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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse der gegenwärtigen Gesellschaften Dezember 2005 Sic et Non. zeitschrift für philosophie und kultur. im netz. 1 Sic et Non. zeitschrift für philosophie und kultur. im netz. Rubrik Soziologie [www.sicetnon.org] Christian Schilcher Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse der gegenwärtigen Gesellschaften Diplomarbeit im Fach Soziologie Am Institut für Soziologie FB 2, TU-Darmstadt Vorgelegt im Januar 2001 Abstract Als ein Kernstück der Bourdieuschen Theorie kann die Analyse der Zusam- menhänge zwischen Sozialstruktur und Kultur angesehen werden. Kultur ist für Bourdieu keine unschuldige Sphäre, sondern das entscheidende Medium zur Reproduktion von Klassenstrukturen. Bourdieus Argumentation mündet in der zentralen These, dass Klassenzugehörigkeit am deutlichsten in differen- ziellen Lebensstilen zum Ausdruck kommt.

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Diplomarbeit 2001

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Sic et Non. zeitschrift für philosophie und kultur. im netz.

Rubrik Soziologie

[www.sicetnon.org]

Christian Schilcher

Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse der gegenwärtigen

Gesellschaften

Diplomarbeit im Fach Soziologie

Am Institut für Soziologie

FB 2, TU-Darmstadt

Vorgelegt im Januar 2001

Abstract

Als ein Kernstück der Bourdieuschen Theorie kann die Analyse der Zusam-

menhänge zwischen Sozialstruktur und Kultur angesehen werden. Kultur ist

für Bourdieu keine unschuldige Sphäre, sondern das entscheidende Medium

zur Reproduktion von Klassenstrukturen. Bourdieus Argumentation mündet in

der zentralen These, dass Klassenzugehörigkeit am deutlichsten in differen-

ziellen Lebensstilen zum Ausdruck kommt.

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Inhaltsverzeichnis

ABBILDUNGSVERZEICHNIS 4

1. EINLEITUNG 5

2. PIERRE BOURDIEUS SOZIOKULTURELLE KLASSENTHEORIE 9

2.1 Grundkategorien der Bourdieuschen Theorie 10

2.1.1 Sozialer Raum 10

2.1.2 Klasse 12

2.1.3 Habitus 16

2.1.4 Feld 21

2.2 Die praxeologische Vorgehensweise Bourdieus 25

2.3 Zusammenfassung und Bewertung 30

3. PIERRE BOURDIEU VOR DEM HINTERGRUND VON KARL MARX 34

3.1 Klassenanalyse bei Marx 35

3.1.1 Eine kurze Einführung in die Klassentheorie 36

3.1.2 Einige der am häufigsten vorgebrachten Kritiken der Marxschen Klassentheorie 43

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3.2 Bourdieu und Marx: Gegenüberstellung zweier Klassentheorien 49

3.2.1 Kapitalbegriff und Kapitalarten 49

3.2.2 Die Beziehung zwischen ökonomischer Basis, Individuen und Kultur 56

3.2.3 Klassenbewußtsein und Klassenkampf 59

3.3 Zusammenfassung und Bewertung 65

4. PIERRE BOURDIEU UND NEUERE ANSÄTZE ZUR SOZIALSTRUKTURANALYSE 69

4.1 Theorien von der Auflösung von Klassen und Schichten 71

4.1.1 Dimensionen des sozialen Wandels in Deutschland 72

4.1.2 „Neue“ Ungleichheiten 77

4.1.3 Das Individualisierungstheorem 79

4.1.4 Milieu- und Lebensstilforschung 82

4.2 Bourdieus Lebensstilanalysen im Vergleich zu den neueren Milieu- und Lebensstilansätzen 87

4.2.1 Zum Streit um das Objektive und Subjektive 87

4.2.2 Erweiterte Handlungsspielräume und die Stabilität sozialer Ungleichheit 90

4.2.3 Beschreibung und Erklärung von Lebensstilen 92

4.3 Zusammenfassung und Bewertung 94

5. FAZIT UND AUSBLICK 97

LITERATURVERZEICHNIS 103

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Der soziale Raum 11

Abbildung 2: Drei Erscheinungsformen des kulturellen Kapitals 51

Abbildung 3: Einkommensrelationen zwischen

1950 und 1980 nach Fünfteln 74

Abbildung 4: Milieubeschreibungen bei Gerhard Schulze 85

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1. Einleitung

„Man muß die Autoren auf eine bestimmte Frage-

stellung hin lesen, um ihnen das beste abzufordern,

das sie geben können.“ (Pierre Bourdieu 1982b:

45)

Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen Bourdieus Ausführungen zur Sozialstruk-

tur der gegenwärtigen Gesellschaften. Als ein Kernstück der Bourdieuschen

Theorie kann die Analyse der Zusammenhänge zwischen Sozialstruktur und

Kultur angesehen werden. Seine Gesellschaftstheorie hat die Beziehungen zwi-

schen Klassenzugehörigkeit, Bildungspartizipation, kultureller Kompetenz,

kultureller Praxis und Lebensstilen zum Gegenstand und ist daher als soziokul-

turelle Klassentheorie angelegt. Kultur ist dabei für ihn keine unschuldige

Sphäre, sondern stellt das entscheidende Medium zur Reproduktion der Klas-

senstrukturen in kapitalistischen Gesellschaften dar. Bourdieus Argumentation

mündet in der zentralen These, daß Klassenzugehörigkeit am deutlichsten in

differenziellen Lebensstilen zum Ausdruck kommt.

„Deshalb auch bietet sich Geschmack als bevorzugtes Merkmal von

´Klasse´ an.“ (Bourdieu 1982a: 18)

Um Bourdieus Überlegungen zur Sozialstrukturanalyse diskutieren zu können,

bedarf es zunächst einer Vorstellung seines Klassenkonzepts. Eine einfache

Definition des Begriffs Klasse ist im Werk Bourdieus indes nicht zu finden.

Vielmehr verknüpft Bourdieu die Frage der sozialen Ungleichheit mit der Ana-

lyse von Lebensstilen und verankert diese Zusammenhänge systematisch in

einem großen theoretischen Rahmen. Um einen Einstieg für das Verständnis zu

gewinnen, wie Bourdieu sein Konzept einer Klassengesellschaft entfaltet, wer-

den im Kapitel 2 Pierre Bourdieus soziokulturelle Klassentheorie zunächst

grundlegende Argumentationen Bourdieus vorgestellt.

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Das Ziel dieser Arbeit ist zu verstehen, welchen Beitrag Bourdieu zur Sozial-

strukturanalyse der gegenwärtigen Gesellschaften leisten kann. Um zu zeigen,

welche Relevanz Bourdieu für die gegenwärtige Sozialstrukturanalyse hat,

wird Bourdieu in das Verhältnis zu zwei wichtigen, sehr gegensätzlichen Strö-

mungen der Sozialstrukturanalyse gesetzt: In Kapitel 3 Pierre Bourdieu vor

dem Hintergrund von Karl Marx wird Bourdieu die Klassentheorie von Marx

gegenübergestellt, in Kapitel 4 Pierre Bourdieu und neuere Ansätze zur Sozial-

strukturanalyse wird Bourdieu mit den neueren Theorien der Auflösung von

Klassen und Schichten konfrontiert.

Daß Bourdieu eine Klassentheorie entfaltet, legt die Frage nahe, in welchem

Verhältnis diese zu dem klassischen Klassenkonzept von Marx steht. Dem

Verhältnis von Bourdieus und Marx´ Klassenbegriff wird nachgegangen um

herauszufinden, an welchen Punkten die Konzepte Parallelen und Unterschiede

aufweisen. Die wichtige Frage dabei ist, an welchen Punkten Bourdieu für die

Analyse gegenwärtiger Gesellschaften angemessener ist, aber auch, wo sich

wichtige Marxsche Erkenntnisse verlieren. Es gilt also letztlich zu zeigen, wel-

che Stärken und Schwächen die Bourdieusche Theorie gegenüber der Marx-

schen besitzt.

Die neueren Theorien zur Sozialstrukturanalyse haben in den letzten 20 Jahren

großen Einfluß auf den deutschen Sozialstrukturdiskurs ausgeübt. Ihre Grund-

lage finden diese Theorien in einer radikalen Kritik an Marx und seiner Klas-

sentheorie. Es wird davon ausgegangen, daß sich mit der Pluralisierung von

sozialen Milieus sozialstrukturelle Großgruppen aufgelöst haben und daß es

durch einen Prozeß der Individualisierung zu einer Zunahme autonomer Ver-

haltensweisen der Individuen gekommen ist, so daß das Bewußtsein von Ind i-

viduen nicht mehr aus ihrer objektiven Lage abgeleitet werden kann. Der Aus-

gangspunkt der vergleichenden Gegenüberstellung dieser Theorien mit dem

Bourdieuschen Entwurf besteht zum einen in der Gemeinsamkeit, daß die kul-

tursoziologische Milieu- und Lebensstilforschung in allen Entwürfen ins Zent-

rum der Betrachtung rückt, zum anderen aber im Unterschied, daß Bourdieu an

der Vorstellung einer klassenstrukturierten Gesellschaft festhält.

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Marx sowie die Milieu- und Lebensstiltheorien werden in die Arbeit einbezo-

gen, um das Verständnis des Bourdieuschen Klassenkonzepts zu befördern.

Dazu sind sie geeignet, weil sie mit dem Begriff Klasse bzw. Lebensstil unmit-

telbar Anknüpfungspunkte an Bourdieu aufweisen. Die beiden Strömungen

sind aber zusätzlich für diese Arbeit interessant, da sie Gegenstand eines theo-

retischen Richtungsstreits sind. Die Sozialstrukturanalyseforschung befindet

sich seit ungefähr Mitte der 80er Jahre in einer heftigen und problematischen

Auseinandersetzung um die Fruchtbarkeit von traditionellen vertikal und neue-

ren horizontal orientierten Modellen. In einer stark polarisierten Diskussion

soll durch Milieu- und Lebensstilkonzepte nachgewiesen werden, daß Klassen-

konzepte für die Sozialstrukturanalyse unbrauchbar geworden sind.

Ich hingegen werde zeigen, daß dem mit Blick auf die Bourdieusche soziokul-

turelle Klassentheorie nicht zuzustimmen ist. Ich werde mit Bourdieu verdeut-

lichen, daß es nicht nur ein „entweder - oder“ gibt, sondern daß eine vertikal

orientierte Klassentheorie mit kultursoziologischen Analysen von Lebensstilen

verbunden werden kann. Ich werde erklären, wie Bourdieu Fruchtbares beider

Traditionen in seinem Konzept zusammenführt, einige Problematiken und Re-

duktionismen der anderen Konzepte überwindet und damit einen wertvollen

Beitrag zur Sozialstrukturanalyse moderner Gesellschaften bietet. Gleichwohl

wird durch die Diskussion Bourdieus deutlich, daß sein Konzept selbst nicht

frei von Ungenauigkeiten, Vernachlässigungen und Problemen ist. Ich werde

auch darlegen, daß Bourdieus Konzept nicht als eine Art Patentrezept für die

Sozialstrukturanalyse gegenwärtiger Gesellschaften aufzufassen ist, sondern

daß es trotz seiner Stärken einer Weiterentwicklung bedarf. Es wird auch das

Ergebnis dieser Arbeit sein, daß sich bei Bourdieu einige (wichtige) Elemente

der Marxschen Klassentheorie wie auch der neueren Milieu- und Lebensstilfor-

schung verlieren.

Die drei Hauptschritte dieser Arbeit – erstens, die theorieimmanente Diskussi-

on Bourdieus, zweitens, die Diskussion Bourdieus vor dem Hintergrund der

Klassentheorie von Marx und drittens, die Diskussion Bourdieus durch eine

Auseinandersetzung mit Milieu- und Lebensstilkonzepten – dienen als Mittel

zur Herausarbeitung des Bourdieuschen Beitrags zur Sozialstrukturanalyse. Die

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Gegenüberstellungen sollen zu einem besseren Verständnis der Vorzüge und

Probleme des Bourdieuschen Konzept führen. Es gilt zu betonen, daß dabei

nicht Marx oder die Milieu- und Lebensstiltheorien im Mittelpunkt dieser Ar-

beit stehen. Ziel kann es daher nicht sein, die Bourdieu gegenübergestellten

Theorien so lückenlos wie möglich wiederzugeben. Daß die anderen Konzepte

nur in Grundzügen und deshalb verkürzt vorgestellt werden, liegt im Entwurf

dieser Arbeit begründet. Nicht nur, daß der rote Faden dieser Arbeit leicht ver-

loren ginge, es würde auch den Rahmen einer Diplomarbeit sprengen, würde

eine umfassende Beschäftigung mit allen thematisierten Theorien und Entwür-

fen versucht. Jedes einzelne Kapitel beinhaltet sicher genügend Aspekte, um

Stoff für eine eigene Diplomarbeit zu bieten.

Und noch ein weiterer Punkt dessen, was diese Arbeit nicht leisten kann, soll

erwähnt werden. Sicherlich wäre eine über Marx und die Protagonisten der

neueren Sozialstrukturtheorien hinausgehende theoriegeschichtliche Einord-

nung Bourdieus interessant. Es wird im folgenden weitestgehend darauf ver-

zichtet, Bezüge zu weiteren Autoren herzustellen. Um den Gang der Untersu-

chung nicht ausufern zu lassen, wurde darauf verzichtet, übernommene Denk-

figuren anderen Theorien zu thematisieren. Es soll lediglich angemerkt werden,

daß Bourdieus Arbeiten durch zahlreiche Theoretiker geprägt sind. Zu nennen

sind hier z.B. Einflüsse von Weber, Durkheim oder Lévi-Strauss, die durch

eine Thematisierung für das Verständnis der Bourdieuschen Theorie hilfreich

wären. Einer Fragestellung möglichst stringent nachzugehen, bedeutet im

Rahmen einer hundertseitigen Arbeit jedoch, andere Fragestellungen zu ver-

nachlässigen, was letztlich das Gefühl der Lücke hinterläßt.

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2. Pierre Bourdieus soziokulturelle

Klassentheorie

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den grundlegenden Argumentationen Bour-

dieus zur sozialen Gliederung gegenwärtiger Gesellschaften. Im folgenden

wird ein Einstieg in Bourdieus Überlegungen geleistet und damit die Basis

geschaffen, von der aus Bourdieu in den weiteren Kapiteln diskutiert wird.

Bourdieus Interesse gilt dem Verhältnis von Herrschaft, Kultur und sozialer

Ungleichheit. Die Auseinandersetzung mit Herrschaft bzw. Reproduktion von

Herrschaft stellt den Hintergrund für seine Untersuchungen dar. Kultur ist für

Bourdieu wichtiger Ansatzpunkt zur Erklärung einer vertikal gegliederten Ge-

sellschaft. Eine separate Klassentheorie hat Bourdieu nicht entworfen. Die

Theorie der Klassen findet sich eingebettet in seine soziokulturellen Gesell-

schaftsstudien. Für die Wiedergabe dessen, was Bourdieu unter Klassen ver-

steht, bedeutet das, diesen inhaltlichen Zusammenhängen zu folgen. So sind

mit dem Begriff Klasse die Begriffe sozialer Raum, Habitus und Feld eng ver-

knüpft. Im Abschnitt 2.1 sollen diese Begriffe vorgestellt und ihr Verhältnis

zueinander verdeutlicht werden. Im Abschnitt 2.2 wird näher auf Bourdieus

Versuch eingegangen, Objektivismus und Subjektivismus zusammenzuführen.

Dieser Versuch bildet die wissenschaftstheoretische Grundlage, die sich durch

die gesamte Arbeit Bourdieus zieht und maßgeblich sein Klassenkonzept prägt.

Im folgenden soll verdeutlicht werden, wie Bourdieu die Klassenstruktur der

Gesellschaft und ihre Reproduktion erklärt. Da dieses Kapitel Bourdieu wei-

testgehend theorieimmanent behandelt und zunächst die wichtigsten Grundzü-

ge thematisiert, werden einige interessante Aspekte aufgeworfen, die erst spä-

ter in den folgenden Kapitel erneut aufgegriffen werden.

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2.1 Grundkategorien der Bourdieuschen Theorie

2.1.1 Sozialer Raum

Für die Darstellung der Sozialstruktur benutzt Bourdieu das Konstrukt des so-

zialen Raums. Der soziale Raum bildet die Grundlage, auf der sich der Raum

der sozialen Positionen und der Raum der Lebensstile abzeichnet. Oder, in an-

deren Worten: Der soziale Raum ist der Rahmen, in dem erstens gesellschaftli-

che Positionen der Individuen und zweitens ihre Lebensstile verortet werden.

Doch genaugenommen ist der soziale Raum kein Rahmen, da er nicht ge-

schlossen, sondern offen ist. Er ist nicht zwei-, sondern dreidimensional und

hebt sich so von anderen Modellen ab, die Gesellschaft z.B. mit Hilfe des Bil-

des einer Pyramide, einer Zwiebel (vgl. Bolte, Kappe, Neidhardt 1967: 316)

oder eines Hauses fassen wollen (vgl. Dahrendorf 1965: 105, aktuellerer Ver-

such bei Geißler 1996: 84).

Für die Konstruktion des sozialen Raums sind zwei Kapitalarten, das ökonomi-

sche und das kulturelle Kapital, von entscheidender Bedeutung.

"Der soziale Raum ist so konstruiert, daß die Verteilung der Akteure oder

Gruppen in ihm der Position entspricht, die sich aus ihrer statistischen

Verteilung nach zwei Unterscheidungsprinzipien ergibt, (...), nämlich das

ökonomische Kapital und das kulturelle Kapital.“ (Bourdieu 1998: 18)

In der vertikalen Dimension ist der soziale Raum durch das Gesamtvolumen an

kulturellem und ökonomischem Kapital bestimmt. In der horizontalen Dimen-

sion wird eine Differenzierung nach der Zusammensetzung des Kapitals vor-

genommen, was einen intellektuellen und einen ökonomischen Pol des sozialen

Raums nach sich zieht. Mit einer dritten Dimension berücksichtigt Bourdieu

eine zeitliche Komponente, die in der folgenden Abbildung vernachlässigt

wird, auf die aber im nächsten Abschnitt zurückgekommen wird.

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Abbildung 1: Der soziale Raum

Raum der sozialen Positionen Raum der Lebensstile

Kapitalvolumen + Gemälde- sammlung Warhol Hochschul- Schach

lehrer Bach Segeln Kulturelles Kapital + Ökonomisches Kapital +

Ökonomisches Kapital − Kulturelles Kapital −

Kapitalvolumen − Quelle: Vereinfachtes und verkürztes Schema aus Bourdieu 1982a: 212 f.

In seinen Ausführungen zum sozialen Raum hebt Bourdieu immer wieder die

Bedeutung des Begriffs der Relation hervor. Eine Position ist durch ihr Ver-

hältnis zu allen anderen, d.h. durch Relationen von Nähe bzw. Entfernung be-

stimmt1. Individuen mit räumlicher Nähe haben mehr Umgang miteinander,

1 Bourdieu verdeutlicht seine Idee des sozialen Raums mitunter durch einen Vergleich zur

Geographie (vgl. z.B. Bourdieu 1982b: 35 f.). Deutschland kann in einen Norden und einen

Süden eingeteilt werden, der Süden kann wiederum weiter in Regionen aufgeteilt werden. Aus

dieser geographischen Struktur ergeben sich räumliche Nähen, Nachbarschaftsverhältnisse, die

entscheidenden Einfluß auf soziale Interaktionsprozesse haben.

Industrieunternehmer

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haben ähnliche Vorlieben und ähnliche Sozialisationsverläufe aufzuweisen und

sind sich demnach vertrauter. Deshalb ist für Bourdieu eine Annäherung oder

ein Zusammenschluß der Individuen mit geringer räumlicher Entfernung am

wahrscheinlichsten, jedoch nicht zwingend notwendig, da die Annäherung der

Fernsten nicht unmöglich ist. Zwingend sind Koalitionen gesellschaftlicher

Gruppen für Bourdieu nie.

Durch die quantitative wie qualitative Kapitalbestimmung lassen sich die Posi-

tionen der Individuen im sozialen Raum bestimmen. In einem weiteren, für die

Bourdieusche Theorie sehr wichtigen Schritt werden soziale Positionen in Be-

ziehung zu sozialen Praxen gesetzt: Dem Raum der sozialen Positionen ent-

spricht ein Raum von Lebensstilen.

„Der soziale Raum und die in ihm sich ´spontan´ abzeichnenden Diffe-

renzen funktionieren auf der symbolischen Ebene als Raum von Lebens-

stilen.“ (Bourdieu 1985: 21)

Es sollte aber nicht von einem mechanis tischen Verhältnis von Position und

Lebensstil ausgegangen werden, etwa nach der Art: „Kenne ich die soziale

Position einer Person, dann kenne ich sein Hobby, seinen Speiseplan usw.“ Die

Vermittlung von sozialer Position und Praxis übernimmt in der Theorie Bour-

dieus der Habitus.

2.1.2 Klasse

Jede soziale Position verfügt über einen spezifischen Lebensstil, und tenden-

ziell verbindet die Art der Lebensführung durch ihre Ähnlichkeit benachbarte

Akteure und grenzt gleichzeitig andere aus. Je näher sich die Ind ividuen in den

Dimensionen Gesamtkapital und Zusammensetzung des Kapitals sind, um so

mehr Gemeinsamkeiten werden sie aufweisen, was letztlich zur Konstruktion

einer Klasse führt.

Die Grundstruktur der Klassenbildung sieht Bourdieu in der vertikalen Dimen-

sion begründet, in der unterschiedlichen Quantität von Kapital.

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„Das Prinzip der primären, die Hauptklassen der Lebensbedingungen

konstituierenden Unterschiede liegt im Gesamtvolumen des Kapitals als

Summe aller effektiv aufwendbaren Ressourcen und Machtpotentiale,

(...).“ (Bourdieu 1982a: 196)

Bourdieu sieht diese Hauptklassen jedoch nicht als in sich homogene gesell-

schaftliche Gruppen an. Neben den Diskrepanzen zwischen den Klassen auf-

grund ungleicher Verteilung von Gesamtkapital unterscheidet Bourdieu Frakti-

onen innerhalb der Klassen, die sich durch einen ähnlichen oder unterschiedli-

chen Umfang der einzelnen Kapitalsorten innerhalb des Gesamtkapitals konsti-

tuieren (vgl. Bourdieu 1982a: 197).

Wie schon im vorangegangenen Abschnitt erwähnt, macht Bourdieu darauf

aufmerksam, daß Koalitionen der Nächsten im Sozialraum nicht zwingend

sind. Grundlage für diese Aussage ist Bourdieus Verständnis vom sozialen

Raum als der Stätte permanenter Auseinandersetzungen zwischen gesellschaft-

lichen Gruppen. Eine Fraktion der herrschenden Klasse kann z.B. anstreben,

die direkt über sie angesiedelte Fraktion zu erreichen. Als eine mögliche Stra-

tegie kann versucht werden, die vorherrschende Kapitalart der anderen Frakti-

on durch Aneignung zu entwerten. Nicht Zusammenschluß, sondern Kampf ist

in dieser Situation das vorherrschende Motiv.

„Die objektiv geringste Distanz im sozialen Raum kann mit der subjektiv

größten Distanz zusammenfallen: dies unter anderem deshalb, weil der

´Nächststehende´ genau der ist, der die soziale Identität, d.h. den Unter-

schied, am stärksten bedroht (...).“ (Bourdieu 1987: 251)

Bourdieu gibt allerdings in letzter Instanz trotz der Konfliktpotentiale innerhalb

der Klassen den Zusammenschlüssen der räumlich Fernstehenden wenig Chan-

cen2.

2 Bourdieu erwähnt das Beispiel einer großen Sammlungspartei für Arbeitnehmer und Arbeit-

geber, die aufgrund ihrer Entfernung im sozialen Raum wenig Aussicht auf Erfolg hätte, ledig-

lich auf der Basis einer Krise oder eines Nationalismus oberflächlich und kurzfristig einen

Zusammenschluß bilden könnten (vgl. Bourdieu 1998: 24).

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Mit der Frage nach Zusammenschlüssen gesellschaftlicher Gruppen sind wir an

einem wichtigen Punkt bei Bourdieu angelangt. Eine Klasse kann als eine

„Klasse auf dem Papier“ über die Nähe der Positionen im sozialen Raum ob-

jektivistisch konstruiert werden, geschaffen wird sie jedoch erst durch die klas-

sifikatorische Praxis der Subjekte. Wie ist diese klassifikatorische Praxis der

Subjekte zu charakterisieren?

Lebensstile faßt Bourdieu als strukturierte Zeichensysteme auf, als eine Art

Sprache, die eine soziale Kategorisierung durch Klassifikation erlauben.

„Das Wesentliche aber ist, daß diese unterschiedlichen Praktiken, Besitz-

tümer, Meinungsäußerungen, sobald sie mit Hilfe der entsprechenden so-

zialen Wahrnehmungskategorien, Wahrnehmungs- und Gliederungsprin-

zipien wahrgenommen werden, zu symbolischen Unterschieden werden

und eine regelrechte Sprache bilden.“ (Bourdieu 1998: 21 f.)

Die Praxisformen der Individuen können als distinktive, Unterschiede scha f-

fende, oder als integrative Zeichen fungieren. In diesem Sinne sind Lebensstile

als Kampfinstrumente aufzufassen. Zu den Auseinandersetzungen um ökono-

mische Ressourcen tritt damit ein symbolischer Kampf. Denn es wird nicht nur

um die Verteilung von Gütern und Dienstleistungen gerungen, sondern auch

um die richtigen Werte, die legitimen Standards und die distinktiven Lebenssti-

le. In Anlehnung an den Gedanken, daß die herrschenden Gedanken auch die

Gedanken der (innerhalb der ökonomischen Verhältnisse) Herrschenden reprä-

sentieren, fließen die durch die sozialen Positionen bedingten Unterschiede in

symbolische Auseinandersetzungen mit ein. Die zu gesamtgesellschaftlicher

Anerkennung gelangten Klassifikationsurteile lassen sich aus den Vorgaben

eines Lebensstils ableiten, dem es gelungen ist, den Kampf der Klassen für sich

zu entscheiden3.

3 Der Aspekt der symbolischen Auseinandersetzungen und der ungleichen Verteilung von

symbolischer Macht stellt einen wichtigen Bestandteil der Bourdieuschen Argumentation dar.

Dieses Thema wird später im Abschnitt 3.2.1 Kapitalbegriff und Kapitalarten erneut aufge-

nommen und eingehender diskutiert werden.

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Bourdieus Klassentheorie, die auf den Zusammenhang zwischen Klasse und

Klassifikation gerichtet ist, umfaßt, kurz zusammengefaßt, folgende Kernele-

mente:

1. Das Volumen bzw. den Umfang des Kapitals

2. Die Struktur bzw. die Zusammensetzung des Kapitals

3. Die soziale Konstruktion von Klassen durch symbolische Auseinanderset-

zungen zwischen Subjekten und Gruppen

4. Hinzu kommen die von Bourdieu für das Klassenkonzept berücksichtigten

Laufbahneffekte, die im Konzept des sozialen Raums neben dem Volumen

und der Zusammensetzung des Kapitals die dritte, zeitliche Dimension dar-

stellen. Als Ausdruck kollektiver Laufbahnen sind an den Positionen im

sozialen Raum „Neigungswinkel“ angelegt, die tendenziell den Aufstieg

oder Abstieg sozialer Karrieren aufzeigen. Damit wird dem zu erwartenden

Werdegang einzelner Berufsgruppen und damit zusammenhängend der

Entwicklung des einzelnen Rechnung getragen4. Dazu treten individuelle

Laufbahnen, die von den kollektiven abweichen können und so diese in ih-

rer Tendenz verstärken oder abschwächen (vgl. Bourdieu 1982a: 187 ff.).

Bis zu diesem Punkt der Ausführungen ist auf den Zusammenhang von kapi-

talbedingter Position und Lebensstil hingewiesen worden. Es wurde von Ge-

meinsamkeiten in Lebensstilen zwischen ähnlichen sozialen Positionen gespro-

chen. Bourdieus Vorstellung von Klassen wird jedoch erst deutlich, wenn der

Begriff des Habitus eingeführt und in das Konzept der Klasse integriert wird.

Denn nach Bourdieu entspricht jeder Positionsklasse eine Habitusklasse (vgl.

Bourdieu 1998: 20 f.). Die Lebensstile, die Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkei-

ten der Individuen sind nur die äußere Erscheinung, letztlich gründen sie auf

dem Habituskonzept.

„Als Klasse von identischen oder ähnlichen Existenzbedingungen und

Konditionierungen ist die gesellschaftliche Klasse (an sich) untrennbar

4 So bescheinigt Bourdieu z.B. den Landarbeitern eine tendenzielle Verschlechterung ihrer

Position im sozialen Raum.

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zugleich eine Klasse von biologischen Individuen mit demselben Habitus

als einem System von Dispositionen, das alle miteinander gemein haben,

die dieselben Erfahrungen gemacht haben, und dazu noch in derselben

Reihenfolge, (...).“ (Bourdieu 1987: 111 f.)

2.1.3 Habitus

Der Habitus umfaßt Dimensionen wie die äußere Erscheinung oder das Verha l-

ten und Auftreten eines Menschen. Der Habitus zeigt sich z.B. in der Körper-

sprache, in der Kleidung, in Eß- und Trinkgewohnheiten oder in der Ausübung

spezieller Hobbys. Doch dies ist nur eine äußere Beschreibung des Habitus, das

Verständnis des Habitus´ erschließt sich über eine abstraktere Ebene der Be-

schreibung.

Der Habitus ist ein System von dauerhaften Dispositionen, welches alle histori-

schen Erfahrungen integrierend, als Denk-, Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und

Handlungsmatrix im Alltagsleben fungiert (vgl. Bourdieu 1976: 169). Gedan-

ken, Wahrnehmungen, Äußerungen, Handlungen liegen in den historischen

und sozialen Grenzen, die im Habitus veranlagt sind.

Der Habitus ist inkorporierte Kultur, geronnene Erfahrung, Produkt der Ge-

schichte eines Individuums.

„Im Habitus eines Menschen kommt das zum Vorschein, was ihn zum

gesellschaftlichen Wesen macht: seine Zugehörigkeit zu einer bestimm-

ten Gruppe oder Klasse und die ´Prägung´, die er durch diese Zugehörig-

keit erfahren hat.“ (Treibel 1995: 210)

Bourdieu widerspricht mit diesem Konzept der Ideologie, die Geschmack zu

einer Naturgabe stilisiert (vgl. Bourdieu 1982a: 17). Der Habitus wird durch-

weg sozial konstituiert und nicht durch biologische Voraussetzungen bestimmt.

Als Speicher sozialer Verhältnisse ist er ein gesellschaftliches Produkt.

In der Bourdieuschen Theorie stellt der Habitus die Vermittlungsinstanz zwi-

schen Struktur und Praxis dar. In dieser Rolle fällt dem Habitus eine Doppel-

funktion zu. Zum einen ist der Habitus selbst etwas Hervorgebrachtes, ein

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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse der gegenwärtigen Gesellschaften Dezember 2005

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strukturiertes Produkt (opus operatum). Der Habitus ist jedoch nicht nur ver-

mittelndes Anhängsel von sozioökonomischen Strukturen, sondern auch struk-

turierende Struktur (modus operandi). Der Habitus ist zum einen Erzeugungs-

prinzip von Praxisformen und gleichzeitig ein Klassifikationssystem, welches

die Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte leistet. Durch die

einverleibten Dispositionsmuster können Deutungs- und Interpretationssche-

mata ausgebildet werden, mit deren Hilfe das Individuum sich erst die Wirk-

lichkeit aneignet sowie Situationen und das Verhalten anderer Akteure bewer-

ten kann (vgl. Bourdieu 1982a: 277 f.).

Der Habitus basiert auf der Klassenzugehörigkeit und der damit verbundenen

kollektiven Geschichte und kann dann aufgrund individueller Erfahrung in

diesem Rahmen ausgestaltet werden. In der Familie wird ein Grundhabitus

erzeugt 5, der durch alle späteren Erziehungsmaßnahmen nurmehr modifiziert

wird, denn er enthält zugleich die „Regeln“ für mögliche Veränderungen. Der

Habitus entwickelt sich demnach gemäß einer systematischen Biographie. Da

aber keine Individualgeschichte einer anderen völlig gleicht, unterscheiden sich

die Habitus auch innerhalb einer Klasse. Jedoch stellen sie lediglich geregelte

Abweichungen vom typischen kollektiven Habitus dar (vgl. Steinrücke 1988).

Der Habitus kann folglich als stabil bezeichnet werden. Es herrscht die „Domi-

nanz der Vergangenheit über die Gegenwart“ (vgl. Krais 1989: 53).

Die Beschreibung der doppelten Inkorporierung des Habitus gehört bei Bour-

dieu zu einem zentralen Bestandteil seines Konzepts. Zum einen werden die

mit dem Habitus vermittelten (Geschmacks-) Vorstellungen von dem Indivi-

duum in seiner psychischen Struktur internalisiert, zum anderen geht der Habi-

tus auch in die physische Struktur des einzelnen ein6.

5 Der Aspekt der sozialen Herkunft ist bei Bourdieu zentraler Bestandteil seiner Überlegungen.

Wenn die Familie für das Habituskonzept eine so maßgebliche Rolle spielt, dann ist es ver-

wunderlich, daß Bourdieu über sein ganzes Werk hinweg familiale Sozialisationsprozesse nicht

genauer untersucht hat.

6 So zeigt zum Beispiel Bourdieu anhand seiner empirischen Untersuchungen, daß in Frank-

reich der 60er Jahre die unteren Klassen stärker auf die Kraft des (männlichen) Körpers als auf

Gestalt und Aussehen achteten, weshalb sie billige, aber nahrhafte und kalorienreiche Produkte

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„Der Geschmack als Natur gewordene, d.h. inkorporierte Kultur, Körper

gewordene Klasse, trägt er bei zur Erstellung des ´Klassenkörpers´.“

(Bourdieu 1982a: 307)

Als Folge der Inkorporation des Habitus in die psychischen wie physischen

Strukturen haftet er dem Individuum als Scheinnatur an und bewegt sich daher

auf einer vorbewußten Ebene. Der Habitus und die eigene Identität fallen zu-

sammen, so daß der gesellschaftliche Charakter der eigenen Person nicht mehr

identifizierbar ist. Bourdieu bezeichnet in seinen Ausführungen den Habitus

auch als „sozialisierte Subjektivität“ (vgl. Bourdieu 1996: 159), um auf dem

gesellschaftlichen Moment des Persönlichen zu insistieren7.

Bourdieu interpretiert Praxis, auch und gerade auf dem Feld der symbolischen

Formen als Praxis, die strategisch auf den Aufstieg beziehungsweise die Erha l-

tung der Position im sozialen Raum bezogen ist, die unter dem Druck eines

Klassenkampfes beständig neue Differenzierungen, Abgrenzungen, soziale

Schließungen gegenüber benachbarten Klassen und Klassenfraktionen hervor-

bringt. Praktisch alle Lebensäußerungen der Individuen erhalten von dieser

Situation des niemals aussetzenden Kampfes um die soziale Position her ihre

soziale Bedeutung, ihren objektiven Sinn. Dem Habitus liegt somit eine Strate-

gieannahme zugrunde (vgl. Krais 1989: 52).

Doch die Vorstellung, daß der Habitus eine strategisch orientierte Praxis anlei-

tet, ist nicht unproblematisch. Wenn Bildung angeeignet wird, so Bourdieus

Argumentation, dann als Kapitalart und somit als Instrument zum Bestehen im

sozialen Raum. Bourdieu vernachlässigt damit das Emanzipationspotential von

Bildung, das den einzelnen befähigt, sich selbst, andere und gesellschaftliche

Prozesse zu verstehen, sich gegenüber diesen in ein Distanzverhältnis zu set-

zen, um Genese und Zusammenhänge von Gesellschaft reflektieren zu können.

auswählten, während die oberen Klassen Nahrung den Vorzug gaben, die leicht ist und nicht

dick macht.

7 Den Persönlichkeitsmodellen von Freud mit der Konzeption „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“, von

Mead mit „I“ und „Me“ oder von Rollentheoretikern liegt die Vorstellung einer „menschlichen

Natur“ zugrunde. Solch eine Differenz von Individuum und Gesellschaft wird bei Bourdieu

zugunsten der gesellschaftlichen Prägung des Subjekts aufgegeben.

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Daraus resultiert ein Aspekt von Bildung, der die Grenzen des einzelnen über-

schreitet und sich Kategorien wie der des persönlichen Nutzens entzieht.

Am Beispiel des ästhetischen Geschmacks soll abschließend kurz gezeigt wer-

den, wovon das ästhetische Urteil als Teil des Habitus im spezielleren abhängt

und welche Ausprägungen es annehmen kann.

Bourdieu nennt in diesem Zusammenhang zwei wichtige Dimensionen:

„Zum einen die sehr enge Beziehung zwischen den kulturellen Praktiken

(sowie den entsprechenden Meinungen) und dem schulischen oder Bil-

dungskapital (gemessen am Schul- und Hochschulabschluß) sowie se-

kundär der sozialen Herkunft (erfaßt anhand des Berufs des Vaters).“

(Bourdieu 1982a: 34)

In diese zwei Dimensionen, Bildungskapital und soziale Herkunft, die Bour-

dieu im Zusammenhang mit dem Geschmack nennt, unterscheiden sich gesell-

schaftliche Gruppen quantitativ wie qualitativ. So kommt dann Bourdieu bei

der Systematisierung von Geschmack zu der Aussage:

„Dementsprechend lassen sich im Universum der individuellen Ge-

schmacksrichtungen (...) drei Geschmacksdimensionen unterscheiden,

denen wiederum im großen ganzen drei Bildungsniveaus sowie drei ge-

sellschaftliche Klassen korrespondieren.“ (Bourdieu 1982a: 36)

Die drei großen Geschmacksdimensionen leiten sich aus der Differenz ab, die

zwischen den drei großen Klassen im sozialen Raum bestehen. Die Habitus,

und damit die Geschmäcker, sind nicht einfach nur unterschiedlich, in der

Form, daß sie Ausdruck eines wertfreien Pluralismus von Lebensstilen sind.

Die Habitus machen Unterschiede, entweder, indem sie unterschiedliche Un-

terscheidungsprinzipien anwenden oder indem sie gewöhnliche Untersche i-

dungsprinzipien unterschiedlich anwenden (vgl. Bourdieu 1998: 21).

Die drei Dimensionen, durch die Bourdieu stilistische Einheitlichkeiten als

verbindendes Moment innerhalb der Klassen aufzeigt, lauten:

- Der legitime Geschmack

- Der mittlere Geschmack

- Der populäre Geschmack

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Der „legitime Geschmack“ ist am ehesten bei Menschen mit großem Kapital-

bestand und somit am häufigsten in den Kreisen der herrschenden Klasse mit

hohem ökonomischen und kulturellen Kapital wiederzufinden. Der herrschen-

den Klasse als ganzer – in Relation zu den unteren Klassen – attestiert Bour-

dieu einen Sinn für Distinktion (vgl. Bourdieu 1982a: 405). Innerhalb der herr-

schenden Klasse macht Bourdieu eine Differenzierung zwischen zwei Lebens-

stilen, denen er die Prädikate des „asketischen Aristokratismus“ und des „Sinns

für Luxus“ zuordnet (vgl. Bourdieu 1982a: 447). Zeichnet sich der Habitus der

herrschenden Klasse durch die Leichtigkeit, das Selbstbewußtsein und die Na-

türlichkeit aus, über die nur diejenigen verfügen, die symbolische Definitions-

macht besitzen und mit den selbst definierten Normen spielerisch umgehen

können, so haftet dem Kleinbürgertum die Schwerfälligkeit, Zwanghaftigkeit

und das permanente Gefühl des Entlarvtwerdens an, das sich aus dem Bemü-

hen speist, die fremden Geschmacksnormen der herrschenden Klasse zu kopie-

ren. Daraus resultiert der „mittlere Geschmack“ als Geschmacksform der Mit-

telklasse, der nach Bourdieu durch minderbewertete Werke der legitimen

Künste und durch die „legitimsten“ Werke der minderbewerteten Künste reprä-

sentiert wird. Der „populäre Geschmack“ ist im Unterschied zu den beiden

anderen Geschmacksdimensionen am häufigsten in den unteren Schichten mit

niedrigem Bildungskapital zu finden. Der Lebensstil der unteren Klasse wird

von Bourdieu zuweilen auch durch den Begriff des „Notwendigkeitsge-

schmacks“ gekennzeichnet (vgl. Bourdieu 1982a: 585 ff.). Bedürfnis und Mög-

lichkeit sind in solchem Maße miteinander verwoben, daß nur gewünscht wird,

was auch erfüllbar ist. Die durchgängige alltagsästhetische Entscheidung für

das Praktische reflektiert in diesem Rahmen nur die Tatsache, daß Investitio-

nen in eine elaborierte Stilisierung kaum symbolischen Gewinn erwarten las-

sen.

Am Beispiel des Lebensstils der Arbeiterklasse wird jedoch eine durch die zeit-

liche Perspektive (60er Jahre) gegebene Begrenztheit des Bourdieuschen An-

satzes deutlich. Während die Schilderung der Lebensstile der herrschenden

Klasse und des Kleinbürgertums sich durch interpretative Dichte auszeichnet,

erscheint der Lebensstil der Arbeiterklasse seltsam blaß und holzschnittartig.

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Die bloße Reduktion auf strukturellen Zwang und Notwendigkeit bestimmt,

wie anhand der Einkommensentwicklung von Arbeiterhaushalten gezeigt wer-

den kann, nicht mehr die Situation der Arbeiterklasse als ganzer.

Als Beispiele für den legitimen Geschmack nennt Bourdieu „Das wohltempe-

rierte Klavier“ und „Die Kunst der Fuge“ aus dem musikalischen Bereich,

Brueghel oder Goya auf dem Gebiet der Malerei. Für den mittleren Geschmack

werden aus der Malerei Utrillo und Buffet, aus der Musik „Die Rhapsodie in

blue“ oder aus dem Chansonbereich Jacques Brel genannt. Dem populären

Geschmack rechnet Bourdieu Werke der sogenannten „leichten“ Musik zu, die

durch ihre weite Verbreitung „entwertet“ wurden, wie „An der schönen blauen

Donau“ oder „La Traviata“. Dem hinzuzugerechnet wird nicht zuletzt der

Schlager (vgl. Bourdieu 1982a: 37 ff.). Auch hierbei gilt es zu bedenken, daß

Bourdieu die Beispiele für legitimen, mittleren und populären Geschmack aus

empirischem Material ableitet, das Ende der 60er Jahre in Frankreich erhoben

worden ist. Bourdieu geht davon aus, daß die meisten Produkte erst über den

von ihnen gemachten sozialen Gebrauch ihren gesellschaftlichen Wert gewin-

nen (vgl. Bourdieu 1982a: 45). Es liegt nach Bourdieu nicht in der Charakteris-

tik eines Musikstückes begründet, ob es z.B. dem legitimen Geschmack zuzu-

ordnen ist. Durch diesen sozialen Gebrauch von Kunst durch die Klassen kann

sich die Hierarchie der genannten Werke verschieben. Um die Bourdieuschen

Einteilungen zu überprüfen, wäre eine erneute Erhebung notwendig. So wie

sich die drei Geschmacksdimensionen in dem Buch Die feinen Unterschiede

darstellen, sind sie eher Idealtypen als feststehende Kategorien, denen Einzel-

fälle zugeordnet werden sollten.

2.1.4 Feld

Die drei großen Klassen sieht Bourdieu nur als Grobgliederung an und nicht als

homogene gesellschaftliche Gruppen. Die Klassen sind in sich differenziert,

und auch innerhalb der Klassenfraktionen existieren Machtverhältnisse und

Kämpfe um Erhalt oder Veränderung von Positionen. Um diesen Differenzie-

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rungen Rechnung zu tragen, entwickelt Bourdieu das Konzept des sozialen

Feldes.

Zum Einstieg soll eine Allegorie dargestellt werden, derer Bourdieu sich zur

Verdeutlichung der Theorie der Felder immer wieder gerne bedient, nämlich

die des Spiels (z.B. vgl. Bourdieu 1996: 127 ff.). Die Individuen im Feld, also

die Spieler, sind zunächst einmal durch ihren Glauben an das Spiel gekenn-

zeichnet. Sie erkennen das Spiel an und treten so scheinbar selbstverständlich

gegeneinander an. Jeder Spieler besitzt in diesem Spiel verschiedenartige Je-

tons, die er während des Spiels einsetzen kann. Die Jetons untereinander besit-

zen wiederum eine Hierarchie. Manche Jetons sind in dem Spiel wirksamer als

andere, und manche besitzen gar die Bedeutung eines Trumpfs. Wie die

Bedeutung der Jetons für das Spiel aussieht, hängt maßgeblich von dem Spiel

ab, das gespielt wird. Die Stärke, die ein Spieler in einem Spiel besitzt, hängt

von dem Umfang und der Zusammensetzung seiner Jetons ab. Die Strategie

eines Spielers kann durch verschiedene Dinge bestimmt werden. Zunächst ist

für den Spieler seine voraussichtliche Entwicklung im Spiel wichtig. Gemessen

an den Chancen, die er für sich in diesem Spiel sieht, kann er seine Ziele

abstecken. Er kann danach streben, seinen Jetonbestand zu erhalten oder zu

vermehren. Eine andere Taktik, die verfolgt werden kann, besteht darin, Ab-

oder Aufwertungen von bestimmten Jetonarten anzustreben. So kann die

eigene Situation im Spiel verbessert werden, ohne einen realen Zuwachs der

eigenen Jetons erreicht zu haben. Das Feld ist demnach die „Kampfarena“, in

der die Spielteilnehmer durch Einsatz ihrer Kapitalarten um günstige

Positionen kämpfen. Soweit die Allegorie Bourdieus. Aber was wird mit dieser Allegorie erklärt?

Zunächst ist festzuhalten, daß die Akzeptanz bzw. Internalisierung der feldin-

ternen Normen vom Individuum als Grundvoraussetzung für seine Position in

einem Feld abverlangt wird. Jedes einzelne Individuum kann sich nur in einem

Feld profilieren und von den anderen „Feldteilnehmer“ akzeptiert werden,

wenn der „Sinn des Spiels“ (vgl. Bourdieu 1987: 122) verstanden und als sinn-

voll akzeptiert wurde. Das eigene Universum aus Regeln und Normen (Spiel-

regeln, Spieleinsatz, Spielvoraussetzungen, etc.), das ein solches Spiel um sich

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aufbaut, wird nicht in Frage gestellt. Dieser Reflexionsleistung sind entsche i-

dende Grenzen gesetzt. Für das Individuum ist das Spiel eben kein Spiel, son-

dern etwas Selbstverständliches, das zum eigenen Leben und zur Identität da-

zugehört. Der Glaube an eine Feldzugehörigkeit ist wie der Habitus inkorpo-

riert. Daher ist es mißverständlich, von der Akzeptanz feldinterner Normen zu

sprechen, da diese Akzeptanz nicht auf der Ebene einer bewußten Willensent-

scheidung erfolgt.

"Der Glaube ist daher entscheidend dafür, ob man zu einem Feld gehört.“

(Bourdieu 1987: 124)

Dieser Glaube ist nicht zu verstehen als die kognitive Anerkennung der Spiel-

regeln, er ist auch nicht die Überzeugung, daß dieses Spiel, in das man invol-

viert ist, das richtige ist, sondern er ist ein Zustand des Leibes (vgl. Bourdieu

1987: 126)8.

Vielmehr ist das „Mitspielen“ im Feld nur dann möglich und auch erfolgreich,

wenn diese scheinbar natürliche Zugehörigkeit zum Spiel gewährleistet ist. Die

Selbstverständlichkeit, mit der ein Individuum handelt, wenn Feld und Habitus

zusammenfallen, besitzt den Anschein von „instinktivem“ Verhalten.

„Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun

mehr Sinn, als sie selbst wissen.“ (Bourdieu 1987: 127)

Für die Position des Individuums im Feld ist nun der Kapitalbestand und die

Zusammensetzung des Kapitals (im Bild des Spiels wird von Jetons gespro-

chen) von entscheidender Bedeutung:

„So wie der Wert der Karten je nach Spiel ein anderer ist, so variiert auch

die Hierarchie der verschiedenen Kapitalsorten (ökonomisch, kulturell,

sozial, symbolisch) in den verschiedenen Feldern.“ (Bourdieu 1996: 128)

8 Der Fisch im Wasser schwimmt deshalb so geschickt, weil er nicht darüber nachdenken muß,

wie er zu schwimmen hat, wie auch ein Mensch sich beim Laufen keine Rechenschaft von

seinem Bewegungsablauf ablegt. Und ein Mann aus den sogenannten „besseren Kreisen“ wird

sich erst dann jederzeit angemessen im Clubheim eines exklusiven Golfclubs verhalten kön-

nen, wenn er dafür nicht eine Lektüre der Verhaltensregeln der „Upperclass“ benötigt.

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Um nun ein Feld genauer zu charakterisieren, müssen die in dem Feld jeweils

wirksamen Kapitalarten bestimmt werden. Damit hängt zusammen, daß, um

die Position des einzelnen in einem Feld zu analysieren, der Kapitalbestand des

einzelnen bestimmt werden muß.

„Zwischen den Begriffen Kapital und Feld besteht, wie man sieht, eine

wechselseitige Abhängigkeit.“ (Bourdieu 1996: 128)

Mit dem Konzept des Habitus hat Bourdieu das Eingehen des Sozialen in das

Individuum aufgezeigt. Mit dem Konzept des Feldes wird dieser Gedanke aus-

gedehnt. Denn die soziale Welt existiert nicht nur in Form des Habitus in den

einzelnen Individuen, sondern auch in Form des Feldes in physischen Objekten

außerhalb des Individuums.

„Die soziale Welt existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den

Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und außerhalb der

Akteure.“ (Bourdieu 1996: 161)

Wichtig ist nun, daß Habitus und Feld in einem Doppelverhältnis zueinander

stehen. Verkürzt ließe sich dieses Verhältnis folgendermaßen charakterisieren:

Das Feld beeinflußt den Habitus, der Habitus beeinflußt das Feld. Die Indivi-

duen werden zwar durch die verschiedensten gesellschaftlichen Institutionen

geprägt, doch sie prägen und verändern ihrerseits auch die Strukturen. Die Be-

ziehung von Habitus und Feld, im weitesten Sinne also die Beziehung von In-

dividuum und Gesellschaft, muß als ein reziprokes Verhältnis gesehen werden.

„Das Feld strukturiert den Habitus (...). Der Habitus trägt dazu bei, das

Feld als eine signifikante, sinn- und werthaltige Welt zu schaffen.“

(Bourdieu 1996: 160f)

Die spezifischen Logiken einzelner Felder hat Bourdieu in seinen empirischen

Untersuchungen zu ausgewählten Fraktionen der herrschenden Klasse heraus-

gearbeitet. Die Untersuchungen beschäftigen sich unter anderem mit Unter-

nehmern, Bischöfen der französischen Kirche und Hochschullehrern (vgl. dazu

Krais 1989: 59 ff.). Alle drei Untersuchungen gelten der herrschenden Klasse.

Dazu wurden die Inhaber von Machtpositionen, ihre Merkmale und ihre Bezie-

hungen untereinander betrachtet. So macht Bourdieu deutlich, daß das Feld der

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Macht nicht homogen ist, sondern daß z.B. Felder wie das künstlerische am

beherrschten Pol des Feldes der Macht angesiedelt sind.

Mit der Theorie der Felder beschreibt Bourdieu die hochdifferenzierte Gesell-

schaft als einen Kosmos, der aus der Gesamtheit der relativ autonomen Felder

besteht. An dieser Stelle stellt sich die Frage, in welchem Zusammenhang diese

Mikrokosmen zueinander stehen. Oder um die Frage spieltheoretisch zu formu-

lieren: Welche Auswirkungen hat die Dynamik eines Spiels auf das am Neben-

tisch stattfindende Spiel? Einzelne Felder und ihre habitusspezifischen Lebens-

stile analysiert Bourdieu mit faszinierender Genauigkeit. Warum die einzelnen

Felder jedoch zusammengefaßt im sozialen Raum die spezifische (hierarchi-

sche) Struktur der Gesamtgesellschaft ergeben, bleibt infolge der Vernachläs-

sigung dieser Problematik eher im Dunkeln9.

2.2 Die praxeologische Vorgehensweise Bourdieus

Die Auseinandersetzung mit dem Begriffspaar Objektivismus und Subjekti-

vismus gehört zu einem durchgängigen Motiv der Bourdieuschen Argumenta-

tion. Es existiert kaum ein Aufsatz oder Vortrag, der nicht auf diese Thematik

eingeht.

Zunächst soll kurz aufgezeigt werden, was Bourdieu unter Objektivismus und

Subjektivismus, bzw. Strukturalismus und Konstruktivismus10 versteht. Vom

9 Ein Grund für die Problematik ist darin zu sehen, daß der Feldbegriff zu der Zeit des Erschei-

nens wichtiger Publikationen wie „Die feinen Unterschiede“ oder „Der soziale Sinn“ noch

relativ jung ist. Noch im Jahre 1989 bemerkte Beate Krais, daß eine ausgearbeitete theoretische

Formulierung, ähnlich etwa der des Habitus, bislang nicht vorliegt (vgl. Krais 1989: 56).

10 Die Gleichsetzung von Objektivismus – Subjektivismus mit dem Begriffspaar Strukturalis-

mus und Konstruktivismus wird von Bourdieu z.B. im Aufsatz Wie eine soziale Klasse entsteht

(vgl. Bourdieu 1997: 102) vorgenommen. In der Sekundärliteratur finden sich viele andere

Lesarten des Gegensatzpaares, z.B. Systemtheorie – Handlungstheorie, Strukturalismus – Exi-

stenzialismus, etc.

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objektivistischen Standpunkt aus werden soziale Akteure wie Gegenstände

klassifiziert, sie werden wie Dinge behandelt. Vom subjektivistischen Stand-

punkt aus konstruieren die Akteure die soziale Realität, die ihrerseits als das

Produkt der Akkumulation der individuellen Konstruktionsakte verstanden

wird (vgl. Bourdieu 1987c oder Bourdieu 1982a: 378 f.). Beide Entwürfe ver-

kürzen die gesellschaftliche Realität. Für Bourdieu ist das Denken in diesen

Gegensätzen falsch, denn die Akteure sind beides: Klassifizierende und Klassi-

fizierte (vgl. Bourdieu 1997b: 103).

Bourdieu strebt die Aufhebung der Antinomie zwischen der objektivistischen

Reduktion sozialer Prozesse auf Effekte subjektloser Strukturen und der sub-

jektivistischen Vernachlässigung der Verselbständigung gesellschaftlicher

Verhältnisse gegenüber dem Willen und Bewußtsein der Individuen an. Bour-

dieu betont die Wechselbeziehung zwischen dem Objektiven und der sozialen

Praxis. Das Objektive ist zugleich immer auch das Subjektive und umgekehrt.

In der Kritik der subjektivistischen und objektivistischen Betrachtungsweisen

bedient sich Bourdieu der Argumente des jeweiligen Gegenentwurfs, was dar-

auf hinweist, daß Bourdieu keine der beiden komplementären Extrempositio-

nen vollständig negieren kann. Vielmehr kommt es zu einer die nützlichen E-

lemente von strukturalistischer und konstruktivistischer Soziologie vereinigen-

den Zusammenführung in Form eines dritten Ansatzes, die die praxeologische

Erkenntnisweise genannt werden kann (vgl. Janning 1991: 26).

Diese praxeologische Erkenntnisweise ist um die Begriffstriade Struktur-

Habitus-Praxis aufgebaut. Dieses dreifache Fundament sichert mit dem Begriff

der Struktur gegen den Subjektivismus ab, mit dem Praxisbegriff gegen den

Objektivismus und mit dem Habitusbegriff gegen jeglichen einfach mechani-

schen Determinismus. Denn mit dem Habitusbegriff versucht Bourdieu

zugleich die Reduktionismen des Objektivismus, der das Handeln unmittelbar

aus materiellen Bedingungen, und des Subjektivismus, der es aus dem Bewußt-

sein, einer Idee oder Absicht ableitet, zu vermeiden (vgl. Steinrücke 1988: 93,

Burkart 1984: 10).

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Eine Bestimmung seiner Vorgehensweise bietet Bourdieu bereits in seinen

früheren Schriften an:

„Gegenstand der Erkenntnisweise, die wir praxeologische nennen wollen,

ist nicht allein das von der objektivistischen Erkenntnisweise entworfene

System der objektiven Relationen, sondern des weiteren die dialektischen

Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturie r-

ten Dispositionen, die diese zu aktualisieren und zu reproduzieren trach-

ten.“ (Bourdieu 1976: 147)

Wie erwähnt, ist es angemessener, bei Bourdieu von einem Zusammenführen

der Antinomie von Objektivismus und Subjektivismus als von einer Auflösung

der Gegensätze zu sprechen. Bourdieu bedient sich in seinen Arbeiten glei-

chermaßen strukturalistischer als auch konstruktivistischer Ansätze. Die Frage

dabei ist, ob Bourdieu beide Konzepte zu gleichen Anteilen einbezieht oder ob

auf einem ein Schwergewicht liegt. Einige Autoren argumentieren, daß Bour-

dieus wissenschaftliche Verankerung im Strukturalismus11 bei aller relativie-

renden Distanzierung unübersehbar sei, was in Stichworten wie Symbolische

Realität, Struktur als soziales Unbewußtes oder Denken in Relationen Aus-

druck finde (vgl. z.B. Burkart 1984).

Die Fragestellungen des praxeologischen Ansatzes münden in dem erkenntnis-

und wissenschaftstheoretischen Problem der Wertgebundenheit sozialwissen-

schaftlicher Aussagen und in der Frage nach der Position der Sozialwissen-

schaften in gesamtgesellschaftlichen Prozessen. Bourdieu insistiert auf der

Notwendigkeit, die soziale Position derjenigen zu bestimmen, die Gesellschaft

beschreiben. Denn das Deutungsmonopol gesellschaftlicher Zusammenhänge

liegt bei einer kleinen, der herrschenden Klasse zuzurechnenden Gruppe, den

Intellektuellen. Die Frage, die sich daraus ableitet, lautet: Wie entkommt die

Klassenanalyse dem Problem, selbst einem Klassenhabitus entsprungen zu

sein. Die Lösung dieses Problems rückt in weite Ferne, wenn sich Intellektuelle

11 Bourdieu begann seine ethnologischen Studien auf der Basis des Strukturalismus von Lévi-

Strauss, ehe er erst nach und nach mit dem Auftreten von Schwierigkeiten sein eigenes Kon-

zept entwickelte (zu Bourdieus biographischen Hintergrund und wissenschaftlichen Weg vgl.

Bourdieu 1986, Schmeiser 1986).

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ihrer eigenen Position nicht bewußt sind und dem Mythos des freien Intellektu-

ellen anhängen, der über jedweder Form von Macht und Herrschaft steht.

„Sehr oft werden die Kämpfe innerhalb dieses Mikrokosmos [gemeint:

der Mikrokosmos der Intellektuellen, C.S.] von den Intellektuellen mit

den Kämpfen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene verwechselt, wird

der Glaube genährt, als stünden die Auseinandersetzungen zwischen in-

tellektuellen Außenseitern und bürgerlichen Intellektuellen zwangsläufig

in engstem Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen Pro-

letariat und Bourgeoisie.“ (Bourdieu 1982b: 41)

Sozialwissenschaftliches Wissen ist immer Teil einer intellektuellen Kultur, es

ist selbst ein Mechanismus der Reproduktion der Klassenstruktur moderner

Gesellschaften geworden. Die Bewußtwerdung dieses Sachverhalts ist für

Bourdieu dabei der einzige Schritt, um auf diesen Mechanismus einwirken zu

können. Dem Ziel der relativen Freiheit in der wissenschaftlichen Arbeit wird

sich angenähert, indem sich die Sozialwissenschaft eine Doppelfunktion zur

Aufgabe macht: Wissenschaft liefert Wissen und analysiert sich selbst dabei

mit.

Mit seiner Vorgehensweise stellt Bourdieu an die Stelle der philosophischen

Begründung die soziologische Entzauberung. Demnach betreibt Bourdieu So-

ziologie gleichzeitig als Beschreibung der sozialen Realität und als Aufde-

ckung von Illusionen über die Realität. In dieser Kritik der gesellschaftlichen

Illusionen sieht Bourdieu einen Grund für Kritik an seinem Werk, die seines

Erachtens jedoch nicht mehr als einen Abwehrmechanismus darstellt.

„Die beharrlich wiederkehrenden, durch kein Dementi und keine Wider-

legung zu brechenden Mißverständnisse, denen mein Werk ausgesetzt ist,

die konstanten, in einem banalen Sinn repetitiven und bisweilen auch ad

hominem geführten Attacken, die es auf mich zieht, und dies zu einer

Zeit, da die ´kritischsten´ Denker gewogene Kommentare erfahren – dies

alles muß einen Grund haben. Einen möchte ich mit Verlaub anführen:

Die philosophische Tradition und ihren Anspruch, den Common sense in

Frage zu stellen, bis in ihre letzten logischen Konsequenzen treibend, ha-

be ich die wissenschaftlich erworbenen Objektivierungsinstrumente ge-

gen den wissenschaftlichen Common sense, die intellektuelle Doxa und

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die Welt der Intellektuellen selbst gerichtet, eine Welt, die noch die kr i-

tischsten Kritiker gemeinhin unangetastet lassen, mit Ausnahme vie l-

leicht eines Karl Kraus, dessen Provokationen teilweise regelrechten so-

ziologischen Experimenten entsprachen, mit denen sich die scheinbar e-

videnteste Interesselosigkeit und Uneigennützigkeit demaskieren ließ.“

(Bourdieu 1993: 7)

Bourdieus Soziologie selbst ist als größtenteils analytisch beschreibend zu cha-

rakterisieren und durch das Bemühen um größtmögliche Wertfreiheit geprägt.

Kritisch ist seine Arbeit durch die Aufdeckung von wertgebundenen Illusionen

bei der Betrachtung gesellschaftlicher Verhältnisse. Gleichzeitig resultiert aus

der Kritik klassenspezifischer Sichtweisen auf die soziale Welt eine Vorsicht

Bourdieus gegenüber eigenen Bewertungen. Damit hängt das Fehlen von nähe-

ren Ausführungen zu der Frage, worin sein eigenes Erkenntnisinteresse eigent-

lich besteht, zusammen. Einer Bewertung gesellschaftlicher Verhältnisse wird

sich entzogen, was zur Folge hat, daß z.B. die Trägheit sozialen Wandels ohne

die durchaus interessante Frage nach Möglichkeiten der Auflösung der tenden-

ziell immer gleichen Reproduktion der Klassenstruktur thematisiert wird. Seine

Vorstellung von Gesellschaftskritik deutet Bourdieu in einem Interview an.

Darin ordnet sich Bourdieu selbst der kritischen Philosophie zu, fügt jedoch

differenzierend hinzu:

„Zu ihrer wirklichen Stärke gelangt Kritik meiner Überzeugung nach

nicht durch eine ´Kritik der Waffen´, sondern durch die ´Waffen der Kri-

tik´ (...).“ (Bourdieu 1982b: 42)

Bourdieus Verständnis von Kritik lehnt eine allgemeine, abstrakt philosophi-

sche Gesellschaftskritik ab und macht eine gründliche, auf alle Instrumentarien

der Sozialwissenschaften zurückgreifende Soziologie stark. So entstehen Bour-

dieus theoretische Konzepte in der empirischen Arbeit und werden dort modi-

fiziert, revidiert und weiterentwickelt. Erst im nachhinein lassen sich dann sys-

tematische Ausführungen etwa zum Habitus oder zum Klassenbegriff finden.

Bourdieu geht nicht mit einem ausgearbeiteten theoretischen Konzept an die

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Realität heran, um dann in einer empirischen Untersuchung seine Stimmigkeit

und Gültigkeit zu prüfen.

„Meine originellsten theoretischen Gedanken (...) sind mir in der Praxis

gekommen, beim Codieren eines Fragebogens etwa.“ (Bourdieu 1882a:

44)

So fruchtbar diese Vorgehensweise auch ist, warum Bourdieu eine Dualität von

Arten der Kritik aufmacht, ist schwer verständlich. Können doch die „Waffen

der Kritik“, was hier als „Macht der Kritik“ interpretiert wird, in eine „Kritik

der Waffen“, d.h. „Kritik der Macht (-verhältnisse)“, münden.

2.3 Zusammenfassung und Bewertung

Scheinbar trivial, doch gleichzeitig von großer Wichtigkeit ist die Feststellung,

daß sich gesellschaftliche Institutionen nicht von allein reproduzieren. Dazu

bedarf es der Menschen, die durch ihre Praxis die Institutionen am Leben

erhalten oder verändern.

Das Konzept Bourdieus sieht sich regelmäßig dem Vorwurf des Determinis-

mus ausgesetzt. Es wird kritisiert, daß der durch gesellschaftliche Verhältnisse

geprägte Habitus nicht über seine eigene Genese hinausgehen kann und des-

halb nur die ihm zugrunde liegende Struktur reproduzieren wird, was den sozi-

alen Wandel von Gesellschaften nahezu ausschließt.

Diese Kritik kommt nicht von ungefähr. Bourdieu zeigt, daß sich ein Mensch

mit dem durch ein bestimmtes Feld geprägten Habitus in diesem Feld, welches

ihn geprägt hat, in einer für ihn selbstverständlichen Weise bewegt. Bewegt

sich das Individuum in dieser Welt, dann tut es dies wie ein „Fisch im Wasser“

(vgl. Bourdieu 1996: 161) und wird dementsprechend tendenziell das Feld in

der Weise reproduzieren, wie es sich ihm während der Zeit seiner Prägung prä-

sentierte.

Vereinfacht ist der Reproduktionsprozeß bei Bourdieu in der Begriffstriade

Struktur-Habitus-Praxis zu fassen. Eine Struktur prägt bestimmte Dispositionen

(Habitus) aus, die zu praktischen Handlungen und einer strategischen Praxis

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führen, die dazu neigen, die ursprüngliche Struktur wiederherzustellen. Von

daher ist Hans-Peter Müller durchaus zuzustimmen, wenn er sagt, daß Prozesse

der Neuschöpfung von Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen in wie

immer gearteten Formen intersubjektiver Kommunikation, Prozesse der be-

wußt-willentlichen Entgegensetzung und Nonkonformität, weitgehend außer-

halb der theoretischen Reichweite dieses Konzepts liegen (vgl. Müller 1986:

163).

In diesem Zusammenhang sollte jedoch kein ewiger Kreislauf erkannt werden,

der quasi automatisch gesellschaftliche Verhältnisse reproduziert. Der Mecha-

nismus gesellschaftlicher Reproduktion darf nicht als ein mechanischer ver-

standen werden.

„Da er [gemeint: der Habitus, C.S.] ein erworbenes System von Erzeu-

gungsschemata ist, können mit dem Habitus alle Gedanken, Wahrneh-

mungen und Handlungen, und nur diese, frei hervorgebracht werden, die

innerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen seiner eigenen Her-

vorbringung liegen. Über den Habitus regiert die Struktur, die ihn erzeugt

hat, die Praxis und zwar nicht in den Gleisen eines mechanischen Dete r-

minismus, sondern über die Einschränkungen und Grenzen, die seinen

Erfindungen von vornherein gesetzt sind.“ (Bourdieu 1987: 102 f.)

Der Habitus als ein System von Dispositionen gibt zwar den Horizont von

Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata vor, doch innerhalb dieser

Grenzen kann der Habitus durch eigene Erfahrungen ausgestaltet werden. Es

herrscht also eine „relative Freiheit“. Würde diese „relative Freiheit“ des Ind i-

viduums nicht mitgedacht, so wäre die ungestörte Reproduktion des Sozialen

tatsächlich realisiert. Bourdieu betrachtet zwar die Möglichkeiten für soziale

Umbrüche skeptisch und gibt tendenziell der Trägheit sozialer Strukturen den

Vorzug12, von einer bruchlosen Identität von Habitus und Struktur kann bei

Bourdieu jedoch nicht ausgegangen werden (vgl. Raphael 1987: 158). Die Fra-

ge des sozialen Wandels, aber auch die der revolutionären Umwälzung gesell-

12 Die Trägheit und das Beharrungsvermögen, welches im Habituskonzept enthalten ist, be-

zeichnet Bourdieu als „Hysteresis -Effekt“ (vgl. Bourdieu 1982a: 238).

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schaftlicher Verhältnisse wird im folgenden Kapitel im Abschnitt 3.2.3 Klas-

senbewußtsein und Klassenkampf erneut aufgegriffen und näher thematisiert.

Gegen eine einfache Determinismuskritik steht Bourdieus Theorem der ständ i-

gen Auseinandersetzungen im sozialen Raum. Die den sozialen Raum prägen-

den Aktionen der Individuen sind auf den ständigen Kampf um die Positionen

im Feld ausgerichtet. Menschen setzen sich so immer wieder neu mit dem sta-

tus quo auseinander. Im Abschnitt 3.2.2 Die ökonomische Basis und ihre Wir-

kungen auf Individuen und Kultur wird das Verhältnis von Struktur und Praxis

bei Bourdieu und damit im weitesten Sinne das Verhältnis von Gesellschaft

und Individuum mit dem Marxschen Basis-Überbau-Schema in Verbindung

gebracht und eingehender betrachtet werden.

Durch die Betonung der zentralen Bedeutung von Auseinandersetzung für die

Struktur der Gesellschaft legt Bourdieu seine Theorie als eine Konflikttheorie

an. Dabei sind die Kämpfe im sozialen Raum nicht vollständig auf ökonomi-

sche Klassenkämpfe reduzierbar. Neben dem Kampf um die Verteilung von

Gütern existieren Auseinandersetzungen um die Wertigkeit der einzelnen Kapi-

talarten, die ihren Ausdruck in symbolischen Kämpfen um „richtige“ Werte

und Lebensstile finden.

Aus den Konstruktionsleistungen der Individuen ergeben sich wichtige Konse-

quenzen für die Sozialstrukturanalyse. Der Ausgangspunkt für eine Klassen-

konstitution nach Bourdieu sind objektive Strukturen, die sich aus der unglei-

chen Verteilung der verschiedenen Kapitalarten ergeben. Ausgehend von den

daraus resultierenden Positionen der Individuen im sozialen Raum lassen sich

Klassen konstruieren. Doch diese sind für Bourdieu nur „Klassen auf dem Pa-

pier“, die lediglich ein Produkt von Theorie sind. Sie sind für Bourdieu streng-

genommen nur wahrscheinliche Klassen (Vgl. Bourdieu 1985: 12, Eder 1989a:

20). Der analytische Status des Begriffs Klasse besteht darin, ein „Modell“

sozialer Realität zu sein. Die soziale Welt erhält jedoch ihr spezifisches Gesicht

durch die soziale Praxis. Und das Klassenverhältnis entsteht dementsprechend

erst durch die klassifikatorische Praxis der Individuen oder Gruppen. Zu er-

kennen, wie eine theoretisch konstruierte Klassenstruktur reproduziert wird,

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erfordert deshalb einen Schritt über die bloße sozialstrukturelle Analyse hinaus.

Zu klären ist, wie die verschiedenen Merkmale in der sozialen Praxis miteinan-

der verbunden werden. Die Vorstellung, eine theoretisch konstruierte Klasse

müsse einer realen Gruppe entsprechen, wird damit beseitigt.

Die Ausweitung der für das Klassenverhältnis relevanten Kapitalarten und das

Konzept des Feldes machen es Bourdieu möglich, verschiedene Fraktionen der

herrschenden Klassen mit jeweils feldimmanenten Logiken zu konstruieren.

Die einzelnen Untersuchungen Bourdieus zu den Fraktionen der herrschenden

Klasse bedürfen jedoch der Konkretisierungen zur Frage der Macht und der

Herrschaft. Wenn Bourdieu z.B. Kunstproduzenten, Bischöfe oder Hochschul-

lehrer zur herrschenden Klasse zählt, so ist diese Zuweisung keinesfalls selbst-

erklärend. Es stellt sich die Frage, welche Mechanismen bewirken, daß diese

Gruppen zur herrschenden Klasse zu zählen sind. Näherzukommen ist dieser

Fragestellung durch das Konzept der symbolischen Macht. Bourdieu zeigt die

symbolische Macht dieser Gruppen auf, er zeigt ihren Sinn für Distinktion und

ihre Nähe zu der ökonomisch starken Fraktion der herrschenden Klasse. Es

bleibt jedoch die Frage, worauf sich diese Macht begründet und in welchem

Verhältnis sie zum ökonomischen Kapital steht. Eine Auseinandersetzung mit

diesem wichtigen Aspekt der Bourdieuschen Theorie wird im folgenden Kapi-

tel stattfinden, nämlich im Abschnitt 3.2.1 Kapitalbegriff und Kapitalarten.

Auffällig in Bourdieus Texten ist die nicht immer eindeutige Verwendung der

Terminologien. Nicht nur, daß „Gruppe“, „Fraktion“ und „Feld“ immer wieder

als Synonyme verwendet werden (z.B. vgl. Bourdieu 1982a: 216), zudem hin-

terläßt auch der Gebrauch des Begriffs „Klasse“ Irritationen. Bourdieu spricht

z.B. in einem Modell, welches von drei Hauptklassen ausgeht, von höheren

Klassen, aber nur von einer herrschenden Klasse. Eine daraus resultierende

Unklarheit besteht in der Frage, von wievielen Klassen Bourdieu überhaupt

ausgeht13. So schreibt dann auch Krais:

13 Aus dieser Unklarheit resultiert dann z.B. der unglückliche Versuch von Martin Herz, eine

Quantifizierung von Klassen bei Bourdieu vorzunehmen. In Bezug auf eine Tabelle aus den

Feinen Unterschieden (vgl. Bourdieu 1982a: 788 f.) vertritt er in seiner Dissertation die Auf-

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„Er [gemeint: Bourdieu, C.S.] spricht vom Kleinbürgertum als einer

Klasse, von den Bauern, von den ´classes populaires´, von der herrschen-

den Klasse und der herrschenden Fraktion der herrschenden Klasse, ohne

diese vorgängig gegeneinander abzugrenzen.“ (Krais 1983: 215)

3. Pierre Bourdieu vor dem Hintergrund

von Karl Marx

Bis heute übt der „klassische“ Klassenbegriff von Marx prägende Kraft auf die

Diskussion um die Frage der Klassengesellschaft aus. Immer noch knüpfen

zahlreiche Autoren für das Verständnis über Klassen an die Ausführungen von

Marx an. Wer vom Klassenbegriff spricht, der kann auch heute nur schwerlich

von Marx schweigen. Und so drängt sich mit der Verwendung des Klassenbeg-

riffs durch Bourdieu auch eine Verhältnisbestimmung der Bourdieuschen und

der Marxschen Klassentheorie auf.

Der Abschnitt 3.1 Klassenanalyse bei Marx soll die Grundlage schaffen, von

der aus ein Vergleich mit Bourdieu möglich wird. Unter 3.1.1 Eine kurze Ein-

führung in die Klassentheorie werden einige wichtige Grundzüge dargestellt,

die später für die Gegenüberstellung mit Bourdieu wichtig werden. Der unge-

heuren Komplexität des Marxschen Werkes kann mit der Ausführung auf we-

nigen Seiten nicht Rechnung getragen werden, was einige Verkürzungen der

Marxschen Argumentation nach sich zieht. Mit Punkt 3.1.2 Einige der häufigs-

ten Kritikpunkte an der Marxschen Klassentheorie wird zum einen durch die

Konfrontation mit Kritik das Verständnis für Marx geschärft. Zum anderen

fassung, daß das Bourdieusche Drei-Klassen-Schema sich in weitere 28 statistische Klassen

differenziere (vgl. Herz 1994: 103). Unglücklich ist dieser Versuch einer Quantifizierung des-

halb, da die genannte Tabelle über die Hauptmerkmale der Stichprobe Auskunft gibt und somit

eine Operationalisierung für die empirischen Untersuchungen darstellt. In Bourdieus Texten

selbst lassen sich jedoch keine Hinweise finden, daß er genau von 28 Klassen ausgeht.

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werden Problematiken des Marxschen Konzepts aufgeworfen, die für die Ge-

genüberstellung wichtig werden, wenn überprüft wird, ob berechtigte Kritiken

an Marx auch auf das Bourdieusche Klassenmodell zutreffend sind.

Marx und Bourdieu werden verglichen, um herauszufinden, wo Gemeinsam-

keiten und wo Unterschiede, aber vor allem, wo Vorzüge und Schwächen der

beiden Konzepte liegen. Um die Gegenüberstellung zu begrenzen, konzentriert

sich die Beschäftigung mit den Klassenbegriffen von Bourdieu und Marx auf

drei Dimensionen. Zum einen werden die unterschiedlichen Auffassungen von

Kapital, zum anderen das Verhältnis von (marxistisch gesprochen) Basis und

Überbau und die Frage nach Klassenbewußtsein und Klassenkampf diskutiert.

Es wird dargelegt, daß Bourdieu zum einen einige Gemeinsamkeiten aufweist

und damit durchaus in der Tradition des Klassenbegriffs steht, er gleichzeitig

Grundlagen von Marx nicht übernimmt und dem Begriff eine neue Wendung

verleiht, so daß ein großer Teil der Kritik an Marx für Bourdieu nicht mehr

zutreffend ist. Die Veränderung des Marxschen Klassenbegriffs kann dabei

nicht einseitig als Erweiterung interpretiert werden, weil zugleich zentrale

Marxsche Elemente bei Bourdieu verloren gehen.

3.1 Klassenanalyse bei Marx

Der Versuch der bloßen Wiedergabe der Marxschen Klassenanalyse ist nicht

unproblematisch. Ritsert vertritt die Auffassung, den Marxschen Klassenbeg-

riff gebe es nicht, lediglich zahllose über sein Werk verstreute Textstellen, in

denen Marx den Klassenbegriff verwende (vgl. Ritsert 1998: 58). In der Tat hat

Marx eine ausgearbeitete Klassentheorie nicht hinterlassen. Er widmete erst

das 52. Kapitel im dritten Band des „Kapitals“ explizit den Klassen, vollenden

konnte Marx indes dieses Kapitel nicht mehr. Jedoch wurde die Klassenanalyse

von Marx nicht als ein isoliertes Thema behandelt, sondern wurde in seine Ka-

pitalismusanalyse eingebettet. Demnach hat ein Großteil der Marxschen Schrif-

ten Relevanz für die Klassenanalyse, auch wenn nicht explizit von Klassen die

Rede ist. Die Verwendung des Klassenbegriffes durch Marx bezeichnet Gid-

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dens als „einfach nachlässig“ (vgl. Giddens 1979: 31). So verweist Giddens auf

synonyme Verwendungen der Begriffe Klasse, Schicht oder Stand. Marx be-

zeichnet als eine Klasse die Gruppe, die im gleichen Verhältnis zu den Produk-

tionsmitteln steht, weist aber auf der anderen Seite darauf hin, daß sich eine

Klasse erst im gemeinschaftlichen Handeln realisiert. Hinzu kommt, daß Marx

im „Kommunistischen Manifest“ ein dichotomes Zwei-Klassen-Modell ent-

wirft (vgl. Marx/Engels 1972), während z.B. im „18. Brumaire“ eine Vielfalt

von Klassen beschrieben wird (vgl. Marx 1973b). Aus dieser Problematik re-

sultiert die sinnvolle Unterscheidung zwischen einem abstrakten (reinen), alle

Typen von Klassensystemen umfassenden und einem konkreten (politischen),

die Klassenmerkmale bestimmter Gesellschaften beschreibenden Modell der

Klassen.

Die Diskussionsgrundlage dieses Kapitels besteht im abstrakten Modell der

Klassen, weshalb zunächst das Kunststück versucht wird, Marx dichotomes

Zwei-Klassen-Modell auf wenigen Seiten in seinen Grundzügen vorzustellen.

3.1.1 Eine kurze Einführung in die Klassentheorie

Marx betrachtet die bisherige Menschheitsgeschichte als Abfolge von Klassen-

gesellschaften14, in denen sich jeweils eine Minderheit Reichtum aneignen

konnte, während die Mehrheit nur über die zu ihrer Reproduktion nötigen Mit-

tel verfügte, also mehr oder minder in Armut lebte. Jede geschichtliche Epoche

war nach seiner Auffassung durch eine spezifische Produktionsweise gekenn-

zeichnet, der ihrerseits eine jeweils spezifische Machtkonstellation zugrunde

lag. Diese Machtkonstellation wiederum zeichnete sich dadurch aus, daß sich

eine ökonomisch herrschende Klasse in ständigem, offenem oder verborgenem

Konflikt mit einer anderen, unterdrückten Klasse befand. Beide Klassen stell-

14 Marx geht allerdings davon aus, daß menschliche Gesellschaften in ihrer primitiven Form

klassenlos waren. „In den ursprünglichen Gemeinwesen, wo naturwüchsiger Kommunismus

herrscht“ (Marx 1973c, MEW 25: 839), war das vorhandene Eigentum noch vergesellschaftet,

die Produktionsweise war charakterisiert durch eine sehr geringe Arbeitsteilung.

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ten somit komplementäre Seiten eines Produktionsverhältnisses dar, welches

den Reichtum weniger auf Kosten der Mehrheit erzeugt (vgl. Marx/Engels

1972).

Sein Interesse richtet Marx vor allem auf die moderne kapitalistische Gesell-

schaft, die mit der industriellen Revolution im Entstehen war. Marx macht es

sich zur Aufgabe, die der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise

innewohnenden Gesetzmäßigkeiten aufzudecken.

Marx erkennt durchaus die Differenziertheit der modernen Gesellschaft, postu-

liert jedoch in ökonomischer Hinsicht zwei Hauptklassen. Auf der einen Seite

gibt es Menschen, die weder über die Produktionsmittel, noch über das von

ihnen geschaffene Produkt verfügen können, sondern mangels Handlungsalter-

nativen darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft gegen Lohn zu verkaufen.

Entscheidend ist hierbei, daß die von den Arbeitern erzeugten Produkte nicht

diesen gehören, sondern den Arbeitgebern. Auf der anderen Seite steht eine

Gruppe von Menschen, die über Eigentum an Produktionsmitteln verfügen und

deshalb in der Lage sind, arbeiten zu lassen und sich Mehrwert anzueignen. Im

Ergebnis bewirkt dies eine Vermehrung von Eigentum, d.h. Eigentum fungiert

als Kapital. Die Kapitalisten üben eine Kommandogewalt über die Arbeit(er)

aus, können also bestimmen, wie gearbeitet wird oder welche Produkte herge-

stellt werden. Die Grundbeziehung zwischen diesen beiden Klassen basiert in

der kapitalistischen Gesellschaftsformation auf dem Gegensatz von Kapital und

Arbeit. Die Besitzer des Kapitals bezahlen den Arbeitern Löhne für eine ver-

einbarte Zahl von Arbeitsstunden, nicht für die erstellten Produkte. Die Ar-

beitsprodukte der Arbeiter eignen sich in diesem Prozeß die Kapitalisten an

(vgl. Marx 1973a, Herz 1983: 20 f.).

Der Arbeitswertlehre zufolge ist der Wert einer Ware durch die für deren Er-

zeugung aufgewendete Menge an Arbeit bestimmt. Oder genauer gesagt, der

Wert von Waren ist durch die zu ihrer Produktion notwendige gesellschaftliche

Durchschnittsarbeitszeit bestimmt, die ihrerseits vom Grad der Produktivität

der Arbeit abhängt. Arbeit ist demnach Quelle des Werts, die Arbeitszeit Maß

des Werts. Das Gemeinsame der vielen verschiedenen Waren, die Resultat ei-

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nes Arbeitsprozesses sind, ist abstrakte Arbeit. Beim Austausch von Waren

werden die jeweiligen Arbeitsquanten verglichen, die in den Waren vergegens-

tändlicht sind. Die Waren werden auf dem Markt einem gesellschaftlichen

Vergleich unterzogen, nämlich inwiefern der Produktionsaufwand gesellschaft-

lich notwendige Arbeit darstellt. Die Frage, wie es um die Austauschbarkeit

der Ware gegen Geld steht, erfährt dort eine praktische Antwort. Der

Tauschwert (nicht der Gebrauchswert) wird also per Konkurrenz ermittelt und

ist damit eine gesellschaftliche Größe (vgl. Marx 1973a).

Das Verhältnis von Arbeit und Wert läßt sich nach Marx folgendermaßen zu-

sammenfassen: Geldbesitzer kaufen die Quelle des Werts, nämlich lebendige

Arbeit, organisieren eine Mehrwertproduktion und vermehren dadurch ihr Ei-

gentum. Ihr investiertes Geld fungiert somit als Kapital, aus Geld wird mehr

Geld. Die Vermehrung von abstraktem Reichtum ist Inhalt und Zweck des

ganzen wirtschaftlichen Prozesses, die Herstellung von Gebrauchswerten spielt

dabei nur die Rolle eines Mittels. Für die Arbeiter ergibt sich folgende Situati-

on: Ihre Arbeit schafft zwar Wert, aber nicht für sie, vermehrt wird fremdes

Eigentum. Mit dem Begriff der Entfremdung deutet Marx auf den Umstand

hin, daß im Kapitalismus die Arbeitnehmer keine Kontrolle über Ziele und

Methoden des Arbeitsprozesses haben, weil sie durch das Eigentum von den

Produktionsmitteln getrennt sind.

Grundlegend und von wesentlicher Bedeutung bei der Konstitution von Klas-

sen ist die Eigentumsfrage. Es geht aber nicht um den Besitz von passivem

Eigentum in Form privaten Vermögens, sondern um den Besitz von fungieren-

dem Privateigentum. Es zählen auch nicht die Einkommensquellen der Indivi-

duen15, sondern die Verfügungsgewalt über Produktionsmittel. Die Stellung

des einzelnen zum fungierenden Privateigentum konstituiert seine Stellung in

den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen. Das Eigentum an Produkti-

onsmitteln schafft wirtschaftliche Macht, und diese wirtschaftliche Macht ist

gleichbedeutend mit politischer Macht, weshalb für Marx die Herrschaftsver-

15 Marx weist auf die unzähligen Klassen hin, würde man Einkommen als klassenkonstituie-

rend annehmen (vgl. Marx 1973c, MEW 25: 893).

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hältnisse innerhalb der Produktion über Herrschaftsverhältnisse innerhalb der

Gesellschaft Auskunft geben. Der Antagonismus „Ausbeuter versus Ausgebeu-

tete“ in der ökonomischen Sphäre ist folglich identisch mit dem Antagonismus

„Unterdrücker versus Unterdrückte“ in der politischen Sphäre. Aus der Positi-

on des einzelnen in diesen Produktions- und Herrschaftsverhältnissen bildet

sich die sozio-ökonomische Situation oder auch Klassenlage heraus. Der Beg-

riff der Klassenlage meint die materielle Lebenssituation des Individuums, sei

es auf der einen Seite die des Herrn, des Kapitalisten, der reich und gesichert

lebt, oder auf der anderen Seite die des Knechts, des Proletariers, der in

schlechten Lebensverhältnissen kaum genug zum Leben besitzt (vgl. Mauke

1970: 14, Dahrendorf 1957: 10 f.).

Zentral für die Marxsche Klassentheorie ist der Umstand, daß die Arbeiter in

der Produktion einen Wert schaffen, der ihren Lohn übersteigt, den so genann-

ten Mehrwert. Der Mehrwert wird auf der Basis der Tatsache erklärt, daß, da

die Arbeitskraft des Arbeiters eine Ware ist, ihre „Produktionskosten“ wie die

jeder anderen Ware berechnet werden können. Diese Produktionskosten er-

rechnen sich aus dem, was es kostet, den Arbeiter mit ausreichend Einkommen

auszustatten, das ihm erlaubt, zu produzieren und sich zu reproduzieren.

„Die Differenz zwischen diesen Kosten und dem von dem Arbeiter ge-

schaffenen Gesamtwert ist die Quelle des Mehrwerts.“ (Giddens 1979:

38)

Demnach ist der Arbeitstag eines Lohnarbeiters logisch in zwei Teile zu unter-

scheiden. Im ersten Teil erarbeitet der Arbeiter den Wert seines eigenen Loh-

nes, im zweiten Teil leistet der Arbeiter Mehrarbeit und produziert den Mehr-

wert, d.h. den Gewinn, der später durch den Verkauf der Waren auf dem Markt

realisiert wird16. Dieser Mehrwert, d.h. die im Mehrprodukt vergegenständlich-

te Mehrarbeit des Lohnarbeiters, bildet die Quelle des Reichtums der bürgerli-

16 Zur Steigerung des Mehrwerts kommen zwei Methoden in Betracht: Einmal die Verlänge-

rung des Arbeitstages und damit die Verlängerung der Mehrarbeitszeit (absoluter Mehrwert),

zum anderen die Verausgabung von mehr Arbeit bei gegebenem Arbeitstag (relativer Mehr-

wert), z.B. durch Erhöhung der Produktivität (Verkürzung von Leerzeiten, technische Innova-

tionen, usw.).

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chen Klasse, da der Mehrwert durch die Eigentümer der Produktionsmittel an-

geeignet wird.

Seine Bedeutung für die Klassenanalyse erhält das Mehrprodukt aufgrund sei-

ner ungleichen Verteilung. Die Aneignung unbezahlter fremder Arbeit wird

durch den Begriff der Ausbeutung erfaßt.

„Ausbeutung heißt (...), daß sich eine Klasse durch verschiedene Mecha-

nismen die Mehrarbeit einer anderen Klasse aneignet.“ (Wright 1985: 39)

Die Industriearbeiter sind gezwungen, ihre Arbeitskraft gegen Lohn zu verkau-

fen. Die Kapitalisten zahlen nur existenzerhaltende Löhne und akkumulieren

den Mehrwert. Der unterdrückten Klasse wird das Mehrprodukt, je nach Macht

der herrschenden Klasse, vom Arbeitsergebnis abgezogen. Ausbeutung impli-

ziert damit eine Kausalität zwischen dem Reichtum der einen Klasse und der

Armut der anderen, worauf Marx schließlich einen Interessenwiderspruch der

Akteure zurückführt (vgl. Marx 1973a: 415).

Das Verhältnis von Ausbeutung und Herrschaft ist verkürzt auf die Formel zu

bringen: Ausbeutung läßt sich nicht ohne Herrschaftsverhältnisse denken,

Herrschaft kann jedoch ohne den Sachverhalt der Ausbeutung auftreten. Max

Weber sieht Herrschaft als die Chance, für einen Befehl bei angebbaren Perso-

nen Gehorsam zu finden (vgl. Weber 1976: 28). Diese Form der Herrschaft ist

z.B. beim Umgang mit Schutzbefohlenen zu finden, ein Ausbeutungsverhältnis

liegt in diesen Fällen jedoch nicht vor. Die Ausbeutung innerhalb des kapitalis-

tischen Produktionsprozesses ist dagegen verknüpft mit einem Herrschaftsver-

hältnis der ausbeutenden Klasse gegenüber der ausgebeuteten. Denn wenn

Klassen in bezug auf die Formen der Kontrolle über die privilegierte Aneig-

nung und Verwendung des Mehrprodukts bzw. der Mehrarbeit zu charakteri-

sieren sind (vgl. Teschner 1989: 2), dann ist klar, daß diese Kontrolle über die

Aneignung des Mehrprodukts über Macht- und Herrschaftsverhältnisse abgesi-

chert werden muß.

Neben dem Verhältnis von Ausbeutung und Herrschaft ist ein weiterer erklä-

rungsbedürftiger Punkt das Verhältnis von Ausbeutung und dem Privateigen-

tum an Produktionsmitteln. Auch wenn die Wichtigkeit des Ausbeutungsbeg-

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riffs für das Klassenverhältnis hervorzuheben ist, gilt es zu benennen, wodurch

Ausbeutung möglich wird. An diesem Punkt sind wir bei der Aussage, daß

Verfügungsgewalt über bzw. Eigentum an Produktionsmitteln als konstituie-

rendes Moment für Klassenbildung wirkt.

„Der Hebel, um die Verfügung über Mehrarbeit und ihr Resultat, das

Mehrprodukt, zu erhalten, ist die Kontrolle über die Produktionsmittel

(Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstände). Inbegriff dieser Kontrolle ist das

Eigentum.“ (Mauke 1970: 12)

Oder um Marx selbst zu Wort kommen zu lassen:

„Aber das moderne bürgerliche Privateigentum ist der letzte und vollen-

detste Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Produkte, die auf

Klassengegensätzen, auf der Ausbeutung der einen durch die anderen be-

ruht.“ (Marx/Engels 1972: 475)

Während sich der Reichtum der besitzenden Klasse durch das rasche Wachs-

tum des Kapitals beständig vermehrt, wächst auf seiten der Arbeiter Leistungs-

druck, Arbeitshetze, Verschleiß von Gesundheit und Existenzunsicherheit. Mit

dem wachsenden Eigentum auf der einen Seite entstehen auf der anderen Seite,

gemessen an dem produzierten Reichtum, anhaltend schlechte Lebensbedin-

gungen. Der Lohn zwingt die Arbeiter, lebenslänglich für die Kapitaleigentü-

mer verfügbar zu sein, wobei allerdings weder der Lohn, noch der Arbeitsplatz

garantiert sind. Aus diesen beiden Klassenlagen, so Marx, entstehen gemein-

same Klasseninteressen, nämlich das konservative Interesse der Kapitalisten,

das auf die Bewahrung der bestehenden Produktionsverhältnisse zielt, und das

revolutionäre Interesse der Proletarier, das sich auf die Änderung der bestehe n-

den Produktionsverhältnisse richtet. Wichtig zu bemerken ist, daß für Marx das

Klasseninteresse nicht lediglich nur ein psychologisches, privat eingebildetes

ist, sondern ein objektives, das für alle gilt, die von der Verteilung des fungie-

renden Privateigentums betroffen sind. Wird das Klasseninteresse von den

Menschen erkannt und entsteht unter den Individuen ein Gemeinschafts-, ein

Wir-Gefühl, so kann von einem entwickelten Klassenbewußtsein gesprochen

werden. Dies ist der Moment, den Marx als den Übergang von der „Klasse an

sich“ zur „Klasse für sich“ bezeichnet, welcher wiederum die Klassenorganisa-

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tion oder auch Klassenbildung bewirkt. Mit Klassenbildung ist die Organisati-

on des Klasseninteresses auf einer politischen Ebene gemeint, denn eine Klasse

ist erst dann konstituiert, wenn sie in Form einer politischen Organisation in

die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen eingreift (vgl. Dahrendorf 1957:

12 f.).

„Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedin-

gungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von

denen der anderen Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstehen,

bilden sie eine Klasse. Insofern (...) die Dieselbigkeit ihrer Interessen

keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische

Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse. Sie sind daher

unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen (...) geltend zu machen.“

(Marx 1973b, MEW 8: 198)

Eine wichtige Bedingung für eine organisierte, sich ihrer selbst bewußte Arbei-

terklasse, die im revolutionären Klassenkampf die Strukturen der bürgerlichen

Gesellschaft überwindet, besteht für Marx in den aus ökonomischer Notwen-

digkeit zyklisch wiederkehrenden ökonomischen und politischen Krisen. Diese

Krisen forcieren die Widersprüche der kapitalistischen Produktion. Die Orga-

nisation des Proletariats entsteht in und durch den Prozeß der Ausbeutung und

Verelendung (vgl. Marx/Engels 1972: 467 f., Marx 1964: 9, Teschner 1987:

1790). Karl Korsch betont in diesem Zusammenhang, daß Marx und Engels

nicht von einem blind wirkenden ökonomischen Mechanismus ausgehen, son-

dern den Bezug zu der Aktion der Arbeiterklasse aufrecht erhalten (vgl. Korsch

1967: 183). Denn die Produktionsverhältnisse, die auf einer bestimmten Stufe

die Entwicklung der Produktivkräfte fesseln, sind auch die Fesseln der Arbei-

ter. Folglich werden mit der Selbstbefreiung der Arbeiter aus der Unterdrü-

ckung gleichzeitig die Produktionsverhältnisse umgewälzt (vgl. Korsch 1967:

137).

Es ist wichtig darauf hinzuweisen, daß aus der Krise des Kapitalismus nicht

automatisch der (erfolgreiche) revolutionäre Klassenkampf der Arbeiterklasse

entsteht. Die Entwicklung von der Weltwirtschaftskrise bis zum Faschismus ist

dafür ein trauriges Beispiel. Die Krisen des Kapitalismus besitzen vielmehr

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einen Doppelcharakter. Sie bieten die Möglichkeit für den Aufbau eines orga-

nisierten Klassenbewußtseins, auf der anderen Seite kann der Kapitalismus aus

der Krise gestärkt und die Arbeiterklasse geschwächt hervorgehen (vgl.

Schmiede 1973: 207 ff.).

Nach Marx markiert die Diktatur des Proletariats im Verlauf der historischen

Entwicklung nur eine Übergangsphase. Eigentliches Ziel ist die Überführung

der Produktionsmittel in die Hände der unmittelbaren Produzenten. Der als

Konsequenz aus der Bildung von Klassen folgende Klassenkampf hat die Um-

wälzung der bestehenden Produktionsverhältnisse und somit der bestehenden

Machtverhältnisse zur Folge und mündet in eine klassenlose, d.h. kommunisti-

sche Gesellschaft.

3.1.2 Einige der am häufigsten vorgebrachten Kritiken der

Marxschen Klassentheorie

Johannes Berger unterscheidet die für die Marxsche Klassentheorie typischen

Aussagen in drei große Gruppen (vgl. Berger 1998: 31):

1. Die Klassentheorie entwirft mit der Aufstellung eines Klassenschemas ein

Gesamtbild der sozialen Gliederung der Bevölkerung,

2. dieses Schema besitzt erklärende Kraft für die ungleiche Verteilung von

Gütern aller Art. Das heißt, daß Lebenslagen, Lebenschancen und Lebens-

stile klassentheoretisch aufgeschlüsselt werden können,

3. es wird beansprucht, nicht nur die Statik, sondern auch die Dynamik indus-

trieller Gesellschaften erklären zu können.

Einen großen Teil des Streits um die Klassentheorie sieht Berger in der dritten

Aussagengruppe begründet, nämlich daß Marx sagt, weil die soziale Ungleich-

heit in der modernen Gesellschaft durch und durch klassenförmig ist, ist diese

Gesellschaft instabil und wird von einer kommunistischen Gesellschaftsforma-

tion abgelöst (vgl. Berger 1998: 49). Der dynamische Aspekt der Klassentheo-

rie wird von Berger folgendermaßen zusammengefaßt: Erklärungsziel ist der

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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse der gegenwärtigen Gesellschaften Dezember 2005

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gesamtgesellschaftliche soziale Wandel. Die notwendige Bedingung für den

gesamtgesellschaftlichen Wandel ist ein zentraler, die Gesellschaft kennzeich-

nender Konflikt, der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. Eine Lösung des

Konflikts ist jedoch nur jenseits der kapitalistischen Ordnung denkbar. Wäh-

rend die Klasse der Kapitalisten an der Aufrechterhaltung der sozialen Verhält-

nisse interessiert ist, wird die Arbeiterklasse Träger des sozialen Wandels sein

(vgl. Berger 1998: 54).

Zu dem Aspekt des sozialen Wandels ist es wichtig festzustellen, daß die glei-

che Klassenlage von Menschen nicht automatisch ein gemeinsames Klassen-

handeln nach sich zieht. Wichtige Marxsche Annahmen, die dem gemeinsamen

Klassenhandeln und der daraus resultierenden Überwindung des Kapitalismus

zugrunde liegen, haben sich nicht bewahrheitet: Klassenlagen haben sich nicht

vereinheitlicht, die Klassenstruktur hat sich nicht vereinfacht und der Klassen-

gegensatz hat sich nicht vertieft. Eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein.

Die Klassenstruktur ist "pluraler" geworden, von Verelendung im Marxschen

Sinne kann nicht die Rede sein und wenn eine Besserstellung der Arbeiter in

der herrschenden Gesellschaftsordnung möglich ist, dann sind Arbeiter auch

nicht notwendigerweise revolutionär17.

Wie steht es nun mit dem von Berger identifizierten ersten Aussagenkomplex

der Klassentheorie, dem Klassenschema als einem Gesamtbild der sozialen

Gliederung?

Die Unterscheidung zwischen Eigentum und Nicht-Eigentum an Produktions-

mitteln und dementsprechend die zwischen Käufern und Verkäufern der Ware

Arbeitskraft läßt in Marx´ abstraktem Klassenmodell nur die Bildung zweier

großer Klassen zu. Es ist zu fragen, ob die in der Gesellschaft vorfindbaren

Lebenslagen durch dieses dichotome Schema angemessen zu fassen sind.

Schließlich sind im Jahr 1998 ca. 90% der Erwerbstätigen entweder Beamte,

Angestellte oder Arbeiter und damit nicht im Besitz von Produktionsmitteln

(vgl. BMBF 2000: 366).

17 Auf diesen Themenkomplex wird weiter unten im Abschnitt 3.2.3 Klassenbewußtsein und

Klassenkampf ausführlicher eingegangen.

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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse der gegenwärtigen Gesellschaften Dezember 2005

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Die Frage der Undifferenziertheit des Klassenschemas beschäftigt(e) Anhänger

wie Kritiker von Marx. In diesem Zusammenhang kommt der Problematik von

„Mittelklassen“ eine zentrale Bedeutung zu. Eine neu entstandene Mittelklasse

wie die Angestellten sei ein Zeichen dafür, daß das Zweiklassenmodell nicht

haltbar ist. Im Gegensatz zu Marx´ These, die Klassenverhältnisse würden sich

in zwei Lager polarisieren, sei heute die kapitalistische Gesellschaft stark diffe-

renziert. Vor diesem Hintergrund kamen Stimmen auf, die mit der Identifikati-

on einer großen „neuen Mittelklasse“ den Marxschen Ansatz der Klassenge-

sellschaft als widerlegt betrachten. Auf der anderen Seite stehen Theoretiker,

welche die Frage nach Mittelklassen zum Anlaß genommen haben, die Klas-

sentheorie zu erweitern. Theoretiker wie z.B. Wright betrachten die Mittelklas-

se als ein Sammelbecken widersprüchlicher Klassenlagen (vgl. Wright 1985:

36). Für Wright besteht die „neue Mittelklasse“ aus Klassenelementen, die

gleichzeitig Ausbeuter und Ausgebeutete sind. Da in Wrights erweitertem

Klassenmodell neben der Hauptressource Besitz von Produktionsmitteln weite-

re Ausbeutungsdimensionen existieren, kann ein hochqualifizierter Lohnemp-

fänger zwar durch die Besitzer von Produktionsmitteln ausgebeutet werden,

doch kann er gleichzeitig durch den Rückgriff auf seine große Qualifikations-

ressource andere Lohnabhängige ausbeuten (vgl. Wright 1985: 53). Wright

führt weiter aus, daß widersprüchliche Klassenlagen, wie dies bei der „neuen

Mittelklasse“ der Fall ist, gar nicht so neu sind. Auch zur Zeit des Feudalismus

gab es eine widersprüchliche Klassenlage, nämlich die der Bourgeoisie. Dieses

Beispiel zeigt, daß nicht nur die Polarität der beiden Hauptklassen, sondern

auch die „widersprüchliche Klasse“ für die gesellschaftliche Entwicklung von

Bedeutung ist.

Bei der Diskussion um Mittelklassen ist die Problematik zu berücksichtigen,

die in der Anwendung des abstrakten Klassenmodells auf spezifische Gesell-

schaftsformen begründet liegt. Für eine Bewertung des dichotomischen Klas-

senschemas ist die Frage von Relevanz, was das abstrakte Klassenmodell leis-

ten will und kann. Es gilt bei dem Vorwurf der Grobheit des Zweiklassenmo-

dells zu berücksichtigen, daß die abstrakte Marxsche Klassentheorie nicht den

Anspruch auf eine photografische Momentaufnahme einer Gesellschaft erhebt.

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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse der gegenwärtigen Gesellschaften Dezember 2005

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Marx legt vielmehr Wert auf die Erklärung der zentralen Kräfte innerhalb der

Gesellschaft. Die Klassentheorie ist also kein deskriptives, sondern ein analyti-

sches Modell, weshalb die Vielzahl von Differenzierungen innerhalb der Sozi-

alstruktur vernachlässigt wird. Giddens kommt deshalb zu dem Schluß, daß die

Mittelklassen im Verhältnis zu den beiden Hauptklassen stehend als Über-

gangsklassen oder Segmente der Hauptklassen existieren, Abstriche am abs-

trakten Konzept des dichotomischen Klassenschemas jedoch nicht erforderlich

machen (vgl. Giddens 1979: 35)18.

Dahrendorf richtet seine Kritik gegen Marx´ Auffassung, das fungierende Ei-

gentum als den grundlegenden Anstoß für die Klassenbildung anzusehen (vgl.

Dahrendorf 1957: 18 ff.). Er gibt zu bedenken, daß Herrschaftsverhältnisse

nicht ausschließlich ein Sonderfall von Privateigentumsverhältnissen sind. In

Marx´ Theorie folgen die Herrschaftsverhältnisse aus der An- oder Abwesen-

heit des fungierenden Privateigentums. Da Herrschaft auch ohne Besitz an

Produktionsmitteln ausgeübt werden kann, fallen wirtschaftliche und politische

Konflikte nicht notwendigerweise zusammen. Dahrendorf formuliert die The-

se, daß die Sozialverhältnisse der Industrie nicht mehr die gesamte Gesellschaft

beherrschen, sondern in ihrem Einfluß größtenteils auf den Bereich der Indust-

rie beschränkt bleiben (vgl. Dahrendorf 1957: 234 f.). Bottomore stellt gegen

dieses Argument Befunde verschiedener empirischer Arbeiten. Demnach hän-

gen die bedeutenderen politischen Auseinandersetzungen durchaus noch eng

mit industriellen Konflikten zusammen (vgl. Bottomore 1967: 32).

Die Ausführungen Daniel Bells besitzen eine andere theoretische Ausrichtung,

implizieren allerdings auch eine Kritik an der Zentralität der Eigentumsver-

hältnisse. Ein Ausgangspunkt der Bellschen Überlegungen ist die Ausdehnung

des Angestelltensektors bei gleichzeitiger Schrumpfung des „traditionellen“

Arbeitersektors. Zu dieser Entwicklung treten Informations- und Kommunika-

tionstechnologien hinzu, die Produktionsweisen und somit Gesellschaft im

Vergleich zur Marxschen Zeit verändert haben. Vor diesem Hintergrund argu-

18 Für eine ähnlich Erwiderungen auf die Kritik gegen das Zweiklassenmodell siehe auch Ge i-

ger 1949: 42 ff.

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mentiert Bell, daß das Primat der Ökonomie und des Privateigentums in der

nachindustriellen Gesellschaft, in welche wir eintreten, durch das Primat des

Wissens ersetzt werde. Diese These mündet in dem Konzept der postindustriel-

len Gesellschaft, in der Wissen das neue axiale Prinzip darstellt (vgl. Bell

1975: 36 ff.). Unbestreitbar reicht die Frage nach der Veränderung von Arbeit

in die Diskussion um die Klassengesellschaft hinein. Die Frage lautet jedoch,

ob durch diese gesellschaftliche Entwicklung der Antagonismus von Arbeit

und Kapital tatsächlich aufgehoben und durch ein neues axiales Prinzip ersetzt

wurde, oder ob der Gegensatz Wissen - Nichtwissen neben den Antagonismus

von Arbeit und Kapital getreten ist und damit das Klassenverhältnis weiter

verkompliziert hat.

Wenden wir uns abschließend dem zweiten Punkt der Bergerschen Gliederung

zu. Es handelt sich hierbei um die Frage, welche erklärende Kraft die Klassen-

theorie für den Zusammenhang von Klasse, Lebenschancen und Lebensstile

besitzt.

Mit den erweiterten Klassenkonzepten von Wright nahmen Erbslöh et al. eine

empirische Untersuchung vor, um die Klassentheorie an diesem Punkt zu über-

prüfen. Wird Einkommen als ein Indikator für Lebenslagen gewählt, so zeigt

sich, daß Einkommen unterschiedlich auf soziale Gruppen verteilt sind (vgl.

Erbslöh et al. 1990: 46 ff.). Die Frage ist nun, ob durch Klassenmodelle mehr

Einkommensvarianz erklärt werden kann als durch andere Modelle. Erbslöh et

al. berichten, daß die Variablen Alter, Schulabschluß, Geschlecht etc. weniger

Einkommensvarianz erklären als die Wrightschen Klassenmodelle. Sie räumen

gleichzeitig ein, daß die Variable „Stellung im Beruf“ ebenfalls sehr geeignet

ist (vgl. Erbslöh et al. 1990: 63). Die Klassentheorie geht aber über die Erklä-

rung einer ungleichen Einkommensverteilung hinaus. Es wird angenommen,

daß homogene Lebenslagen ähnliche Interessen nach sich ziehen und daß diese

sich in einem entsprechenden individuellen und kollektiven Handeln nieder-

schlagen. Hierfür bilden Erbslöh et al. einen sog. Bewußtseinsindex. Zwar

bündeln sich die Einstellungen „Pro Kapital“ und „Pro Arbeit“ an den Polen

der benannten Klassenlagen und bestätigen so das Wrightsche Modell in der

Tendenz, die modellgemäße Monotonie des Verlaufs bei der Beziehung Klas-

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senlage – Einkommen ist beim Verhältnis Klassenlage – Bewußtsein so schon

nicht mehr zu finden. Die Experten ohne Management-Ressourcen rangieren

näher an dem Pol „Pro Arbeit“ als die teilweise qualifizierten Nicht-Manager,

ebenso haben die qualifizierten Aufsichtspersonen stärkeren Bezug zu Arbei-

terinteressen als die teilweise qualifizierten Aufsichtspersonen (vgl. Erbslöh et

al. 1990: 59).

Die Bergersche Differenzierung der Marxschen Aussagen in drei Gruppen

macht deutlich, daß die verschiedenen Abstraktionsebenen der Klassentheorie

verschiedene Stärken und Schwächen besitzen. Es wird damit auch klar, daß

berechtigte Kritik an Marx´ dynamischem Konzept nicht automatisch Marx´

ökonomische Analysen in Frage stellt, die dem abstrakten Klassenmodell

zugrunde liegen19.

Bergers Resümee läuft darauf hinaus, daß die Relevanz der Klassentheorie für

die Beantwortung von Fragen von Punkt 1. zu Punkt 3. abnimmt (vgl. Berger

1998: 31). Für ihn macht die Verwendung des Begriffs Klasse empirisch Sinn,

sind die gegenwärtigen Gesellschaften doch weit davon entfernt, durch den

Einfluß von Klassenzugehörigkeit neutralisiert zu sein. Als Theorie des Unter-

gangs des Kapitalismus sei die Marxsche Analyse dagegen wenig fruchtbar.

Auch wenn der große Zusammenbruch des Kapitalismus nicht stattgefunden

hat, so muß dennoch konstatiert werden, daß Marx die Entwicklungs-, Kon-

flikt- und Zerstörungspotentiale, die Chancen und Gefahren, die ökonomischen

Tendenzen und sozialen Folgen der kapitalistische n Produktionsweise analy-

siert und belegt hat. Und diese Grundlinien seiner ökonomischen Analyse sind

bis heute von größter Relevanz für das Verständnis einer kapitalistisch organi-

sierten Gesellschaft (vgl. z.B. Sichtermann 1990).

19 Dahrendorf kritisierte z.B., daß Marx immer wieder Soziologie und Philosophie durchmenge

und sich so einer empirischen Überprüfung entziehe (z.B.: Kapitalismus ist die letzte Klassen-

gesellschaft, das Proletariat führt den letzten Klassenkampf, der darauffolgende Kommunismus

verwirklicht die menschliche Freiheit) (vgl. Dahrendorf 1957: 25 ff.). Diese Kritik bezieht sich

lediglich auf den dritten Aussagekomplex, über die Qualität der anderen Ebenen sagt dies noch

wenig aus.

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3.2 Bourdieu und Marx: Gegenüberstellung zweier

Klassentheorien

3.2.1 Kapitalbegriff und Kapitalarten

Bei der Beschreibung kultureller Phänomene greift Bourdieu auf Begriffe der

Wirtschaftswissenschaften zurück und lehnt seine Begriffssprache an Marx an,

plädiert dabei gleichzeitig für eine soziologische Erweiterung wirtschaftswis-

senschaftlicher Studien (vgl. Raphael 1987: 161). Die zugrunde liegende An-

nahme Bourdieus lautet, daß die Sphäre der Ökonomie mit den dort verfolgten

Interessen mit Praxisformen wie Kunst, Kultur und Bildung zu einer "Ökono-

mie der Praxisformen" zusammenfließen muß. Denn die Analyse des Wirt-

schaftssystems, so die These, kann für die anderen Praxisformen handlungs-

theoretisch nicht ausreichend erklärend sein. Bourdieus Aufmerksamkeit rich-

tet sich auf die Aspekte der sozialen Praxis, die nach streng ökonomischen Ge-

sichtspunkten leicht aus dem Blickfeld geraten. Er geht davon aus, daß Hand-

lungen, die auf den ersten Blick interessenlos und zweckfrei und damit getrennt

von der Ökonomie scheinen, als auf die Maximierung materieller oder symbo-

lischer Gewinne zielende Handlungen zu verstehen sind (vgl. Bourdieu 1976:

357). Diese Ausdehnung der Sphäre der Ökonomie auf "Nicht-ökonomische

Bereiche" bildet die Grundlage für die Ausdehnung des Begriffs Kapital bei

Bourdieu.

„Es ist nur möglich, der Struktur und dem Funktionieren der gesellschaft-

lichen Realität gerecht zu werden, wenn man den Begriff des Kapitals in

allen seinen Erscheinungsformen einführt, nicht nur in der aus der Wirt-

schaftstheorie bekannten Form.“ (Bourdieu 1983: 184)

Kapital wie auch Profit haben bei Bourdieu verschiedene Erscheinungsformen.

Kapital nach Bourdieu meint nicht nur Geld- und Produktionsmittelvermögen,

es meint zudem Kompetenzen, Fähig- und Fertigkeiten, die von Personen in

Erziehungs- und Bildungsprozessen erworben werden. Die Grundlage des aus-

geweiteten Kapitalbegriffs bei Bourdieu ist nicht die Vorstellung eines spezi-

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fisch ökonomischen Faktors. Kapital wird verstanden als Wirkung gesellschaft-

licher Beziehungsstrukturen, deren allgemeinste Formulierung für Bourdieu

das Konzept der Macht ist. Wie oben ausgeführt, gehören die Begriffe "sozia-

les Feld" und "Kapital" in Bourdieus Theorie notwendig zusammen. In den

verschiedenen Felder besitzen die verschiedenen Kapitalformen verschiedene

Wertigkeiten und entscheiden so über die dortigen Profitchancen. In den Fel-

dern sind für Bourdieu ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches

Kapital von Relevanz.

• Ökonomisches Kapital

Zum ökonomischen Kapital rechnet Bourdieu alle mehr oder weniger direkt in

Geldform umsetzbaren Güter, die durch das Eigentumsrecht institutionalisiert

sind. Er zählt also die verschiedensten Formen des materiellen Reichtums zum

ökonomischen Kapital, ohne dabei zwischen produktivem und unproduktivem

Vermögen zu unterscheiden. Trotz der Berücksichtigung weiterer Kapitalarten

weist Bourdieu dem ökonomischen Kapital eine zentrale Stellung zu, was sich

in der "tendenziellen Dominanz" des ökonomischen Feldes auswirkt (vgl.

Bourdieu 1985: 11).

• Kulturelles Kapital

Obwohl kulturelles Kapital unter bestimmten Bedingungen in ökonomisches

Kapital transformierbar ist, besitzt diese Kapitalform für Bourdieu eine Eigen-

logik, die sie vom ökonomischen Kapital unterscheidet. Bourdieu unterscheidet

drei Erscheinungsformen des kulturellen Kapitals: Inkorporiertes, objektivier-

tes und institutionalisiertes Kulturkapital (vgl. Bourdieu 1983: 185 ff.).

Inkorporiertes Kulturkapital meint sämtliche kulturellen Fähigkeiten, Fertigkei-

ten und Wissensformen, die durch den Prozeß der Sozialisation in der Familie

und durch Bildung in und außerhalb von Bildungsinstitutionen erworben wer-

den können. Das inkorporierte Kulturkapital ist zu einem festen Bestandteil der

Person, des Habitus geworden. Bourdieu spricht deshalb davon, daß aus „Ha-

ben“ „Sein“ geworden ist (vgl. Bourdieu 1983: 187). Die Eigenständigkeit des

inkorporierten Kulturkapitals gegenüber dem ökonomischen Kapital ist hier

klar erkennbar. So ist z.B. das Delegationsprinzip ausgeschlossen, die Kultur-

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kapitalinkorporation muß jeder einzelne selbst leisten (vgl. Bourdieu 1983:

186).

Objektiviertes Kulturkapital umfaßt das Wissen und die Kulturgüter, es findet

seine Form z.B. in Büchern, Kunstwerken, Maschinen, usw. Zwei wichtige

Bedingungen für die Aneignung von objektiviertem Kulturkapital sind Geld

und Zeit. Die Differenz zum ökonomischen Kapital ist beim objektivierten

Kulturkapital damit nicht deutlich ausgeprägt.

Institutionalisiertes Kulturkapital verweist auf verbriefte Nachweise von Kul-

tur, die ihre Institutionalisierung in Form von Bildungstiteln finden. Mit dem

Besitz eines Titels fügt eine Person dem inkorporierten das institutionalisierte

Kulturkapital hinzu und unterscheidet sich so vom Autodidakten, der unter

Umständen über ähnliche inkorporierte Kompetenzen verfügt. Wichtig ist diese

Kapitalform z.B. für die Zulassung zu bestimmten Berufen, die nur nach

Nachweis von Zeugnissen und Zertifikaten ausgeübt werden dürfen.

Abbildung 2: Drei Erscheinungsformen des kulturellen Kapitals

Formen Inkorporiert Objektiviert Institutionalisiert

Substrat Kogn.: Kompetenz

Ästh.: Geschmack

Wissen Bildung

Modalität Kulturpräferenzen Kulturgüter Kulturinstitutionen

Eigenart Körpergebunden-

heit

Materielle Über-

tragbarkeit von

Kulturgütern

Regelgebundene Kompetenzallokati-on: Titelvergabe

Prozeß Verinnerlichung Sozialisation

Veräußerlichung

bzw. Vergegen-

ständlichung

Produktion

Verrechtlichung Reproduktion

Quelle: Müller 1986: 168

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• Soziales Kapital

Das soziale Kapital besteht für Bourdieu aus den aktuellen und potentiellen

Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen. Soziales Kapi-

tal realisiert sich in der Ausnutzung eines Netzwerkes von Beziehungen (vgl.

Bourdieu 1983: 190 ff.). Bourdieu zeigt, daß soziales Kapital bei der Aneig-

nung von ökonomischem oder kulturellem Kapital wie ein Multiplikator wirkt.

Soziales Kapital besitzt aber auch ein relativ hohes Maß an Fragilität, ist direkt

nicht in Geld zu transformieren, bedarf der Pflege und kann juristisch nicht

abgesichert werden. Daher spielt nicht das soziale, sondern das kulturelle Kapi-

tal neben dem ökonomischen Kapital die zweite wichtige Rolle. Es ist zu kons-

tatieren, daß jenseits der Typologie von Kapitalarten, die Bourdieu in seinem

Aufsatz aufstellt, die Dimension des sozialen Kapitals tendenziell vernachläs-

sigt wird. Weder in seiner durch das Struktur-Habitus-Praxis Konzept gefaßten

Reproduktionslogik, noch im sozialen Raum spielt diese Kapitalart eine ent-

scheidende Rolle. Dabei sind z.B. in Frankreich neben dem Abschluß an be-

stimmten höheren Schulen auch die dort geknüpften Netzwerke für eine Kar-

riere sehr wichtig (vgl. Hartmann 1998). Es ist deshalb dafür zu plädieren, das

soziale Kapital in das Konzept der sozialen Ungleichheit verstärkter einzubin-

den als dies Bourdieu tut.

• Symbolisches Kapital

Die symbolische Macht schafft es, Beeindruckung und Einschüchterung zu

erzeugen (vgl. Bourdieu 1982c: 86). Mit symbolischem Kapital ist die Mög-

lichkeit der Anerkennung der drei erstgenannten Kapitalarten gemeint, die der

einzelne oder eine Gruppe durch geschickte Verwendung des gesellschaftli-

chen Symbolsystems gewinnen kann (vgl. Bourdieu 1985: 11). Die Wirkung

der symbolischen Macht ist die Legitimierung jedweder Macht. Die durch das

symbolische Kapital erzielten sozialen Anerkennungen und Wertschätzungen

können sich in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen realisieren. Es

gibt eine alltägliche symbolische Hervorhebung durch die Verwendung von

Statussymbolen und Distinktionsmerkmalen. Anerkennung kann aber auch

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durch massenmediale Präsenz von Sportlern, Politikern usw. zustande kom-

men. In den meisten Fällen ist symbolisches Kapital eng mit anderen Kapital-

formen verknüpft. So wird symbolisches Kapital durch höhere Bildungstitel

generiert, aber auch durch die inkorporierte Distinktionsfähigkeit. Oder ein

Akteur mit viel ökonomischem Kapital verschafft sich Anerkennung durch

gemeinnützige (bzw. eigennützige) Spenden. Aus der Bündelung des symboli-

schen Kapitals bei den kapitalreichen Akteuren und Gruppen resultiert die

wichtige gesellschaftliche Funktion des symbolischen Kapitals. Denn aus der

Anerkennung dieser speziellen Akteure und Gruppen folgt die Anerkennung

und Legitimation des gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisses. Dem öko-

nomischen Klassenkampf und den direkten auf ökonomischem Kapital beru-

henden Machtmitteln scha ltet Bourdieu damit einen symbolischen Klassen-

kampf vor.

„Die symbolische Macht ist eine Macht, die in dem Maße existiert, wie es

ihr gelingt, sich anerkennen zu lassen, sich Anerkennung zu verschaffen;

d.h. eine (ökonomische, politische, kulturelle oder andere) Macht, die die

Macht hat, sich in ihrer Wahrheit als Macht, als Gewalt, als Willkür ver-

kennen zu lassen.“ (Bourdieu 1982c: 82)

Eine wichtige Frage ist, wie sich die unterschiedlichen Kapitaltypen zueinander

verhalten. Bourdieus Antwort erinnert zunächst an die Marxsche These vom

Primat der Ökonomie. Das ökonomische Kapital wird ausdrücklich als die do-

minierende Kapitalform bezeichnet (vgl. Bourdieu 1983: 189), die allen ande-

ren Kapitalformen zugrunde liegt. Er setzt sich aber gleichzeitig von einem

strengen Ökonomismus mit dem Hinweis ab, daß das ökonomische Kapital

zwar eine basale Rolle spielt, die anderen Kapitalformen jedoch niemals ganz

darauf reduzierbar sind. Es ist schwierig zu bestimmen, welche Struktur Bour-

dieu für diese Verhältnisbestimmung im Auge hat. Deutlich ist jedenfalls, daß

Bourdieus Konzept, welches im Spannungsverhältnis von "Ökonomismus" und

"Semiologismus" steht (vgl. Bourdieu 1983: 196), nicht einseitig zu einem der

beiden Pole hin aufzulösen ist.

Wie ausgeführt bleibt Kapital in der Bourdieuschen Theorie nicht auf ein öko-

nomisches Feld beschränkt, es expandiert auch in die Bereiche der öffentlichen

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Meinung und des „individuellen“ Bewußtseins. Und damit, daß Kapital nicht

nur als ökonomische Kategorie gedacht wird, rücken neben direkten Herr-

schaftsverhältnissen auch Formen des Einflusses in den Gegenstandsbereich

der Betrachtung. An diesem Punkt ist man bei gesellschaftlichen Gruppen wie

den Bischöfen oder Wissenschaftlern angelangt, die von Bourdieu als Fraktio-

nen der herrschenden Klasse gesehen werden. Ihren Stellenwert gewinnen die

Hochschullehrer wie die Bischöfe in der Regel nicht über ihr ökonomisches,

sondern über hohes kulturelles, soziales und symbolisches Kapital. Diese Kapi-

talarten können z.B. dazu dienen, entscheidend auf kulturelle Paradigmen

Einfluß zu nehmen und somit „Macht über Köpfe“ auszuüben. Bischöfe oder

Wissenschaftler haben schon allein deshalb Einfluß auf die öffentliche Mei-

nung, weil sie die Macht haben, ihre Standpunkte öffentlich zu machen. Hinzu

kommt, daß ihr Wort qua ihrer (angesehenen) Position mehr Gewicht in der

öffentlichen Diskussion besitzt.

Aus dem Marxschen Blickwinkel ergeben sich bei Bourdieus Kapitaltheorie

einige Probleme. Mit dem Bourdieuschen Konzept verliert zum einen der

Kapitalbegriff seine ökonomische Schlüsselstellung und zum anderen wird die

Marxsche Werttheorie revidiert (vgl. Raphael 1987: 163). Krais argumentiert

in diesem Kontext, daß das Spezifikum des Marxschen Kapitalbegriffs verloren

geht, nämlich der Zusammenhang von Akkumulation, Mehrwertproduktion

und Ausbeutung (vgl. Krais 1983: 219 f.). Bourdieus Intention, Marx´ ökono-

mischen Kapitalbegriff auf die gesamte Sozialwelt auszudehnen, ist zwar ein-

sichtig, der gemeinsame Kern des Begriffs - die objektivierte Machtausübung -

ist jedoch fraglich. Sozial- und Kulturkapital funktionieren nicht nach dersel-

ben Logik wie das ökonomische Kapital. So basiert z.B. Kapital bei Marx nicht

auf einer sozialen Lebensweltlogik und demnach auf personal- interaktiven Me-

chanismen, wie dies beim sozialen Kapital der Fall ist.

Bourdieus Theorie sollte deshalb auch nicht die Vorstellung aufkommen las-

sen, die soziale Anerkennung eines Lebensstils sei auf demselben Weg wie ein

ökonomisches Gut zu erwerben. Durch seine Termini ökonomisches und kultu-

relles Kapital nimmt Bourdieu zwar eine Angleichung des ökonomischen und

des kulturellen Feldes vor, es ist aber zweifelhaft, ob die herrschaftsgenerie-

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renden Mechanismen der beiden Felder vergleichbar sind. Giegel zeigt, daß

eine Reihe von Merkmalen der Herrschaft, die sich auf ökonomisches Kapital

stützt, bei Bourdieus anderen Kapitalarten fehlen (vgl. Giegel 1989: 150 ff.).

So ist es für kulturelles oder soziales Kapital schwer zu bestimmen, wie sich

die Gewinne der Kapitalbesitzer aus den Verlusten von Nicht-Kapitalbesitzern

ableiten lassen. Die Machtmittel, die sich aus ökonomischem Kapital ergeben

und mit denen Gewalt auf die Nicht-Besitzer von Kapital zur Hinnahme ihrer

Lage ausgeübt werden kann, unterscheiden sich von den Machtmitteln der an-

deren Kapitala rten. Die Möglichkeit der Anerkennung, die symbolisches Kapi-

tal schafft, ist eine andere als die Möglichkeit einer ökonomisch basierten Re-

pression. Durch die eher als metaphorisch zu bezeichnende Angleichung der

kulturellen an die ökonomische Sphäre stößt man beim kulturellen Kapital,

welches z.B. Fähigkeiten beim Umgang mit Informationen, ästhetischen Ge-

nüssen oder alltäglichen Vergnügungen beinhaltet, schon allein bei der Frage

nach der quantitativen Meßbarkeit auf schwerwiegende Probleme (vgl. Hon-

neth 1984: 153).

Mit dieser Problematisierung soll dem kulturellen, sozialen und symbolischen

Kapital keineswegs die Relevanz für gesellschaftliche Herrschafts- und Klas-

senstrukturen abgesprochen werden. Dennoch soll die These formuliert wer-

den, daß sich aus diesen Kapitalarten für sich selbst noch keine dauerhaften

Herrschaftsbeziehungen ergeben. Erst in der Relation zum ökonomischen Ka-

pital entfalten sie ihre Kraft und können Herrschaftsbeziehungen absichern

oder verstärken. Würde die Macht der herrschenden Gruppen lediglich durch

die Anerkennung der Untenstehenden gesichert, wäre sie fragil. Zu wenig Sub-

stanz steht hinter der symbolischen Macht. Herrschaft ist in diesen Fällen nur

eine Konstruktion der Individuen.

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3.2.2 Die Beziehung zwischen ökonomischer Basis,

Individuen und Kultur

Marx bindet den Klassenbegriff eng an die Ökonomie. Ritsert hält das Theo-

rem vom Primat der Ökonomie für ein, wenn nicht das Markenzeichen der

marxistischen Klassentheorie (vgl. Ritsert 1998: 73). Die zentrale Bedeutung

der produzierenden Tätigkeit schlägt sich auch auf die Individuen und ihre

Dispositionen nieder.

„Was die Individuen (...) sind, das hängt ab von den materiellen Bedin-

gungen ihrer Produktion.“ (Marx/Engels 1973, MEW 3: 21)

Marx stützt seine Theorien auf die Annahme, so Herbert Marcuse, daß der Ar-

beitsprozeß die Totalität des menschlichen Seins bestimmt und daher der Ge-

sellschaft ihre Grundstruktur verleiht (vgl. Marcuse 1970: 260). Menschen

werden dabei als von ihren eigenen Verhältnissen beherrscht dargestellt.

„Die Menschen treten lediglich als Personifikationen ökonomischer Kräf-

te und Kategorien auf. Die Produzenten figuieren als ´Ware Arbeitskraft´,

ihre sachlichen Produktionsmittel als ´Kapital´, ihre Austauschrelationen

sind beherrscht vom ´Wertgesetz´ und ihr Schicksal wird bestimmt vom

´tendenziellen Fall der Profitrate´.“ (Dahmer/Fleischer 1973: 76)

Für Marcuse widerspricht die Tatsache der Klassen der Freiheit bzw. verwan-

delt sie in eine abstrakte Idee. Die Freiheit und Entwicklung des Individuums

ist auf die Grenzen seiner Klasse beschränkt. Der einzelne kann sich lediglich

als ein “Klassenindividuum“ entfalten (vgl. Marcuse 1970: 255).

Diese These vom Primat der Ökonomie ist in Marx´ Gesamtwerk eine seiner

zentralsten und gleichzeitig auch problematischsten. Diese Problematik schlägt

sich in einem zentralen Theorem des historischen Materialismus, der Lehre von

Basis und Überbau, nieder. Die Art und Weise, in der die Menschen ihre mate-

rielle Produktion organisieren, bildet die Grundlage der gesellschaftlichen In-

stitutionen. Unter der Organisation der materiellen Produktion ist jedoch nicht

allein die Produktionstätigkeit zu verstehen, sondern entscheidend sind die ge-

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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse der gegenwärtigen Gesellschaften Dezember 2005

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sellschaftlichen Beziehungen, die Menschen bei der Produktion ihres materiel-

len Lebens herausbilden (vgl. Marx/Engels 1973: 25 ff., Mandel 1979: 204 f.).

„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen

bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein,

Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer

materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produkti-

onsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die rea-

le Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und

welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen.

Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, poli-

tischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußt-

sein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches

Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ (Marx 1964, MEW 13: 8 f.)

Ein strenger Ökonomismus sieht den Zusammenhang von Basis und Überbau

als einen rein kausalen an. Der gesamte Überbau ist in seiner Struktur und sei-

ner Handlungsweise ausschließlich auf die Basis zurückzuführen. Trotz der

These vom Primat der Ökonomie wird von Marx und Engels die einseitig kau-

sale Interpretation des Basis-Überbau-Schemas als eine verkürzte angesehen.

Engels z.B. räumte komplexe Wechselwirkungen zwischen Basis und Überbau

ein, d.h. er gestand einigen Überbauphänomenen eigenständige Einwirkungs-

möglichkeiten auf Tatsachen und Vorgänge der Basis ein. Um die These vom

Primat der Ökonomie nicht aufzuweichen, sah er das Wirkungsverhältnis zwi-

schen Basis und Überbau nicht als gleichrangig an, sondern erklärte die Basis

als in letzter Instanz bestimmend (vgl. Engels, 1894: MEW 39, 98). Man stößt

hier auf das, was Jürgen Ritsert als das „Relationierungsproblem von Basis und

Überbau“ bezeichnet (vgl. Ritsert 1988: 75). Die Frage ist nämlich, wie diese

Wechselwirkungen, in denen sich das ökonomisch Notwendige schließlich

immer durchsetzt, näher zu verstehen sind (vgl. auch Tomberg 1974: 43). Der

Begriff der Wechselwirkung hat ein unbestimmtes Moment. Um einer Belie-

bigkeit zu entgehen, muß bestimmt werden, was „in letzter Instanz“ eigentlich

heißt.

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Das Basis-Überbau-Schema ist ein wissenschaftliches Konstrukt. Althusser

nennt es eine „räumliche Metapher“ (vgl. Althusser 1973: 120). Die Begriffe

Basis und Überbau sind bildliche Veranschaulichungen, um das Verhältnis von

Materie und Denken, von Ökonomie und gesellschaftlichen Institutionen, von

Herrschaft und Ideologie zu thematisieren. Bei Bourdieu tauchen diese Thema-

tiken in den Begriffen Struktur und Praxis wieder auf. Bourdieu grenzt sich

immer wieder von den deterministischen Grundvorstellungen eines strengen

Ökonomismus ab. Dabei gerät Bourdieu bei der Beschreibung, wie bestimmte

Existenzbedingungen den Individuen einen bestimmten Habitus einprägen,

zunächst in den Verdacht, die Ind ividuen als ein Abbild ihrer Positionen im

sozialen Raum zu sehen. Mit dem letzten Schritt in seinem Reproduktionsmo-

dells Struktur-Habitus-Praxis setzt sich Bourdieu von diesen Deutungen jedoch

wieder ab. Die konkreten Lebensäußerungen der Menschen reproduzieren

Struktur nicht einfach, sondern mit den alltagsweltlichen Praxen ist die Struk-

tur immer auch Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und wird

dadurch verändert.

Philosophie, Recht, Politik, Moral sind für Marx Überbauphänomene, die sich

auf der Grundlage kapitalistischer Produktionsweise erheben.

„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herr-

schenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle

Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.

Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung

hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so

daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die

Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.“

(Marx/Engels 1973, MEW 3: 46)

In diesem Sinne werden Ideologien hervorgebracht, um die bestehende Herr-

schaftsverhältnisse zu legitimieren, zu stabilisieren und der untergeordneten

Klasse rationalisiert zu erklärt. An diesem Punkt ist die Parallele zwischen

Marx und Bourdieu unübersehbar. Beide identifizieren Denken, Wahrnehmen,

Bewußtsein als gesellschaftliches Produkt, beide betonen den geschichtlichen

Charakter (herrschender) kultureller Phänomene. Marx wie Bourdieu versu-

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chen sich an der Entzauberung von Dingen, denen ein pseudonatürlicher

Schein anhaftet. Aufgedeckt wird dieser Schein, indem beide die Bedeutung

kultureller Prozesse in den Kontext von Herrschaftsbeziehungen stellen.

Die Analyse kultureller Praktiken als Theorie klassenspezifischen Handelns

stellt ein zentrales Motiv der Bourdieuschen Theorie dar. Dementsprechend

nehmen die Formen der Kämpfe um Deutungen und Ideologien, die der Herr-

schaftssicherung dienen, einen wichtigen Platz in den Arbeiten Bourdieus ein.

Auch Marx thematisiert die Frage nach kulturellen hegemonialen Strategien.

So identifiziert er z.B. in der herrschenden Klasse eine Arbeitsteilung, spricht

von Ideologen, den Denkern der herrschenden Klasse und von Kapitalisten, die

weniger Zeit haben, sich Gedanken über die Klassenstruktur zu machen (vgl.

Marx/Engels 1973: 46 f.). Der Unterschied zwischen Marx und Bourdieu be-

steht darin, daß Bourdieu den Mechanismus der Herrschaftserzeugung aus-

dehnt. Herrschaft wird nicht nur durch Aneignung von Reichtum erzeugt. Kul-

tur ist bei Bourdieu nicht bloß Abbild der Verhältnisse der Basis, sie ist selbst

herrschaftsgenerierend. Bourdieus Ergänzung des ökonomischen Klassen-

kampfes durch den symbolischen entspricht dieser Erweiterung. An diesem

Umgang Bourdieus mit dem Basis-Überbau-Schema identifiziert Eder eine

wichtige Brechung mit der Marxschen Theorie. Die dieser Brechung zugrunde

liegende Annahme lautet, daß Kultur als Kapital zunehmend die Arbeitskraft

und damit die objektive Klassenlage bestimmt und daraus resultierend gegen-

über ökonomischem Kapital an Bedeutung gewinnt. Folglich wird der Begriff

der Klassenlage weiter gefaßt als der bei Marx, weil er nicht nur auf die Stel-

lung im ökonomischen Reproduktionsprozeß abzielt, sondern mit dem kulturel-

len Kapital einen Überbaufaktor in die Analyse einbezieht (vgl. Eder 1989a: 15

f.).

3.2.3 Klassenbewußtsein und Klassenkampf

Bei Marx ist die historisch notwendige Umwälzung der bestehenden Produkti-

onsverhältnisse, die Verlagerung der Verfügungsgewalt über Produktionsmittel

von einer sozialen Klasse auf eine andere, eng an die wissenschaftlich-

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technische Verbesserung der Produktivkräfte geknüpft. In der Marxschen Ge-

schichtsauffassung führt die aus immanenter Gesetzlichkeit ableitbare, not-

wendige Entfaltung der Ökonomie schließlich zum Aufbrechen der an den

Produktionsprozeß gebundenen Klassendichotomie von Herr und Knecht, von

Kapitalist und Arbeiter.

„Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre

Produktionsweise und mit der Veränderung der Produktionsweise, der

Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesell-

schaftlichen Verhältnisse.“ (Marx/Engels 1972, MEW 4: 130)

Bourdieu bezeichnet den von der marxistischen Theorie anvisierten Übergang

von der Existenz von Klassen in der Theorie zur Existenz von Klassen in der

Praxis als einen „Salto mortale“ (vgl. Bourdieu 1998: 25). Bourdieu möchte

damit auf eine grundlegende Problematik der Marxschen Theorie hinweisen:

Zum Übergang von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“ ist es trotz stän-

diger Entwicklung des Kapitalismus nicht gekommen, von der Existenz eines

einheitlichen proletarischen Klassenbewußtseins kann gegenwärtig nicht die

Rede sein. Aus dem fehlenden Klassenbewußtsein sollte auf der anderen Seite

nicht der vorschnelle Schluß gezogen werden, daß die Beschäftigung mit Klas-

sentheorie obsolet geworden ist, daß ein Klassenantagonismus nicht existiere

oder daß Marx „veraltet“ sei. Wenn ein Arbeiter sich nicht ausgebeutet fühlt,

bedeutet das noch nicht, daß er nicht ausgebeutet wird.

„Daß von einem proletarischen Klassenbewußtsein in den maßgebenden

kapitalistischen Ländern nicht kann gesprochen werden, widerlegt nicht

an sich, im Gegensatz zur communis opinio, die Existenz von Klassen:

Klasse war durch die Stellung zu den Produktionsmitteln bestimmt, nicht

durchs Bewußtsein ihrer Angehörigen.“ (Adorno 1997b: 358)

Im folgenden soll der Frage ein wenig nachgegangen werden, welche gesell-

schaftlichen Bedingungen den Übergang von der „Klasse an sich“ zur „Klasse

für sich“ begünstigen bzw. behindern. Ausgangspunkt zur Bearbeitung dieser

Frage ist, daß ein Klassenbewußtsein nicht mechanisch mit der Existenz von

Klassen verbunden, sondern erst herzustellen ist. Das Sein schafft nicht auto-

matisch ein Klassenbewußtsein. Klassenbewußtsein kann nicht allein durch

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eine ökonomische Konstellation entstehen, Individuen müßten so etwas wie ein

Klassenbewußtsein durch ihre soziale Praxis generieren. Klassenbewußtsein ist

also keine Idee, die über den Menschen schwebt und herunterfällt, wenn sich

der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ver-

schärft hat. Die Frage ist nun, wie solch ein Klassenbewußtsein in der gegen-

wärtigen historischen Situation entstehen soll.

Wie sich Ausgebeutete heute nicht mehr als Proletarier fühlen, so tritt auch der

Unternehmer den Arbeitern nicht mehr als blanke Verkörperung der Kapitalin-

teressen entgegen. Mit dem Verschwinden des zigarrenqualmenden Fabrikan-

ten und dem Aufkommen komplexer Kapitalgesellschaften fehlt zunehmend

ein greifbarer Gegner. Das Erkennen eines Klassengegensatzes wurde schon

mit der Loslösung des Individuums aus feudalen Fesseln erschwert. War das

Ausbeutungsverhältnis im Feudalismus noch in einem direkten persönlichen

Verhältnis eingebettet, so ist das Ausbeutungsverhältnis im Kapitalismus in

den Produktionsprozeß eingelagert. Es ist somit von der historischen Tendenz

von der unmittelbaren zur mittelbaren Herrschaft zu sprechen.

„Tatsächlich sind die Manifestationen des Klassenverhältnisses in weitem

Maß in den Funktionszusammenhang der Gesellschaft eingebaut worden,

ja als Teil ihres Funktionierens bestimmt.“ (Adorno 1997c: 183)

Das Klassenverhältnis ist integraler Bestandteil des Funktionierens der bürger-

lichen Gesellschaft geworden. Und dieses Funktionieren des kapitalistischen

Systems kann auf Dauer nicht nur von der herrschenden Klasse gewährleistet

werden. Denn nicht nur, daß sich ein Großteil der Arbeiter nicht als Proletarier

fühlt, die Arbeiterklasse sieht sich als weitgehend in die Prozesse der Gesell-

schaft integriert. Die Beherrschten identifizieren sich mit ihren Herrschern und

orientieren sich an ihnen, ganz nach der liberalen Maxime, jeder könne es nach

oben schaffen. Die Mitglieder der herrschenden Klasse samt ihren Vorlieben

werden gesellschaftliche Vorbilder. Nicht umsonst nennt Bourdieu den Ge-

schmack der herrschenden Klasse den "legitimen Geschmack“. So grenzen sich

Schwache eher nach „unten“ als nach „oben“ ab. Soziale Ungleichheiten, auch

wenn sie einen selbst negativ berühren, werden nicht hinterfragt, denn das Ziel,

selbst zu den Gewinnern aufzusteigen, bleibt als Traum gegenwärtig.

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Diese „Loyalität nach oben“ besitzt zudem einen weiteren Aspekt: Nach der

ersten Phase der industriellen Revolution haben die Ausbeuter zunehmend die

Reproduktion der Ausgebeuteten gesichert.

„Nach Lebensstandard und Bewußtsein werden (...) Klassendifferenzen

weit weniger sichtbar als in den Dezennien während und kurz nach der

industriellen Revolution.“ (Adorno 1997b: 355)

Mit der Armut breiter Massen und der wachsenden Popularität sozialistischer

Ideen20 breitete sich im Bürgertum Angst vor Aufständen und Revolution aus

(vgl. Tennstedt 1981: 139ff.). Der Reichskanzler Bismarck reagierte mit Geset-

zen zur Krankenversicherung (1883), Unfallversicherung (1884) und zu Invali-

ditäts- und Alterssicherung (1889). Mit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung

sollte den Sozialdemokraten Wind aus den Segeln genommen und sozialer

Frieden gefestigt werden. Die Arbeiter sollten als Objekt sozialstaatlicher Für-

sorge durch die Hilfe von oben stärker an den Staat gebunden werden. Nach-

dem sich die sozialen Verhältnisse der Arbeitnehmer im Laufe der kapitalisti-

schen Gesellschaftsentwicklung spürbar verbessert haben, wird es immer deut-

licher, daß die Proletarier mehr zu verlieren haben als ihre Ketten (vgl. Adorno

1997a: 384). In dieser gesellschaftlichen Situation wird Konformität nahelie-

gender als das Aufbegehren gegen bestehende Verhältnisse.

„Die herrschende Klasse wird so gründlich von fremder Arbeit ernährt,

daß sie ihr Schicksal, die Arbeiter ernähren zu müssen, entschlossen zur

eigenen Sache macht und dem ´Sklaven die Existenz innerhalb seiner

Sklaverei´ sichert, um die eigene zu befestigen.“ (Adorno 1997a: 386)

Ohne große Zweifel läßt sich sagen, daß die in den Ausmaßen von Marx vor-

ausgesagte Verelendung des Proletariats nicht eingetroffen ist.

20 In Form politischer Organisationen wurden Arbeiterinteressen ab der Mitte des 19. Jahrhun-

derts verstärkt institutionalisiert. 1863 gründete Ferdinand Lassalle den Allgemeinen Deut-

schen Arbeiterverein, 1869 gründeten August Bebel und Wilhelm Liebknecht die Sozialdemo-

kratische Arbeiterpartei. Die beiden Parteien wurden 1875 in Gotha zur Sozialistischen Arbei-

terpartei Deutschlands verschmolzen. Ab 1891 hieß die Partei Sozialdemokratische Partei

Deutschlands.

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„Wäre der Liberalismus wirklich der Liberalismus, als den Marx ihn

beim Wort nimmt, so bestünde schon in der friedlichen Welt der Paupe-

rismus, (...). Aber die herrschende Klasse wird nicht nur vom System be-

herrscht, sie herrscht durchs System und beherrscht es schließlich selber.“

(Adorno 1997a: 385)

Diese Aussage Adornos macht deutlich, daß sich der Kapitalismus durch die

von Marx festgestellte Pauperisierungstendenz nicht zwangsläufig selbst besei-

tigt. Denn das System wird in dem Maße beherrscht, daß die Herrschenden

Strategien zur Elendsbekämpfung institutionalisieren können, was z.B. in Form

der Sozialgesetzgebung geschehen ist. Die Dialektik der Sozialpolitik besteht

darin, daß sie gegen die kapitalistische Ordnung wirkt und gleichzeitig not-

wendig für die Erhaltung dieser ist. Sozialpolitik „stört“ das freie Spiel der

Kräfte, Alte, Schwache oder Kranke würde ein unregulierter Markt nicht ver-

sorgen. Doch gleichzeitig sind Eingriffe in ein klassisch liberales Wirtschafts-

system notwendig, um das kapitalistische System aufrecht erhalten zu können.

Denn die Gefahr ist nicht auszuschließen, daß sich verelendete Bevölkerungs-

schichten erheben.

Ein gewichtiges Problem für die Realisierung eines Klassenbewußtseins be-

steht darin, daß das Klassenverhältnis nicht nur außerhalb, sondern auch inner-

halb des Individuums besteht. Der Habitus, der klassenspezifischen Charakter

besitzt, lagert das Klassenverhältnis direkt in das Individuum ein. Der (Klas-

sen-) Habitus ist ein Zustand des Leibes, durch die Generierung eines „Klas-

senkörpers“ wird der Habitus zur Pseudonatur des Individuums. Der eigene

Habitus erscheint als eine Selbstverständlichkeit, existiert in einem vorbewuß-

ten Zustand und entzieht sich so der Reflexion. Und wenn der eigene Lebens-

stil nicht reflektiert, sondern als quasi-natürlich angenommen wird, dann bleibt

auch die eigene Klassenzugehörigkeit im Dunkeln. Der Habitus ist eher ein

kollektives Klassen-Unbewußtsein als ein reflexives Bewußtsein über das

Klassendasein. Es sind die eingeübten Wahrnehmungs- und Erfahrungsmodi,

die die kulturelle Reproduktion sozialer Klassen bestimmen. Die Marxsche

Klassenanalyse bindet das Problem der Reproduktion an das Problem der Kon-

stitution eines Klassenbewußtseins. Der Schlüssel zur Revision der traditione l-

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len Vorstellung des subjektiven Faktors in der Klassenanalyse ist der Begriff

des Klassenhabitus. Bourdieu ersetzt in diesem Sinne den Begriff „Klassenbe-

wußtsein“ durch „Klassenhabitus“.

Die Erörterung der Aufhebung der Klassengegensätze als eine geschichtliche

Notwendigkeit ist für Bourdieu kein Thema. Überhaupt beurteilt Bourdieu die

Chancen einer revolutionären Umwälzung, z.B. durch den Hysteresis-Effekt

des Habitus, eher pessimistisch. Aufbegehrende Entladungen haben für Bour-

dieu zumeist nur eine Neuordnung des Wertverhältnisses zwischen den Kapi-

talsorten, z.B. eine angemessenere Entlohnung von intellektuellen Fähigkeiten

im Vergleich zum Lohnniveau in Berufszweigen der Wirtschaft oder eine Stär-

kung der gesamtgesellschaftlichen Achtung der intellektuellen Elite, zum Ziel.

Deutlich wird dies anhand eines Zitats, in dem Bourdieu erneut auf die Allego-

rie des Spiels zurückgreift.

„Gibt es Leute, die daran Interesse haben, den Tisch umzuwerfen und

damit dem Spiel ein Ende zu machen? (...) In meinen Augen sind viele

Revolutionen innerhalb der herrschenden Klasse, d.h. in jenen Kreisen,

die Chips besitzen und die auch mal auf die Barrikaden steigen, damit ih-

re Chips an Wert gewinnen.“ (Bourdieu1982a: 38)

Wenn überhaupt eine Revolution der bestehenden Ordnung geleistet werden

soll, dann müssen, und das ist eine Gemeinsamkeit zu Marx, ein kritischer Dis-

kurs und eine objektive Krise zusammentreffen (vgl. Bourdieu 1990: 104).

Diesem Gedanken liegt Bourdieus Annahme zugrunde, daß die Stabilität der

Ordnung wesentlich durch die Übereinstimmungen zwischen den Strukturen

der sozialen Welt und den Dispositionen der Akteure geleistet wird. In diesem

Sinne können die daraus folgenden Reproduktionsmechanismen am ehesten

durch eine Beeinträchtigung dieser Übereinstimmung infolge einer objektiven

strukturellen Krise durchbrochen werden (vgl. Schwingel 1993: 162 f.).

Die bis dahin aufgezeigten Gründe für ein fehlendes Klassenbewußtsein lassen

auf fehlende gesellschaftliche Voraussetzungen für eine Mobilisation der Ar-

beiterklasse und eine daraus folgende offene Austragung des Konflikts Arbeit –

Kapital schließen. Es darf gleichwohl nicht vergessen werden, daß die von

Marx analysierten Mechanismen kapitalistischer Produktionsweise fortbeste-

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hen, da eine die ökonomischen Basisinstitute (Privateigentum, Kapital, Lohn-

arbeit, Markt, Mehrwert, etc.) umwälzende Revolution nicht stattfand. Produ-

ziert wird, wie Adorno sagt, heute wie früher um des Profits willen (vgl. Ador-

no 1997b: 361). Was bedeutet dies für die Existenz von Klassen, wenn die ö-

konomischen Grundprozesse als Grundlage für Klassenbildung objektiv vor-

handen sind, jedoch Klassenbewußtsein als Klassenhandeln der Individuen

kaum zu erkennen ist? Für Bourdieu existieren Klassen im sozialen Raum ge-

wissermaßen virtuell (Vgl. Bourdieu 1998: 26). Die aus der Theorie heraus

konstruierten Klassen sind für Bourdieu nicht gleichzusetzen mit real existie-

renden Klassen, da Klassen immer erst durch die soziale Praxis der Individuen

entstehen und nicht durch die theoretische Arbeit von Soziologen. Ein objekti-

ves Klasseninteresse ist Bourdieu deshalb auch unbekannt.

3.3 Zusammenfassung und Bewertung

Die Verhältnisbestimmung zwischen Bourdieus Theorie und der Marxschen

ergibt ein sehr indifferentes Bild. Dies beginnt schon bei der Selbsteinschät-

zung Bourdieus bezüglich seiner Beziehung zum Marxschen Werk. Auf der

einen Seite betont Bourdieu, daß er für seine Theorie mit einer Reihe von Mo-

menten der Marxschen Theorie brechen mußte (vgl. Bourdieu 1985: 9). Auf

der anderen Seite sagt er, daß seine Konstruktion von theoretischen Klassen

stärker als jede andere Gliederung dazu prädisponiert sei, zu Klassen im Sinne

des Marxismus zu werden (vgl. Bourdieu 1998: 24). Die vorangegangenen

Abschnitte haben Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden

Autoren zum Gegenstand gehabt. Einiges davon soll im folgenden für eine

abschließende Bewertung kurz zusammengefaßt wieder aufgegriffen werden.

In Marx´ Theorie prägen Eigentumsverhältnisse soziale und politische Struktu-

ren. Marx bemüht sich damit um eine Verbindung zwischen objektiver Situati-

on, subjektiver Beurteilung dieser Situation und (politischem) Handeln. Dieser

Anspruch wird von Bourdieu aufgegriffen und zum Erklärungsziel seiner The-

orie gemacht. Marx und Bourdieu haben gemeinsam, die Gesellschaft nicht als

ein Reich der Freiheit zu betrachten, sondern den Zusammenhang von objekti-

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ver Lage und Lebenschancen deutlich hervorzuheben. In beiden Konzepten

sind die Klassen relativ geschlossen. Die privilegierten Gruppen verfügen über

Ressourcen, von denen andere ausgeschlossen sind. Eine übermäßige Mobilität

kann für die Klassenmitglieder demnach nicht existieren.

Allerdings beginnen die Unterschiede zwischen den beiden Entwürfen schon

an dem Punkt, der bei Marx klassenkonstituierend wirkt, dem Eigentum an

Produktionsmitteln. Das Verfügen über Produktionsmittel, das in der marxisti-

schen Theorie zentral für die Konstitution von Klassen ist und einen Erklä-

rungsversuch für soziale Ungleichheit darstellt, wird von Bourdieu nicht auf-

gegriffen bzw. näher kommentiert. Ähnlich verhält es sich bei dem für die

Marxsche Analyse so wichtigen Begriff der Ausbeutung. Bourdieu identifiziert

zwar vereinzelt auch Klassenverhältnisse als Ausbeutungsverhältnisse, dies

geschieht jedoch nicht selten in einem Nebensatz, ohne diesen Gedanken wei-

ter zu erläutern (vgl. z.B. Bourdieu 1987: 249). Diese Vernachlässigungen sind

Symptome dafür, daß Bourdieus Theorie nicht auf einer eingehenderen Kapita-

lismusanalyse basiert.

Auch die Frage nach dem Antagonismus von Arbeit und Kapital verliert sich

bei Bourdieu. Sind die beiden Klassen bei Marx durch ihre antagonistische

Beziehung gekennzeichnet, sind bei Bourdieu Klassen im sozialen Raum über-

und nebeneinander und damit hierarchisch angeordnet. Klar ist, daß Bourdieu

die herrschende Klasse nicht ausschließlich über Privateigentum an Produkti-

onsmitteln definiert, was die Fraktionen mit hohem kulturellen und relativ ge-

ringem ökonomischen Kapital zeigen. Für Bourdieu ergeben sich gesellschaft-

liche Klassen zum einen durch ihren nahezu identischen Besitz an kulturellem

und ökonomischem Kapital und zum anderen durch die klassifikatorische Pra-

xis der Individuen. Bourdieu geht damit über einen Ökonomismus hinaus, der

den sozialen Raum tendenziell auf ökonomische Produktionsverhältnisse redu-

ziert und die Sozialstruktur der Gesellschaft in ihrer Wirtschaft verankert.

Bourdieu hat sein Hauptaugenmerk auf die kulturellen Ausdrucksformen und

den damit verbundenen symbolischen Gebilden gerichtet. Seine Klassentheorie

ist eng verbunden mit Kultursoziologie. Damit gilt sein Interesse einem Punkt,

der bei Marx weniger konzentriert bearbeitet wurde und der aus vulgärmarxis-

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tischer Betrachtung nur als Beiwerk der ökonomischen Reproduktion abgetan

wird (vgl. Honneth 1984: 147).

Mit dieser Ausrichtung löst sich Bourdieu gleichzeitig vom relativ strengen

Objektivismus innerhalb der marxistischen Theorie. Der Klassenbegriff bei

Marx soll, so Bourdieu, objektiv-ökonomisch erklärt werden und unabhängig

von subjektiven Indizes der Individuen sein. Bourdieus Klassentheorie baut

dagegen nicht nur auf objektiven Kapitalausstattungen der Individuen auf. Von

entscheidender Bedeutung ist das Handeln der Akteure, welches in eine Theo-

rie klassenspezifischer kultureller Praktiken integriert wird. Bourdieus Klassen-

theorie ist damit auch eine Klassifizierungstheorie.

Um einen Ökonomismus zu erweitern, dehnt Bourdieu den Kapitalbegriff aus.

Damit rücken weitere Praxisformen in den Blick, denen Relevanz für soziale

Ungleichheit zukommt. Problematisch ist, daß diese Ausweitung, wie oben

gezeigt, eher einen metaphorischen Charakter besitzt, den Bourdieu nicht kon-

sequent aufzuklären vermag.

„Eine ausgeführte Surplus- oder Kapitaltheorie – mit oder gegen Marx –

findet sich trotz Bourdieus durchgängigen Hinweisen auf Kapital, Ge-

winn oder Profit so gut wie nicht.“ (Ritsert 1998: 112)

Das zentrale Paradigma, welches den Analysen Bourdieus zugrunde liegt, ist

das des sozialen Kampfes. Im Unterschied zu Marx liegt Bourdieus Aufmerk-

samkeit eher bei den Konkurrenzkämpfen als bei dem die gesellschaftliche

Ordnung gefährdenden Klassenkampf (vgl. Schwingel 1993: 86 f.). Bourdieu

analysiert unterschiedliche (Kampf-) Felder, in denen Akteure um Bewahrung

bzw. Vermehrung von Kapitalbeständen ringen und sich in symbolischen

Kämpfen um die Durchsetzung von Bedeutungen auseinandersetzen.

Es wäre verkürzt zu behaupten, Bourdieu beschäftige sich nicht mit der Frage

des Klassenkampfs. Er besitzt jedoch ein anderes Verständnis von Klassen-

kampf als Marx. Sein Begriff beinhaltet weniger den Klassenkampf in öffent-

lich ausgetragener Form durch politisch organisierten Großgruppen. Bei ihm

herrscht eher ein latenter Klassenkampf, in den die Konkurrenzkämpfe fließend

übergehen (vgl. Schwingel 1993: 142). Bourdieu zählt zum Klassenkampf all-

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tägliche Formen des interaktiven Ausdrucks, wie z.B. Arroganz, Beleidigun-

gen, Gleichgültigkeit, Prahlereien mit Prestigobjekten oder Fähigkeiten usw.

Während Marx seine Klassentheorie aus einer Geschichtsbetrachtung entwi-

ckelt, die sich auf das Fortschreiten der Produktivkräfte und auf die damit ver-

bundene Ausgestaltung von Arbeits- und Lebensformen stützt, und somit das

Prophezeien der Auflösung der Klassenantagonismen ein wichtiger Bestandteil

darstellt, fehlt bei Bourdieu solch eine historische Dimension. Ein direkter poli-

tischer Bezug wie bei Marx ist nicht angelegt. Bourdieus Konzept ist nicht auf

soziale und ökonomische Bewegungen einer bestimmten Gesellschaftsform

ausgerichtet. Bourdieu versucht dagegen eher, Reproduktionsformen und –

mechanismen der ausdifferenzierten Gesellschaften zu beschreiben (vgl. Jan-

ning 1991: 39 f.).

Bourdieus Klassenbegriff entsteht zu einem guten Teil auf der Grundlage des

Marxschen Klassenbegriffs. Gleichzeitig verändert er entscheidende Dimensi-

onen des Marxschen Klassenbegriffs, mit allen geschilderten Vor- und

Nachteilen. Es wäre mißverständlich zu behaupten, Bourdieu erweitere den

klassischen Klassenbegriff oder versuche Marx zu „retten“. Ein großer Teil der

Kritik am Marxschen Klassenbegriff wird durch Bourdieus verändertes Klas-

senkonzept unterlaufen. Mit der kulturtheoretischen Wendung des Klassenbeg-

riffs unterläuft Bourdieu z.B. Dahrendorfs Kritik am Primat des Eigentums an

Produktionsmitteln und berücksichtigt in Form des kulturellen Kapitals die von

Bell betonte zunehmende Wichtigkeit von Wissen.

Eine Marx-Kritik, die um einiges weiter geht als die Bourdieus, wird von den

neueren Konzepten zur Sozialstrukturanalyse formuliert. Die Kritik an einem

Marxschen Ökonomismus und Objektivismus führt diese Theorien zu einer

vollständigen Abkehr von der Marxschen Theorie. Vertreter der Milieu- und

Lebensstilkonzepte betrachten Klassen und Schichten als aufgelöst, gehen von

einer Entkopplung von objektiven Strukturen und subjektiven Handeln aus und

konzentrieren sich weitestgehend auf die soziokulturelle Erforschung der Le-

bensstile verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen. Diese neuere Theorie-

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strömung bildet damit den krassen Kontrast zur Marxschen Theorie. Im fol-

genden Kapitel wird nun Bourdieus Theorie den Konzepten von der Auflösung

von Klassen und Schichten gegenübergestellt und im Licht dieses Gegenpols

betrachtet.

4. Pierre Bourdieu und neuere Ansätze zur

Sozialstrukturanalyse

Kernpunkte der neueren Ansätze zur Sozialstrukturanalyse sind die Vorstellung

von der Pluralisierung von Milieus, d.h. Zerfall von alten sozialstrukturellen

Großgruppen, der Individualisierung, d.h. Zunahme autonomer Verhaltenswei-

sen der Individuen, die der Ablösung von Fremdbestimmung durch Selbstbe-

stimmung entsprechen und der Entkoppelung, d.h., daß das Bewußtsein sozia-

ler Gruppen sich nicht mehr aus ihrer sozialen Lage ableiten läßt. Diese Argu-

mentationsgrundlagen deuten schon den Perspektivenwechsel der Sozialstruk-

turanalyse an. Die kultursoziologische Erforschung von Lebensstilen ist deut-

lich ins Zentrum der soziologischen Diskussion gerückt. Im Abschnitt 4.1 The-

orien von der Auflösung von Klassen und Schichten sollen zunächst einige die-

ser Theorien vorgestellt werden. Um die neueren Ansätze verstehen zu können,

bedarf es einer Erläuterung ihrer basalen Annahmen. Was als Grundlagen für

die These der Auflösung von Klassen dient, wird in den Abschnitten 4.1.1 Di-

mensionen des sozialen Wandels in Deutschland, 4.1.2 „Neue“ Ungleichheiten

und 4.1.3 Das Individualisierungstheorem kurz zusammengefaßt. Einige aus-

gewählte Konzepte, die auf diesen Argumentationen aufbauen, werden schließ-

lich unter 4.1.4 Milieu- und Lebensstilforschung vorgestellt.

Interessant ist die Gegenüberstellung Bourdieus mit neueren Ansätzen zur So-

zialstrukturanalyse, weil bei allen Konzepten die Lebensstilforschung als ein

Kernstück anzusehen ist, Bourdieu aber gleichzeitig an einem Klassenmodell

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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse der gegenwärtigen Gesellschaften Dezember 2005

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festhält, welches von anderen Lebensstiltheoretikern als überholt betrachtet

wird. Und nicht zuletzt ist die Gegenüberstellung deshalb interessant, weil es

sich bei den Milieu- und Lebensstilkonzepten um die gegenwärtig einfluß-

reichste Strömung in der deutschen Sozialstrukturdiskussion handelt.

Die Frage nach grundlegenden Unterschieden und Parallelen von Bourdieu und

den neueren Ansätzen konzentriert sich auf drei ausgewählte Dimensionen. Im

Abschnitt 4.2.1 Zum Streit um das Objektive und Subjektive wird die Ausei-

nandersetzung um die Fruchtbarkeit von vertikalen und horizontalen Modellen,

die in die Frage nach dem Ende von Klassen- und Schichtkonzepten mündet,

zum Thema. Der Abschnitt 4.2.2 Erweiterte Handlungsspielräume und Stabili-

tät von sozialer Ungleichheit baut auf dem vorangegangenen auf, indem sich

mit dem Verhältnis von Pluralisierung, Individualisierung und vertikalen Un-

gleichheiten beschäftigt wird. Unter 4.2.3 Beschreibung und Erklärung von

Lebensstilen werden die unterschiedlichen Herangehensweisen der verschiede-

nen Konzepte an die Frage der Lebensstile beleuchtet.

Der Schwerpunkt der Gegenüberstellung liegt darauf zu zeigen, daß sich Bour-

dieu dem radikalen Perspektivenwechsel der neueren Sozialstrukturforschung

nicht zurechnen läßt, weniger subjektivistisch ausgerichtet ist und sich im Ge-

gensatz zu den Milieu- und Lebensstilkonzepten um ein Zusammendenken von

vertikalen und horizontalen Strukturen bemüht. Bourdieu zeichnet nicht das

Bild eines bunten Pluralismus, sondern ist stärker an Fragen der Macht und

Herrschaft interessiert ist und löst sich damit nicht vollständig von der traditio-

nellen Sozialstrukturanalyse. Es wird aber auch deutlich, daß in den neueren

Konzepten zur Sozialstrukturanalyse einige wichtige Aspekte thematisiert wer-

den, die sich durch ihre Relevanz für das Verständnis gegenwärtiger Gesell-

schaften hervortun, von Bourdieu jedoch nicht in erschöpfender Weise in die

Analyse einbezogen werden.

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4.1 Theorien von der Auflösung von Klassen und

Schichten

Die deutsche Sozialstrukturforschung nach dem 2. Weltkrieg hat sich in ihrer

theoretischen Ausrichtung mehrfach gewandelt. Geißler unterteilt diese Ent-

wicklung der Sozialstrukturanalyse grob in drei Phasen21 (vgl. Geißler 1996b).

Etwa von Mitte der 60er bis Mitte der 70er Jahre ist die Diskussion durch die

heftige und hoch politisierte Auseinandersetzung zwischen marxistischen Klas-

sentheoretikern und nichtmarxistischen Schichttheoretikern geprägt. Mit dem

Abflauen des Streits werden die Perspektiven der beiden Konzepte in einer

zweiten Phase allmählich erweitert. Neben die Analyse von vertikalen Struktu-

ren tritt die Erforschung von horizontalen Ungleichheiten. Die Klassen- und

Schichtanalyse erweitert sich in Richtung Ungleichheitsforschung22. Seit An-

fang der 80er Jahre verstärkt sich unter deutschen Sozialstrukturforschern zu-

nehmend die Vorstellung von der Auflösung von Klassen und Schichten. Aus-

gangspunkt für diese dritte Phase ist eine Kritik an der Klassen- und Schicht-

theorie, welche in ihrer Konsequenz die Konzepte „Klasse“ und „Schicht“ als

zentrale Instrumente der Sozialstrukturanalyse in Frage stellt. In dieser Phase

geht es nun nicht mehr um eine Erweiterung der Klassen- und Schichtanalyse

und damit um eine Perspektivenerweiterung, sondern um ihre Ablösung durch

angeblich bessere Alternativen, also um einen Perspektiven- oder Paradig-

21 Die Vorstellung von drei voneinander getrennten und nacheinander folgenden Entwick-

lungsphasen wird der deutschen Sozialstrukturforschung sicher nicht gerecht. Durch Geißlers

Vereinfachung wird die Entwicklung nicht exakt beschrieben, für eine Tendenzbeschreibung

ist die Unterteilung jedoch durchaus nützlich.

22 Schon 1969 wurde im Text von Bergmann et al. auf die Notwendigkeit einer Erweiterung

vertikaler Strukturanalysen durch Einbezug horizontaler Disparitäten hingewiesen (vgl. Berg-

mann et al. 1969). Zu dieser Zeit veränderte dies jedoch den herrschenden Sozialstrukturdis-

kurs nicht nachhaltig. Als eine Bilanzierung dieser zweiten Phase sieht Geißler das 1983 er-

schienene Sonderheft der Sozialen Welt „Soziale Ungleichheiten“ (vgl. Kreckel 1983), welches

allerdings mit dem Beitrag Becks „Jenseits von Klasse und Stand?“ schon die Richtung für die

nächste Phase aufzeigt.

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menwechsel. Klassen- und Schichttheoretiker als Vertreter vertikal orientierter

Modelle sind in dieser Entwicklung enger zusammengerückt und verteidigen

sich gegen die Kritik von Milieu- und Lebensstiltheoretikern. Die Konfliktlinie

verläuft nun zwischen Sozialwissenschaftlern, die von existierenden Groß-

gruppen ausgehen und denen, die Großgruppen als aufgelöst betrachten. Zent-

rale Bausteine für die Lebensstil- und Milieutheorien, die von der Ablösung

vertikaler durch horizontale Ungleichheiten ausgehen, sind der gesellschaftli-

che Wandel in der Bundesrepublik, sogenannte „neue“ Ungleichheiten und die

These der Individualisierung der Gesellschaft.

4.1.1 Dimensionen des sozialen Wandels in Deutschland

Ein wichtiger Ausgangspunkt für den oben beschriebenen Perspektivenwechsel

der Sozialstrukturanalyse ist die Annahme, daß sich die Lebensbedingungen

der Menschen in Deutschland besonders in den Jahrzehnten nach dem 2. Welt-

krieg radikal verändert haben.

In der Tat erhöhte sich der Lebensstandard der Bevölkerung, was z.B. an einer

Niveauerhöhung bei Einkommen und Vermögen, beim Konsum von Gütern

oder an einer Verbesserung von Wohnverhältnissen abzulesen ist. Aufgrund

einer größeren Expansionsphase des Bildungssektors wurde für immer mehr

Menschen ein höherer Bildungsabschluß möglich. Die Lebensqualität fast aller

Menschen in der BRD hat sich im Zuge dieser Entwicklung nach 1945 verbes-

sert.

Im folgenden sollen nun ausgewählte Dimensionen des sozialen Wandels in

Deutschland betrachtet werden. Es handelt sich hierbei um Einkommensent-

wicklung, Bildungsexpansion und soziale Mobilität23.

23 Aufgrund der Konzeption dieser Arbeit kann dem Themenkomplex des sozialen Wandels

nur selektiv und in einem begrenzten Raum nachgegangen werden. Mehr als eine hier geleiste-

te Tendenzbeschreibung bietet die angegebene Literatur.

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• Einkommensentwicklung

Die Bruttoreallöhne von Industriearbeitern stiegen zwischen 1950 und 1994

um das 3,9-fache (vgl. Geißler 1996a: 46). Einige andere Daten sind im Zuge

dieser Einkommensentwicklung zu lesen: Der Autobesitz von Arbeitern hat

sich zwischen 1962 und 1988 nahezu vervierfacht. Ähnliche Entwicklungen

lassen sich für die Versorgung mit Tiefkühlgeräten, Geschirrspülmaschinen

und Videorecordern feststellen. Während 1962 lediglich 2,2% aller Arbeiter-

haushalte über Telefon verfügen, sind 1988 bereits 93,7% damit ausgestattet

(vgl. Noll 1993: 112 ff.). Der Anteil des Monatsbudgets, der für Nahrung,

Kleidung und Wohnung verbraucht wird, nimmt von 75% (1950) über 60%

(1970) auf 46% (1983) ab24 (vgl. Georg 1998: 19).

Beim Blick auf die Gesamtgesellschaft ist diese Wachstumstendenz noch ver-

stärkt zu beobachten. So steigt von 1950 bis Ende der 80er Jahre das durch-

schnittliche reale (inflationsbereinigte) Volkseinkommen um den Faktor 6 (vgl.

Zapf 1991: 135).

Aus diesen Zahlen kann jedoch nicht geschlossen werden, daß sich die relative

Einkommensverteilung grundlegend verändert hätte. Der Anteil der Haushalte

mit 10.000 DM pro Monat und mehr Einkommen hat sich von 1972 (1,2%) auf

1992 (5,9%) fast verfünffacht. 1992 verdient das reichste Zehntel 23% des Ge-

samteinkommens und besitzt 50% des Vermögens. Dagegen ist das ärmste

Zehntel der Bevölkerung verschuldet (Vgl. Geißler 1996a: 55ff). 1995 müssen

11,9% der Bevölkerung mit weniger als der Hälfte des Durchschnittseinkom-

mens auskommen (Hradil 1999: 221).

Zwischen 1874 und 1974 haben mit geringen Schwankungen die unteren 50%

aller Einkommensbezieher jeweils um die 20% des Gesamteinkommens priva-

ter Haushalte verdient (vgl. Berger 1986: 133 ff.). Folgende Tabelle zeigt bei

der Bildung von Einkommensquintilen die Konstanz der Einkommensrelatio-

nen in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs.

24 Eine umfassende Darstellung der Veränderung von Lebensbedingungen von Arbeitern bietet

die Arbeit von Mooser (1983).

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Abbildung 3: Einkommensrelationen zwischen 1950 und 1980 nach Fünfteln

01020304050

Einkommensquintile

Anteil am gesamten Nettoeinkommen in

%

min. 5,4 10,7 15,6 22,8 43,3

max. 6,9 11,2 16,2 23,1 45,6

1. 2. 3. 4. 5.

Quelle: Daten nach Berger 1986: 133

• Bildungsexpansion

Die Jugend, die in den 50er Jahren zum großen Teil durch Berufstätigkeit ge-

kennzeichnet war, ist drei Jahrzehnte später weitestgehend an die Bildungsin-

stitutionen gekoppelt. 1953 sind 69% der 15-17jährigen berufstätig, 1984 sind

es noch 19% (vgl. Zinnecker 1987: 313). Die Hauptschule, die 1952 80% eines

Jahrgangs aufnahm, verlor in den folgenden Jahrzehnten immer stärker ihren

Status als Regelschule. Im Gegenzug stieg die Abiturientenquote von 6% im

Jahre 1960 auf 26% im Jahre 1993 (vgl. Geißler 1996a: 254).

Im Laufe der Jahre verweilen immer mehr Menschen immer länger im Bil-

dungssystem, immer mehr Menschen erwerben mittlere bzw. höhere Abschlüs-

se. Diese Entwicklung ließe sich mit weiteren Daten belegen, die Frage nach

der Fortdauer von Zugangsbarrieren im Bildungssystem bliebe damit noch un-

beantwortet. Denn trotz der Bildungsexpansion haben sich z.B. Zugangsbarrie-

ren zu Hochschulen für Arbeiterkinder nur geringfügig gelockert. 1969 liegt

die Studienanfängerquote für diese Gruppe bei 3%, 1990 bei 7% (vgl. Geißler

1996a: 260). Im Studienjahr 87/88 studieren 81,7% aller Kinder von Selbstän-

digen mit Hochschulabschluß, während dies nur bei 4,5% aller Kinder von

Arbeitern der Fall ist (vgl. Köhler 1992: 91).

Von der oben erwähnten gymnasialen Expansion profitierten am stärksten

Kinder aus mittleren Schichten. Die Arbeiterkinder haben trotz Chancenver-

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besserungen gegenüber mittleren Schichten weiter an Boden verloren (z.B. vgl.

Geißler 1996a: 260). Die Bildungsexpansion hat zwar die Beteiligung unterer

Schichten erhöht, die soziale Selektivität des Bildungssystems wurde allerdings

nicht grundlegend verändert, weshalb Köhler zu dem Schluß kommt:

„Die differenzielle Weitergabe kulturellen Kapitals funktioniert ungebro-

chen und die Vererbung von Bildung ist eine der wichtigsten Komponen-

ten zur Reproduktion sozialer Gruppen geblieben.“ (Köhler 1992: 124)

• Soziale Mobilität

Vertreter der Individualisierungsthese argumentieren, daß eine zunehmende

soziale Mobilität zu einer Auflösung traditioneller, berufsgruppenbezogener

Milieus beitrage (vgl. z.B. Beck 1986: 125).

Wie schon bei der Einkommensentwicklung und der Bildungsexpansion läßt

sich auch für die Soziale Mobilität keine allgemeingültige Aussage für die Ge-

samtgesellschaft treffen. Für die un- und angelernten Arbeiter in den 70er Jah-

ren ist z.B. eine hohe Stabilität der Berufspositionen zu verzeichnen, während

bei den Facharbeitern die Wahrscheinlichkeit zu dieser Zeit gestiegen ist, in

eine Angestellten- oder Beamtenposition aufzusteigen. Die Distanz dieser bei-

den Gruppen zu den oberen Bereichen der Statusgliederung ist dagegen durch

verstärkte Zugangsbarrieren gewachsen (vgl. Berger 1986: 236 f.). Aufgrund

der Mobilitätsentwicklung allein scheint es daher überzogen, von einer Ent-

strukturierung der Gesellschaft zu sprechen.

"Allen Anschein nach hat nun intergenerationale Mobilität vom späten

Kaiserreich bis in die Bundesrepublik etwas zugenommen, wobei die

Aufstiegsmobilität häufiger, Abstiege seltener wurden. Da diese leichte

Erhöhung von Mobilitätschancen im wesentlichen ein Resultat des be-

rufsstrukturellen Wandels, der einen ´Sog´ in ´white-collar´ Positionen

erzeugte, gewesen sein dürfte, stellt sich dies aber nur in engen Grenzen

als Abnahme von Chancenungleichheiten dar." (Berger 1986: 243)

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Insgesamt erbringt die Betrachtung der drei ausgewählten Dimensionen des

sozialen Wandels durchaus widersprüchliche Ergebnisse.

Zwar haben sich die Einkommensrelationen nur geringfügig verschoben, der

Ausdehnung der höheren Bildung steht das Fortbestehen von Zugangsbarrieren

gegenüber, und soziale Mobilitätsprozesse erfahren nur eine leichte Verstär-

kung in den mittleren Schichten bei gleichzeitigen Schließungsprozessen im

obersten und untersten Bereich.

Jedoch ist gleichzeitig darauf hinzuweisen, daß sich trotz dieser größtenteils

unveränderten Ungleichheitsrelationen eine Veränderung der Wahrnehmung

von Ungleichheit vollzogen haben kann. Die Daten zu den oben vorgestellten

Dimensionen lassen noch keine Rückschlüsse zu, wie die Dimensionen aus der

lebensweltlichen Perspektive der Individuen wahrgenommen werden. Auch

wenn sich gesellschaftliche Schichten unterschiedlich große Stücke vom „K u-

chen“ abschneiden, so gibt es doch für große Teile der Gesellschaft ein kollek-

tives Mehr an Einkommen, Bildung und sozialer Mobilität. Dieses kollektive

Mehr, so die Argumentation von Vertretern der „neuen“ Ausrichtung der Sozi-

alstrukturanalyse, wird von breiten Bevölkerungsteilen als eine Zunahme der

Freiheitsgrade von Entscheidungen und Wahloptionen wahrgenommen. In die-

sem Sinne können z.B. die objektiv recht unscheinbaren Mobilitätsprozesse,

die, wie Berger andeutet, auch ein Resultat eines berufsstrukturellen Wandels

sind25, aus der Perspektive des Akteurs von einschneidender Bedeutung sein.

25 Die Diskussion um den Wandel von der „Industrie-“ zur „Dienstleistungs-“, „Informations-“

oder „Wissensgesellschaft“ kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Es soll jedoch angemerkt

werden: Mit der Expansion der Dienstleistungsberufe, der höheren Qualifikationsanforderun-

gen in der Arbeitswelt und der Verlagerung des Gewichts von körperlicher auf geistige Arbeit

kommt es zu einer Schrumpfung der Schichten der manuell Arbeitenden und einer Ausdeh-

nung des tertiären Sektors. Es wäre daher zu diskutieren, in welchem Maße diese gesellschaft-

liche Dynamik von strukturierender Bedeutung für das Selbstkonzept einer Person und seiner

Entwicklung ist.

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4.1.2 „Neue“ Ungleichheiten

Seit Beginn der 80er Jahre sind verstärkt Ungleichheitsrelationen in den Mit-

telpunkt der Diskussion gerückt, die von Klassen- und Schichtmodellen nicht

oder nur in einem geringen Maße in die Analyse einbezogen werden. Es wird

darauf hingewiesen, daß neben Privateigentum, Einkommen, Bildung oder

Berufsprestige noch weitere ungleichheitsrelevante Dimensionen für die Sozi-

alstrukturforschung von Bedeutung sind (vgl. z.B. Müller 1992, Kreckel 1992,

Hörning/Michailow 1990, Hradil 1987). Die Kritik an Klassen- und Schicht-

modellen zielt auf ihre mangelnde Auseinandersetzung mit diesen „neuen“

Aspekten26 sozialer Ungleichheit. So werden z.B. sämtliche Benachteiligungen

von Frauen durch Schichtmodelle verschleiert, wenn Schichtungsindizes nicht

für Männer und Frauen getrennt berechnet werden. Im folgenden werden eini-

ge wichtige dieser „neuen“ Dimensionen kurz und exemplarisch vorgestellt.

• Regionale Disparitäten:

Es ist festzustellen, daß Unterschiede zwischen Stadt und Land, z.B. hinsicht-

lich weiterführender Bildung, nach wie vor existieren. Zudem hat das Thema

der Disparität von Regionen mit der deutschen Vereinigung eine neue Aktuali-

tät und Brisanz erhalten.

• Ethnische Herkunft:

Tendenziell vernachlässigt wurde auch der Aspekt der ethnischen Herkunft,

obwohl dieser Aspekt mit anderen Dimensionen sozialer Ungle ichheit in Zu-

sammenhang steht. So verdienen ausländische Arbeitnehmer in der Regel we-

niger als ihre deutschen Kollegen, sind häufiger belastender Arbeit ausgesetzt

und konzentrieren sich auf Berufe mit besonders geringem Sozialprestige. Zu-

dem ist bei Ausländern eine besonders hohe Arbeitslosenquote zu konstatieren.

26 Hradil weist darauf hin, daß die „neuen“ Ungleichheiten zu einem großen Teil schon recht

alt sind und nur deshalb als neu bezeichnet werden können, weil diese Dimensionen erst in der

neueren Sozialstrukturdiskussion verstärkt Aufmerksamkeit erfahren haben (vgl. Hradil 1987:

29).

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• Geschlecht:

Zwischen Männern und Frauen herrschen Ungleichheiten in der Arbeitswelt,

im Bildungssystem, in der Politik oder in der Familie. Arbeiterinnen und weib-

liche Angestellte verdienen weniger als ihre männlichen Kollegen in ähnlichen

Positionen. In Elitepositionen der unterschiedlichen Funktionsbereiche (Wirt-

schaft, Hochschule, Politik, Gesundheitswesen etc.) sind Frauen in drastischer

Weise unterrepräsentiert.

• Alter:

Ausgangspunkt der Überlegung für das Einbeziehen des Alters in die Un-

gleichheitsforschung ist das Schwanken der zur Verfügung stehenden Ressour-

cen im Lebenslauf. Bei Klassentheorien wird das Problem der Klassenzuord-

nung in der Nacherwerbsphase wenig konzentriert bearbeitet, was vor dem

Hintergrund der Änderung von Ressourcen (z.B. Einkommen) und des Weg-

falls von lebensweltlicher Statuserfahrung problematisch erscheint.

• Kohortenzugehörigkeit:

Lebensbedingungen sind, so die Kernaussage, auch abhängig von Kohortenzu-

gehörigkeit. Zeiten der Über- und Unterbevölkerung üben Einfluß auf die

Handlungsspielräume des einzelnen aus. Denn Knappheit oder Überfluß an

Arbeitskräften behindert oder fördert soziale Mobilität und wirkt damit auf

individuelle Lebenschancen ein.

• Staatliche Transferzahlungen:

Lebensphasen wie die der Ausbildung oder des Ruhestands, in denen das

Schwergewicht des Einkommens auf staatlicher Alimentierung beruht, haben

in ihrer Dauer zugenommen. Mit dem Ausbau des Sozialstaates in den 70er

Jahren wurden staatliche Transferzahlungen zu einem größer werdenden Fak-

tor. Der Anteil der Rentner an der Gesamtbevölkerung hat zugenommen wie

auch der Anteil der Familien, die einen Teil ihres Einkommens aus Unterstüt-

zungsleistungen finanzieren. Gesetzliche Rahmenbedingungen berühren heute

Bereiche wie das Wohnen oder die Arbeit und beeinflussen die Kosten im Ge-

sundheitsbereich oder die Belastung der Umwelt. Der Staat reguliert wichtige

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gesellschaftliche Institutionen wie soziale Sicherungssysteme, das Bildungs-

system oder die Infrastruktur von Städten und Regionen und nimmt damit

Einfluß auf gesellschaftliche Entwicklungen und individuelle Lebensumstände.

Das staatliche Handeln müßte daher im Hinblick auf ungleichheitsrelevante

Faktoren verstärkt analysiert werden und dabei die Bevorzugung oder Benach-

teiligung verschiedener Gruppen berücksichtigen (vgl. Hradil 1987: 47 f.).

4.1.3 Das Individualisierungstheorem

Als sehr bedeutsam für die Neuorientierung der deutschen Sozialstrukturanaly-

se ist Ulrich Becks These der Individualisierung zu bezeichnen.

Beck sieht durch die oben vorgestellten Aspekte des sozialen Wandels, aber

auch durch Konkurrenzbeziehungen, die länger und früher und in mehr sozia-

len Beziehungen erfahren werden27, durch neue urbane Großstadtsiedlungen,

die alte Wohngebiete und damit alte Nachbarschaften ersetzen und durch das

Sinken der Erwerbsarbeitszeit, wodurch sich zusätzliche Entfaltungschancen

ergeben, einen Prozeß der Individualisierung in Gang gesetzt (vgl. Beck 1983:

38 ff.).

Mit dem Begriff der Individualisierung meint Beck im wesentlichen die Her-

auslösung von Biographien aus vorgegebenen Fixierungen. Lebenswege wer-

den persönlich entscheidungsabhängig und fallen damit in den Verantwor-

tungsbereich des einzelnen (vgl. Beck 1983: 58). Individualisierung wird von

Beck nicht als sozialphilosophische Kategorie gedacht, die auf die Entwicklung

von freien, vernünftigen Persönlichkeiten abzielt (vgl. Neckel 1989: 52), son-

dern als ein historisch spezifischer, widersprüchlicher Prozeß der Vergesell-

schaftung gefaßt (vgl. Beck 1983: 42). In diesem Sinne meint Individualisie-

rung die Freisetzung der Menschen aus den selbst schon wieder zur Tradition

27 Beck argumentiert, daß durch wachsenden Konkurrenzdruck die Gleichheit der Gleichen

zerstört wird, ohne sie jedoch aufzuheben. Der Druck auf dem Arbeitsmarkt veranlasse Men-

schen mit ähnlichen Voraussetzungen dazu, ihre Besonderheit und Einmaligkeit zu unterstrei-

chen (vgl. Beck 1983: 46).

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der kapitalistischen Gesellschaft gewordenen Bezügen (z.B. Klassen, Familien-

formen, Berufsbindungen), die erweiterte Handlungsmöglichkeiten für den

einzelnen ermöglichen. Als Ergebnis der Loslösung von gesellschaftlichen

Traditionen, Institutionen und Großgruppen wird auf eine größere Vielfalt an

Einstellungen, Lebensstilen und Verhaltensweisen geschlossen.

Beck macht darauf aufmerksam, daß die Herauslösung aus traditionellen Bin-

dungen und Versorgungsbezügen für die Menschen nicht nur erweiterte Hand-

lungsoptionen bedeuten, sondern daß die Menschen auch auf sich selbst und ihr

individuelles Schicksal mit allen Risiken, Chancen und Widersprüchen verwie-

sen werden. Der einzelne findet jene nun erodierenden soziokulturellen Bin-

dungen nicht mehr vor, die in der Geschichte des Kapitalismus Rückschläge,

Scheitern und Not immer auch abgefedert haben.

Beck erkennt zudem, daß soziale Ungleichheit in Dimensionen wie Einkom-

men, Vermögen oder Bildung große Stabilität aufweist. Die Einkommensent-

wicklung hat für Beck dennoch eine erodierende Wirkung auf klassenbezogene

Milieus. Denn entscheidend ist für Beck nicht die Stabilität von Ungleichheit,

sondern die Annahme, daß objektive Gegebenheiten weder Bewußtsein noch

Handeln der Individuen entscheidend beeinflussen (vgl. Beck 1986: 124).

Seine Argumentation kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: Die Ver-

teilungsrelationen sind konstant geblieben, geändert haben sich die Lebensbe-

dingungen durch eine (einkommens- und bildungsbezogene) Niveauverschie-

bung. Durch diese Niveauverschiebung verschwinden Klassenidentitäten. Aus-

gelöst werden Prozesse einer Diversifizierung und Individualisierung von Le-

benslagen, die das Hierarchiemodell der sozialen Klassen und der Schichten in

Frage stellen.

„In diesem Sinne soll im folgenden gezeigt werden, daß durch Niveau-

verschiebungen (Wirtschaftsaufschwung, Bildungsexpansion usw.) sub-

kulturelle Klasssenidentitäten zunehmend wegschmolzen, ´ständisch´

eingefärbte Klassenlagen enttraditionalisiert und Prozesse einer Diversif i-

zierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen aus-

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gelöst wurden, die das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten

unterlaufen und in seinem Realitätsgehalt zunehmend in Frage stellen.“

(Beck 1983: 36)

Die Entwicklung der deutschen Sozialstruktur charakterisiert Beck durch den

„Fahrstuhl-Effekt“ (vgl. Beck 1996: 122 ff.). Damit ist gemeint, daß Ungleich-

heiten bestehen bleiben, durch ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung,

Konsum, etc. die Klassengesellschaft jedoch insgesamt eine Stufe hochgefah-

ren wird und dabei ihren Klassencharakter verliert.

Doch die Befunde bei Dimensionen wie Bildungschancen oder Einkommens-

entwicklung machen den ideologischen und irreführenden Charakter der Fahr-

stuhl-Metapher deutlich. Die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit wurde nicht ins-

gesamt eine Etage höher gefahren. Manche gesellschaftlichen Gruppen wurden

nur eine Etage höher gefahren, wogegen andere erst viel später zum Stehen

gekommen sind. So verschleiert die Fahrstuhlmetapher z.B., daß der Abstand

im Lebensstandard zwischen Sozialhilfeempfängern und dem Bevölkerungs-

durchschnitt in den Jahren zwischen 1962 und 1988 kontinuierlich größer ge-

worden ist (vgl. Geißler 1996: 327).

In den Rezensionen zur „Risikogesellschaft“ werden neben der Würdigung des

Konzepts die mangelnde Präzisierung der Individualisierungsthese wie die feh-

lenden historischen Analysen28 und empirischen Belege kritisiert (vgl. Esser

1987, Mackensen 1988, Joas 1989). In früheren Jahrzehnten wurden keine sys-

tematischen, methodisch mit den heutigen Untersuchungen vergleichbaren Le-

bensstilanalysen betrieben. Es gibt kaum Vergleichsstudien, die Gewißheit

über Pluralisierungstendenzen verschaffen könnten. Wenn heute mit differen-

zierten Untersuchungsansätzen gerade auch soziokulturelle Strukturen analy-

siert werden, dann ergeben sich zwangsläufig differenziertere Resultate als

28 Es ist die Frage, ob die Individualisierung im Nachkriegs(west)deutschland, wie von Beck

angedeutet (vgl. Beck 1983: 45), eine historische Besonderheit darstellt und weshalb sich diese

Entwicklung von vorangegangenen „Individualisierungsschüben“ grundlegend abhebt.

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früher. Diese methodisch erzeugte „Differenzierungstendenz“ ist dabei nicht zu

verwechseln mit realen Ausdifferenzierungstendenzen (vgl. Vester 1998: 112).

Die Individualisierungsthese hat sich jedoch auch ohne strenge Explikationen

als eine einflußreiche Diagnose der Gesellschaft durchgesetzt. Die Vertreter

der These scheinen sich größtenteils auf die Plausibilität der These zu stützen,

weil sie im Alltag mehr Differenzierung und weniger normengeleitetes Verha l-

ten zu sehen glauben (vgl. Friedrichs 1998: 7). Oft genug durch verschiedene

Autoren wiederholt, hat die These einen immer größeren Stellenwert in der

Soziologie erlangt. Über die Fachgrenze hinaus hat das Individualisierungs-

theorem ein Eigenleben angenommen und übt prägende Kraft auf den Zeitgeist

aus.

4.1.4 Milieu- und Lebensstilforschung

Die Grundlage für die Milieu- und Lebensstilkonzepte bildet die Argumentati-

on, daß der Anstieg des Wohlstandes, die Sicherung des einzelnen durch den

ausgebauten Sozialstaat, die Bildungsexpansion und die Veränderung von Ar-

beit, um nur einige Dimensionen zu nennen, eine Enttraditionalisierung bei

gleichzeitiger Pluralisierung von Lebenslagen und Lebensstilen nach sich ge-

zogen hat, die durch das Klassen- und Schichtenmodell nicht mehr zu fassen

ist.

In Stefan Hradils Buch Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesell-

schaft (1987) fließen die wichtigsten Argumente für diese Neuorientierung

zusammen. Hradil geht davon aus, daß neben dem beruflichen Höher und Tie-

fer für den einzelnen in „postindustriellen Gesellschaften“ auch die Vor- und

Nachteile viel bedeuten, die aufgrund des Geschlechts, Alters, ihrer Wohnregi-

on oder ethnischen Zugehörigkeiten erwachsen. Es sind demnach für die Men-

schen mehr Determinanten sozialer Ungleichheit wichtig als selbst in komple-

xen Klassen- und mehrdimensionalen Schichtkonzepten berücksichtigt werden

können. Basierend auf diesen „neuen Ungleichheiten“ und der Theorie der In-

dividualisierung wird vorgeschlagen, komplexe Konstellationen sozialer Un-

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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse der gegenwärtigen Gesellschaften Dezember 2005

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gleichheit mit dem Lagenbegriff zu erfassen. So können bestimmte Bevölke-

rungsgruppen hinsichtlich statusbildender Variablen wie Einkommen, Bildung

und Berufsprestige zwar weitgehend übereinstimmen, sich hinsichtlich weiterer

Dimensionen sozialer Ungleichheit wie z.B. Arbeitsplatzsicherheit oder sozia-

ler Integration deutlich unterscheiden: Gleiche soziale Schicht, aber unter-

schiedliche soziale Lage. Als soziale Lage identifiziert Hradil unter anderem

Macht-Elite, Bildungselite, Manager, Studenten, „Normalverdiener“ mit mittle-

ren Risiken, Rentner, Arbeitslose, etc. (1987: 154 ff.)29.

Die neuere Milieu- und Lebensstilforschung entstand ganz wesentlich aufgrund

des Eindrucks, daß Lebensweisen heute weit weniger von äußeren Lebensbe-

dingungen wie Klassen- oder Schichtzugehörigkeit abhängig seien. Unter Be-

rufung auf das Individualisierungstheorem, auf „neue“ Ungleichheiten und als

Antwort auf die Herausforderungen durch den sozialen Wandel im Nach-

kriegsdeutschland kam es ab den 80er Jahren zu einem regelrechten Boom der

Milieu- und Lebensstilforschung30. Anzahl, Art und Umfang dieser Konzepte

gehen dabei ebenso auseinander wie die benutzten Definitionen und Methoden.

So kamen Zapf et al. auf 25 sogenannte Lebensformen, die vor allem auf den

Familien- und Haushaltsstrukturen und dem Alter basieren. Die Lebensformen

reichen von 18-24jährigen, die bei den Eltern lebend, ledig und erwerbstätig

sind, bis zu 75jährigen und älteren alleinlebenden Witwern (vgl. Zapf et al.

1987: 32). Das Sinus-Institut ermittelte im Rahmen qualitativer Sozialfor-

schung jeweils 9 Milieus für West- und Ostdeutschland. Die Sinus-Milieus

stellen typische Syndrome von Werthaltungen zwischen den Polen Materialis-

mus und Postmaterialismus dar, sind aber auch schichtabhängig, weshalb die

Milieus nicht nur nebeneinander, sondern auch übereinander angeordnet sind

29 Zum Konzept der Sozialen Lagen siehe auch Schwenk 1999.

30 An dieser Stelle sei kurz darauf hingewiesen, daß die „neuen“ Konzepte der Milieu- und

Lebensstilforschung historische Wurzeln besitzen. Die Grundlagen der Lebensstiltheorie wur-

den schon bei Max Weber, Thorstein Veblen und Georg Simmel gelegt (vgl. Flaig et al. 1997,

Georg 1998, Klocke 1993, Hradil 1992). Müller weist darauf hin, daß in den Arbeiten dieser

Klassiker bereits alle theoretischen und analytischen Elemente moderner sozialwissenschaftli-

cher Lebensstilforschung angelegt sind (vgl. Müller 1992: 373).

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(vgl. Flaig et al. 1997, Becker et al. 1992). Hradil unterscheidet sieben soziale

Makromilieus für die Bundesrepublik (vgl. Hradil 1987: 169). Lüdtke, der das

Handeln der Individuen als sinnvolles, nutzenmaximierendes und informiertes

Agieren betrachtet, kam auf 12 Lebensstile, die Produkte von Versuch und

Irrtum und des Vergleichs mit anderen sind und sich in Symbolen und Verha l-

tensmustern äußern (vgl. Lüdtke 1990: 439, 1989)31.

Mit seiner groß angelegten Studie Die Erlebnisgesellschaft hat Gerhard Schul-

ze einen umfassenden Beitrag zur Frage der gesamtgesellschaftlichen Milieu-

struktur vorgelegt. Für ihn bilden sich soziale Milieus32 nicht durch soziale

Lagebedingungen oder schichtbezogene Vorgaben (vgl. Schulze 1992: 175).

Ausgehend von der Theorie einer Erlebnisgesellschaft, in der das Kernproblem

nicht darin besteht, physisch oder sozial zu überleben, sondern ein schönes

Leben zu führen (vgl. Schulze 1992: 39, 1990: 414), bilden sich soziale Milie-

us vielmehr durch die Beziehungswahl und Wahl eines persönlichen Stils, der

soziale Zugehörigkeit oder Abgrenzung deutlich macht.

„Milieus werden den Menschen in einer gesellschaftlichen Situation, wie

sie für Nationen mit einem hohen Lebensstandard charakteristisch ist,

nicht einfach vom Schicksal verordnet. Man kann wählen, mehr noch:

Man muß wählen, wenn man überhaupt noch irgendwo dazugehören

möchte.“ (Schulze 1992: 177)

Ästhetische Beziehungswahlen erfolgen jedoch nicht beliebig, sondern werden

von physischen und psychischen Dispositionen beeinflußt, wie sie, so Schulze,

vornehmlich in Lebensalter, Bildung und alltagsästhetischem Stil zum Aus-

druck kommen. Die Präferenzstrukturen werden in Schulzes Ansatz auf der

Ebene der Tiefenstruktur von Zeichen organisiert und über bedeutungsäquiva-

lente Zeichengruppen, sog. „alltagsästhetische Schemata“ zusammengefaßt

(vgl. Schulze 1992: 163). Der Raum der Alltagsästhetik stellt den Menschen

31 Kurze Überblicke über diese und andere Konzepte der Lebensstilforschung bieten z.B. Hra-

dil 1992, Fla ig et al. 1997, Georg 1998, Klocke 1993.

32 Schulze bemerkt: „Statt von Milieus zu sprechen, könnte man auch andere Ausdrücke ver-

wenden, etwa Lebensstilgruppen, Subkulturen, ständische Gemeinschaften, soziokulturelle

Segmente, erlebbare gesellschaftliche Großgruppen.“ (Schulze 1992: 174)

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eine „Sprache“ zur Verfügung, in welcher sie ihre unterschiedlichen Grundori-

entierungen zum Ausdruck bringen. Diese Grundorientierungen, so Schulze,

manifestieren sich als milieuspezifische Grundorientierungen, führen also zu

den einzelnen Milieus.

„Genau hier sind wir am Übergang von einer Theorie gegenwärtiger All-

tagsästhetik zu einer Theorie der gegenwärtigen Großgruppenstruktur an-

gelangt. Bildung und Lebensalter disponieren psychisch und physisch für

bestimmte Positionen in der fundamentalen Semantik und damit auch im

dimensionalen Raum der Alltagsästhetik. Zusammen mit dem Stiltypus

(...) verbinden sich Bildung und Alter zu einer signifikanten und eviden-

ten Zeichenkonfiguration, an der sich die Menschen bei der Konstitution

sozialer Milieus orientieren.“ (Schulze 1992: 166)

Für die Bundesrepublik werden fünf soziale Milieus genannt, die wesentlich

durch eine Altersgrenze und durch eine Bildungsgrenze strukturiert sind (vgl.

Schulze 1992: 279).

Abbildung 4: Milieubeschreibungen bei Gerhard Schulze

Milieu Bildung Alter

Harmoniemilieu Niedrige Bildungsgrade bis Haupt-schulabschluß, einschl. Abschluß einer berufsbildenden Schule

Älter als 40 Jahre

Integrationsmilieu Verschiedene Abstufungen der mittle-ren Reife

Älter als 40 Jahre

Niveaumilieu Alle Bildungsgrade vom Fachabitur aufwärts bis zur abgeschlossenen Universitätsausbildung

Älter als 40 Jahre

Unterhaltungsmilieu Alle niedrigen Bildungsgrade bis hin zum Niveau von mittlerer Reife und Lehre

Jünger als 40 Jahre

Selbstverwirklichungs-

milieu

Mindestens mittlere Reife und berufs-bildende Schule

Jünger als 40 Jahre

Quelle: Schulze 1992: 277 ff.

Bei der Heterogenität der verschiedenen vorgestellten Milieu- und Lebensstil-

konzepte stellt sich die Frage nach dem Erkenntniswert dieser Ansätze für die

Analyse der Sozialstruktur. Hradil argumentiert, daß die Vielgestaltigkeit der

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Befunde die Vielgestaltigkeit der gesellschaftlichen Realität widerspiegele und

damit die These von der Pluralität der Milieus und Lebensstile bestätige.

„Pluralität heißt aber auch, daß die Synopse der empirischen Befunde

kaum ´natürliche´ Gruppierungen mit hinreichend festen Abgrenzungen

und innerer Konsistenz erkennen läßt. Wir finden vielmehr vieldimensio-

nale, unstete Syndrome mit vagen Kernen, fließenden Übergängen, je-

weils eigenen Ineinanderschachtelungen und weiten Mischzonen. Aus der

Perspektive der einzelnen heißt das, daß Lebensformen vielfach mult i-

zentriert und alternierend sind: Je nach Situation (z.B. bei der Kinderer-

ziehung oder beim Wählen) und je nach Periode werden andere Facetten

des eigenen Lebensstils und der Milieuzugehörigkeit aktiviert.“ (Hradil

1992: 26)

Unterschiede zwischen den Milieu- und Lebensstilmodellen sind maßgeblich

bedingt durch unterschiedliche Auffassungen, in welchem Maße Lebensstile

von äußeren Lebensbedingungen abhängen. So gehen die Sinus-Studien noch

von einer stärkeren Prägung durch objektive Bedingungen aus, wogegen Lüdt-

ke zum Ergebnis kommt, daß Lebensstile mehr oder minder frei gewählt wer-

den (vgl. Lüdtke 1989: 124).

Den oben vorgestellten Konzepten ist gemeinsam, daß sie an der Erstellung

eines gesamtgesellschaftlichen Modells von Makromilieus interessiert sind.

Wird nun der Blick auf die Untersuchung von sozio-kulturellen Phänomen auf

einer „Mikroebene“ gerichtet, so wird wieder eine Vielzahl von speziellen Le-

bensstilgruppierungen identifiziert. Für Berlin-Schöneberg sprechen Berking

und Neckel z.B. von „der Drogenszene“, „dem aufgestylten Schicki-Micki aus

dem City-Bereich“, „existenziell radikalisierten Jugendlichen“, „dem Lebens-

stil des neoexistentialistischen Post-Punk“, „der ersten New-Wave-Generation“

usw. (vgl. Berking/Neckel 1990).

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4.2 Bourdieus Lebensstilanalysen im Vergleich zu

den neueren Milieu- und Lebensstilansätzen

4.2.1 Zum Streit um das Objektive und Subjektive

Die Sozialstrukturanalyse und die Kultursoziologie waren noch in den 70er

Jahren zwei soziologische Subdisziplinen, die nicht allzuviel Anknüpfungs-

punkte zueinander aufzuweisen hatten (vgl. Hradil 1996: 13). Mit den neueren

Ansätzen zur Lebensstilanalyse ist dies anders geworden. In der Sozialstruktur-

analyse und in der Kultursoziologie werden zum Teil ganz ähnliche Themen

miteinander weit überschneidenden Methoden und Erklärungsansätzen behan-

delt. Soweit die begrüßenswerte Annäherung zweier Forschungsgebiete.

Dieser Prozeß der Annäherung birgt jedoch Konfliktpotential. Denn die Frage

nach dem Gewicht soziokultureller Phänomene wird als eine Grundsatzdebatte

um Stellenwert und Vorrang des „Objektiven“ oder des „Subjektiven“ in der

Sozialstrukturanalyse geführt. Auf der einen Seite wird die Meinung vertreten,

daß Einkommen, Bildungsabschlüsse und andere Ressourcen für das Leben der

Menschen letztlich wesentlich wichtiger seien als kulturelle Phänomene wie

Einstellungen, Meinungen und Verhaltensformen. Objektive Umstände seien

verhaltensprägender als soziokulturelle Phänomene. Soziokulturelle Ersche i-

nungen seien eher Abbilder der Wirklichkeit als die Wirklichkeit selbst. Auf

der anderen Seite wird gesagt, daß soziokulturelle Tatbestände in fortgeschrit-

tenen Gesellschaften immer wichtiger würden. Sie seien nicht nur Bestandteile

der Wirklichkeit. Sie wiesen zudem wirklichkeitserzeugenden Charakter auf.

Denn bessere Lebensbedingungen und vermehrte Ressourcen hätten es möglich

und erforderlich gemacht, daß Menschen ihr Leben in immer höherem Maße

eigenständig wahrnehmen, interpretieren und gestalten. Letztlich geht es in

dieser Auseinandersetzung um die Frage nach Grad und Art der Differenziert-

heit moderner Gesellschaften und deren strukturbildenden Prinzipien ebenso

wie nach dem Ausmaß der Freiheit des Individuums, seinen Lebensstil selbst

zu bestimmen. Sind ästhetische Urteile und Wahlen tatsächlich in die Beliebig-

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keit des einzelnen gestellt, unabhängig von Schichtzugehörigkeit oder Klassen-

schicksal, oder ist unsere Freiheit und Individualität nur Resultat eines reali-

tätsfernen wissenschaftlichen Konstrukts?

Zunächst einmal zeigt diese Debatte, daß Bourdieus Versuch, objektive und

subjektive Sichtweisen zu verschmelzen, kaum in den neueren deutschen Sozi-

alstrukturdiskurs eingeflossen ist. Aus Bourdieuscher Sicht scheint diese

Grundsatzdebatte eigentümlich falsch, ist das Objektive zugleich auch das Sub-

jektive und umgekehrt und somit die Polarisierung der Diskussion nicht halt-

bar. In das Zentrum der Argumentation Schulzes z.B. rückt nicht - wie bei

Bourdieu - die Verknüpfung von Struktur und Praxis, sondern entsprechend der

individualisierten Perspektive, eine konstruktivistische Perspektive, die soziale

Milieus als gewählte Wissens- und Zeichensysteme faßt. Zwar existieren sozia-

le Milieus als Großgruppen und Platz der Sozialintegration weiterhin, jedoch

haben sich die Mitgliedschaftsregeln von einer Beziehungsvorgabe zu einer

Beziehungswahl verändert. Die Frage nach einer Verknüpfung von Lebensstil,

sozialer Ungleichheit und Gesellschaftstheorie fällt damit unter den Tisch.

Die These vom Ende der Klassen- und Schichttheorie wurde, wie eben ange-

deutet, in Deutschland heftig und hoch kontrovers diskutiert. Die neue Sicht-

weise der Milieu- und Lebensstilforschung erhob den Anspruch, die bestehen-

de, vornehmlich vertikal orientierte Sichtweise abzulösen. Dieser Paradigmen-

streit nahm schnell einen problematischen Verlauf. Um den eigenen Stand-

punkt durchzusetzen, wurde versucht, das andere Konzept durch den Vorwurf

der Unbrauchbarkeit zu diskreditieren. Die gegensätzlichen Entwürfe wurden

kritisiert, dabei jedoch in der Regel vereinfacht und verkürzt. Als Resultat fie-

len die jeweiligen Vorzüge des anderen Konzepts unter den Tisch. In dieser

polarisierten Auseinandersetzung schien nur noch ein „entweder - oder“, nicht

mehr ein „sowohl als auch“ möglich.

Hinter der Veränderung des Blickwinkels der neueren deutschen Sozialstruk-

turforschung manifestiert sich ein verändertes Erkenntnisinteresse. Hinter der

„traditionellen“ Sozialstrukturanalyse steckt (mal mehr, mal weniger) eine

wertbesetzte Grundhaltung. Vor allem Klassentheoretiker hatten und haben ein

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sozialkritisches Anliegen. Soziale Ungleichheiten wurden auch analysiert, um

auf soziale Mißstände hinzuweisen. Soziale Ungleichheiten wurden in diesem

Sinne teilweise als soziale Ungerechtigkeit angesehen (vgl. Geißler 1996b).

Die Milieu- und Lebensstilforschung hat sich von diesem Blickwinkel gelöst.

Die vielfältigen Lebensstile stehen nebeneinander. Es wird das Bild der bunten

und dynamischen Vielfalt der Lebensbedingungen gezeichnet. Der gesell-

schaftskritische Gehalt ist den Konzepten verlorengegangen.

An mehreren Stellen wurde gezeigt, daß Bourdieu in seinen Ausführungen das

sozialkritische Temperament nahezu vollständig abgeht. Seine Arbeiten sind

nicht durch einen direkten politischen Bezug gekennzeichnet. Gleichzeitig

wurde gezeigt, daß Bourdieus Theorie durchaus als kritisch zu bezeichnen ist.

In diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt hervorzuheben, daß Bourdieu die

Gegenwartsgesellschaft überhaupt als eine Klassengesellschaft sieht, ist die

Verwendung des Begriffs Klasse zum gegenwärtigen Stand der soziologischen

Diskussion keineswegs selbstverständlich. Bourdieu spricht von Klassen, da er

die hierarchische Struktur der Gesellschaft nicht nivelliert, sondern auf der

Beschreibung und Erklärung von Ungleichheitsstrukturen besteht. Folgendes

Zitat läßt sich in bezug auf die neuere Milieu- und Lebensstilforschung lesen:

„Leugnet man die Existenz der Klassen, (...), leugnet man letzten Endes

die Existenz von Unterschieden und Unterscheidungsprinzipien über-

haupt.“ (Bourdieu 1998: 25)

Zu einer umfassenderen Beurteilung der Auseinandersetzung um das Ende der

Klassengesellschaft müßte die Dynamik des Paradigmenstreits selbst zu einem

Untersuchungsgegenstand gemacht werden. Denn ob wir in einer hierarchi-

schen, nach Klassen segmentierten und in Homologie zu diesen Klassen sub-

jektiv wahrgenommenen und reproduzierten Gesellschaft leben oder ob Verge-

sellschaftung sich primär über subjektive Anpassungsleistungen und Präferen-

zen vollzieht: Der Streit um soziologische Konzepte ist nicht nur ein akademi-

scher Streit, sondern bezieht sich auch auf die Frage wissenschaftlicher Defini-

tionsmacht und der Konstruktion sozialer Wirklichkeit.

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Den Überlegungen Bourdieus zu den Feldern folgend ist Wissenschaft nicht

die reine Suche nach Wahrheit, sondern ein Feld, in dem es um Auseinander-

setzungen geht, z.B. um Ressourcenverteilungen, die manche stärker, manche

weniger in der Lage sind zu dominieren. Wenn nun eine wissenschaftliche

Strömung hegemonialen Charakter im Feld annimmt, dann kann dieser main

stream sehr ertragreich für den einzelnen sein, auch wenn inhaltlich dabei man-

che Fragezeichen übrig bleiben. Es bedarf deshalb z.B. der Klärung, inwieweit

persönliche Sozialisationsverläufe, politische Biographien, individuelle Strate-

gieüberlegungen, Kräfteverhältnisse und Einflußmöglichkeiten unter den betei-

ligten Wissenschaftlern Einfluß auf die Theoriebildung nehmen33. Die zu un-

tersuchende Problematik bezieht sich damit auf die Frage, in welchem Maße

die „wissenschaftliche“ Debatte von „nichtwissenschaftlichen“ Faktoren

beeinflußt wird.

4.2.2 Erweiterte Handlungsspielräume und die Stabilität

sozialer Ungleichheit

Für die Vertreter einer neueren, horizontal orientierten Sozialstrukturanalyse

resultiert aus dem Mehr an Wohlstand, Bildung und ungleichheitsrelevanten

Dimensionen, daß Soziallagen und damit Lebensformen vielfältiger geworden

sind und daß Menschen letztlich aus sozialen und kulturellen Bindungen her-

ausgelöst worden sind. Vester bemerkt, daß die kausale Schlußfolgerung, das

eine (Mehr an Lebensformen, etc.) resultiere aus dem anderen (Mehr an

Wohlstand, etc.), an „eine Umkehrung der vulgärmarxistischen Theorie der

Verelendung und der Polarisierung des Klassengegensatzes“ erinnere (vgl.

Vester 1998: 120).

Auch wenn die Argumentation, daß sich die Struktur der Gesellschaft in den

letzten Jahrzehnten differenziert und pluralisiert hat, als plausibel anerkannt

33 Ein interessanter Aspekt in diesem Zusammenhang ist z.B. der Hinweis von Dangschat, daß

die Protagonisten des geforderten Paradigmenwechsels im wesentlichen ehemalige Schüler von

Karl-Martin Bolte und Schüler der Schüler Boltes sind (vgl. Dangschat 1998: 50).

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und übernommen wird, bleibt damit eine wichtige Frage noch unthematisiert.

Denn mit der Frage nach dem Entstehen von neuen Freiheiten muß die Frage

nach dem qualitativen Ausmaß dieser Freiheiten geklärt werden. Es ist aber-

mals ein problematischer Schluß, als resultierende Konsequenz aus zunehmen-

der Vielfalt das Verschwinden von vertikaler sozialer Ungleichheit zu postulie-

ren.

Eine zentrale Kritik an den neueren Sozialstrukturtheorien zielt daher nicht

vornehmlich auf die diagnostizierten Pluralisierungstendenzen der Gesell-

schaft, sondern auf die Überbewertung einer Entstrukturierungstendenz, die im

Resultat eine Ungleichheitsforschung zu einer Vielfaltsforschung verkommen

läßt.

„Mit der unkritischen Fokussierung auf die dynamische Vielfalt der La-

gen, Milieus und Lebensstile wird der kritische Blick für weiterhin beste-

hende vertikale Ungleichheitsstrukturen getrübt. Es besteht die Tendenz,

daß vertikale Strukturen wegdifferenziert, wegpluralisiert, wegindividua-

lisiert und wegdynamisiert werden. Sie werden mit einem Schleier von

Prozessen der Individualisierung, Pluralisierung, Differenzierung und

Dynamisierung verhüllt und unkenntlich gemacht.“ (Geißler 1996: 323)

Wenn sich hauptsächlich auf Lebensstilforschung konzentriert wird und struk-

turelle Grundvoraussetzungen vernachlässigt werden, besteht die Gefahr, „den

Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen“. Es muß die Frage gestellt wer-

den, wie weit Sozialstrukturanalyse zerfleddert werden kann. Denn ob durch

eine Atomisierungsperspektive auch das Wichtige und Grundlegende des Ge-

sellschaftsaufbaus in den Blick gerät, kann bezweifelt werden (vgl. Kreckel

1998, Geißler 1996b).

In diesem Sinne sind die Milieu- und Lebensstilkonzepte mit der Frage nach

einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu konfrontieren. Nicht nur,

daß die verschiedenen Modelle der verschiedenen Autoren wenig Anknüp-

fungspunkte untereinander aufzuweisen haben. Die diagnostizierten Lebenssti-

le und Milieus stehen auch in den einzelnen Konzepten selbst meist unver-

gleichbar nebeneinander. Sozialstrukturanalyse scheint mit dieser Vorgehens-

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weise bei der bloßen Ermittlung heterogener kultureller Gruppierungen zu en-

den.

Bourdieu dagegen schafft es, vertikale und horizontale Strukturen in seinem

Konzept zu berücksichtigen. Auf konzeptueller Ebene läßt sich Bourdieus An-

satz bei der Untersuchung von Lebensstilen dazu verwenden, sowohl eine res-

sourcenbezogene Ebene der sozialen Lage, die Vertikalität nicht mit Horizonta-

lität, also Ungleichheit nicht mit Verschiedenartigkeit vermischt, mit einer E-

bene der subjektiven Sinnkonstruktion zu integrieren, aus denen schließlich ein

spezifischer Lebensstil resultiert. Da Bourdieu Lebensstilanalyse mit Klassen-

analyse verknüpft, bleibt er der Tradition der klassischen Sozialstrukturanalyse

verpflichtet. Kann neueren deutschen Theorien vorgeworfen werden, ihre Per-

spektive sei kultursoziologisch verengt, so schafft es Bourdieu, seine Analysen

um die Aspekte der Kultursoziologie zu erweitern.

Mit der angenommenen Entwicklung der Individualisierung der Gesellschaft

erweitern sich die Handlungsoptionen des einzelnen und damit auch die poten-

tiellen Möglichkeiten für eine Reduzierung von sozialen Ausschlußmechanis-

men. Nun ist zu konstatieren, daß sich trotz Auflösung rigider gesellschaftli-

cher Strukturen und Normen sowie den neuen Freiheiten für das Individuum

vertikale Ungleichheiten reproduzieren und verfestigen. Bourdieu erklärt verti-

kale Ungleichheiten trotz individueller Handlungsspielräume durch den klas-

senspezifischen Habitus, der über Generationen reproduziert Ungleichheiten in

Realität umsetzt. Durch das auf dem Habituskonzept basierende Persönlich-

keitsmodell trägt Bourdieu zu der Frage bei, was die Individuen dazu bringt,

„freiwillig“ zur Aufrechterhaltung der für sie repressiven Verhältnisse beizu-

tragen. Gleichzeitig greift er damit die Frage nach der Verankerung von Ideo-

logien im Denken und Handeln der Menschen auf.

4.2.3 Beschreibung und Erklärung von Lebensstilen

Der Vorwurf an Klassen- und Schichtkonzepte einer Fixierung auf objektive

Dimensionen kehrt sich in der Lebensstilforschung mit der Betonung subjekti-

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ver Handlungsdimensionen tendenziell in ihr Gegenteil um. Sozialstrukturelle

Analysen von Lebenschancen weichen den kultursoziologischen Erforschun-

gen von verschiedenen Lebensstilen. Mit dieser Umorientierung geht der Sozi-

alstrukturanalyse theoretischer Gehalt verloren. Durch die Deskription der Er-

scheinungsformen von Lebensstilen und die Vernachlässigung von materiell-

strukturellen Ursachen wird die oberflächliche Ebene der Handlungen und Ein-

stellungen kaum durchstoßen, was die Ursachen von Ungleichheit im Dunkeln

läßt. Diese Ausrichtung der Sozialstrukturanalyse ist rein deskriptiver Art. Der

Anspruch, soziale Ungleichheiten und deren Reproduktion zu erklären, wird

fallengelassen.

Auffallend ist, daß die überwiegende Zahl der Milieu- und Lebensstilkonzepte

weniger um eine explizite theoretische Herleitung und Begründung bemüht

sind, als vielmehr auf der Ebene von Plausibilitäten ihre Kraft entfalten. Eine

gesellschaftstheoretische Begründung und Herleitung des Lebensstilbegriffs ist

aber verlangt, wenn der Lebensstilansatz sich in der sozialen Ungleichheits-

und Sozialstrukturforschung behaupten soll. Hier haben die vorgestellten Kon-

zepte ihre Schwäche, und an diesem Punkt drängen sich die Vorzüge von

Bourdieu auf. Der Lebensstilbegriff zeigt sich hier in einem Theoriegebäude

theoretisch und systematisch verankert. Die Grundannahme Bourdieus ist, daß

Lebensstile sich als Optimierung von Handlungsressourcen ökonomischer,

sozialer und kultureller Art mit dem Ziel eines symbolischen Distinktionsge-

winns darstellen lassen. In seiner weiteren Analyse geht es um die Darstellung

spezifischer Lebensstile der einzelnen Kapitalfraktionen und ihrer Homologie

zu Umfang und Struktur der jeweils verfügbaren Kapitalien.

Was auf den ersten Blick als Ungleichartigkeit erscheint, schlägt bei Bourdieu

mit der Betrachtung von ökonomischen, politischen und soziokulturellen Funk-

tionen der Lebensstile in Ungleichartigkeit um. Durch das Konstrukt des Habi-

tus werden Erscheinungsformen des Lebensstils als Ausdrucksmittel eines Ha-

bitus und damit als Klassenkultur gedeutet und verstanden. Lebensstile werden

so nicht nur in ihrer unterschiedlichen vielfältigen Erscheinung beschrieben,

sondern nach ihrer Funktion bezüglich vertikaler oder horizontaler Abgrenzung

strukturiert. Eder expliziert das problematische Umgehen mit subjektiven Fak-

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toren in der Sozialstrukturanalyse am Beispiel von Homogenitätsprüfungen,

die das Zusammenfallen von objektiven Merkmalen und subjektiven Merkma-

len prüfen sollen (vgl. Eder 1989a: 25 f.). Durch subjektive Selbsteinschätzun-

gen wird gezeigt, daß es keine gemeinsamen Wertorientierungen oder Hand-

lungsweisen und damit keine sozialen Klassen gibt. Diese Überprüfungen

scheitern, weil sie in den „sub jektiven“ Variablen die bereits enthaltene soziale

Klassifikation übersehen. Das Aufstellen eines Zusammenhangs z.B. von Klas-

senlage und Interesse an Fußball würde noch wenig erklären. Entscheidender

ist die Frage, wie „habituell“ mit Fußball umgegangen wird, d.h. welche Be-

deutung er für unterschiedlichen Klassen hat, wie er wahrgenommen und er-

fahren wird.

„Es interessieren nicht die Meinungen, ihre Inhalte, sondern die Struktur,

die der Selektion von möglichen Meinungen, die man haben kann,

zugrunde liegt.“ (Eder, 1989: 28)

4.3 Zusammenfassung und Bewertung

Ohne Zweifel stellen die Dimensionen des sozialen Wandels, „neuer“ Un-

gleichheiten und Fragen nach einer Individualisierung der Gesellschaft eine

Herausforderung für die Analyse der Sozialstruktur dar. Für die Fruchtbarkeit

der Sozialstrukturanalyse gilt es zu prüfen, welche gesellschaftlichen Auswir-

kungen z.B. der Anstieg von Wohlstand und die Expansion des Bildungssek-

tors haben oder in welchem Ausmaß Aspekte wie Geschlecht und ethnische

Zugehörigkeit theoretisch und empirisch zu berücksichtigen sind. Einige Mi-

lieu- und Lebensstilkonzepte richten ihr Augenmerk im Gegensatz zu Klassen-

und Schichtkonzepten auf die Sphären der Freizeit und der Nicht-Arbeitszeit.

Die zugrunde liegende These lautet, daß Beruf und Erwerbseinkommen ihre

Zentralität verloren haben34. Auch hier gilt es zu prüfen, inwieweit Lebensstile

aus Strukturen der Erwerbsarbeit herrühren und auf diese wieder zurückwirken.

34 Die relevanten Fragen zu diesem Punkt wurden schon in der Debatte um die „Krise der Ar-

beitsgesellschaft“ 1982 auf dem 21. Deutschen Soziologentag zum Thema (vgl. Matthes 1983).

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Bedingen sich diese beiden Bereiche oder klaffen sie tatsächlich auseinander

und markieren so eine reale Kluft in unserer Gesellschaft?

Aus den vorangegangenen Ausführungen könnte man vereinfacht gesehen

schließen, im Versuch der Korrektur vom Extrem der Strukturdeterminiertheit

schlüge die Ausrichtung der Sozialstrukturanalyse zum anderen Extrem des

subjektiven Voluntarismus um. Als Tendenzbeschreibung ist es korrekt, eine

Verlagerung von der Reduktion sozialer Ungleichheit auf großräumige statisti-

sche Ressourcenverteilungen auf fragmentierte und subjektbezogene Wahr-

nehmung und Produktion von Ungleichheit zu identifizieren. Diese Sichtweise

greift jedoch durch ihre Grobheit zu kurz und entspricht nur zum Teil der tat-

sächlichen Lage, weshalb sie an dieser Stelle relativiert werden soll. Inzwi-

schen werden von einigen Lebensstilforschern vertikale Schranken der Plurali-

tät beachtet und analysiert. Es ist darauf hinzuweisen, daß die neuere Theorie-

entwicklung durchaus über Ansätze einer Integration von objektiver Struktu-

riertheit und subjektiver Produktion sozialer Ungleichheit verfügt. Dieser inte-

grative Ansatz wird z.B. in den Arbeiten von Vester et al. (1993, 1995), Müller

(1992) oder dem SINUS-Institut (vgl. Becker et al. 1992, Flaig et al. 1997)

verfolgt. Die formulierte Kritik ist demnach nicht für alle Milieu- und Lebens-

stilmodelle im gleichen Maße zutreffend. Bourdieus klassenanalytische Le-

bensstilanalyse wurde in Deutschland diskutiert, kritisiert und gewürdigt, dem

eigentlichen Spezifikum seines Ansatzes wurde jedoch nur selten gefolgt35. Mit

einer starken theoretischen Anbindung an Bourdieu bilden die Untersuchungen

der „Forschungsgruppe Sozialstrukturwandel“ der Universität Hannover (vgl.

Vester et al. 1993 und 1995) eine Ausnahme. Eingedenk der Leistung Bourdie-

us ist dies unbefriedigend, schließlich eröffnet Bourdieu die Perspektive, wie

ein Schritt weiter in die Richtung einer Analyse sozialer Ungleichheit zu kom-

men ist, welche die soziale Lage und Lebensstil in einer fruchtbaren Weise

miteinander verknüpft.

35 Mörth und Fröhlich belegen diese Diskrepanz für das Jahr 1993: 22 empirischen For-

schungsprojekten stehen 138 theoretisch orientierte Publikationen gegenüber (vgl.

Mörth/Fröhlich 1994: 26).

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Trotz der Würdigung der Bourdieuschen Theorie wurde gezeigt, daß Bourdieu

an verschiedenen Stellen überdacht, korrigiert und erweitert werden müßte. Im

Kontext der Gegenüberstellung Bourdieus mit den neueren Theorien der Sozi-

alstrukturforschung ist auf eine notwendige Erweiterung Bourdieus durch eine

explizite Integration von Merkmalen sogenannter „neuer“ sozialer Ungleich-

heiten hinzuweisen. Aufgegriffen, jedoch nicht ausführlicher entfaltet werden

von Bourdieu Ungleichheiten, die z.B. durch das Geschlecht, ethnische Zuge-

hörigkeit oder regionale Disparitäten resultieren. Bourdieu macht in seiner Ar-

beit deutlich, daß die moderne Klassenstruktur von einem vieldimensionalen

Gefüge von Faktoren bestimmt wird. Diese multidimensionale Sichtweise von

Bourdieu kommt im folgenden Zitat zum Ausdruck:

„Eine soziale Klasse ist definiert weder durch ein Merkmal (nicht einmal

das am stärksten determinierende wie Umfang und Struktur des Kapitals),

noch durch eine Summe von Merkmalen (Geschlecht, Alter, soziale und

ethnische Herkunft – (...) – Einkommen, Ausbildungsniveau, etc.), noch

auch durch eine Kette von Merkmalen, welche von einem Hauptmerkmal

(der Stellung innerhalb der Produktionsverhältnisse) kausal abgeleitet

sind. Eine soziale Klasse ist vielmehr definiert durch die Struktur der Be-

ziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen, die jeder derselben wie

den Wirkungen, welche sie auf die Praxisformen ausübt, ihren spezif i-

schen Wert verleiht.“ (Bourdieu 1982a: 182)

Bourdieu bringt damit seine Vorstellung eines relationalen Klassenbegriffs auf

den Punkt. Erst das Zusammenwirken von Merkmalen und auch erst durch ihre

Beziehungen mit den anderen Akteursgruppen charakterisiert eine Klasse.

Bourdieu bemerkt dazu, daß nicht alle konstitutiven Faktoren einer konstruier-

ten Klasse im gleichen Grad voneinander abhängig sind (vgl. Bourdieu 1982a:

184).

„Umfang und Struktur des Kapitals verleihen in diesem Sinne den von

den übrigen Faktoren (Alter, Geschlecht, Wohnort etc.) abhängigen Prak-

tiken erst ihre spezifische Form und Geltung.“ (Bourdieu 1982a: 185)

Bourdieu geht, wie gezeigt, von einer tendenziellen Dominanz des ökonomi-

schen Kapitals aus und betont danach gleich die Wichtigkeit des kulturellen

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Kapitals für die Klassenstruktur. Gleichzeitig hält er daran fest, daß eine Klasse

nicht nur über die beiden Kapitalarten zu bestimmen sei, sondern durch die

Struktur vieler Merkmale, in der Alter, Geschlecht, Ethnie, Region, Religion

usw. mehr als nur Sekundärmerkmale darstellen. Bei der Frage nach dem ge-

naueren Zusammenhang zwischen dem am stärksten determinierenden Faktor

Umfang und Struktur des Kapitals und anderen Merkmalen sozialer Ungleich-

heit hinterläßt Bourdieu jedoch Unklarheiten, was erklärbar ist, operiert Bour-

dieu hier vor dem Hintergrund einer schwerwiegenden erkenntnistheoretischen

Problematik. Mit der Betonung der Komplexität der sozialen Realität wird die

positive Bestimmung dieser nahezu unmöglich. Für Bourdieu greift eine objek-

tive Bestimmung der Sozialstruktur zu kurz, weil die klassifizierenden Hand-

lungen der Individuen maßgeblich Einfluß auf die Struktur der Gesellschaft

haben. Da die Praxen der Individuen Regelmäßigkeiten, aber keine Gesetzmä-

ßigkeiten aufweisen, werden Klassen letztlich als „Klassen auf dem Papier“

verstanden. Der Gegenstand ist in diesem Sinne dem Begriff stets voraus. Die-

se Problematik spiegelt sich auch in Bourdieus Aussage, daß eine Klasse durch

die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen zu definie-

ren ist. In seinem vieldimensionalen Ansatz kann so kein Merkmal sozialer

Ungleichheit einfach ausgeklammert werden. Bei der Entwicklung seines Kon-

zepts fällt Bourdieu aber (notwendigerweise) hinter seinen eigenen Anspruch

zurück. So ist z.B. der soziale Raum lediglich dreidimensional und das auch

nur, weil Bourdieu das mathematische Kunststück vollbringt und zwei Variab-

len (ökonomisches und kulturelles Kapital) auf die Abszissenachse legt.

5. Fazit und Ausblick

Auch wenn die lange vorherrschenden Klassen- und Schichttheorien mit den

neueren deutschen Sozialstrukturströmungen ihren Stellenwert eingebüßt ha-

ben und heute nahezu als unbrauchbar angesehen werden, mit Bourdieu wird

deutlich, daß ihr Gegenstand, eine Gesellschaft mit ungleichen sozialen Groß-

gruppen, nicht verschwunden ist. Denn nicht die Auflösung der Klassen und

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Schichten ist ein Ergebnis des Modernisierungsprozesses, sondern die Heraus-

bildung einer dynamischeren und pluraleren Klassenstruktur.

Der Klassenbegriff wird in der soziologischen Diskussion bereitwillig für die

Zeit verwendet, in der er von Marx entwickelt wurde, nämlich für die frühin-

dustriellen Gesellschaften am Ende des 19. Jahrhunderts. Aus heutiger Sicht

wird diese Gesellschaft ohne größere Einwände „Klassengesellschaft“ genannt,

weil die neuen Klassen der Industriearbeiter einerseits und die Kapital- bzw.

Fabrikeigentümer andererseits in den Vordergrund traten und die alte Stände-

gliederung in den Hintergrund drängten. Das Eigentum löste die familiale Her-

kunft als vorherrschende Statusdeterminante ab, obgleich gerade in Deutsch-

land die Vorrangstellung des Adels in vielen Bereichen lange erhalten blieb.

Die besondere Angemessenheit für frühe Entwicklungsstadien der Industriege-

sellschaft schließt indes nicht aus, daß Klassenbegriffe für die Strukturbe-

schreibung fortgeschrittener Industriegesellschaften sinnvoll anwendbar sind.

Vester ist der Auffassung, daß die industrielle Klassengesellschaft zu Marx´

Zeiten nur einen historischen Sonderfall darstellt und keinen Anspruch auf U-

niversalität für das Verständnis von Klassen erheben kann. Daraus leitet sich

die Forderung nach einer Entzauberung des Klassenbegriffs ab, der auf einer

historisch spezifischen Situation zur Zeit der industriellen Revolution beruht.

Vester mündet in der These, daß in gesellschaftlichen „Ruhelagen“ die Hetero-

genität von Klassengesellschaften eher der Normalfall ist, wogegen sich Klas-

senkonfrontationen erst durch Konflikte und verstärkte Verteilungskämpfe

strukturieren (vgl. Vester 1998: 109 f.).

Angebracht ist der Klassenbegriff, wenn davon ausgegangen wird, daß ökono-

mische Reproduktionsbedingungen für die Erforschung vertikaler Ungleichhe i-

ten wichtig sind. Innerhalb des Kapitalismus ist das Ziel der Kapitalakkumula-

tion, die Rendite des eingesetzten Kapitals durch eine spezifische Ordnung des

Verhältnisses von Kapital und Arbeit zu optimieren. Dazu eignen sich die Ka-

pitaleigentümer die Mehrarbeit und den Mehrwert derer an, die ihre Arbeits-

kraft gegen Geld tauschen. Je intensiver die Ausbeutungsverhältnisse gestaltet

werden, desto höher sind die Erträge. Die Möglichkeit zur Ausbeutung ist be-

sonders günstig, wenn das Angebot an Arbeit deutlich hinter der Nachfrage

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zurückbleibt, d.h. wenn es eine große Anzahl an Arbeitslosen gibt, wie dies zur

Zeit der Fall ist. Wenn sich eine Sozialstrukturanalyse zur Aufgabe macht, die

Wechselbeziehungen und Wirkungszusammenhänge relevanter Elemente einer

Gesellschaft zu erkennen und zu erklären, dann bilden die Marxschen Analy-

sen hierfür eine wichtige Erkenntnisgrundlage. Meines Erachtens kann die A-

nalyse von struktureller Ungleichheit und Unterdrückung in kapitalistischen

Gesellschaften ohne den Rückgriff auf das Konzept des abstrakten Klassenver-

hältnisses von Kapital und Arbeit nicht gelingen.

Es muß aber auch konstatiert werden, daß in gegenwärtigen Gesellschaften der

Einfluß des Verhältnisses von Kapital und Arbeit nicht in allen Bereichen der

Ungleichheitsstruktur in gleicher Weise spürbar ist. Zu den Bedingungen der

Kapitalakkumulation im Arbeitsprozeß und dem antagonistischen Verhältnis

von Kapital und Arbeit treten noch andere Reproduktionsformen der gegen-

wärtigen Gesellschaft. Zum einen ist auf die Relevanz von neuen sozialen Un-

gleichheiten hinzuweisen. Und nicht zuletzt, anknüpfend an Bourdieus Gedan-

ken zum distinktiven Charakter des Geschmacks, werden Klassen durch die

Art des Konsums reproduziert.

Die Klassenstruktur ist Alltagsbeobachtungen immer weniger zugänglich. Die

Kritik der Lebensstilforscher, die Klassen seien nicht mehr alltagsweltlich zu

erfahren, zeigt sich durch den Verzicht auf Erklären und Verstehen als theore-

tisch verkürzt. Mit Bourdieu wird deutlich, daß Klassen unter der lebensweltli-

chen Oberfläche weiter existieren. Das Bourdieusche Konzept bewahrt davor,

die von vielen Autoren vollzogene Ausschließung der Klassenhypothese mit-

zuvollziehen. Kultursoziologie, wie sie von Bourdieu vertreten wird, ist immer

zugleich eine Soziologie der alltäglichen Manifestation und Legitimierung von

Macht und Herrschaft. Manifestiert man das Ende der Klassengesellschaft an

dem Fehlen einer Arbeiterklasse mit einheitlichen Lebensstilen oder an der

öffentlichen Rhetorik, in der die Vorstellung einer Klassengesellschaft keine

oder eine untergeordnete Rolle spielt, übersieht man die Klassenformierung am

oberen Ende der Statusgliederung. Die Personen, die mit diesen Argumenten

und ihrer Deutungsmacht die Klassengesellschaft verabschieden, betreiben

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symbolischen Klassenkampf im Bourdieuschen Sinne, der als Verhinderung

der Klassenformierung am unteren Ende interpretierbar ist.

Der angemessene Weg zur realitätsnäheren Analyse der gegenwärtigen Sozial-

struktur kann meines Erachtens nicht in der vollständigen Abkehr von der

Marxschen Klassentheorie, jedoch auch nicht im orthodoxen Festhalten an ihr

bestehen. Vielmehr bedarf es der Ergänzung des Alten durch das Neue. Eine

polarisierte Debatte wie die um den Stellenwert des Objektiven und Subjekti-

ven ist für die Modernisierung der Sozialstrukturanalyse dabei wenig fruchtbar.

Es ist daher kaum verwunderlich, daß der Versuch der neueren Konzepte, das

alte Paradigma durch ein neues zu ersetzen und damit einen soziologischen

Grundbegriff vollständig in Frage zu stellen, größere Probleme nach sich gezo-

gen hat. Ein erfolgversprechender theoretischer Ansatz für die Erforschung

sozialer Ungleichheit ist dann zu finden, wenn eine Art Mittelweg zwischen

den beiden extremen Gesellschaftsinterpretationen, der These von der unver-

minderten Fortexistenz einer Klassengesellschaft und der These einer hochdif-

ferenzierten und individualisierten „Risikogesellschaft“, eröffnet wird. Diese

Arbeit hat gezeigt, daß Bourdieus soziokulturelle Klassentheorie einen mögli-

chen Mittelweg zwischen den vorgestellten Extrempositionen beschreitet.

Was mit Bourdieu auch klar wird: Klassen sind in der Realität der modernen

Sozialstruktur keine sozialen Gruppierungen mit klaren Grenzen. In diesem

Sinne sind Klassen nicht als „Realtypen“ aufzufassen, sondern als heuristische

Instrumente. Es sei daran erinnert, daß der Zusammenhang einer bestimmten

Ressourcenausstattung und eines bestimmten Sozialisationsverlaufes mit einem

bestimmten Habitus nicht als mechanistischer verstanden werden kann. Habi-

tus, Lebensstile und Lebenschancen können untypisch sein, was klare Klassen-

grenzen verschwimmen läßt. Bourdieu bezeichnet die theoretisch konstruierten

Klassen deshalb selbst als „wahrscheinliche Klassen“. Die darin liegende er-

kenntnistheoretische Problematik, in der die Unmöglichkeit der positiven Be-

stimmung mitschwingt, legt eine heuristische Nutzung der Bourdieuschen

Theorie nahe. Konzepte wie das des sozialen Raums oder des Habitus können

als Grundlage eines Untersuchungsparadigmas für die Sozialstrukturanalyse

herangezogen werden. Sie bieten eine wertvolle Grundlage zum Zweck eines

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besseren Verständnisses der Gestalt der gegenwärtigen Gesellschaften. Werden

Bourdieus Ansätze als Arbeitshypothesen gesehen, können auch andere Theo-

reme und Untersuchungsinstrumente in Bourdieus Theorie eingefügt werden.

Einige Anstöße hierfür wurden durch die Gegenüberstellung mit Marx und

neueren Theorien sozialer Ungleichheit herausgearbeitet.

Es soll erwähnt werden, daß für das Zusammenbringen und Weiterentwickeln

einer Analyse gesellschaftlicher Strukturen nicht nur diese beiden Forschungs-

traditionen Gehalt besitzen. Darüber hinaus ist die Arbeit von Max Weber zu

nennen, wie auch die Beiträge zur Mentalitätssoziologie von Durkheim und

Geiger. Die Analyse politischer Öffentlichkeiten und Persönlichkeitstypen, zu

denen die Kritische Theorie wesentliche Beiträge geleistet hat, wäre einzube-

ziehen, wie auch der historisch- lebensweltliche Klassenbegriff der englischen

Kulturalisten (z.B. Edward Thompson und Stuart Hall) fruchtbar wäre.

Es ist davor zu warnen, Bourdieus Arbeiten leichtfertig auf die gegenwärtige

Gesellschaft übertragen zu wollen. So kann z.B. der soziale Raum mit dem

Raum der sozialen Positionen und dem Raum der Lebensstile aus dem Buch

Die Feinen Unterschiede keine festen Ergebnisse für die Gesellschaft des 21.

Jahrhunderts liefern. Schließlich wurde der soziale Raum mit Erkenntnissen

auf der Grundlage empirischer Untersuchungen der 60er Jahre in Frankreich

angereichert. Bedeutsamer für die Sozialstrukturanalyse sind die vielen Frage-

stellungen und theoretischen und konzeptionellen Zugänge aus dem Werk

Bourdieus. An diesem Punkt kann nicht alles an Vorzügen Bourdieus wieder-

holt werden. Erneut erwähnt soll sein objektive wie subjektive Aspekte einbe-

ziehender Lebensstilbegriff und sein Konzept der Darstellung, Wahrnehmung

und Anerkennung ökonomischer, sozialer und kultureller Ressourcen, Prakti-

ken und Produkte als symbolisches Kapital.

Ohne Übertreibung, so läßt sich abschließend feststellen, kann Bourdieus An-

satz als größte kultursoziologische Herausforderung in der gesellschaftstheore-

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tischen Diskussion der letzten Jahre bezeichnet werden, trägt seine Arbeit doch

wie kaum eine andere zur Reorientierung der Ungleichheitsforschung, der Kul-

tursoziologie wie auch der Freizeit-, Konsum- und Lebensstilforschung bei.

„Im Bereich der Klassen-, Schichtungs- und Mobilitätsforschung gibt es

kaum ein Pendant zu seinen [gemeint: Bourdieus, C.S.] Untersuchungen,

die ebenso theoretisch diszipliniert, methodisch kontrolliert und empi-

risch kreativ in Form von Global- und Detailanalysen dem Zusammen-

hang von ´Klasse´ und ´Stand´ und damit der Bedeutung sozialer Un-

gleichheit in fortgeschrittenen Konsumgesellschaften nachgehen. Bour-

dieus Ansatz ist daher in besonderer Weise zur theoretischen Reorientie-

rung der Ungleichheitsforschung geeignet.“ (Müller 1992: 365)

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