Dr. Susanne Marx

Schamanismus praktisch

Wie Sie aus der inneren Weisheit alter Kulturen schöpfen

VAK Verlags GmbHKirchzarten bei Freiburg

InhaltEinleitung 7

I. Theoretischer Hintergrund 11

1. Was ist Schamanismus? 11

Die Sicht der westlichen Welt 18

2. Schamanismus heute 22

Traditioneller Schamanismus 22Westlicher Schamanismus 24

Warum Schamanismus heute? 28

3. Das schamanische Weltbild 32

Weltsicht 32Schamanisches Bewusstsein 42Wissenschaftliche Parallelen 45

II. Praxis 53

1. Die schamanische Reise 54

Vorbereitungen 57Spirituelle Helfer 67

Die drei Welten 71Praxis 74

Ihre erste schamanische Reise 77Verschiedene Reisen 80

FAQ 96

2. Naturwahrnehmung 106

Sinne aktivieren 108Himmelsrichtungen wahrnehmen 110

Mineralien, Pflanzen und Landschaften wahrnehmen 112

Vorbemerkung des VerlagsDieses Buch dient der Information über Möglichkeiten der Gesundheits-vorsorge und Selbsthilfe. Wer sie anwendet, tut dies in eigener Verantwor-tung. Autorin und Verlag beabsichtigen nicht, Diagnosen zu stellen und Therapieempfehlungen zu geben. Die Informationen in diesem Buch sind nicht als Ersatz für professionelle medizinische Behandlung bei körperli-chen oder psychischen Beschwerden zu verstehen.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

VAK Verlags GmbH Eschbachstraße 5 79199 Kirchzarten Deutschland www.vakverlag.de

© VAK Verlags GmbH, Kirchzarten bei Freiburg 2010Lektorat: Nadine Weber, VAK Umschlagfoto: © Michael Rieth – Fotolia.comUmschlagdesign: Hugo Waschkowski, Freiburg Reihenlayout: Karl-Heinz Mundinger, VAK Satz: Sebastian Carl, 83123 Amerang Druck: Druckerei Kösel, Altusried Printed in Germany ISBN 978-3-86731-062-8

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InhaltEinleitung 7

I. Theoretischer Hintergrund 11

1. Was ist Schamanismus? 11

Die Sicht der westlichen Welt 18

2. Schamanismus heute 22

Traditioneller Schamanismus 22Westlicher Schamanismus 24

Warum Schamanismus heute? 28

3. Das schamanische Weltbild 32

Weltsicht 32Schamanisches Bewusstsein 42Wissenschaftliche Parallelen 45

II. Praxis 53

1. Die schamanische Reise 54

Vorbereitungen 57Spirituelle Helfer 67

Die drei Welten 71Praxis 74

Ihre erste schamanische Reise 77Verschiedene Reisen 80

FAQ 96

2. Naturwahrnehmung 106

Sinne aktivieren 108Himmelsrichtungen wahrnehmen 110

Mineralien, Pflanzen und Landschaften wahrnehmen 112

Einleitung

Für viele Menschen hat das Wort „Schamanismus“ oder „Schamane“ einen fremden und gleichzeitig seltsam vertrauten Klang. Es klingt nach einer archa-ischen und ein bisschen unheimlichen Kraft, die eine tiefere Schicht unseres Bewusstseins anspricht – wie ein Grimm’sches Märchen in seiner ursprünglichen, undomestizierten Form.Woher kommt nun dieses, gerade in den letzten Jahren hier in der westlichen Welt immer stärker werdende Interesse am Schamanismus? Ein Grund dafür ist sicher, dass immer mehr Menschen nach einer Rückverbindung suchen – mit der Natur, mit sich selbst und einem eigenen, tiefen Wissen. Die schamanische Weltsicht geht von einer integralen Verbundenheit allen Lebens aus und ist damit, mo-dern gesprochen, zutiefst ganzheitlich und ökolo-gisch.Und noch ein anderer Aspekt der schamanischen Welt sicht spricht westliche Menschen immer mehr an: die Überzeugung, dass ein gesundes Leben sowohl

Einleitung8Einleitung

einen materiellen, als auch einen spirituellen Anteil hat. Dem modernen Menschen fehlt der spirituelle Teil fast völlig und wir leben in einer eindimensionalen Welt ohne Geheimnis, Mystik und innere Bedeutung.Die Arbeit mit schamanischen Techniken ist ein bewähr-ter, kulturübergreifender Weg, Informationen zu gewin-nen und Probleme zu lösen. Sie geht nach heutigem Wissen allen bekannten Religionen, Psychologien und Philosophien voraus und ist eine hoch entwickelte Form des Lebens in Übereinstimmung mit der Natur (in der wir ja auch in städtischen Umgebungen immer leben). Schamanische Techniken sind eine Form der inneren Kon-sultation bei Problemen und entwickeln den Zugang zur eigenen Intuition und Kraft. Schamanismus ist dabei eine sehr praxis- und ergebnis-orientierte Erfahrungswissenschaft, die außerdem sehr bereichernd und spannend ist. Sie arbeitet mit einer be-wussten und kontrollierten Veränderung bzw. Erweite-rung des eigenen Bewusstseins, um auf Informationen zugreifen zu können, die unserem Verstand normaler-weise nicht zugänglich sind. Schamanismus ist damit, westlich ausgedrückt, eine Be-wusstseinstechnologie und gleichzeitig eine bestimm-te Art, die Welt zu sehen. Diese Sicht geht davon aus, dass es subtile, nichtphysikalische Einflüsse im täglichen Leben gibt, die uns und unser Leben beeinflussen, so-wie eine große Anzahl an physikalischen Einflüssen, die wir mit unseren begrenzten Sinnen und den zusätzli-chen, individuellen Filtermechanismen nicht bewusst

Einleitung

9Einleitung

wahrnehmen können. Damit ist der Schamanismus eine jahrtausendealte Kunst, um mit den unsichtbaren, mo-dern ausgedrückt: informativen, Kräften des Universums zu arbeiten und gleichzeitig eine professionelle, diszipli-nierte und präzise Heilarbeit.Aber genau wie andere Techniken und Methoden ist Schamanismus kein Allheilmittel für alle Probleme. Er kann helfen, die Probleme von einer anderen, höheren Warte aus zu sehen und sie besser und effektiver zu lö-sen – dafür sind aber immer die eigene Aktivität und eine praktische Umsetzung im Leben notwendig.Obwohl die Techniken des Schamanismus wahrscheinlich schon im Jungpaläolithikum (vor etwa 35.000 Jahren) entwickelt wurden, gibt es ganz erstaunliche Parallelen zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, besonders zur Bewusstseinsforschung und zur Neuen Physik. Ich stelle diese Parallelen in einem eigenen Kapitel später genauer vor – nicht um dem Schamanismus damit mehr Glaubwürdigkeit oder Substanz zu verleihen, das braucht er als kultur- und zeitübergreifende, in der Praxis vielfach bewährte Erfahrungswissenschaft nicht, sondern weil ich die Übereinstimmungen spannend und gegenseitig be-fruchtend finde.Das Ziel dieses Buches ist es, Ihnen einen Überblick über den komplexen und vielfältigen Bereich des Schamanis-mus zu geben. Vor allem möchte ich Sie aber ermuti-gen, Ihren eigenen Zugang zu dieser spirituellen Praxis zu finden. Probieren Sie die Techniken aus, sammeln Sie eigene Erfahrungen und arbeiten Sie damit. Es macht

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Spaß, ist ungemein erhellend und macht das Leben sehr viel reicher, bunter und einfacher.Mein besonderer Dank bei diesem Buch geht an den Psychologen und Schamanismus-Experten Roland Ur-ban, der mir freundlicherweise seine Diplomarbeit mit dem Thema Rückkehr zum Inneren See. Schamanismus, Bewusstsein und Psychotherapie zur Verfügung gestellt hat. Diese sehr fundierte Untersuchung mit dem Schwer-punkt Schamanismus und Psychologie ist demnächst als Buchveröffentlichung geplant.

I. Theoretischer Hintergrund

1. Was ist Schamanismus?

In diesem Kapitel möchte ich Ihnen einen kurzen Über blick darüber geben, was Schamanismus eigent-lich ist. Wir sehen uns an, woher die Bezeichnung stammt, welche Funktionen Schamanen in ihren Gesellschaften haben und wie man in traditionellen Kulturen zum Schamanen oder zur Schamanka wird. Außerdem geht es um die Techniken, die Schama-nen anwenden, um in den speziellen schamanischen Bewusstseinszustand zu kommen, der die Basis der schamanischen Arbeit ist, sowie um den Blick der westlichen Welt auf das Phänomen Schamanismus.

SchamanismusDer Begriff Schamanismus, der von westlichen Anth-ropologen geprägt wurde, fasst eine Reihe von Tech-niken zusammen, die es erlauben, das eigene Bewusst-sein willentlich zu erweitern und damit bewusst eine Brücke zu schlagen zwischen der physischen Welt und der Welt der Visionen, Informationen und Spiritualität.

I. Theoretischer Hintergrund12Einleitung

Schamanismus ist damit eine Form der inneren Konsul-tation bei Fragen oder Problemen des täglichen Lebens mithilfe einer Reise in die Tiefen unseres Bewusstseins.Gleichzeitig ist Schamanismus aber auch eine Art, die Realität zu sehen, die die normalerweise unsichtbare, geistig-immaterielle Welt mit einschließt. Das heißt, dass nach schamanischem Verständnis alles in unserer physikalischen Welt eine Entsprechung in der geistigen oder informativen Welt hat – eine Sichtweise, die sich auch im Westen, besonders in der Quantenphysik, immer mehr durchsetzt.Schamanismus ist wahrscheinlich die älteste menschliche Methode, das Bewusstsein für die Lösung von Problemen und zur Heilung einzusetzen. Besonders die Funde von jungpaläolithischer Kleinkunst in Höhlen auf der Schwä-bischen Alb und die Höhlenmalereien in Nordspanien und Frankreich, die zurückdatieren auf die Zeit des ersten Auftretens des anatomisch modernen Menschen, deuten darauf hin, dass es schon damals ähnliche Weltvorstel-lungen und wahrscheinlich auch Techniken gegeben hat, wie sie in traditionellen schamanisch geprägten Kulturen auch heute noch verbreitet sind. Auch wenn die Deutung der Funde in der Wissenschaft nicht unumstritten ist und sich die geistige Welt anhand von materiellen Funden nur mit großen Fragezeichen rekonstruieren lässt, ist der „Geschmack“ dieser Funde für Schamanen vertraut. Als ich mit einem traditionellen Schamanen über dieses Buchprojekt gesprochen habe und die Funde der Schwä-bischen Alb erwähnte, wollte er sie gerne sehen. Beim

Einleitung

131. Was ist Schamanismus?

Bild des Löwenmenschen von Hohlenstein-Stadel / Lo-netal sagte er ganz begeistert: „Oh, ein Löwenhelfer, den kenne ich!“

Schamane – Schamanin / SchamankaDas Wort „Schamane“ – und davon abgeleitet „Scha-manismus“ – stammt nach heutigen Erkenntnissen von dem tungusischen Wort „shaman“ ab. Die Etymologie des Wortes ist nicht ganz geklärt, aber es könnte entweder von „wissend“ oder von „erhitzt, feurig“ abgeleitet sein. Im Tungusischen beschreibt es jemanden, der trommelt, in Trance fällt und Menschen heilt. Obwohl es sich ei-gentlich auf spezifisch sibirische Verhältnisse bezieht, hat sich das Wort als zusammenfassender Oberbegriff im Westen durchgesetzt. Es beschreibt Menschen, die sich willentlich, kontrolliert und bewusst in einen veränder-ten Bewusstseinszustand begeben können, um in diesem Zustand auf Informationen zurückgreifen zu können, die dem Verstand normalerweise nicht zugänglich sind. Die-se Möglichkeit der aktiven Bewusstseinsveränderung ist damit das Hauptmerkmal und zugleich das verbindende Element aller schamanisch arbeitenden Menschen – auch wenn sie sich selbst außerhalb des tungusischen Sprach-raums nicht als Schamanen bezeichnen würden.Trotz aller Gemeinsamkeiten ist der Schamanismus aber gleichzeitig auch ein differenziertes und komplexes Phä-nomen, das sich je nach Kultur zum Teil erheblich vonei-nander unterscheidet.

I. Theoretischer Hintergrund14Einleitung

Die Funktion des Schamanen in der GesellschaftDie Aufgaben und Funktionen der Schamanen in ihrer jeweiligen Gemeinschaft sind sehr vielfältig und unter-scheiden sich von Gesellschaft zu Gesellschaft. Generell kann man sagen, dass sie verschiedene Aufgabenberei-che in Personalunion miteinander verbinden, für die wir im Westen unterschiedliche Spezialisten haben. Sie sind Ärzte, Lehrer, Psychotherapeuten, Priester, politische Be-rater, Tänzer und Sänger, Poeten und Dichter, Visionäre und Historiker. Generell sind sie zuständig für Heilung, Beratung, Selbsterfahrung und Problemlösung in ihrer Gesellschaft.Ihre Hauptaufgabe ist das Wiederherstellen einer indivi-duellen oder gesellschaftlichen Balance, denn jede Form von Krankheit, Streit oder Problem wird in der schamani-schen Weltsicht als ein Herausfallen aus dem natürlichen Gleichgewicht angesehen. Damit leisten sie in jeder ihrer Funktionen im Grunde heilerische Arbeit.Schamanen sind ganz normale, psychisch und physisch meist sehr stabile Menschen, haben in ihrer Gemein-schaft aber fast immer einen Sonderstatus. Sie werden auf der einen Seite verehrt, auf der anderen Seite aber wegen ihrer Macht über Leben und Tod oft auch ge-fürchtet. Viele sind Einzelgänger, die zwar innerhalb ihrer Gemeinschaft, gleichzeitig aber auch außerhalb von ihr leben.

Einleitung

151. Was ist Schamanismus?

Initiation / AusbildungEin Schamane kann durch einen anderen, älteren Scha-manen ausgewählt werden oder seine Fähigkeiten werden vererbt. Ein dritter Weg ist die vom Schamanen gefühlte Berufung, die oft mit einer schweren, überlebten Krankheit oder Krise verbunden ist – der sogenannten „Schamanen-krankheit“. Ganz allgemein sind Auswahl, Initiation und Ausbildung von Schamanen in traditionellen Gesellschaf-ten oft sehr hart und werden von den Betroffenen am Anfang häufig als große Bürde empfunden. Die neuseelän-dische Maori-Matakite Wai Turoa Morgan schreibt dazu:

„Ich glaube, ich hatte keine besonders gute Kindheit, weil es nicht unbedingt Glück bringt, Schamanin zu sein. Es ist eher eine große Herausforderung. (...) Es fällt mir also wirklich schwer, zu begreifen, was so reizvoll daran sein soll, Schamane zu werden. Denn man trägt einen Haufen Verantwortung.“ Geseko von Lüpke: Altes Wissen für eine neue Zeit, S. 274

Die Ausbildung der Schamanen, die nach der Berufung oder ersten Initiation folgt, ist je nach Kultur sehr un-terschiedlich. Generell kann man sagen, dass meist noch viele weitere Initiationen folgen und dass es im Grunde eine lebenslange Ausbildung ist. Schamanen lernen durch Lehrer, meist ältere, erfahrene Schamanen, oder durch geistige Helfer, Selbsterfahrung und vor allem viel Praxis.

I. Theoretischer Hintergrund16Einleitung

VerbreitungSchamanische Praktiken sind fast überall auf der Welt verbreitet. Je nachdem, wie eng oder weit man den Be-griff auffasst, lässt sich der traditionelle oder indigene Schamanismus in Sibirien und der Mongolei, in Nord- und Südamerika, in Asien, Südafrika, Australien, den Arktisregionen sowie - in Resten - in Europa nachwei-sen. Seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts erleben der von dem Anthropologen Dr. Michael Harner entwi-ckelte Kern-Schamanismus und andere Strömungen des sogenannten Neo-Schamanismus besonders in Europa und den USA eine Renaissance. Mit diesen Richtungen werden wir uns in einem der nächsten Abschnitte noch ausführlicher beschäftigen.

Techniken zur BewusstseinserweiterungDas Hauptinstrument aller schamanisch Praktizierenden ist eine willentliche, bewusste und kontrollierte Verän-derung oder Erweiterung des eigenen Bewusstseins. Um das zu erreichen, wenden Schamanen ganz unterschied-liche Methoden und Techniken an. Die am häufigsten verwendeten sind:

akustische Methoden (Trommeln, Rasseln, Steine, Klangschalen usw.),

Singen oder Tanzen,

Einleitung

171. Was ist Schamanismus?

optische Reize (Feuer, Flammen usw.),

halluzinogen wirkende Drogen (wie das im Amazo-nasgebiet verbreitete Ayahuasca),

Fasten, Isolation in der Wildnis, körperliche oder see-lische Prüfungen,

Rituale,

das Anlegen der eigenen Tracht bzw. die Benutzung zeremonieller Gegenstände wie Trommel, Bogen oder Amulette.

Die am häufigsten angewandten Methoden sind Trom-meln, Gesang, rhythmischer Tanz und der Gebrauch von psychoaktiven Substanzen. Die oben aufgeführten Techniken können von einer leichten Trance bis hin zur Ekstase führen, abhängig von der jeweiligen Kultur, der Fragestellung und der Person des Schamanen.Diese Bewusstseinserweiterung, die als „schamanische Reise“ bezeichnet wird, weil der Schamane tief in sich „hineinfliegt“, während er sich gleichzeitig auf eine be-stimmte Frage konzentriert, ist die Haupttechnik. Da-neben verwenden Schamanen aber auch andere thera-peutische Verfahren wie Beratung, Kräuterheilkunde oder manuelle Verfahren wie Massagen oder Chiropraktik.Bei allen Verfahren ist es immer die Hauptaufga-be der Scha manen, zwischen der materiellen und der

I. Theoretischer Hintergrund18Einleitung

immateriellen Wirklichkeit zu vermitteln und als Über-setzer zu fungieren.

Die Sicht der westlichen WeltDie Einschätzung und Interpretation des Phänomens Schamanismus in der westlichen Welt hat sich im Lau-fe der Zeit stark verändert und spiegelt damit mehr die jeweils aktuelle weltanschauliche Sicht als den Schama-nismus selbst.In den ersten Berichten, die meist von Händlern, Missio-naren und Forschungsreisenden stammen, wird das Phä-nomen Schamanismus als psychische Krankheit und der Schamane als Verrückter oder Kranker, manchmal auch als Besessener beschrieben – eine Einschätzung, die von dem oft absonderlichen, beunruhigenden Verhalten wäh-rend einer tiefen Trance herrührt, das an Epilepsie oder den im Mittelalter und der frühen Neuzeit in Europa weit verbreiteten „Veitstanz“ erinnerte (Huntington-Krank-heit, ausgelöst durch eine Vergiftung mit Mutterkorn). Diese Interpretation hat sich zum Teil bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gehalten, obwohl schon vorher Ethno-logen und Anthropologen ihre Einschätzung revidierten und Schamanismus nun als frühe (und primitive) Form der Religion ansahen. Der berühmte und 2009 verstor-bene Ethnologe Claude Lévi-Strauss ging einen Schritt weiter und stellte fest, dass Schamanen nicht geistig krank, sondern ganz im Gegenteil eine Art Psychothe-rapeut und Ordnungsstifter für ihre Gemeinschaften

Einleitung

191. Was ist Schamanismus?

waren. Und auch der schwedische Religionsforscher und Schamanismusexperte Åke Hultkrantz verstand Schama-nismus als untergehende Heilpraktik und den Schamanen als Heilpraktiker. Aber erst mit dem Werk Schamanismus und archaische Ekstasetechnik des rumänischen Religi-onswissenschaftlers Mircea Eliade von 1951 war der Schamane endgültig kein Verrückter mehr, sondern ein Meister der gezielten Bewusstseinsveränderung. Seine Definition des Schamanismus als Technik der Ekstase gilt im Grunde bis heute und hat einer völlig neuen Sichtwei-se des Schamanismus den Weg bereitet. Seitdem gilt die gezielte Bewusstseinsveränderung als das kennzeichnen-de Charakteristikum des Schamanen weltweit. Michael Harner schließlich, der Pionier des Kern-Schamanismus (auch Core-Schamanismus), definiert Schamanismus als eine im Grunde von jedem erlernbare Technik der Be-wusstseinsreise.Bis in die Mitte der 60er-Jahre war Schamanimus etwas, das nur den engen Kreis der Religions- und Kulturwissen-schaftler interessierte. Und alle Forscher hatten das Phä-nomen bis dahin von außen, als unbeteiligte und mög-lichst objektive Beobachter betrachtet. Beides änderte sich mit dem 1968 erschienenen Buch The teachings of Don Juan: A Yaqui Way of Knowledge (1973 auf Deutsch erschienen: Die Lehren des Don Juan. Ein Yaqui-Weg des Wissens) von Carlos Castaneda. Der Ethnologe und Anth-ropologe Castaneda beschreibt darin seine, wahrschein-lich fiktive, Lehrzeit bei einem Yaqui-Indianer und löste damit einen unglaublichen Boom in den USA und Europa

I. Theoretischer Hintergrund20Einleitung

aus. Wirklich praktisch umsetzbar wurde schamanisches Wissen allerdings erst 1980 mit der Veröffentlichung des Anthropologen Michael Harner The Way of the Shaman (Der Weg des Schamanen – Das praktische Grundlagen-werk zum Schamanismus). An seiner Lehrzeit bei den Co-nibo- und Jívaro-Indianern im Amazonasgebiet besteht kein Zweifel und er entwickelte etwas, das er „radikale Teilnahme“ nannte. Mit seiner Arbeit und der Entwick-lung des Kern-Schamanismus werden wir uns im nächs-ten Kapitel noch ausführlicher beschäftigen.Nachdem es in den 90er-Jahren wieder etwas stiller um das Thema Schamanismus geworden war, lässt sich gerade in den letzten Jahren ein neu erwachtes Interesse am öko-logischen, heilerischen und spirituellen Wissen der tradi-tionellen Schamanen feststellen. Ein Grund dafür ist, dass viele traditionelle Schamanen sich der westlichen Welt öffnen und ihr Wissen in Kursen, Ausbildungen und Einzel-behandlungen weitergeben. Unter den Schamanen gibt es ein vermehrtes Interesse an einer Vernetzung und einem Austausch von Wissen, gerade in Hinblick auf die globalen Probleme, denen wir alle uns zunehmend gegenübersehen. Besonders der Klimawandel macht eine Bewusstseinsver-änderung in Hinsicht auf die gegenseitige Verbundenheit und komplexe Vernetzung allen Lebens notwendig.Ein weiterer Grund für das momentane Interesse an Schamanimus sind interessanterweise aber auch die neuen Erkenntnisse, u.a. der Quantenphysik, Bewusst-seinsforschung, Neurobiologie und Informationsmedizin (siehe Kapitel 3 auf Seite 45), die zum Teil erstaunliche

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211. Was ist Schamanismus?

Parallelen zum schamanischen Verständnis der Wirklich-keit zeigen.Im nächsten Kapitel werden wir uns die Gemeinsamkei-ten, aber auch die Unterschiede zwischen Traditionellem und Westlichem oder Neo-Schamanismus ansehen.