Tora geringachtet (y.Sanh. 10.1, 27d,656) oder sich uber Widerspruche inder biblischen Gesetzgebung lustig macht (y.Sanh. 10.1, 27d,7128a,2). In m.Av. 2.14 ist wohlan jemanden gedacht, der den Sinn des Torastudiums bezweifelt.

    47 Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 149, bezugnehmend auf L. Finkelstein, Mabole-Massektot Abot ve-Abot dRabbi Natan (New York, 1950) xxxviii.

    48 b.Sanh. 105a: Bileam ist es, der nicht in die kommende Welt kommt. Andere also kommen!Die Mischna entspricht (hier) R. Jehoschua; darauf folgt (in korruptem Text) die aus t.Sanh.13.2 bekannte Debatte zwischen R. Jehoschua und R. Eliezer.

    49 Zumal dies auch den Ausschlu verschiedener hochgeschatzter Urvater bedeutet hatte. ZurDebatte um Adams Teilhabe an der kommenden Welt vgl.BerR 21.7 (Theodor/Albeck, 2012).

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    Was aber folgt daraus hinsichtlich des Ausschlusses der in10.23 genanntenIsraeliten? Werden sie ebenfalls nur nach demVergeltungsprinzip beurteilt, oder steht von 10.1 her immer nochdie Annahme der allgemeinen Heilsteilhabe Israels im Hinter-

    grund, so da sich der Ausschlu auch nach bundesnomistischemMuster verstehen liee? Eine eindeutige Entscheidung scheintnicht moglich und genau das ist der springende Punkt. Es wirdhier deutlich, da Aussagen, die einzelnen Israeliten die Teilhabeam ewigen Leben absprechen, nicht notwendig auf eine impliziteUberzeugung vom Heil aller anderen Israeliten schlieen lassen;eine Beobachtung, die schon E. Sjoberg zu einem methodischenCaveat machte.50 Das Umgekehrte gilt selbstverstandlich ebenso:Wird einem Israeliten fur sein Wohlverhalten ewiges Leben zuge-sprochen, so lat sich dem nicht entnehmen, da das ubrige Volk

    dabei generell als auerhalb dieses Heils stehend wahrgenommenwurde.

    Im ubrigen lat sich m.Sanh. 10 insgesamt, mit diesem unmerk-lich vollzogenen Ubergang von der erwahlungstheologischen Fun-dierung am Anfang zu den auf Vergeltung grundenden Aussagenim Schluteil, sicherlich besser im Sinne einer aspektivischenVerschiebung, im Sinne jener Optionalitat erklaren, die beidePrinzipien unabhangig und gleichberechtigt nebeneinanderzulat, als mit Modellen, die mit einer starren Hierarchisierungarbeiten.

    3. Weitere Belege fur ein unabhangiges Nebeneinander von er-wahlungstheologischer und vergeltungsbezogener Soteriologieliefern Texte, die von einer Anderung des individuellen Heils-status sprechen. Wo es heit, da jemand aufgrund seines Verhal-tens das ewige Lebenerlangtodererwirbt, ist offenbar impliziert,da sich der so Belohnte zuvor noch nicht im Status des Anrechtsauf ewiges Heil befunden hat, und deuten damit auf eineSoteriologie der Vergeltung hin. Entsprechend scheinen Texte, dievom Verlust der Teilhabe an der kommenden Welt sprechen,vorauszusetzen, da die betroffene Person, ehe sie sundigte, diesesHeils teilhaftig gewesen war, folgen also einem bundestheologi-

    schen Muster.51 Es liegt auf der Hand, da derartige Beschreibun-gen von Statusanderungen soteriologisch aussagekraftiger sind

    50Vgl. Sjoberg, Gott und die Sunder, 119 Anm. 3.51 Derartige Aussagen sind um so bemerkenswerter, als sie einen Ausgangszustand voraus-

    setzen, der de facto noch nicht erreicht sein kann, weil die kommende Welt noch aussteht.

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    als Formulierungen, die, wie m.Sanh. 10, lediglich den Endzu-stand angeben. Hierzu drei Beispiele:52

    (a)BerR87.5: Josef widersetzt sich den Verlockungen der FrauPotifars mit dem Hinweis auf die Strafe Adams: Der erste Mensch

    ubertrat ein leichtes Gebot und wurde aus dem Garten Eden ver-bannt ( ). Seine conclusio ad maiuslautet knapp: Eineschwere Ubertretung nicht erst recht ( )?53

    Im Sinne der Analogie mu man paraphrasieren: (Wenn ich nun)eine schwere Ubertretung (begehe, werde ich dann nicht) erstrecht (aus dem Garten Eden verbannt)? Diese Folgerung ist nurdann sinnvoll moglich, wenn Josef sich in einem Status wei, derdem des paradiesischen Adam gleicht. Er ist sich seiner Teilhabeam Leben der kommenden Welt gewi. Der vordergrundig so domi-nierende Vergeltungsgedanke hangt hier von einer impliziten er-

    wahlungstheologischen Voraussetzung ab.(b) Sif.Bam. 119: Die Tora deines Mundes ist mir tausendmal

    lieber als Gold und Silber(Ps 119.72), denn Gold und Silber brin-gen den Menschen aus dieser Welt und aus der kommenden Welt,aber die Tora fuhrt den Menschen zum Leben dieser Welt und zumLeben der kommenden Welt.54 Den Kontext bildet ein Midraschuber das Studium der Tora; es ist also anzunehmen, da die Torastudiert werden mu, wenn sie zum Leben fuhren soll. Der Text istinsofern bemerkenswert, als er in unmittelbarer Folge zwei ent-gegengesetzte Blickwinkel bezieht: Gold und Silber bringen den

    Menschen aus der Welt impliziert die erwahlungstheologischeSicht, denn wer herausfallen kann, mu zunachst dazugehoren.Die Tora fuhrt den Menschen zum Leben setzt dagegen voraus,da der Mensch durch sein rechtes Verhalten den Zugang zumHeil erst gewinnt.55 Soteriologische Optionalitat kommt hier inaspektivischer Verschiebung zum Ausdruck.

    (c) y.Pea. 1.1 (15c): Nach einer grotesk ubersteigerten Schil-derung der Ehren, die R. Tarfon und R. Jischmael ihren Elternbezeigten, wird von der Reaktion eines spateren Rabbis berichtet,der seine Eltern anscheinend schon fruh verloren hatte:

    52Vgl. dazu Avemarie,Tora und Leben, 34852, 3913. Einige weitere Texte nennt Sanders,Paul and Palestinian Judaism, 189.

    53BerR87.5, zu Gen 39.8 (Theodor/Albeck, 1066).54 Sif.Bam. 119, zu Num 18.20 (Horovitz, 144).55 Wollte man den Text ausschlielich nach Sanders Stufenmodell interpretieren, so mute

    man auch die Aussage die Tora fuhrt den Menschen zum Leben dieser Welt und zum Leben derkommenden Welt auf das staying in beziehen. Dann befremdet freilich der Wortlaut; man

    wurde eher etwas wie die Tora bewahrt den Menschen . . . erwarten. Ungezwungener ist hieralso ein Verstandnis im Sinne des Vergeltungsgedankens.

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    R. Zeira pflegte sich zu gramen und zu sagen: Hatte ich doch nur Vater undMutter, da ich ihnen Ehre erweisen konnte, so da ich den Garten Edenerben wurde! Als er (aber) jene beiden Lehren horte, sagte er: Gepriesen seider Barmherzige, da ich nicht Vater und Mutter habe! Ich konnte nicht wieR. Tarfon handeln und nahme nicht (das Gleiche) wie R. Jischmael auf mich!

    R. Zeira will, eingedenk der biblischen Verheiung (Dtn 5.16),durch sein toragemaes Verhalten Anteil an der kommenden Welterlangen. Sein Wunsch ist klar im Sinne einer Soteriologie vonVerdienst und Belohnung formuliert. Doch impliziert das die Heils-notwendigkeit jenes Verhaltens? Da Waisen infolge ihrer Eltern-losigkeit der Zugang zum Heil verwehrt sei, wird R. Zeira kaumnahelegen wollen, und seine erleichterte Reaktion am Ende deutetkeineswegs darauf hin, da er sich aus der kommenden Weltausgeschlossen fuhlte. Die Angst um sein Heil treibt ihn also gewinicht. Dann aber lat sich seine Haltung nur so sinnvoll verstehen:

    Die Gebotserfullung soll ihm nichts weiter erbringen als das, wasihm, als einem Israeliten, ohnehin zusteht.56 Lebten seine Elternnoch, so hatte er gleich aus doppeltem Grunde Anteil an der kom-menden Welt. Die Soteriologie der Vergeltung fliet hier mit derSoteriologie der Erwahlung unmittelbar in eins.

    4. Nicht nur die Vergeltung, auch die Erwahlung konntesoteriologisch verabsolutiert, das heit, vollig ohne Rucksicht aufjenes konkurrierende andere Prinzip in Anspruch genommen wer-den. Hierfur stehen Texte, die die Ubertretungen der Israelitenhinsichtlich deren Heils fur bedeutungslos erklaren. Sanders

    selbst hat auf ein Diktum des Patriarchen Jehuda hingewiesen,das offenbar impliziert, da der Versohnungstag normalerweiseauch ohne Umkehr Suhne bewirkt.57 Nicht einmal dieses Mini-mum an personlichem Wohlverhalten ist hier noch zur Gewahr-leistung des staying in erforderlich.

    56Ahnlich mu man wohl auch ARNA 2 (Schechter, 9) verstehen, wo es in Auslegung zu Hld7.3 mit Bezug auf die Beobachtung der Menstruationsunreinheit,das Tauchbad bei Ausflu, die

    Teighebe und die Erstschur heit: Dies sind die leichten Gebote, die sanften . . . wenn dieIsraeliten sie tun, fuhren sie sie zum Leben der kommenden Welt.

    57 b.Shevu. 13a, b.Ker. 71, b.Yom. 85a, zitiert bei Sanders,Paul and PalestinianJudaism, 166.Nachy.Yom. 8.6 (45b,635) lautet das Diktum: Der Versohnungstag suhnt fur alle Ubertretun-

    gen, die in der Tora (genannt sind), ausgenommen (fur) den, der das Joch abwirft, und den, derden Bund bricht, und den, der das Gesicht an der Tora entblot. Wenn (ein solcher) Umkehr

    getan hat, wird ihm gesuhnt, wenn aber nicht, wird ihm nicht gesuhnt. Sanders interpretiert:To say that the Day of Atonement is effective apart from repentance is only to say that

    repentance as a separate act apart from the repentance and confession which accompany theDay of Atonement is not necessary. Die rabbinische Deutung des Diktums ist jedoch zwiespal-

    tig. Zwar heit esy.Yom. 8.6 (45b,678) im Namen von R. Jochanan: Rabbi erkennt an, da derVersohnungstag nur mit Umkehr () suhnt. Doch die Parallele y.Shevu. 1.9 (33b,578)formuliert ebenfalls im Namen von R. Jochanan: Der Versohnungstag suhnt ohne Umkehr().

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    InShirR8.8 heit es, einst werden die Engel der HeidenvolkerIsrael vor Gott verklagen und sprechen:

    Herr der Welt, diese haben Sternenanbeterei getrieben und jene haben Ster-

    nenanbeterei getrieben. Diese haben Unzucht getan und jene haben Unzuchtgetan. Diese haben Blut vergossen und jene haben Blut vergossen. Weshalbfahren jene zur Holle, und diese tun es nicht? Die Antwort lautet: So sehr sichdie Israeliten alle Tage des Jahres mit ihren Sunden besudeln, es kommt derVersohnungstag und suhnt fur sie.58

    Was das Verhalten angeht, wird hier Israel den Heiden volliggleichgestellt; auch die von Sanders betonte Absicht, die Bundes-pflicht zu erfullen, wird damit belanglos. Da sie vor der Holleerrettet werden, haben die Israeliten allein der Gnade Gottes zuverdanken, der ihnen zur Suhnung ihrer Sunden den Versohn-ungstag gestiftet hat.

    5. Gegenuber den Modellen von Billerbeck und Sanders hat dashier vorgeschlagene optionale, das mu nun eingeraumt werden,den Nachteil, weniger eindeutig zu sein. Es lat, wo es um dieTeilhabe des Menschen am Leben der kommenden Welt geht, zweiprinzipiell verschiedene Moglichkeiten offen, die im Einzelfallnicht nur sehr unterschiedlich zueinander in Beziehung gesetzt,sondern auch beide je in ihrer Reinform zur Geltung gebrachtwerden konnen: Erwahlungsgnade ohne jede Rucksicht auf dieSunden eines Menschen und strenges Gericht ohne jede Rucksichtauf die Zugehorigkeit des Sunders zum erwahlten Volk. Nicht im

    Bereich dieser Moglichkeiten liegen nur die Errettung heidnischerFrevler und die Verdammung gerechter Israeliten. Andererseitslat sich so, und das ist nun der Vorteil dieses optionalen Modells,einiges an rabbinischen Auerungen integrieren, was entwederbei Sanders oder bei Billerbeck oder auch bei beiden aus demRahmen fallt.59

    Um die Erklarungsleistung dieses Modells noch einmal zu ver-deutlichen, sei ein letzter Text angefuhrt, der, auch wenn er nach-talmudischen Ursprungs ist und damit aus dem zeitlichen

    58 ShirR 8.8 (40b), ein Midrasch uber das Motiv der kleinen Schwester (Hld 8.8), das al-

    legorisch auf den Versohnungstag bezogen wird. Vgl. auch WaR 21.4 (Margulies, 479). DerMidrasch durfte vor dem Hintergrund der Konkurrenz zwischen judischem und christlichemErwahlungsanspruch seit dem3. Jahrhundert zu verstehen sein. Vgl. dazu weiterE. E. Urbach,The Homiletical Interpretations of the Sages and the Expositions of Origen on Canticles, and

    the JewishChristian Disputation, in Studies in Aggadah and Folk-Literature (ed. J.Heinemann, D. Noy; ScrHier 22; Jerusalem: Magnes, 1971) 24775. Auf die angefuhrte Passage

    ausShirR8.8 geht Urbach allerdings nicht ein, und eine vergleichbare Auslegung von Hld 8.8bei Origenes ist nicht uberliefert (vgl. PGM17.285).

    59 Wobei mit der hier gebotenen Zusammenstellung bei weitem keine Vollstandigkeit anges-trebt ist!

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    Rahmen des ubrigen hier herangezogenen Materials herausfallt,die Doppelseitigkeit der rabbinischen Soteriologie doch sehr poin-tiert zum Ausdruck bringt:60 Wenn Gott einst in Eden im Kreiseder Gerechten und des himmlischen Hofstaats die neue, mes-

    sianische Tora auslegen wird, und wenn dann Serubbabel auf-stehen und Qaddisch sagen wird, dann wird alle Welt

    kommen und Amen antworten, und auch die Frevler Israels ( )und die Gerechten der Volker der Welt ( ), die in Gehinnom ubrigge-blieben sind,61 antworten Amen aus Gehinnom heraus, bis da die ganzeWelt erdrohnt und ihre Worte vor dem Heiligen, gepriesen sei er, vernommenwerden. Und er fragt: Was ist das fur ein Getose, das ich gehort habe? Und dieDienstengel antworten: Herrscher der Welt, alles ist offenbar und bekannt vordir! Das sind die Frevler Israels ( ) und die Gerechten der Volker derWelt, die in Gehinnom ubriggeblieben sind, sie antworten Amen aus Gehin-nom heraus. Sofort ruhrt sich seine Barmherzigkeit, und er nimmt die Schlus-

    sel der Gehinnom in seine Hand und gibt sie Gabriel und Michael und sagt zuihnen: Geht und offnet die Tore der Gehinnom und holt sie aus Gehinnomherauf, denn es heit: Offnet die Tore, da ein gerechtes Volk hereinkomme,das emunim62 bewahrt!(Jes 26.2). . .

    Nach Billerbecks Theorie, immerhin, ware hier den sundigen Is-raeliten die Lauterungskraft der Gehinnomstrafe zugute gekom-men.63 Nach Sanders Modell durften die sundigen Israeliten in dieHolle gar nicht erst hineingelangt sein. Die Rettung der gerechtenHeiden lat sich nach keinem der beiden Modelle befriedigenderklaren. Wenn man jedoch, im Sinne des optionalen Modells,Erwahlung und Vergeltung als je eigenstandige soteriologische

    Kriterien zur Kenntnis nimmt, bereitet der Text keine Schwierig-keiten: Die gerechten Israeliten erfullen beide Kriterien, weshalbihr Heil keinem Zweifel unterliegen kann. Die sundigen Israelitenerfullen nur das eine Kriterium, die gerechten Heiden nur dasandere, so da ihre Teilhabe am Heil zunachst als fraglich er-scheint und erst das Eingreifen der gottlichen Barmherzigkeit eineEntscheidung zu ihren Gunsten herbeifuhren kann. Am erstaun-lichsten ist dabei die vollige Symmetrie, mit der diese beiden Grup-pen behandelt werden. Erwahlung und Vergeltung halten sichexakt die Balance.

    60Pesiqta Hadeta, le-Rosh ha-Shana, inBHM(ed. Jellinek) 6.634. Im Vorwort weist Jellinekdarauf hin, daPesiqta Hadeta vonPirqe deRabbi Eliezer und anderen, ahnlich spaten Werkenabhangig ist.

    61 soll vermutlich andeuten, da die heidnischen Frevler als vierte, hier nichterwahnte Gruppe in Gehinnom bereits vernichtet wurden.

    62 Hier wirdeine Al-tiqre-Auslegungvon Jes 26.2 wieder aufgenommen, die als Einleitung derganzen Szene vorangestellt ist: Lies nicht emunim, sondern amenim, denn sie antwortenAmen . . ..

    63 Billerbeck fuhrt den Text aber in anderem Zusammenhang an; vgl. Kommentar 4/2.1117.

    125ERWAHLUNG UND VERGELTUNG