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Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 4 Erweiterung der materialistischen Literaturtheorie durch Bestimmung ihrer Grenzen Mit Beiträgen von Heinz Brüggemann, Wolfgang Hagen, Helmut Pfotenhauer, Hartmut Rosshoff, Hannelore Schlaffer und Gisbert Ter-Nedden herausgegeben von Heinz Schlaffer J. B. Metzler Stuttgart

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Literaturwissenschaftund Sozialwissenschaften 4

Erweiterung dermaterialistischen Literaturtheoriedurch Bestimmung ihrer Grenzen

Mit Beiträgen vonHeinz Brüggemann, Wolfgang Hagen,

Helmut Pfotenhauer, Hartmut Rosshoff,Hannelore Schlaffer

und Gisbert Ter-Nedden

herausgegeben vonHeinz Schlaffer

J. B. Metzler Stuttgart

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Wolfgang Hagen

Zur Archäologie der marxistischen Geschichts- undLiteraturtheorie *

Die sogenannte »Sickingen-Debatte«

Einleitung

Ludwig Marcuse, konservativer Feuilletonist, 1952:»Dort aber, wo die Weltanschauung des Marxismus herrscht,wird ohne Schwanken die Tragödie als Mystizismus inter-pretiert und als schädlich verboten [...] Das läßt sich literar-historisch zurückverfolgen bis zur Kritik Marx' und Engels'an dem Versuch Lassalles, eine echte Tragödie zu schreiben.«[1]

, , Auf was sich Marcuse bezieht, nannte Lukács die »für diemarxistische Literaturtheorie entscheidend wichtige Debatteüber Lassalles >Sickingen<-Drama«. [2] — Er schrieb 1931:»Marx und Engels haben [...] den Hegelschen Typus derTragödie als eine Form der Tragödie angenommen. Daneben

' steht aber für sie die Tragödie des zu früh gekommenen Re-volutionärs, die Münzer-Tragödie [...] Die Tragödie er-scheint als dichterischer Ausdruck bestimmter Stufen desKlassenkampfes, und zwar sowohl bei der absteigenden alsauch bei der revolutionären Klasse.« [3]

Ernst Bloch:»So hat hernach gerade der Marxist Lukács, in Verfolgungder Marx-Engels'schen Sickingendebatte mit Lassalle, dasobjektivere Relief des Tragischen [...] herauszuarbeiten ver-sucht. Eben die gesellschaftliche Sache, wie sie der Held inseinem jeweiligen Charakter vertritt und seinen notwendigenHandlungen durchsteht.« [4]

Ernst Schumacher, marxistischer Brechtinterpret in derDDR:»Die Geschichte besitzt in sich selbst eine objektive drama-tische Vollkommenheit und Schönheit. Wenn das historischeDrama seinen Sinn darin hat, das Wesen der Geschichte zuveranschaulichen, dann findet es seine Erfüllung notwendigin der Abbildung revolutionärer Vorgänge [...] Aus diesemGrund sprachen Marx und Engels im Jahre 1859 Lassalle ihrLob aus.« [5]

* Der Titel dieses Beitrags stammt vom Herausgeber

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A. L. Dymschitz, marxistischer Literaturwissenschaftler inder Sowjetunion:»Durch die Verurteilung der subjektivistischen Willkür inLassalle >historischer< Tragödie >Franz von Sickingen< zeigtensie, daß eine richtige Erforschung der geschichtlichen Wirk-lichkeit die erste Bedingung der künstlerischen Wahrheit ist.|...] Marx und Engels verteidigten in ihrem Kampf um eineneuartige Tragödie — die Tragödie des revolutionärenHeroismus des Volkes - die realistische Kunst des Shake-spearschen Dramas.« [6]

Klaus Kändler in seinem 1970 in der DDR erschienenen Buch»Drama und Klassenkampf«:»Daß der dramatische Konflikt das ästhetische Zentrum derGattung überhaupt ist, gehört zu den Erkenntnissen, von de-nen Überlegungen zu Wesen und Funktion der GattungDrama seit jeher ausgehen. Seine Beziehungen zu den objektivvorgegebenen Kollisionen der geschichtlichen Hauptklassen,also seine geschichtlich begründete Substanz, wurde vor al-lem von der marxistischen Ästhetik seit der berühmten Sik-kingen-Debatte zwischen Marx und Engels einerseits undFerdinand Lassalle andererseits herausgearbeitet.« [7]

Ginge es hier nur darum, Ludwig Marcuse zu widerlegen, dann wäre bereits genuggesagt. Offenbar aber handelt es sich um mehr; um eine nicht unbeträchtlicheAnzahl Versuche nämlich, ein und denselben Gegenstand zu rezipieren. Schließenwir die Reihe ab mit einem eher nicht-marxistischen Rezipienten, F. J. Raddatz:

Während also Lassalle seine Wahrheit aus interpretierterWirklichkeit, aus Bewegungen, verdeutlichten Tendenzen derRealität ziehen wollte — wollten Marx und Engels ihre Wahr-heit einer in diesem Sinne interpretierten Wirklichkeit auf-stülpen, Wirkmuster und Bewegungslinien eines quasi post-humen Ideenentwurfs hineinverlagern in die Realität.Realismus war für sie nicht die überhöhte Darstellung dessen,was allenfalls möglich gewesen war, sondern die dargestellteÜberhöhung dessen, was gegebenenfalls hätte sein müssen.[8]

Es geht um sehr entscheidende Thesen und Probleme marxistischer Literaturtheo-rie und ihrer Kritik: um die Tragödientheorien Marx' und Engels' (Lukács); umdie Begründung der Tragödie des revolutionären Heroismus (Dymschitz); um die»dramatische Vollkommenheit« der Geschichte (Schumacher) und um die »ge-schichtlich begründete Substanz« des Dramas (Kandier); aber auch um Tragö-dienverbote (Marcuse) und Realitätsverfälschung als Realismus (Raddatz). - Alle

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Rezipienten, zu den konträrsten Schlußfolgerungen kommend, beziehen sich aufdieselbe Literaturdebatte: die sogenannte »Sickingen-Debatte« zwischen Marx,Engels und Lassalle aus dem Jahre 1859. Lenin [9] und Mehring [10] war sie be-kannt. Neuere Anthologien zum Thema »Marxismus und Literatur« stellen siean den Beginn der Reihe großer Literaturdebatten, welche die Geschichte desMarxismus zu verzeichnen hat. Hier nimmt sie eine privilegierte Stellung ein, weilsie in dieser Reihe die einzige ist, an der die Begründer der marxistischen Theorieselbst teilhatten. Werner Mittenzwei, der durch eine ausführliche Analyse der»Realismus-Debatte«, welche in den dreißiger Jahren zwischen Brecht undLukács geführt wurde, auch hierzulande bekannt geworden ist, stellt sie mit dieserauf eine Stufe. [11]

Demnach handelt es sich bei der Sickingen-Debatte offenbar um einen privile-gierten Ort, auf den alle Theoretiker des revolutionären oder sozialistischen Dra-mas sich zu beziehen hatten, wollten sie ihre Reflexionen in den Zusammenhangmarxistischer Theorientradition stellen. Indes fällt auf, daß einer unter ihnenfehlt: Brecht. Dies überrascht wohl umso mehr, als Brecht unter all den genanntenderjenige ist, der am frühesten und ausführlichsten auf die Probleme revolutionä-rer, nicht-aristotelischer, verfremdender Dramatik reflektierte.

Eine weitere Überraschung wird dem bereitet, der der »Sickingen-Debatte«selbst nachgehen will. Er wird schnell finden, daß es eine solche »Debatte« imeigentlichen Sinn nicht gibt; und wenn, dann als eine die nur zu einem geringenTeil von Marx, Engels und Lassalle geführt wurde. Ein kurzer Abriß über ihreEntstehungsgeschichte mag dies zeigen:

Als Ferdinand Lassalle 1857 von Düsseldorf nach Berlin übersiedelte, brachteer zwei fertige Akte seiner »Historischen Tragödie« über den Helden des Adels-aufstandes von 1522, Franz von Sickingen, bereits mit. Im Juli 1858 wurde sievollendet und als erster bekam Alexander von Humboldt, der Naturforscher, einExemplar. Noch im selben Jahr antwortete dieser mit einer kurzen Kritik brief-lich. Im Herbst äußert sich bereits ein weiterer Freund Lassalles, Ernst Dohm.Ebenfalls Exemplare erhielten, vor der eigentlichen Veröffentlichung, der Philo-soph David Friedrich Strauß und die Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer undKarl Rosenkranz. Vischers und Strauß' Kritik-Briefe sind erhalten. Anfang März1859 kann Lassalle in einem Brief an Lina Dunker eine ganze Sammlung von Stel-lungnahmen auffahren, aus dem Kreis der Berliner Literaten, Feuilletonisten undLiberalen, denen allen das Stück also längst bekannt sein mußte. - Erst jetzt,Anfang März 1859, schickte er Exemplare an Marx, Engels und Freiligrath inLondon. Freiligrath, als proletarischer Dichter und ehemals literarischer Redak-teur der »Neuen Rheinischen Zeitung« der einzige Mann >vom Fach<, antworteteals letzter dieser ganzen Reihe und beiläufig mit einer inhaltsleer-höflichen Flos-kel. [12]

Um den Sickingen ging also keine Debatte, sondern eine Briefkorrespondenz,die überdies insgesamt nur Lassalle selbst bekannt war. Franz Mehring gab 1902

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nur die Lassalleschen Briefe an Marx und Engels heraus; daher rühren seine undLenins Kenntnisse. Erst durch die Mayersche Ausgabe wurde das Ganze, 1923,veröffentlicht. Acht Jahre später, 1931, schrieb Georg Lukács, seine Tätigkeit alsKulturfunktionär in der KPD und als Chef-Theoretiker in der »Linkskurve« be-ginnend, einen Aufsatz, der als erste Aufarbeitung dieser erst damals zugänglichgewordenen Briefkorrespondenz gelten muß. Dieser Aufsatz trug den Titel DieSickingendebatte zwischen Marx-Engels und Lassalle. [13]

Offenbar von diesem Aufsatz Lukács' stammt der Name der »Debatte« her.Lukács griff aus der Mayerschen Veröffentlichung nur diejenigen Briefe heraus,die Lassalle an Marx und Engels (3 Briefe, nebst einer Handschrift über »die tragi-sche Idee«, die Lassalle an Marx schickte) und Marx und Engels, je getrennt, anLassalle gerichtet hatten. Nicht die mindeste Bedingung einer »Debatte«, nämlichÖffentlichkeit unter den Autoren (etwa im Zirkularbrief), ist damit erfüllt.Sowohl die Reduktion der weitläufigen Korrespondenz auf die zwischen Marx,Engels und Lassalle wie die Namensgebung haben jedoch alle Wiederveröffentli-chungen gemeinsam. [14] Der Strategie, der solch ein Verfahren folgt, ist nachzu-gehen.

Daß, wie zu sehen ist, die Sickingen-Debatte eine Konstruktion ihrer Rezipien-ten ist, versucht die folgende Arbeit immanent, d. h. an dem zu zeigen, was ihreRezipienten in der Mehrzahl aus ihr zu gewinnen suchten: die Theorie des histori-schen Dramas bei Marx und Engels. Der Konstruktion einer solchen Theorie sollentgegengesetzt werden, was der wirkliche Zusammenhang ist, auf dem sie sicherhebt: untersucht werden soll die Verwendung der Termini des Dramas im Kon-text der geschichtstheoretischen Schriften Marxens. Mit dem Blick, den dieseFrage eröffnet, besehen, reihen sich die Marx- und Engelsschen Briefe von 1859in die Folge jener geschichtstheoretischen Analysen ein, die seit 1848 die Marx-sche Geschichtsauffassung und Revolutionstheorie begründeten. In allen diesenSchriften, deren Gegenstand vorwiegend die 48er Revolution in Deutschland undFrankreich ist, findet der Terminus »Drama«, ebenso der der »Tragödie«, des»Schauspiels« etc., seinen eigentümlichen, oft metaphorischen Ort. In ihren Kon-text gehört der Marxsche Sickingenbrief, der von der »Tragik« der Niederlage derrevolutionären Partei des Jahres 1848/49 spricht.

Statt also mit einer fertigen Frage nach der (oder den) Tragödientheorie(n) andie Briefe heranzutreten, muß allererst das Problemfeld, das ihren Argumentenund ihrem Text zugrundeliegt, eruiert werden. Dies soll in einer Rekonstruktionder »Erfahrung«* geschehen, die Marx, längst vor der »Debatte«**, mit dem»Drama« im geschichtstheoretischen Kontext machte. Es ist eine Erfahrung über-dies, die ihn mit Lassalle verbindet.

* »Erfahrung« wird hier in keinem Hegelschen Sinn, sondern eher in der Nähe des psycho-analytischen Terminus der »Erinnerung« oder der »Erinnerungsspur« verwandelt. Es istdamit gemeint, daß Marx nicht unvorbereitet auf die Lassallesche Tragödie irifft. Vielmehr

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In einem ersten Teil soll die >Geburt< der Lassalleschen Tragödie aus seinemVerständnis der 48er Revolution gezeigt werden; zugleich kann die MarxscheErfahrung vom »Drama«, die sich im gleichen Zusammenhang einstellt, expo-niert werden. — Dies soll im zweiten Teil an Engels »Revolution und Konterrevo-lution in Deutschland«, am Zirkularbrief des »Bundes« von 1850 und an den bei-den Schriften Marxens, die die Klassenkämpfe in Frankreich behandeln,systematisiert werden. Um die Frage zu explizieren, auf die die (metaphorischeund metonymische) Verwendung der Drama-Termini antwortet, ist eine gründli-che, sowohl auf die eigenen Voraussetzungen wie auf den Hegeischen Hinter-grund des Dramabegriffs reflektierende Darstellung (Abschn. 5. und 8.) erfordert.Der dritte Teil, den Sickingenbriefen von Marx und Engels gewidmet, faßt dieThesen und Argumente, welche der zweite entfaltet, abschließend zusammen. DerMarxsche Brief steht im Problemzentrum dieses Teils. An ihm soll gezeigt werden,wie sehr die Verwendungsweise der Drama-Termini auch am Gegenstand einesBühnenstücks von derjenigen bestimmt ist, welche die geschichtstheoretischenTexte am Gegenstand der 48er Revolution erforderten. - Im vierten Teil schließ-lich werden in Form zweier Anmerkungen Einblicke in die Rezeptionsgeschichteder Sickingen-»Debatte« gewährt.

Wer erwartet, aus der nun folgenden Lektüre der Sickingenbriefe von Marxund Engels oder aus den vorbereitenden Überlegungen dazu näheren Aufschlußüber die Tragödien- oder Drama-Theorien Marx' oder Engels' zu erhalten, wirdenttäuscht. Und ebensowenig erhalten die Stimmen Beifall, die von »Tragödien-verbot« und Realitätsverfälschung sprachen.* Der privilegierte Punkt, auf den alldiese Stimmen sich bezogen, soll vielmehr dekonstruiert werden; wie sehr es sichbei seiner Privilegierung (auch auf unmittelbar philologischer Ebene) um eineKonstruktion eines Sinnes handelt, der als apriorischer immer schon unterstelltoder hineingelegt wurde — auch dies mag deutlich werden.

Brecht hat zur »Sickingen-Debatte« geschwiegen. Wo sein Schweigen sichdurch diese Untersuchung als berechtigt erweisen sollte, könnte es beredt überseine Intention sich erklären. In den Dienst solcher Absicht will das Folgende sichstellen.

aktualisiert sich an diesem Gegenstand Marx' eigenes »Verhältnis« zum Drama, das freilichnicht »seines«, sondern das seiner Texte ist.

** Sofern sich unsere Untersuchung auf den gleichen Gegenstand bezieht, den alle bis-herigen Rezipienten zugrundelegten, kann auch der, nach unserer Erklärung zudem nichtmehr irreführende Name beibehalten werden. Dennoch wäre zu fordern, daß die Sickingen-korrespondenz bald in ihrer Gänze allgemein zugänglich gemacht wird. Sie fände wenig bes-sere Dokumentationen an ihrer Seite, die ein solches Schlaglicht auf die theoretische Situa-tion in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland werfen.

* Auf Raddatz' und Marcuses Bemerkungen wird im folgenden nicht mehr eingegangen.Ihre Tendenz erledigt sich, so meinen wir, wenn den marxistischen Interpretationsversu-chen, was ihren Rekurs auf die »Debatte« betrifft, der Boden entzogen ist.

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I. Franz von Sickingen - Die Tragödie des großen Helden von 1848

1. Einmal ein Drama und »nie wieder«

Ferdinand Lassalle hatte sein Drama, am 6. März 1859, Marx zugesandt mitder Bitte um »ein eingebendes und ganz aufrichtiges Urteil, wie Du das Ding fin-dest«. [1] Keineswegs aber mit der Absicht, aus der Kritik Lehren für ein andereszu ziehen: »Wenn es auch das beste Ding von der Welt wäre«, schreibt Lassalle,»ich werde nie wieder ein Drama schreiben. Dies eine war mir wie ein Schicksals-schluß von dort oben auferlegt und keines wieder!« [2]

Im Mittelpunkt steht also das Problem eines Dramas, hervorgebracht aus»Zwang« [3] und »Schiksal von oben«. Was aber hinter diesem »Schiksals-zwang« steht, ist jene Erfahrung des Scheiterns der Revolution von 1848, von de-ren theoretischer Verarbeitung Lassalles ebenso wie Marx' und Engels1 Arbeitender 50er und 60er Jahre immer wieder bestimmt sind. — Lassalle war, kaum 23Jahre alt, an den November-Unruhen 1848 im Rheinland wesentlich beteiligt, or-ganisierte Versammlungen und tat sich als so guter Volksagitator hervor, daßnoch zehn Jahre später Engels, im Zusammenhang der »Debatte«, diese Talenterühmend erwähnen muß. [4]

Im Franz von Sickingen, der Lassalleschen Tragödie, geht es um den Versuch,die Erfahrung der Niederlage der 48er Revolution zu artikulieren; nicht aber di-rekt, sondern nur per analogiam, ins 16. Jahrhundert der Bauernkriege versetztund in den Ableitungsrahmen einer »Theorie der tragischen Idee« gebannt. Las-salle will die »Tragödie der formalen revolutionären Idee par excellence« [5]schreiben. Im Zentrum jeder Revolution, also der von 1848 wie von 1522, stand,so Lassalle, die revolutionäre »Idee«, die unerfüllt blieb. Warum?

Die ewige Schwäche einer jeden berechtigten revolutionären Idee, die sich zur Praxis kehrenwill, Hegt in dem [...] Mangel an Organisation der ihr zu Gebote stehenden Mittel [6]

Als Begründung wird ein althegelianisch zu Kant retirierendes Diktum geliefert:es bestehe ein »unlöslicher Widerspruch zwischen der spekulativen Idee [...] unddem endlichen Verstand«. [7] Das Problem dieses einen Dramas ist also genauerdas der revolutionären Subjektivität, die — im Bewußtsein einer »revolutionärenIdee« — ewig gezwungen sei, nach Mitteln ihrer Verwirklichung zu suchen, nach»diplomatischen Mitteln« [8] genauer; eben wegen solcher »diplomatischen Mit-tel« aber - Grund auch der Tragik Sickingens - »[sind] die meisten Revolutionen[...] gescheitert«. Die »meisten« - nicht alle. Denn es steckt in dem Dualismusvon »spekulativer Idee« und »endlichem Verstand« noch — kantisch — ein teleolo-gischer Springpunkt:

Die große Französische Revolution vom 1792 [...] siegte nur dadurch, daß sie verstand,den Verstand beiseite zu setzen. Hierin liegt auch das Geheimnis der Si;irkc der äußersten

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Parteien in den Revolutionen, hierin endlich das Geheimnis, weshalb der Instinkt der Mas-sen in den Revolutionen in der Regel so viel richtiger ist als die Einsicht der Gebildeten [9]

Im Anblick dieser Teleologie des Masseninstinkts verwickelt sich folglich derTheoretiker der gebildeten Idee in »sittliche Schuld«, der sich — wie Sickingen —auf die Ebene der »endlichen Wirklichkeit« begeben will und zur Diplomatiegreift. Massen nämlich haben, so Lassalle, »aus Mangel an Bildung« jene »leiden-schaftliche Hingebung« [10], daß erstlich sie sich »für das Extreme, Ganze,Unmittelbare« begeistern können. Der ränkeschmiedende Sickingen, der zu sei-nen Absichten, wie noch zu sehen ist, Schwüre, Abmachungen, Kriegslisten etc.braucht, hat diese »Hingebung« nicht. — Woher auch? »Individuen sind zu täu-schen, Klassen niemals«. [11] Was hinter dieser idealistischen Massen-Gläubig-keit im synkretistischen Amalgam des weiteren verborgen liegt, wollen wir nichtbreiter auffächern, denn es ist uns nicht um eine einfache Lassalle-Lektüre zu tun.[ 12] Festzuhalten bleiben das Problem, der Begründungsrahmen und die »Erfah-rung«, welche die die Korrespondenz initiierenden Texte preisgeben.

Das Problem ist das des tragisch, d. h. mit seiner »revolutionären Idee« am»endlichen Verstand« der Diplomatie scheiternden Helden, kurz: ob eine Drama-tisierung oder Tragifizierung revolutionär-subjektiven Handelns möglich ist.

Das zweite ist der Begründungsrahmen des Franz von Sickingen. Neben denphilosophischen finden sich bei Lassalle ästhetische Reflexionen, das Problem derHistorizität der dramatischen Figur betreffend. Das »Vorwort« der 1859 erschie-nenen Buchfassung des Stückes (ein nicht in die Neuveröffentlichungen eingegan-gener Text) enthält einen wichtigen Verweis auf Schiller, der Lassalle als der ersteDramatiker des »historischen Dramas im engeren Sinn« gilt. [13] Doch seineWürdigung erfolgt nur, um im Sinne der Hegeischen Geschichtsphilosophie überihn hinauszugehen. Statt der Schillerschen »breite[n] Vertiefung in die gedanken-und wesenlose Besonderheit des zufälligen Charakters« [14], sei es LassallescheAbsicht, »die großen Kulturgedanken solcher Wendeepochen und ihren ringen-den Kampf zu dem eigentlichen zu dramatisierenden Gegenstande zu nehmen«.| 15] »Kulturgedanke« meint hier die Reformation, in deren Spannungsfeld Sik-kingen agiert, die lutherische Botschaft auf seine Fahne geschrieben. Doch es gehtnicht um ihn, sondern — hegehsch — um ihn als »Träger«:

So daß es sich in einer solchen Tragödie nicht mehr um die Individuen als solche handelt,die vielmehr mir die Träger und Verkörperungen dieser tief-innersten kämpfenden Gegen-sätze des allgemeinen Geistes sind, sondern um jene größesten und gewaltigsten Geschickeder Nationen, Schicksale, welche über das Wohl und Wehe des gesammten allgemeinenGeistes entscheiden und von den dramatischen Personen mit der verzehrenden Leidenschaft,welche historische Zwecke erzeugen, zu ihrer eigenen Lebensfrage gemacht werden. [...]Dir Klippe eines solchen historischen Dramas einging mir nicht. [16]

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Hier entsteht dem Tragödiendichter in der Tat eine »Klippe«, die zu umschiffenauch Hegel, wie wir sehen werden, nicht anders gelungen ist, als sie » aufzuheben «,indem er für die Moderne dem individuellen Handeln keine eigentliche drama-tische Dignität mehr zuwies.* Die »Klippe« entsteht, wo der philosophischeGedanke einer Weltvernunft (»allgemeiner Geist«) auf dem »Großen Teppich derWeltgeschichte« (Hegel) [17] keiner unmittelbar sinnlichen an ästhetischenModellen fixierten Darstellungsweise mehr fähig ist; daher: wenn »der innerstewelthistorische Gedanke und Gedankenkonflikt einer solchen Wendeepoche invollständigster Klarheit dramatisch entfaltet und gestaltet wird, konnte dieGefahr nahe liegen, in das Unding einer abstrakten und gelehrten Poesie zu verfal-len« .[18] Nur mit der blanken »Überzeugung«, daß »vor der Größe solcher welt-historischen Zwecke und der ergreifenden Leidenschaft, die sie hervorzurufenvermögen, Alles weithin verblassend zurücktritt« [19], rettet sich Lassalle, schonahnend, wie es Strauß, Vischer, Marx und Engels später sagen werden, daß in dies»Alles« auch seine Tragödie »verblassend zurücktritt«. Aber dieser Mangel derTragödie, der auch einer der ästhetischen Reflexion ist, ist fast keiner; denn Las-salle hat ja auch fast keine Tragödie geschrieben, - nur diese eine einzige, »undnie wieder«.

2, Zweimal »Drama«: Die praktische Erfahrung der 48er Revolution

Was Lassalle aber geschrieben hat, sehen wir jetzt deutlicher: Eine synkretisti-sche, mit Kant- und Hegeischen Versatzstücken durchsetzte Geschichtsmetaphy-sik, worin Individuen, mit revolutionären Ideen und Leidenschaften behaftet,zwar Hegels »allgemeinen Geist« zu ihrem Zweck haben mögen, aber nicht die»Mittel«, sondern im Kantischen Dualismus nur den »endlichen Verstand« undnicht den aufs Ganze gehenden »Instinkt der Massen«. — In diesem Rahmen isteine Erfahrung ausgesprochen, der unser Interesse nunmehr gelten soll. Es ist diepraktische Erfahrung der 48er Kämpfe im Rheinland, die Lassalle mit Marx undEngels gemeinsam hat. Erstlich diese Gemeinsamkeit, eine durchaus äußerlicheKameradschaft der »Demokraten« gegen den gleichen Feind, stiftete den persön-lichen Kontakt, welcher brieflich, ein Jahrzehnt später, Fortsetzung in den Sickin-gen-Briefen findet.

Und mehr als ein persönlicher liegt in ihr ein sachlicher Zusammenhang, denndie 48er Ereignisse sind ebenso Gegenstand der revolutionstheoretischen Analy-sen von Marx und Engels, wie sie Lassalles Drama motivierten. [20] In den Schrif-ten, die unmittelbar in der 48er Revolution entstanden, lassen sich schon für Las-

* Hierzu und zum »Leidenschaft«-Begriff vgl, unten S. 54

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salle der Anknüpfungspunkt seines späteren Dramas finden, wie bei Marx dieGründe für die spätere Ablehnung des Stückes. Beide, Lasalle und Marx, verste-hen schon damals die revolutionäre Entwicklung als das, worin ihr später LassalleAusdruck gab — als »Drama«. In seiner »Verteidigungsrede im Prozeß gegen denRheinischen Kreisausschuß der Demokraten«, die Marx 1849 vor den Kölner»Assisen« hielt, blickt er auf die Kämpfe des vergangenen 48er Jahres mit folgen-den Worten zurück: »Ich wiederhole schließlich, daß erst der erste Akt des Dra-mas beendet ist«. [21] In dieser Rede mußte sich Marx in der gleichen Sache ver-teidigen wie Monate später auch Lassalle. Der »Rheinische Kreisausschuß« inKöln, dessen Sprecher Marx war, hatte zum »bewaffneten Widerstand« gegen diepreußische Steuereintreibung aufgerufen. [22] Diesem Aufruf ging vorher, daß dienach den Märzkämpfen 1848 in Berlin gebildete »Nationalversammlung« (diefreilich fungierte, ohne den König abzusetzen) im Herbst 1848 durch die vomKönig eingesetzte Regierung Brandenburg aus Berlin »vertagt« worden war. Tagespäter rückte General von Wrangel, ohne auf Widerstand zu treffen, in Berlin einund versetzte die Stadt in Belagerungszustand. Für die Kölner Demokraten warentscheidend, wie die Nationalversammlung, deren Stunde gekommen war, sichverhielt; sie beschloß, daß der König fortan kein Recht auf Steuereinziehung mehrhabe und gegen seine Eintreibung Widerstand zu setzen sei. Die »Neue Rheini-sche Zeitung« (Organ sowohl des »Kreisausschusses« wie des »Bundes der Kom-munisten«; Marx deren Chefredakteur und führendes Mitglied in beiden Grup-pen) gab diesen Aufruf weiter.

Der Aufruf der »NRZ«, dessen Marx angeklagt war, berief sich vor allem aufdie Souveränität und Legitimität der aus der März-Revolution entstandenenNationalversammlung. Ihr gegenüber stand — was den Status quo der März-revolution generell beschreibt — die noch erhaltene Macht und Souveränität derpreußischen Krone. Marx spricht daher dem Gericht zunächst jegliche Kompe-tenz ab, diesen Status quo zu entscheiden:

Der Kampf zwischen zwei Staatsgewalten liegt weder im Bereiche des Privatrechts noch imBereiche des Kriminalrechts. Die Frage, wer im Recht war, die Krone oder die Nationalver-sammlung, sie ist eine geschichtliche Frage. [23]

Urteile allein fällen die Geschichte und die geschichtlichen Gewalten:

Gewalt gegen Gewalt. Der Sieg mußte zwischen beiden entscheiden. Die Konterrevolutionhat gesiegt, aber nur der erste Akt des Dramas ist beendet. [24]

Hinter diesen Worten Marxens liegt nun das Problem, das seine Wirkung (ob ge-lost oder ungelöst) bis in die Korrespondenz um das Drama des Lassalle tut. -Es ist die Marxsche Position (schon seit der Deutschen Ideologie von 1845), daßnicht Individuen oder Gerichte, sondern Klassen und ihre materiellen Interessen

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die »Subjekte« der Geschichte sind.* Es handelt sich bei den Kämpfen um dieSteuerverweigerung um Klassenkämpfe im Sinne des Kommunistischen Mani-fests. Denn wo ein »Sieg entschieden«, d. h. die konterrevolutionäre über die bür-gerlich-revolutionäre Klasse gesiegt hat, ist dieser Zustand nicht objektivistischein entgültiges Faktum, sondern gleichsam noch in einer Entwicklung einbegrif-fen. Daher ist soviel hier schon zu sagen: Die Rede von der geschichtlichen Ent-wicklung als einem »Drama«, die hier metaphorisch ist, gibt einen Hinweis aufden Status des historischen Subjekts wie auf die Verlaufsform revolutionärer Epo-chen.

Lesen wir aber zunächst die Verteidigungsrede Lassalles, gehalten noch im sel-ben Jahr 1849. Lassalle war angeklagt in gleicher Sache. Er hatte in Neuß auf eineröffentlichen Versammlung das »Volk verhetzt« und zum bewaffneten Widerstandgegen die Krone aufgerufen. Seine Verteidigung ist als »Assisen-Rede« der Arbei-terbewegung im 19. Jahrhundert ein Begriff gewesen [25]; ein Dokument derNähe ebenso wie der Ferne Lassalles zu Marx.

Zwei Souveräne (die Nationalversammlung und die Krone; W. H.) existiren nicht in einemStaat, so wenig, wie zwei Sonnen am Himmel. [26]

Der Sache nach argumentiert Lassalle zunächst gleich. In der naturphilosophi-schen Sonnenmetapher aber deutet sich schon die differente philosophischeBegründung an, kraft deren Lassalle seine Tat legitimieren will. Sie ist dem Schlußseiner Rede deutlich zu entnehmen. Er stellt die Frage, welche Bedingung gegebensein müsse, daß »die Erhebung gegen die königliche Gewalt zur Pflicht und zumRecht des Bürgers wird. [27] Schon diese Frage ist im Vergleich zu Marx funda-mental unterscheidend:

»In unserem Aufruf weiter gegangen [zu sein]« sagt Marx, »als die Nationalversammlung[...] dies [war] unser Recht und unsere Pflicht.« [28]

Statt der ethischen Frage nach den allgemeinen Bedingungen von »Recht undPflicht« wird bei Marx »Pflicht« gleichsam nur als ein Vollziehen der historischenBewegung der Revolution aufgefaßt, einer Bewegung, deren Präzisierung nachMaßgabe der historischen Analyse — sie macht den Großteil der Marxschen Redeaus — erfolgt. Marx spricht von »Pflicht« schon annähernd in dem Sinne einerNotwendigkeit der »Einsicht in die Bedingungen, den Entwicklungsgang und dasEndziel der proletarischen Bewegung« [29], die ein Jahr später das Programm des

* »Was hier vorlag« führt Marx in seiner Rede aus, »war kein Konflikt zweier Fraktionenauf dem Boden einer Gesellschaft, das war der Konflikt zweier Gesellschaften selbst, einsozialer Konflikt, der eine politische Gestalt angenommen hatte, es war der Kampf der feu-dal-hürokratischen mit der modernen bürgerlichen Gesellschaft.« (MEW 6, S. 252)

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»Bundes« fordern wird. Mag auch der theoretische Status von »Einsicht« und»Pflicht« im historischen Kontext, auf den verwiesen wird, durchaus unbestimmterscheinen — den Rang einer ethischen Maxime erhebt er nicht. Anders Lassalle.Auf seine Frage gibt er sich zur Antwort, daß unbedingte Verpflichtung zum Auf-stand dann bestehe,

wenn die Gesetze des Landes durch die königliche Gewalt gebrochen werden, zumal jeneersten und heiligsten Gesetze, jene Palladien der allgemeinen Freiheit, die man nicht antastenkann ohne den Staat in seinen Grundtiefen einzustürzen. [30]

Sehen wir ab von der — für Lassalle signifikanten - Euphorie in der Einschätzungdes Staates. [31] Statt aber, wie er begann, die historische Unentschiedenheit desKlassenkampfs jener zwei »Souveräne« zum Ausgangspunkt zu nehmen, sind beiLassalle die »Sonne« und die »Palladien«, ethifizierte Geschichtsphilosophie undkategorischer Imperativ, die Legitimationsfiguren revolutionärer Tat.

Wenig Wunder nimmt denn der würdevolle Schluß der Rede. Es ist ein Zitatdes Dramas, mit dem Lassalle schließt:

Laßt die Rechnung der TyrannenAnwachsen, bis ein Tag die allgemeineUnd die besondere Schuld auf einmal zahlt

- Rede der Rütli-Verschworenen in Schillers »Tell« —

Wir wollen trauen auf den höchsten Gottund uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen [32]

Ein Zitat, fügt Lassalle hinzu, welches »besser [...] die Gedanken, die meine ganzeSeele durchdringen, nicht ausdrücken kann«. [33]

Zweimal also »Drama«: Lassalle sieht und legitimiert sich als kraft ethischerGesinnung gestärkter Heros des Volksaufstandes.* Daß er scheiterte, überflügeltdas Pathos der Rütli-Verschworenen. Die dramatische Poesie funktioniert hier,ganz im Schillerschen Sinn [34], als ästhetische Überhöhung der Handlungsunfä-higkeit und des Scheiterns des historischen Subjekts.

Marx' Schlußsatz: »Nur der erste Akt des Dramas ist beendet«, enthält sicher-lich weder eine ethische Maxime des historischen/dramatischen Subjekts nochdient es als Legitimation seiner spezifischen Tat. Insofern er dem historischen Pro-zeß selbst das Signum des Dramatischen gibt, muß er systematisch, d. h. im Kon-text der Marxschcn Geschichtstheorie untersucht werden. Umso notwendiger ist,der Marxschcn »Erfahrung« der 48er Revolution als »Drama«, welche sich theo-

vgl. hierzu Marx Brief an Kugelmann vom 23.2.1865

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retisch in der Verhältnisbestimmung von Drama/Geschichte niedergeschlagenhat, an weiteren Texten nachzugehen. Wenn aber Marx 1859 mit einem histori-schen Drama Ferdinand Lassalles konfrontiert wird, so ist schon jetzt soviel deut-lich, daß er ebenso an ein Produkt eines »Vulgärdemokraten mit stark bonapar-tistischen Neigungen« (Engels) [35] gerät, wie an ein Stück seiner eigenentheoretischen »Erfahrung«.

3. »Franz von Sickingen« und das andere Drama

Lassalle macht es uns einfacher, von der Artikulation seiner unmittelbaren»Erfahrung« von 1848 zu der Konzeption seines Dramas eine ungebrochene Ver-bindungslinie zu ziehen. Das Pathos des »Palladien«-bewußten, geschlagenenHeros, der doch an sich nicht zerbricht - dies ist auch das Thema von Lassalleshistorischer Tragödie, des »Franz von Sickingen«.

Franz von Sickingen, so die Fabel, wird, nachdem Kaiser Karl V. Luther mitAcht und Bann belegt hat, von Ulrich von Hütten an die gemeinsame Verbunden-heit mit den lutherischen »großen Zwecken« [36] der Menschlichkeit gemahnt.Hütten fordert den erfahrenen Heerführer Sickingen auf, da der Reformator nun-mehr geächtet sei, einen »Religionskrieg« [37] gegen Kaiser Karl und die »römi-sche Vergewaltigung« zu führen:

Hütten: [...] Noch ist nichts verloren,Noch soll kein Kaiser das Palladumder Nation uns durch sein Machtwort raubennoch lebt in deutschen Männern deutscher Sinn,und unser Arm weiß noch das Schwert zu schwingen. [38]

Sickingen verfährt indes taktisch, »diplomatisch«; zwar hat er gleiche Ziele wieHütten, ja er strebt sogar »Kaiser zu werden«, und will »Umformung der Kircheund des Reichs« [39]; aber als Mittel, dies zu erreichen, will er sich des unschein-baren Anlasses einer »Privatfehde« bedienen, die er mit dem Fürsten von Triernoch auszutragen habe, vermeinend, daß, wenn Trier erobert sei, er die Stärkehätte, im offenen Kampf gegen Kaiser und Reich zu siegen. - Der Plan mißlingt.Trier kann nicht erobert werden, es kommt eine militärische Panne dazwischen,wie den Belagerern von Trier berichtet wird. Die Kräfte sind zu schwach. Inzwi-schen haben sich — wider Erwarten — andere Heere mit dem Trierer Fürsten ver-bunden, rücken an auf Trier, dem Belagerten zu Hilfe - Sickingen muß fliehen.

Der letzte Fluchtpunkt, die Burg Landshut, ist Schauplatz des V. Aktes. DieBurg wird von starken Kräften belagert, ihre Stunden sind gezählt. — Anagnorisis:Die militärische Panne vor Trier war kein Zufall, wie Balthasar, Sickingens Pri-vatsekretär, ihm eröffnet;

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Balthasar: O nennt nicht Zufall, was notwendig ist,Weil ihr den Zufall nicht berechnen könnt,ist's Torheit auf des Zufalls schwanke Spitzedas Weltgeschick zu setzen.

Und dem Zufall setzt sich der aus, der taktiert, »listet«. [40] Auch hier öffnet Bal-thasar seinem Herrn die Augen:

Balthasar: Verkleidunggilt auf dem Markte der Geschichte nicht,wo im Gewühl die Völker sich nur ander Rüstung und dem Abzeichen erkennen;drum hülle stets vom Scheitel bis zur SohleDich kühn in deines eigenen Banners Farbe [41]

Diese Erkenntnis kommt zu spät; der Übermacht der Belagerer kann die Burg we-nige Stunden nur noch standhalten. Zu spät kommt auch die erst im V. Akt expo-nierte Unterstützung der Bauern. Jos Fritz, der Bauernführer, hatte in einer Szenedem zurückkehrenden Hutten (dessen Auftrag, Entsatz bei Freunden zu holen,war gescheitert) der Sympathie versichert, die Sickingen bei den Bauern genösse.Ein Rauchzeichen von der Burg genüge jetzt, daß die Bauern in Sickingen ihrenFührer erblickten und den Belagerern in den Rücken fallen würden. Doch als Hut-ten auf die Burg kommt, liegt Sickingen, bei einem Ausfallversuch tödlich getrof-fen, im Sterben.

Dem Stück fehlt offenbar, das zeigt die Nacherzählung, vor allem Handlung.Alle entscheidenden Ereignisse, Entscheidungen und Umschwünge sind monolo-gisch dargestellt. Aufs Genaueste aber illustriert das Stück die philosophischeDualismus-These von »revolutionärer Idee« und »endlichem Verstand«. Ersteredarf sich eben nicht verkleiden, soll der »Instinkt« der Bauern nicht untätig blei-ben. Doch gerade diese metaphysische Dualität der Begründung der Tragik pro-duziert den ästhetischen Mangel der Tragödie. Die »Peripetie«, Kernstück destragischen Modells, hier das Scheitern eines Feldzuges aus »zufälligem« Grund,erscheint tatsächlich nur dem nicht als Zufall, der der Balthasar-LassalleanischenPhilosophie der »Verkleidung« inne ist, die nur aus den Worten Balthasars, nichtaber der dialogischen Verwicklung der Handelnden entspringt. Damit aber ent-hobt diese Tragödie sich ihres klassischen Bodens, auf dem sie, Schiller und Ari-stoteles zitierend [42], angetreten war; und übrig bleibt das »Unding abstrakterPoesie«.

Nur wenige Male aufgeführt [43], wäre das Stück seiner verdienten Vergessen-heit anheimgefallen, hätte Lassalle es nicht zum Gegenstand einer Korrespondenzmit Marx und Engels gemacht. Marx und Engels kritisieren, auf geschichtstheo-retischer und ästhetischer Ebene Lassalles Tragödie und plädieren, je verschieden,

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für ein anderes Drama. Doch zu sehen wird sein, auf welche Weise, Denn auchihre Kritik und ihre Alternativen haben eine Vorgeschichte, ähnlich der, aus wel-cher die Konzeption des Lassalleschen Stückes stammt. Dieses kann als tragifi-zierte Sublimation des »Palladien«-bewußten Volksagitators von 1848, der schei-terte, gelesen werden. So wie Lassalles » Assisen-Rede« mit der Hoffnung auf »deneinen Tag, der alle Schuld auf einmal zahlt« schloß, so endet auch Lassalles Tra-gödie mit einem Wort Huttens, durch den Lassalle, nach eigenem Wort, sprach:»Künft'gen Jahrhunderten vermach ich unsere Rache!« [44] — Wenn nun dieseine Drama (aus Gründen, die die »Debatte« noch wird präzisieren lassen) ge-scheitert ist, wie und von welchen Voraussetzungen her ist ein anderes möglich?Unter diesen Voraussetzungen ist es die erste, das Verhältnis von Geschichte undDrama zu thematisieren, d. h. zu fragen, ob die historischen Epochen der Revolu-tion als dramatische dargestellt werden können. Schon 1848 ist für Lassalle dieseFrage geklärt; er sieht in der Revolution einen dramatischen Heroismus von jeherwirksam.

Auch für Marx scheint sie geklärt, wenn er von der 48er Phase der Revolutionsagt, daß »erst der erste Akt des Dramas beendet« sei. Doch die Klärung wirddurch einen metaphorischen Ausdruck gegeben, welcher den Status quo der »ge-schichtlichen Gewalten« und des Klassenkampfs metaphorisiert. Die Dramame-tapher im geschichtstheoretischen Kontext, wie sie bei Marx hier verwandt ist,behauptet indes nur, in metaphorischer Rede, daß eine historische Phase derRevolution dramatisch sei. In ihr ist die Frage zum Verstummen gebracht, aufwelche sie antwortet und nur der Kontext, in dem sie steht, verleiht ihr eineBedeutung. Funktion und Bedeutung der Marxschen Dramametapher in derRekonstruktion des Kontextes, in dem sie fungiert, und der Frage, auf die sie ant-wortet, nachzugehen, kann erst die Vorgeschichte des Marxschen Kritikbriefesund sein Plädoyer für ein anderes Drama sichtbar machen; sie ist zugleich seinetheoretische »Erfahrung« der 48er Revolution.

II. Die »unbestimmte Ungeheuerlichkeit« - Marx' und Engels' theoretischeErfahrung der 48er Revolution

4. Ein »zweiter Akt«?

In einer Ende 1851 geschriebenen, auf die Ereignisse der deutschen Revolutionzurückblickenden Betrachtung ist es Engels, der den Marxschen Satz vom »erstenAkt des Dramas« wiederaufnimmt:

Der erste Akt des revolutionären Dramas auf dem europäischen Kontinent ist zu Ende. [1]

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Engels aber gibt einen Hinweis auf den »zweiten Akt«, den die Rede vom »ersten«impliziert; daran ist, was »Drama« bezeichnen soll, näher zu sehen:

Und die wahrscheinlich nur sehr kurze Ruhepause, die uns zwischen dem Schluß des erstenund dem Anfang des zweiten Aktes der Bewegung vergönnt ist, gibt uns zum Glück die Zeitfür ein sehr notwendiges Stück Arbeit: Für die Untersuchung der Ursachen. [2]

Als der »erste Akt« gilt Engels die 48er Revolution in Deutschland, Frankreichund Österreich insgesamt. Diese »Bewegung«, das Synonym für »Drama«, istGegenstand der »Untersuchung der Ursachen«. Wir wollen Struktur und Charak-ter dieser Bewegung, ihre historischen Ausdrucksformen in differenten Klassenin-teressen und ihre Widersprüchlichkeit, soweit die Engels darstellt, verfolgen; ihreKennzeichnung als »Drama« steht dav.on nicht getrennt, sondern ist selbst, wieentsprechende Metaphern (»Bühne« [3], »Komödie« [4], »Schauspiel« [5]) in dieDarstellung ihrer Verlaufsgeschichte eingeschrieben.

Widersprüchlich ist die Bewegung der 48er Revolution auf folgende Weise:Einerseits ist sie bürgerlich. Ihre Forderungen nach Pressefreiheit, allgemeinemWahlrecht, »Schwurgerichten« [6] richten sich in Deutschland, worauf Engels'Untersuchung sich konzentriert, gegen die absolutistische Regentschaft Preußens.Das Emporkommen der Verfechter dieser Forderungen, der liberalen »industriel-len und kommerziellen Bourgeoisie«, datiert Engels von 1840 ab. Andererseits si-gnalisieren die Arbeiteremeuten, wie die der schlesischen Fabrikarbeiter im Jahre1844, das Wirken proletarischer Kräfte innerhalb der Bewegung. Ihre Aufständezielen gegen die Unterdrückung durch die »industrielle Bourgeoisie« und gehenso über das Interesse dieser Partei hinaus. [7] Sie verbreiten den Schrecken der»Anarchie«. [8] Die bürgerlichen Revolutionäre, im Schrecken der Anarchie,bleiben auf halbem Wege stehen: Der Thron des Preußischen Königs bleibt unan-gefochten. Die »Nationalversammlung«, Produkt des Märzsturms, setzt sich stattder Vertreibung des Königs die »Vereinbarung einer Verfassung mit der Krone«zum Ziel. Daraus entsteht — für wenige Monate — jene Doppelregentschaft vonKrone und Versammlung, auf die Marx in seiner Verteidigungsrede als Status quoeiner geschichtlichen Frage verwies.

Dadurch aber, daß die proletarischen Kräfte, die sich schon gegen sie richten,von der bürgerlichen Bewegung in ihren Dienst genommen werden, ist diese zumScheitern verurteilt. Umgekehrt hat die »selbständige Bewegung der Arbeiter-klasse«, an deren Zielen und Verwirklichungschancen Engels festhält,

durch die Revolution ein zeitweise Unterbrechung erfahren. Die unmittelbaren Bedürfnisseund Umstände der Bewegung gestatteten es nicht, auch nur eine der besonderen Forderun-gen der proletarischen Partei in den Vordergrund zu stellen. [9]

Das Proletariat tritt als »selbständiges« nicht auf. Das macht den entscheidenden

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Unterschied zur Februarrevolution in Frankreich, vor allem zu den Junikämpfenin Paris. Dort entwickelt sich, wie Marx zeigte (s. u.), die bürgerliche Revolutionzum Klassenkampf des Proletariats gegen die bürgerlichen Klassen fort. Zufolgedieser französich/deutschen Ungleichzeitigkeit, die auch den verfrühten Beginnder Märzrevolution verursachte [10], kann die »proletarische Partei« in Deutsch-land ihre »Selbständigkeit« nur am französischen Bild erfahren:

In der Tat, solange der Boden für ein selbständiges Vorgehen der Arbeiter nicht geebnet,solange das allgemeine und direkte Wahlrecht nicht eingeführt war, solange noch die 36größeren und kleineren Staaten bestanden, durch die Deutschland in zahllose Gebietsfetzenzerrissen wurde, — was blieb da der proletarischen Partei anders übrig, als die für sie hoch-wichtige Bewegung in Paris aufmerksam zu verfolgen und gemeinsam mit dem Kleinbürger-tum um jene Rechte zu kämpfen, die ihr später ermöglichen würden, ihre eigene Schlachtzu schlagen? [11]

Die historische Analyse Engels enthält in zwei auseinander entwickelten Argu-menten die Bestimmung der historischen Bewegungscharaktere der Revolutionund der »Doppelstrategie« der »Proletarischen Partei«. Die liberalen, bürgerli-chen Kräfte, von Seiten der absolutistischen Krone bekämpft, können praktischsich verwirklichen nur mit Hilfe gerade der Kraft, die schon - als die andere Seiteder >Doppelstrategie< — deren Überwindung darstellt und fordert, was praktischwiederum die Verwirklichung verhindert — ein Parallelogramm einander paraly-sierender Kräfte. Handelt das Proletariat >gegen sich<, so handelt es >für sich«, han-deln die bürgerlichen Klassen >für sich<, so nur wenn sie >gegen sich< handeln, d. h.ihr Ziel aufstecken; andernfalls wäre ihnen ihr historischer Untergang gewiß.

Daß die geschichtliche Bewegung, folgt man Engels' Darstellung, einer Art»Rücksicht auf Darstellbarkeit« folgt, erhellt eine erste - formelle - Korrespondenzzum Drama, insofern seine Darstellungsweise an dasselbe Prinzip gebunden ist.Es ist das Prinzip der einheitlichen Auseinanderfolge der Handlung, das schonAristoteles im Unterschied zum Epos vom Drama verlangte. Demgemäß erscheintbei Engels die Revolution von 1848 (in ihrem ersten Akt) als Exposition zweiereinander sich paralysierender >Doppelstrategien<: Einerseits die »proletarischePartei«, mittelbar kämpfend um bürgerliche Gesellschaftsformen gegen denAbsolutismus, in der Tat aber kämpfend für die Bedingung von deren Umwäl-zung. Andererseits die »liberale« und »kleinbürgerliche« Partei, kämpfend gegenden Feind für ebendasselbe, in der Tat aber mehr und mehr gegen die »proletari-sche Partei«. —

Untersuchen wir diese Doppelstrategie der proletarischen Partei näher. Der»Bund der Kommunisten«, dessen theoretische Führer Marx und Engels bis zumAnfang der 50er Jahre waren, hat sie seit dem Manifest von 1848 entwickelt undverfolgt. Sie war es zudem, die ihn fraktionierte und den schließlichen Zerfall desBundes nicht verhindern konnte. In einem Zirkular aus dem März des Jahres

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1850, das als >zweites Manifest< nach den Niederlagen der Revolution in Deutsch-land gelten kann [12], heißt es programmatisch: »Ohne eine längere Entwicklungganz durchzumachen« werden die deutschen Proletarier »nicht zur Herrschaftund Durchführung ihrer Klasseninteressen kommen können«. [13] Die Stufe die-ser Entwicklung hatte das Kommunistische Manifest so bestimmt:

Auf dieser Stufe bekämpfen die Proletarier also nicht ihre Feinde, sondern die Feinde ihrerFeinde, die Reste der absoluten Monarchie, die Grundeigentümer [... ] Die ganze geschicht-liche Bewegung ist so in den Händen der Bourgeoisie konzentriert; jeder Sieg, der so errun-gen wird, ist ein Sieg der Bourgeoisie. [14]

Historisch kann das Proletariat zu selbständigem Kampf nicht antreten. Es istnoch Teil dessen, das es als Ganzes >aufheben< muß.

Engels' Untersuchung hat historisch zu konkretisieren versucht, was die Marx-sche Revolutionstheorie seit Mitte der 40er Jahre postulierte: die »proletarischeAufhebung« der bürgerlichen Produktions- und Verkehrsformen. Doch schon dieDoppelstrategie, die nur den objektiven Bewegungscharakteren der gegeneinan-der und miteinander wirkenden bürgerlichen und proletarischen Kräfte Ausdruckgibt, bezeichnet den Status der historischen [15] Nicht-Präsenz des Subjekts dieser»Aufhebung«. Im Dienste der Artikulation dieser Nicht-Präsenz steht die Meta-pher des »Dramas«. So in der folgenden Passage aus dem Zirkular:

Wenn die deutschen Arbeiter nicht zur Herrschaft und Durchführung ihrer Klasseninteres-sen kommen können, ohne eine längere revolutionäre Entwicklung ganz durchzumachen,so haben sie diesmal wenigstens die Gewißheit, daß der erste Akt dieses bevorstehenden re-volutionären Schauspiels mit dem direkten Siege ihrer eigenen Klasse in Frankreich zusam-menfällt und dadurch sehr beschleunigt wird. [13]

Eine »längere revolutionäre Entwicklung«, »Bewegung« als »revolutionäresSchauspiel« und »revolutionäres Drama« sind die Bestimmungen des Prozesses,in dessen Spiel kollidierender Triebkräfte das Nicht-Präsente bereits als wirksamgedacht ist, genauer; wirksam als Noch-Nicht-Präsentes.

Bei der Dramametapher handelt es sich demnach um ein entscheidendes Pro-blem der marxistischen Revolutionstheorie. Auf sie wird im Folgenden zurückzu-gehen sein mit der Frage, wie die Bestimmung des revolutionären Subjekts als»aufhebendes« theoretisch einsichtig gemacht und revolutionstheoretisch zu sei-ner historischen Nicht-Präsenz vermittelt ist; und wie diese Vermittlung endlicheins Nicht-Präsente im Werden einer Präsenz bestimmt. Wenn man deshalb, wiees die folgenden Abschnitte versuchen, die Entwicklung der Marxschen Revolu-tionstheoric von 1844 an, über das »Manifest« von 1848 bis zu den beiden Analy-sen der Klassenkämpfe in Frankreich verfolgt, so läßt sich ihre Bildung und Kon-kretisierung zunächst als ein wiederholter Versuch umschreiben, die theoretische

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Bestimmung des »aufhebenden Subjekts« und dessen historische Nicht-Präsenzzusammenzudenken. Unsere Absicht bleibt, den theoretischen Kontext zu rekon-struieren, in dem die Termini des Dramas funktionieren. In Engels' Text sollte dieMetapher des »Zweiten Akts« des Dramas die objektive Entwicklung des Kampfsder historischen Triebkräfte der Revolution hin auf die mögliche Machtergreifungproletarischer Klasseninteressen bezeichnen. (Ob der Begriff »Drama« dieseFunktion der Bezeichnung zu tragen fähig ist und kraft welcher Bedeutung, wirdebenfalls noch zu klären sein.) Die beiden Texte Marxens aber, welche den fran-zösischen Klassenkämpfen gewidmet sind, zeigen eine durchaus differente Ver-wendung der Dramametaphorik. Daher nehmen wir es umso wichtiger, der Diffe-renz des »aufhebenden Subjekts« zu seiner historischen Nicht-Präsenz, für die inallen Fällen die Termini des Dramas stehen, in der Marxschen Revolutionstheorienachzugehen.

5. Die Bewegung der Negation

»Ehe das Proletariat seine Siege auf Barrikaden und inSchlachtlinien erficht, kündet es die Ankunft seiner Herr-schaft durch eine Reihe intellektueller Siege an.«

Marx, 1850

Theoretische Einsicht in die proletarische Situation und die kapitalistische Gesell-schaft gewann Marx erstlich, wie es seinen späteren Andeutungen über den Gangmeiner eignen politisch-ökonomischen Studien (1859) [16] zu entnehmen ist,nach seiner Arbeit in der »Rheinischen Zeitung« [17] aus einer »kritischen Revi-sion der Hegeischen Rechtsphilosophie«. [16] Von dieser Kritik der HegeischenRechtsphilosophie (1844) wurde nur die »Einleitung« veröffentlicht. Sie münde,meint Marx 1859, in dem Ergebnis, »daß die Anatomie der bürgerlichen Gesell-schaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei«. Mehr noch aber ist an dieserArbeit wichtig, daß sie eine philosophiekritische Reflexion auf die gesellschaftli-che Lage des Proletariats enthält, in der zugleich der Kern eines revolutionstheo-retischen Programms ausgesprochen ist:

Wenn das Proletariat [also nach Marx diejenige Klasse, »welche einen universellen Charak-ter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besonderes Recht in Anspruch nimmt,weil kein besonderes Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird [...] wel-che mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist«], - »Wenn das Proletariat dieAuflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seineseigenen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung. Wenn das Pro-letariat die Negation des Privateigentums verlangt, so erhebt es nur zum Prinzip der Gesell-schaft, was die Gesellschaft zu seinem Prinzip erhoben hat, was in ihm als negatives Resultatder Gesellschaft schon ohne sein Zutun verkörpert ist.« [18]

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Das Proletariat ist die absolute Negation des Privateigentums; Negation im Sinnevon Negiertes und Negierendes. Das revolutionäre Vernichten dessen, was ver-nichtet wird, d. h. die Negation der Negation oder »Aufhebung« bildet denNukleus der philosophisch-revolutionstheoretischen Darstellung des Proletariats.Die Theorie aber, welche als Philosophie diese Dialektik der »Aufhebung« for-muliert, muß sich selbst einer Bewegung der Negation und Aufhebung unterzie-hen:

Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, dasProletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie. [19]

Diese These der Entsprechung von Theorie und Praxis der Negation strukturiertauf gleiche Weise die Argumentation im kaum drei Jahre später geschriebenenKommunistischen Manifest.

Das Manifest, am Vorabend der 48er Revolution verfaßt, hatte keine weitereAbsicht als die Darlegung, daß »nur das Proletariat eine wirklich revolutionäreKlasse (ist)«. [20] Es verfolgt die Intention, gegen die feudalen, kleinbürgerlichen,bourgeoisen und »utopistischen« Sozialismen, die »geschichtliche Selbsttätig-keit«^, h. die dem Proletariat »eigentümliche politische Bewegung« [21] zu arti-kulieren. Allen Vorstellungswelten utopischer Sozialisten, seien es die »Home-Kolonien« Owens, die »Ikarien« und »Phalansteres« Cabets und Fouriers, wirddieser Begriff der politischen Bewegung - Bewegung der Negation - entgegenge-halten. Auch sie ist im doppelten Sinn von Negation, nämlich als Negiert-Werdenund Negieren, aufgefaßt:

Die Lebensbedingungen der alten Gesellschaft sind schon vernichtet in den Lebensbedin-gungen des Proletariats. [22]

Es ist »eigentumslos«, hat keine Familie, keine besondere Arbeit, »nichts zu ver-lieren als seine Ketten«. Im Sinne der Dialektik der Vernichtung des Vernichteten»können«, so das Manifest, »die Kommunisten ihre Theorie in dem einen Aus-druck: Aufhebung des Privateigentums zusammenfassen«. [23]

Auch die Entsprechung von Theorie und Praxis, welche die »Einleitung« von1844 forderte, ist These des Manifests:

Die theoretischen Sätze der Kommunisten [...] sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicherVerhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehen-den geschichtlichen Bewegung. [24]

Allgemeiner Ausdruck des Vor-sich-Gehenden zu sein, ist hier freilich Programm,nicht Effekt oder Resultat. Daher ist Korsch zu korrigieren, wiewohl er auf einrichtiges Problem hinwies, wenn er 1931 schrieb, die materialistische Geschichts-auffassung sei »vor 1850 entstanden als ein unmittelbarer Bestandteil der subjek-

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tiven Aktion der revolutionären Klasse «. [25] Er hat dies später mehrmals wieder-holt, aber nirgends konkretisiert. [26] Die Marxsche Revolutionstheorie ist als einsolcher »unmittelbarer Bestandteil« der subjektiven Aktion nicht eitstanden; siehat sich wohl derart verstanden. Das heißt: Soweit Marx versucht hat, in derTheorie den »Ausdruck« und in der Strategie das Ziel des kämpfenden Proleta-riats zu entwickeln, ist diese Theorie gerade eingedenk ihrer historischen (oder»empirischen« [27]) Nicht-Präsenz als Programm zu verstehen. Gerade woKorsch mit Emphase auf die Entsprechung von Theorie und realer Bewegung alsPraxis verwies, entging ihm die Problematik der Differenz zwischen Beidem. Diefolgende Formulierung zeigt dies deutlich:

Die materialistische Wissenschaft (tut) nur in ihrer besonderen, theoretischen Weise das-selbe, was auf andere Weise die gleichzeitige realgeschichtliche Bewegung der proletarischenKlasse in ihrer Praxis tut. [28]

Die »theoretische Praxis« (kein Begriff Althussers, sondern Korschs! [29]) soll nurauf >andere Weise< mit der politischen des Proletariats identisch sein. Die >andereWeise< aber hat Korsch stets mit latentem Positivismus überspielt. Denn als ein-fache »Erprobung« der Theorie der Negation durch >negatorische< Praxis ist dasVerhältnis nur um den Preis einer petitio principii zu denken. [30]

Die Crux liegt im Begriff der Negation, auf den sowohl die Dialektik der Auf-hebung wie die Status- und Bewegungsbestimmung des Proletariats zentriert ist.Sie ist von Marx in der »Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung«am deutlichsten gespürt worden. Wenn dort das Verwirklichen der philosophi-schen, theoretischen Negation durch die proletarische Bewegung der Negation als»Aufhebung der Philosophie« gefaßt ist, die Philosophie demnach zu neuer Posi-tivität immanent nicht kommen könne, so ist darin gesagt, daß die Praxis derNegation, d. h. die »Selbstaufhebung des Proletariats als Klasse«, den Status vonPhilosophie und Theorie (die »zur materiellen Gewalt« werde, »sobald sie dieMassen ergreift« [31]) entscheidend modifiziert. Das Wirken der Theorie imKontext materieller Praxis als durch diese modifiziert zu denken, hieße die Bewe-gung der Differenz von Theorie und Praxis innerhalb einer Theorie selber zu den-ken. Die »Einleitung« versucht, diese Differenz in der These der wechselseitigenNegation von Theorie und Praxis zu fassen. Die Theorie negiere die Kategoriender bürgerlichen Gesellschaft als Darstellung von deren Negation im Proletariat;die Negation des Proletariats - als Praxis - produziere eine Differenz zur Theorieder Negation, sofern diese nur als veränderte die Praxis der Negation ausdrückenkönne. Von dieser »Veränderung« spricht Marx hier als von »Aufhebung«, »Ver-wirklichung«, »Negation der Philosophie«. In allen diesen Begriffen aber kanndas nicht mehr gefaßt werden, was die proletarische revolutionäre Praxis alsNegation und Veränderung des Bestehenden in die Theorie von der Negation undVeränderbarkeit des Bestehenden einbringen sollte.

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Negation oder »Dialektik der Negativität«, wie sie Marx 1844 als »das Große«an der Hegeischen Philosophie festhält [32], impliziert gerade die Identität des vonund in ihr Negierten.* Insofern in der »Einleitung« die »Negation« als auf derEbene der Philosophie und der der Praxis sich artikulierend gerade different undnicht-identisch gefordert ist, ließe sich auch die Identität im Begriff der Negationnicht länger halten. Marx nannte Hegels Rede von der »Negation der Negation«an anderer Stelle den »abstrakten, logischen, spekulativen Ausdruck für dieBewegung der Geschichte«. [33] Soll nun die Bewegung der Negation, die dasProletariat in seiner Aufhebung der bürgerlichen Verhältnisse zu machen hat,nicht-identisch zu ihrer (»abstrakten, logischen«) philosophischen Artikulationgedacht werden, wie Marx es forderte, so entzieht sich sein eigener philosophi-scher Diskurs mit den identischen Ausdrücken: »Negation«, »Aufhebung« etc.eben dieser Forderung.

Marx hat die theoretische als von der praktischen Negation different denkenwollen und doch zugleich im Festhalten am Negationsbegriff die Differenz zu-nichtegemacht. Hierin offenbart sich der problematische Status der MarxschenTheorie im Verhältnis zu ihrem Gegenstand, auf den Althusser als einer der erstenhingewiesen hat. [34] Das Problem ist hier, daß Marx das Verhältnis vom Gegen-stand seiner Theorie zum »wirklichen« Gegenstand (»reale Bewegung«, »Praxis«)nicht bestimmt oder vielmehr in der Identitätsbehauptung unbestimmt läßt. Esstellt sich hier auf der Ebene der Programmatik, d. h. der Entwicklung der Revolu-tionstheorie dasselbe Problem, das sich stellt, wenn die historischen Analysen dasProblem der programmatischen Präsenz des revolutionären Subjekts und seinerhistorischen Nicht-Präsenz, wofür die Dramametapher einsteht, stellen. Althusserverwies darauf, daß Marx dies Verhältnis seiner Theorie zu ihrem Gegenstandnirgendwo explizit thematisiert hat. Insofern wir es am Gegenstand der ge-schichts- und revolutionstheoretischen Schriften tun, muß folglich die Sichtweise,in der dies geschieht, wenigstens im Groben angedeutet werden [35]: (Es wirddaraus auch ersichtlich werden, wo die Schranken unserer Fragestellung liegen.Sie geht einzig und allein darauf aus, den Funktions- und Bedeutungszusammen-hang der Dramametaphorik zu eruieren. Wenn es dafür nun erfordert ist, das Pro-blem der Marxschen Revolutionstheorie als eines zu stellen, das in der Vermitt-lung des von ihr präsentierten Revolutionssubjekts zu dessen historischer

* Erkenntnistheoretisch meint Negativität, daß das Sich-setzen des Unmittelbaren, dieAbstraktion von Vermittlung, und die Vermittlung des Konkreten vermöge der in jederAbstraktion ideell setzenden Aufhebung identisch sind« (F. W. Schmidt, »Zum Begriff derNegativität bei Schelling und Hegel«, Stgt 1971, S. 6) Die Nicht-Identität oder Differenzder »Aufhebung« zu ihrer spezifischen Nicht-Präsenz zu bestimmen, vermag der bloßeGedanke der Nicht-Identität, der immer die »in jeder Abstraktion ideell setzende Aufhe-bung« impliziert, nur um den Preis zu leisten, daß er eine mystische Korrespondenz diesergedanklichen zur proletarischen »Aufhebung« ontologisch, metaphysisch oder abbildtheo-retisch beschwört.

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Nicht-Präsenz liegt, so läßt sich zwar, wie noch ausführlich gezeigt werden wird,erkennen, daß der »Ort« dieses Problems die Dramametapher ist; jedoch läßt sichin keiner Weise das revolutionstheoretische Problem selbst damit lösen. Zu sol-chen Lösungen kann diese Arbeit daher nicht gelangen, obwohl dem Autor deut-lich ist, daß auf die Weise, wie das Problem bei Marx sich stellt, es nicht lösbarist. Ein möglicher Ansatz seiner weiterführenden Formulierung scheint aus der»Kritik der politischen Ökonomie« entwickelbar, wie es das Folgende umreißt:)

Es ist nicht wenig signifikant, daß Marx in seinen »Andeutungen« von 1859,die auf die Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung rekurrierten, diebreit angelegten Reflexionen zum Verhältnis von Philosophie und Praxis mit kei-nem Wort erwähnt. Was damals allein gefunden wurde, sei, daß die Anatomieder bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie begründet liege. DieserBetonungswechsel ist in Hinsicht auf die theoretische Verschiebung, die darinverborgen liegt, ernstzunehmen. Wenn das Proletariat in der Einleitung von 1844als Negation und »negatives Resultat der Gesellschaft« dargestellt wird, so argu-mentiert die Kritik der politischen Ökonomie tatsächlich in der Weise different,die die Einleitung (1844) forderte. Zuallererst ist die Verschiebung eine desGegenstandes: Nicht mehr das Proletariat wird dargestellt, sondern das Systemder polit-ökonomischen Kategorien und Instanzen des Kapitalismus, das Systemder Ausbeutung der Arbeiterklasse. Die Identität der Darstellung der bürgerlichenVerhältnisse und des Proletariats (daß es »zum Prinzip erhebt« was sie »zu seinemPrinzip erhoben hat«) ist auf der theoretischen Ebene des Kapitals aufgehobenund verschoben in eine Darstellung der polit-ökonomischen Kategorien der bür-gerlichen Gesellschaft, in die die Bewegung der Negation als konstitutivesMoment der Darstellungsweise eingefaßt ist. Die bürgerliche Gesellschaft hatnicht einfach das Proletariat oder die Arbeiterklasse zum »negativen Resultat«und dessen »Bewegung der Negation< als ihre »Aufhebung«, als die Negation des-sen, das sie negierte*, sondern die kritische Darstellung ihrer anatomischen, d. h.polit-ökonomischen Struktur wird allein erst möglich, wenn sie die »Bewegung derNegation< ebenso wie die der >Aufhebung< kategorial integriert.

Im Kapital gilt der Satz, daß die »Bourgeoisie [...] die Waffen geschmiedet[hat], die ihr den Tod bringen« [36], gleichsam für jede Kategorie. So sind die»Waffen«, welche die einfache Warenzirkulation »schmiedet«: die Teilung desunmittelbaren Warenaustauschs in zwei »einander gegenübertretende Prozesse«

* Der hier angesprochene Unterschied ist der zwischen Negation und Ausbeutung. Aus-beutung, an die Mehrwertproduktion begrifflich gebunden, setzt die prozessuale Erhaltungdes Ausgebeuteten prozessual stets voraus; Negation indes setzt die Identität voraus, diedurch sie zerstört, zum »völligen Verlust« gebracht wird. Wo das System der Ausbeutungein differentielles System der Erhaltung ebenso impliziert und dies, daß Ausbeutung ebeneine bestimmte Weise der Erhaltung voraussetzt und zerstört, den Begriff kapitalistischerHerrschaft konstituiert, wird im »System der Negation« die Identität, welche negiert wird,extern, als außerhalb des Systems liegend aufgefaßt.

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Geld-Ware (Kauf) und Ware-Geld (Verkauf), ebensosehr gegen sie selbst gerich-tet.

Die Zirkulation sprengt die zeitlichen, örtlichen und individuellen Schranken des Produk-tenaustausches eben dadurch, daß sie die hier vorhandene unmittelbare Identität zwischendem Austausch des eignen und dem Eintausch des fremden Arbeitsprodukts in den Gegen-satz von Verkauf und Kauf spaltet. [37]

Das Selbständigwerden von Ware hier und Geld dort ist sowohl Bedingung deruniversalen Zirkulation der Waren wie selber bedingt durch den widersprüchli-chen Charakter der Ware als >sinnlich-übersinnlichem Ding«, d. h. zugleichGebrauchswert und Tauschwert (Wert) darzustellen. Dieser Gegensatz vonGebrauch und Tausch tritt aus dem Inneren der Ware nach außen, sobald sie demGeld, ihrem bloßen Wertzeichen, gegenübertritt. Die »Waffe« also, die die Zirku-lation allererst ermöglicht: das Geld, schafft zugleich die Veräußerlichung desGegensatzes von Gebrauch und Tausch als Verselbständigung des unmittelbarenTauschaktes in zwei getrennte. Mit der so erreichten Universalität der Zirkula-tion, die die »zeitlichen, örtlichen und individuellen Schranken« des unmittelba-ren Tauschs gesprengt hat, ist zugleich die Möglichkeit des Gegenteils, der Kriseund des Zusammenbruchs der Zirkulation gesetzt. Denn das Verselbständigen desunmittelbaren Tauschs Ware—Ware in zwei getrennte Akte impliziert die Mög-lichkeit, daß nur ein Akt, z. B. Geld-Ware, ohne den innerlich zugehörigen, aberäußerlich geschiedenen Akt Ware—Geld, vollzogen wird. Ohne ihr Gegenteil, dieKrise, ist die Zirkulation nicht denkbar. Daß sie aber die Krise impliziert, d. h.ihre eigene Negation als Zirkulation, ist ein Effekt ebenso wie die Zirkulationselbst Effekt ist; sie resultiert aus dem Verselbständigen und Gegeneinanderwir-ken der einander jeweils bedingenden und voraussetzenden Elemente des unmit-telbaren Tauschs. Das Zerfallen dieser differentiellen Elementenstruktur, dieKrise, ist darin ebenso impliziert. Erst im Zerfallen der Struktur also offenbart diedifferentielle Bewegung der Elemente zueinander ihren Charakter als Gegensatz,als Negation.

Der der Ware immanente Gegensatz von Gebrauchswert und Wert, von Privatarbeit, die sichzugleich als unmittelbar gesellschaftliche Arbeit darstellen muß, von besondrer konkreterArbeit, die zugleich nur als abstrakt allgemeine Arbeit gilt, von Personifizierung der Sacheund Versachlichung der Personen — dieser immanente Widerspruch erhält in den Gegensät-zen der Warenmetamorphose seine entwickelten Bewegungsformen. Diese Formen schlie-ßen daher die Möglichkeit, aber auch nur die Möglichkeit der Krisen ein. [38]

Es entsteht also im Kapital die paradoxale theoretische Situation, daß gerade ihreNegation die Positivität der Darstellung der polit-ökonomischen Kategorien er-möglicht.

Diese mit ihrer eigenen Negativität, »Gegensätzlichkeit«, konstitutiv behafte-

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ten Positivitäten der kapitalistischen Ökonomie, so wenig ihr System als einfache»Reinschrift der Hegeischen Wesenslogik oder als »Prozeß ohne Subjekt« (Alt-husser) [39] begriffen werden kann, sprengen von innen her die idealistischenKonzeptionen eines Progresses der Geschichte wie überhaupt jede Konzeptioneines Kontinuums des Geschichtsverlaufs. Die Kritik der politischen Ökonomiesetzt sich gerade explizit von der Unterstellung ab, daß ihre Darstellung konkreterökonomischer Beziehungen (Profit, Rente, Zins etc.) mit dem »Entstehungspro-zeß des Konkreten selbst« zusammenfalle. [40] Sowenig demnach die Geltung derökonomischen Kategorialität mit ihrer historischen Genesis eins ist, ist für den hi-storischen Materialisten ihre Historizität durch den theoretischen Nachweis ihresHerrschens bereits gegeben. Es entsteht hier die paradoxale Situation revolutio-närer Praxis, die herrschende Präsenz der »begriffslosen Form« (Marx) [41] derökonomischen Kategorien und Instanzen als spezifische Nicht-Präsenz, d. h. alsveränderbar zu begreifen.

Verschärft, weil verschoben, hat sich das Problem der Einleitung von 1844 aufder Ebene der Kritik der politischen Ökonomie: »Wenn das Proletariat die Nega-tion des Privateigentums verlangt«, hatte Marx 1844 geschrieben, »so erhebt esnur zum Prinzip der Gesellschaft, was die Gesellschaft zu seinem Prinzip erhobenhat« — und auch, wie jetzt hinzuzufügen wäre, zu ihrem Prinzip selbst. Ihre Kate-gorien und Instanzen konstituieren sich und bestehen nur kraft ihrer innerenNegativität. Selbst ihre totale »Negation«, die Krise, vermag (seit 1929) als inte-grales Moment der kapitalistischen Entwicklung zu funktionieren. [42] JedeRevolutionstheorie muß also auf diese schon herrschende (strukturelle) »Negati-vität« und (faktische) »Negation« beziehen können, was sie der revolutionärenPraxis als »Aufhebung« oder »Negation« zugibt. Befähigt dazu wäre sie, wo derfrühbürgerliche Gedanke des geschichtlichen Kontinuums, innerhalb dessen derMensch zur Entfaltung komme, der »Kritik« verfiel, »auf dem Boden eines ande-ren Begriffs von Geschichte« (Ranciere). [43]

6. Das implizite Drama (K. Marx: »Die Klassenkämpfe in Frankreich«)

»Wir devouieren uns einer Partei, die zu ihrem Besten geradenoch nicht zur Herrschaft kommen kann.«

Marx, 1850

Mit dem Problem der Geschichte sind wir beim Thema. Denn die Dramameta-pher sollte, soweit zu sehen war, die historische Nicht-Präsenz des revolutionärenSubjekts als ein »Noch-Nicht« bezeichnen. Dem Revolutionssubjekt war revolu-tionstheoretisch die >Bewegung der Negation< der bürgerlichen Gesellschaft, jene»eigentümliche politische Bewegung« prädiziert; für Deutschland analysierteEngels die Funktion der proletarischen Kräfte in der revolutionären Bewegung

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und beschrieb die einander paralysierenden >Doppelstrategien< nach den Nieder-lagen von 49 als »den ersten Akt des revolutionären Dramas«.* Wir wollen nundasselbe Problem an den Marxschen Untersuchungen der französischen Klassen-kämpfe in der 48er Revolution aufsuchen.

Marx' Analysen sind zumeist in unmittelbarer Reaktion auf die Ereignisse desTages in der »Neuen Rheinischen Zeitung«, die von Juni 48 bis Mai 49 erschienund deren »Redakteur en chef« er war, erschienen. Einzelne davon wurden in dieerste Artikelserie aufgenommen, die er 1850 im Exil erscheinen ließ. Unter demTitel Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 gab Engels sie 1895 neuheraus.

Engels versah die 95er Ausgabe mit einer in der marxistischen Theorienge-schichte legendär gewordenen Einleitung. [44] Für unser Thema der theoretischenBestimmung des revolutionären Subjekts als historisch nicht-präsentes gibt Engelshier nicht wenig aufschlußreiche Hinweise, wo er explizit auf seine (und Marxens)damalige »Vorstellungen von den Bedingungen und dem Verlauf revolutionärerBewegungen« reflektiert:

* Engels verwandte für die Paralyse der 48er Revolution keineswegs nur diese Metapher.Fast unvermittelbar kontrovers zu ihr steht die folgende naturwissenschaftliche Analogie,die Engels in einem Brief an Marx vom 13. 2. 1851 mitteilt:

»Eine Revolution ist ein reines Naturphänomen, das mehr nach physikalischen Gesetzengeleitet wird, als nach den Regeln, die in ordinären Zeiten die Entwicklung der Gesellschaftbestimmen. Oder vielmehr, diese Regeln nehmen in der Revolution einen viel physikalische-ren Charakter an, die materielle Gewalt der Notwendigkeit tritt heftiger hervor. Und sowieman als der Repräsentant einer Partei auftritt, wird man in diesen Strudel der unaufhaltsa-men Naturnotwendigkeit hereingerissen. Bloß dadurch, daß man sich independent hält, in-dem man der Sache nach revolutionärer ist als die anderen, kann man wenigstens eine Zeit-lang seine Selbständigkeit gegenüber diesem Strudel behalten, schließlich wird man freilichauch hineingerissen.« (MEW, Bd. 27, S. 190)

Einen Kommentar bedarf dieser Brief zunächst in Hinsicht auf seine Entstehung. Er stehtin einem kurzen Briefwechsel zwischen Marx und Engels, der die neue Situation der »gewis-sen Einsamkeit« (a. a. O., S. 189) reflektiert, die entstanden war, nachdem Marx und Engelsaus der chaotisch sich zersetzenden Exilzentrale des »Bundes« ausgeschieden waren. Zwi-schen der Charakterisierung der revolutionären Bewegung als »Strudel« und ihrer wissen-schaftlichen Perzeption als »unaufhaltsames Naturphänomen« konstruiert Engels einenunüberwindbaren Abstand, der konkrete Politik für unmöglich erklärt. Hier wird mit derwütenden Ablehnung der Phantastereien, die politisch damals im »Bund« grassierten (vonDuellierungen bis hin zu Sammlungen für eine revolutionäre »Exilregierung« Deutschlandsin London), zugleich die Ablehnung dessen mitvollzogen, was die Intention der Revolu-tionscharakteristik als »Drama« war: den Abstand der theoretischen Bestimmung der Pro-grammatik proletarischer Revolution zu den Bedingungen ihrer historischen Nicht- oderNoch-Nicht-Prasenz zu vermitteln, wofür gegen die Heterogeneität und Kontingenz desTerminus »Strudel« die Darstell- und Einsehbarkeit der homogenen Entwicklung in derMetapher des »Drama« einstand.

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So war es selbstredend und unvermeidlich, daß unsere Vorstellungen von der Natur unddem Gang der in Paris, Februar 1848, proklamierten >sozialen< Revolution, der Revolutiondes Proletariats, stark gefärbt waren durch die Erinnerungen und Vorbilder von1789-1830. [45]

Zu diesen »Erinnerungen und Vorbildern« gehöre auch, welchem quasi interes-sensoziologischen und politischen Mechanismus sie gehorchten:

Wenn wir vom jedesmaligen konkreten Inhalt absehen, war die gemeinsame Form aller die-ser Revolutionen die, daß sie Minoritätsrevolutionen waren. [46]

Alle herrschenden Klassen der ersten Hälfte des Jahrhunderts seien, so Engels,>Minoritäten< gegenüber der beherrschten Volksmasse gewesen. Wechsel inner-halb dieser Minoritätenherrschaft konnten nur geschehen, wenn eine andereMinorität es verstand, für einige Zeit die Majorität auf seine Seite zu ziehen, durchdie radikale Phrase. War der Sieg erreicht, begann die Minorität je nach ihrenbourgeoisen, monarchistischen, legitimistischen etc. Partialinteressen die Zu-rücknahme ihrer Phrasen, bis eine andere, von ihr verdrängte minoritäre Frak-tion der herrschenden Klassen das Spiel der Interessen-Gewinnung und des Ver-rats von neuem begann. Ein Blick auf die raschen Wechsel der Macht sowohl inder Epoche 1789-1830 wie in der von 48 bis 51 mag Engels' Darstellung plausibelerscheinen lassen; entscheidend ist, daß Engels zufolge sich auch die »proletari-sche Partei« auf diesen Mechanismus der Minoritätenrevolution sollte positiv be-ziehen können:

Die proletarischen Massen selbst waren sogar in Paris noch nach dem Sieg absolut imUnklaren über den einzuschlagenden Weg. Und doch war die Bewegung da, instinktiv,spontan, ununterdrückbar. War das nicht gerade die Lage, worin eine Revolution gelingenmußte, geleitet zwar von einer Minorität, aber diesmal nicht im Interesse der Minorität,sondern im eigentlichsten Interesse der Majorität? [47]

Die minoritäre Artikulation der »eigentlichst« majoritären Interessen sollte, soEngels' nachträgliche Reflexion auf die revolutionstheoretische Konzeption von'48, sich einfügen in den Mechanismus minoritärer Repräsentation und ihnzugleich zerstören, »umschlagen« lassen:

Und wenn nun gar [.. .] im Frühjahr 1850 die Entwicklung der aus der >sozialen< Revolutionvon 1848 erstandenen bürgerlichen Republik die wirkliche Herrschaft in den Händen der— obendrein monarchistisch gesinnten — großen Bourgeoisie konzentriert, dagegen alle an-deren Gesellschaftsklassen, Bauern wie Kleinbürger, um das Proletariat gruppiert hatte,derart, daß bei und nach dem gemeinsamen Sieg nicht sie, sondern das durch Erfahrung ge-witzigte Proletariat der entscheidende Faktor werden mußte — war nicht da alle Aussichtvorhanden für den Umschlag der Revolution der Minorität in die Revolution der Majorität?[48]

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Es ist nun ein wenig gewagt, diesen Mechanismus der Verlaufsform der Revo-lution, auf den die »proletarische Partei« sich positiv bezog, im Hintergrund derCharakterisierung der Revolutionsbewegung als »Drama« zu sehen. Die Drama-metapher herrscht, wie schon in allen früheren geschichtstheoretischen Schriften,auch in der Klassenkampf-Schrift vor.

So werden zu Beginn der Revolution »sämtliche Klassen der französischenGesellschaft [...] gezwungen, die Logen, das Parterre, die Galerie zu verlassen undin eigener Person auf der revolutionären Bühne mitzuspielen«. [49] - Es gibt »ak-tive Helden des revolutionären Dramas« [50], »Komödie der Irrungen« [51],»melodramatische Szenen« [52], und »tragikomische Errungenschaften«. [53] Sowie auch der Mechanismus der minoritären Revolution sowohl kritisch als affir-mativ gefaßt wurde, so steht auch neben den genannten, z. T. pejorativen Drama-metaphern ihre Verwendung im affirmativen Sinn:

In dieser Pein geschichtlicher Unruhe, in dieser dramatischen Ebbe und Flut revolutionärerLeidenschaften, Hoffnungen, Enttäuschungen mußten die verschiedenen Klassen der fran-zösischen Gesellschaft ihre Entwicklungsepochen nach Wochen zählen, wie sie früher nachhalben Jahrhunderten gezählt hatten. [54]

Die Entwicklung der Klassen ist hier eine gleichsam homogene; sie werden als» dramatische « Personen angesprochen, analog dem Schema der Repräsentanz derKlassen und Majoritäten in Minoritäten.

Doch auch immanent, in ihrem revolutionstheoretischen Konzept, sind in derKlassenkampf-Schrift Konnotationen des Dramas wirksam. Daß sie sogar darindeutlicher ist als alle früheren Texte, verdankt sich vor allem ihrem Gegenstand,jener »hochwichtigen Bewegung in Paris« (Engels). - Schon im Februar 1848 warin Paris die bürgerliche Umwälzung der »Julimonarchie« gelungen. Doch dasLager der Sieger dieser »schönen Revolution« [55] vermochte seine absoluteHeterogeneität kaum im republikanischen Schrei nach der » Republique francaise!Liberte, Egalite, Fraternite!« zu verbergen. Am Tag seines Sieges war es, so Marx,nur einig gegen den Gegner: Feudalaristokratische, mit Staatsverschuldung spe-kulierende Bankiers, die mit ihren wucherischen Kreditoperationen, beschleunigtdurch eine schwere Handelskrise von 1847, ihren eigenen und des Staates Banke-rott betrieben und somit die Revolution hervorgetrieben hatten. Trotz dieses Sie-ges war ihr Schicksal das der Niederlage:

Mit Ausnahme einiger weniger Kapitel trägt jeder bedeutendere Abschnitt der Revolutions-annalen von 1848 bis 1849 die Überschrift: Niederlage der Revolution.

Die Heterongenität des Lagers der Sieger vom Februar mußte sich, dem Marx-schen Argument zufolge, erst durch die Niederlagen hindurch auflösen; einkathartischer Prozeß der Herausbildung der proletarischen Klasse als Klasse:

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Was in diesen Niederlagen erlag, war nicht die Revolution. Es waren die vorrevolutionärentraditionellen Anhängsel, Resultate gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich noch nicht zuscharfen Klassengegensätzen zugespitzt hatten - Personen, Illusionen, Vorstellungen, Pro-jekte, wovon die revolutionäre Partei vor der Februarrevolution nicht frei war, wovon nichtder februarsieg, sondern nur eine Reihe von Niederlagen sie befreien konnte. [56]

Allein die Katastrophe der Revolution vollzieht die Katharsis der Gesellschaft undder revolutionären Klasse, ihre »Reife« und die politische Struktur »scharferKlassengegensätze«. Welche Bedeutung Marx hier der »erzieherischen Funktionder gesellschaftlichen Verhältnisse im revolutionären Kampf« beimißt, hat H.-J.Krahl in folgendem Satz zusammengefaßt:

Die objektiven Verhältnisse in revolutionären Kampf Situationen machen die Unterdrücktenerst zur Selbstbefreiung frei. Darin sind Elemente einer Spontaneitätstheorie enthalten. (ImGegensatz dazu Lenin. Die Ausbildung des Klassenbewußtseins durch die Erfahrung vonUnterdrückung und Kampf) [57]

Die »erzieherische Funktion« der Verhältnisse ist denn auch keineswegs identischmit ihrem unmittelbaren Erfahrbarwerden.

Was Marx im oben zitierten Vorspann seiner Schrift als Resume entwickelt,geht hervor aus der Analyse der entscheidenden Ereignisse des Juni 1848. Damalskam es zu tagelangen Straßenschlachten zwischen dem Pariser Proletariat und denTruppen Cavaignacs, die mit der verheerenden Niederlage und großen Verlustendes Proletariats endeten. Am 29. Juni 1848 schrieb Marx in der »NRZ«:

Die Pariser Arbeiter sind erdrückt worden von der Übermacht, sie sind ihr nicht erlegen.Sie sind geschlagen, aber ihre Gegner sind besiegt. Der augenblickliche Triumph der bruta-len Gewalt ist erkauft mit der Vernichtung aller Täuschungen und Einbildungen der Febru-arrevolution, mit der Auflösung der ganzen alt-republikanischen Partei. [58]

Marx muß hier deutlich zwischen Funktion und Erfahrung unterscheiden. Ebendiesen Unterschied versucht Marx in der >Dialektik von Katastrophe und Kathar-sis< [59] zu begreifen. Katastrophe: Die völlige Zerschlagung der Arbeiterklasse,Zehntausende werden in den Junitagen verhaftet, deportiert oder ermordet. DasProletariat ist »von der Bühne beseitigt«. [60] - Katharsis: Teilung der Nationin zwei Klassen, denn das Entscheidende an der Juni-Schlacht ist, daß sich das er-ste Mal die bürgerlichen Klassen und das Proletariat direkt gegenüberstanden. DieHerrschaft der industriellen, >produktiven< Kapitalistenklassen, die ihren Siegüber die verselbständigten Geldgeschäfte der Finanzaristokratie mit Hilfe derArbeiter in der »schönen Revolution« errangen, hat sich gerade in der Nieder-schlagung der Arbeiter nunmehr befestigt.

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Doch die Bourgeoisie ist in ihrem Sieg besiegt, weil sie im Proletariat auf einen»unversöhnlichen, unbesiegbaren Feind« gestoßen ist, »unbesiegbar, weil seineExistenz die Bedingung ihres eigenen Lebens ist«. [61] Es sind in der MarxschenDialektik von Katastrophe und Katharsis, von Niederlage und Reifung ein polit-ökonomisches und ein historisches Argument ineinander verwoben. Erst die Nie-derlage der Arbeiter, die zugleich ihre erste historische Manifestation als Klasseist, bildet den politischen Konstitutionsgrund des Kapitals heraus, die freie undzugleich niedergeschlagene Selbständigkeit der Lohnarbeit, die ewige Existenzbe-dingung des Kapitals, solange es herrscht. Der Arbeit ist darin zugleich ihre histo-rische Unbesiegbarkeit verbürgt. Sowie also »das Proletariat seine Leichenstättezur Geburtstätte der bürgerlichen Republik«, d. h. der politischen Hegemonie desindustriellen Kapitals, macht, muß die Republik umgekehrt ihre Geburts- als ihreLeichenstätte sehen, also »in seiner Niederlage den Grund ihrer Misere finden«.[62]

Erst in den Juni-Kämpfen ist Marx zufolge das revolutionäre Subjekt präsent.Doch diese Präsenz ist nur einer polit-ökonomischen und historisch reflektieren-den Dialektik zugänglich, denn was tatsächlich präsent ist, ist: die »Leichen-stätte«. Ohne daß Marx esoterische Metaphern hier verwendete, ist die imma-nente Dramatik dieser Konzeption deutlich zu sehen. Wurde nicht gerade demtragischen Helden in seinem Tod die >Unbesiegbarkeit< verbürgt? [63] Ist dieNiederlage des Proletariats tragisch? — Lukacs hat diese Frage in der Theorie derTragik des »zu früh« gekommenen Revolutionärs bejaht:

Die Tragödie des >zu früh< aufgetretenen Revolutionärs kommt gerade in ihrer geschichtli-chen Konkretheit, untrennbar verknüpft mit allen Schwächen und Fehlern, die sich aus dernoch unreifen Lage ergeben, zur Geltung. Den traurigen Philistern gegenüber, die mit Ple-chanow stets ein >Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen< ausrufen, unterstreichtMarx auf der einen Seite immer die unerbittliche geschichtliche Notwendigkeit, die denUntergang verursacht hat. Auf der anderen Seite betont er ebenso stark die Notwendigkeit,den Kampf dennoch aufzunehmen und die positive, weiterführende Bedeutung dessen, daßder Kampf aufgenommen und tapfer aufgenommen wurde. [64]

Wir sehen noch davon ab, ob Lukács den Sickingenbrief Marxens, auf den sichdas Zitat bezieht, hier richtig liest. In unserem Zusammenhang aber bleibt zutref-fend, daß das Pariser Proletariat in der Tat sich in einer »noch unreifen Lage« be-fand, daß es mit »unerbittlicher geschichtlicher Notwendigkeit« untergeht unddaß dies »auf der anderen Seite« »positive weiterführende Bedeutung hat«. Manmag sich also mit Recht fragen, warum Marx in der Klassenkampf-Schrift nichtvon einer Tragik der Junikatastrophe gesprochen hat.

Die Frage klärt sich an der Paradoxie, die noch in der Marxschen Dialektik von>Niederlage< und >Reifung< verborgen ist. Sie gründet in der nur ökonomiekriti-scher Analyse zugänglichen Einsicht, daß die Auflösung »vorrevolutionärer, tra-ditioneller Anhängsel«, d. h. sedimentärer Ablagerungen vorbürgerlicher Epo-

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chen nur dem kathartischen Prozeß der Kapitalkonstitution obliegt. Dem ist dasProletariat als Objekt unterworfen. Das Marxsche Argument, daß das Proletariatdie Katharsis auch an sich selbst als Subjekt, vollzieht, ist zunächst paradox. [65]Denn historisch muß sich das Proletariat erst zu dem herausbilden, was es ausEinsicht in die polit-ökonomische Dialektik des Prozesses, dem es unterworfen ist,schwerlich antizipieren kann. In der behaupteten Identität von Subjekt undObjekt der kathartischen Dialektik, welche zunächst widersinnig erscheint, ist in-des noch ein vermittelndes Medium mitgedacht, das ein berühmtes Marx-Wortausspricht:

Wir [sagen] den Arbeitern: Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkrieg durchzumachen, um dieVerhältnisse zu ändern, um euch selbst zur Herrschaft zu befähigen. [66]

Die Vermittlung durch »Kampf«, »Bürgerkrieg«, »Die Revolution in Permanenz«[67]: Marx denkt das Proletariat als Objekt eines ökonomischen Umwälzungs-prozesses und zugleich als kämpfendes Subjekt von dessen historischer Durchset-zung. Das, was es objektiv bewirkt, nämlich die Auflösung der »traditionellenAnhängsel« in die gesellschaftliche Struktur »scharfer Klassengegensätze«, soll esauch an sich selbst bewirken. In der »Junirevolution« hat, worauf Marx die Beto-nung legt, das Proletariat den kathartischen Ablösungsprozeß anderer, nicht-pro-letarischer Klassen von sich vollzogen und stand als Klasse Cavaignacs Truppenallein gegenüber. Marx aber vermag die polit-ökonomische Dialektik der Kapital-fund Lohnarbeits-) Konstitution auf Geschichte nur zu übertragen, weil der ver-mittelnde Ausdruck dieser Übertragung die Verschiebung im Lager der Kämpfen-den, die Verschiebung der Kräfte und Ziele des Kampfes mit eben derselben Not-wendigkeit sein muß, die den Kampfprozeß der 48er Revolution als historischeDurchsetzung der kapitalistischen Hegemonie zu begreifen drängt. Der >Kampf<als >Vermittler< fügt der revolutionstheoretischen Dialektik folglich ein pädagogi-sches oder mäeutisches Moment hinzu. Doch es ist diese Ebene des Klassenkamp-fes, die Marx als »dramatische Ebbe und Flut« bezeichnet hatte, ein Zeitraffer derhistorischen Entwicklung der Klassen. Diese >Dramatik< der Permanenz desKampfes soll nun dem Marxschen Argument zufolge das überwinden, was die»Tragik« gerade konstituiert: die »Agonie« der Niederlage [68]; und doch wirddem Proletariat nur aus der Niederlage die Perspektive des Kampfs beschieden,kraft einer Dialektik der »Unbesiegbarkeit«. - Einer implizit tragischen Figur.Daß so das >tragische< Objekt zugleich als Subjekt untragischen Kampfes ange-sprochen ist, läßt die Rede von einer »Tragik« der Junikatastrophe nicht aufkom-men und zeigt, auf welch paradoxe Weise in der Klassenkampf-Schrift die Dra-mametapher und implizit dramatische Momente der Revolutionstheorieineinander verwoben sind.

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7. Die Kritik des Dramas durch sich selbst

(K. Marx: Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte)

»Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophezu fundieren. Daß es >so weiter< geht, ist die Katastrophe. Sieist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Ge-gebene. «

Benjamin

Von >implizit dramatischen Momenten< einer revolutionstheoretischen Kon-zeption zu sprechen, kann unserer Frage, die nach der Bedeutung der Verwen-dung der Dramametaphorik fragt, nicht genügen. Ihr wird erst entsprochen wer-den können, wenn der Begriff des Dramas, welcher die Metapher trägt, an einerTheorie des Dramas, hier an der Hegeischen, gewonnen ist. Der darin gesuchteKontrast aber wäre fast willkürlich gewählt, würde nicht einbezogen, was Marxselbst an expliziter Kritik >dramatisch< sich drapierender Revolutionsmodelle imEingang des »Achtzehnten Brumaire« entwickelt. Diese Kritik aber verbleibtselbst im Rahmen ästhetischer Metaphern und Metonymien, ein Bannkreis, indem auch noch die Kritik der revolutionstheoretischen Konzeption der Klassen-kampf-Schrift verbleibt.

Marx begann die Niederschrift des »Brumaire« unmittelbar nach dem Ereignis,das sein Titel nennt; dem Staatsstreich Louis Bonapartes am 2. Dez. 1851. Er be-gann sie, noch bevor historisch überhaupt deutlich werden konnte, welchen Ein-schnitt dieser Tag bezeichnet. Mit dem Machtantritt Louis Bonapartes, d. i.Napoleon III., beginnt das »Second Empire«, der technologische und ökonomi-sche Aufschwung Frankreichs ins zwanzigste Jahrhundert; eine Zeit, von der un-sere Geschichtsbücher sagen: »Es konnte viel verdient und viel gespart werden«.[69]

Benjamin bemerkte, daß es dem'»historischen Materialismus [...] darum[gehe], ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick derGefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt«. [70] Diesem >Augenblick<entspricht im »Brumaire« der 2. Dezember 1851. An diesem Tage geschah erst-mals, was der Faschismus des zwanzigsten Jahrhunderts zum politischen Prinzipmachte: daß der Bourgeois den Bourgeois besiegte, die bourgeoisen »Hohenprie-ster der >Religion und Ordnung«« durch den Bourgeois Bonaparte entmachtetwurden,

bei Nacht und Nebel aus ihren Betten geholt, in Zellenwagen gesteckt, in Kerker geworfenoder ins Exil geschickt, ihr Tempel wird der Erde gleichgemacht, ihr Mund wird versiegelt,ihre Feder zerbrochen, ihr Gesetz zerrissen, im Namen der Religion, des Eigentums, derFamilie, der Ordnung. Ordnungsfanatische Bourgeois auf ihren Baikonen werden von be-soffenen Soldatenhaufen zusammengeschossen, ihr Familienheiligtum wird entweiht, ihre

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Häuser werden zum Zeitvertreib bombardiert — im Namen des Eigentums, der Familie, derReligion und der Ordnung. Der Auswurf der bürgerlichen Gesellschaft bildet schließlich dieheilige Phalanx der Ordnung, und der Held [...] zieht in die Tuilerien ein als >Retter derGesellschaft. [71]

Das Bild, das sich Marx nach der Erfahrung dieses Tages* einstellt, muß sein Ver-

ständnis der Revolution von 1848 revozieren. Stand sie ihm bis dahin, d. h. noch

in der weniger als anderthalb Jahre früher verfaßten Klassenkampf-Schrift, als

>dramatisch< sich zum proletarischen Sieg fortbildende Epoche vor Augen, so er-

scheint sie jetzt >dramatisch< in einem anderen Sinn: als »lumpige Farce«:

Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sichsozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragö-die, das andere Mal als lumpige Farce. [72]

In diesem >lumpigen< Stück spielen die Klassen und ihre Repräsentanten auf »re-

volutionärer Bühne« [73], mal im »Vordergrund«, »Hintergrund« oder in der

»Kulisse« [74], als »Schauspieler [...] au serieux« [75] oder in einer »Komödie«;

mal »ohne irgendeine der pedantischen Bedingungen der französischen dramati-

schen Etikette [gemeint sind die >Einheitsregeln< der »tragedie classique«; W. H.]

zu verletzen« [76], mal in platten »Haupt- und Staatsaktionen« [77], welche zu-

weilen selbst »als Komödie im ordinärsten Sinne« aufgeführt wurden, »als eine

Maskerade, wo die großen Kostüme, Worte und Posituren nur der kleinlichsten

Lumperei zur Maske dienen«. [78] Gleichsam alle Register der Geschichte der

* Daß dies auch im wörtlichen Sinn zu verstehen ist, zeigt folgendes Zitat aus einem BriefEngels vom Tage nach dem Coup d'etat, das Marx sich zu eigen machte. Es zeigt, wie sehrdiejenigen, die ihre revolutionstheoretischen Konzeptionen eng verwandt einer dramatischenentwickelten, gerade darin - gleich einem Schock - betroffen waren. Marx hat die folgendenZeilen fast wörtlich, mit einem kleinen Zusatz Hegel betreffend, an den Anfang des »Bru-maire« gestellt: »Hätte man sich ein ganzes Jahr geplagt, man hätte keine schönere Komödieerfinden können [...] Nach dem aber, was wir gestern gesehen haben, ist auf den peuplegar nichts zu geben, und es scheint wirklich, als ob der alte Hegel in seinem Grabe dieGeschichte als Weltgeist leitete und mit der größten Gewissenhaftigkeit alles sich zweimalabspinnen ließe, einmal als große Tragödie, und das zweite Mal als lausige Farce, Caussi-diere für Danton, L. Blanc für Robespierre, Barthelemy für St. Just, Flocon für Carnot unddas Mondkalb [L. Bonaparte; W. H.] mit dem ersten besten Dutzend schuldenbeladenerLieutenants für den kleinen Korporal [Napoleon I., W. H.] und seine Tafelrunde von Mar-schällen« (MEW Bd. 27, S. 380f.).

Engels hat selber 1847 ein satirisches Stück geschrieben, das in Brüssel aufgeführt wurde,jedoch als verschollen gilt (vgl. Knilli/Münchow, a .a.O., S. 58), und fühlt sich, an einerSatire über die deutschen Exilsozialisten arbeitend, auch in dieser Hinsicht betroffen:»Zweitens ließ ich das Ding ganz sein, seitdem die Geschichte anfängt, komische Romanezu schreiben — eine etwas zu gefährliche Konkurrenz« (Brief vom 16. 12. 1851 an Marx;MEW Bd. 27, S. 391).

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Gattung werden gezogen: »tragedie classique« neben effekthaschender Wander-bühnenpraxis und sogar barockem Theater im Theater.

Doch die Verwandlung des >ernsten Dramas< in die >lausige Farce< ist bedingtdurch eine Verschiebung im Charakter und Ergebnis der Revolution, welcheMarx an diesem Tag sich offenbart. Nicht der proletarische Sieg, sondern einneuer Typus konterrevolutionärer Herrschaft bringt die Ernte der Revolutions-epoche ein: Die zentralisierte »Staatsmaschine« als Repressionsinstanz gegenüberden befreienden Klassen-ein Typus »verselbständigter« Staatsherrschaft, der dieSelbstüberwindung der bürgerlichen Republik auf ihrem eigenen Boden vollzieht.In seinem ganzen Charakter ist er in Bonapartes Staatsstreich zum Ausdruck ge-kommen und Marx erscheint er als Frucht, welche 1789 schon zu keimen begon-nen hatte und in der 48er Revolution nur vollends ausreifte:

Die erste französische Revolution mit ihrer Aufgabe, alle lokalen, territorialen, städtischenund provinziellen Sondergewalten zu brechen, um die bürgerliche Einheit der Nation zuschaffen, mußte entwickeln, was die absolute Monarchie begonnen hatte: die Zentralisa-tion. [...] Napoleon vollendete diese Staatsmaschinerie. Die legitime Monarchie und dieJulirevolution fügten nichts hinzu als eine größere Teilung der Arbeit [...] also neues Mate-rial für die Staatsverwaltung. [...] Die parlamentarische Republik endlich sah sich in ihremKampfe wider die Revolution gezwungen, mit den Repressivmaßregeln die Mittel und dieZentralisation der Regierungsgewalt zu verstärken. Alle Umwälzungen vervollkommnetendiese Maschine statt sie zu brechen. [...] Unter der absoluten Monarchie, während der er-sten Revolution, unter Napoleon war die Bürokratie nur das Mittel, die Klassenherrschaftder Bourgeoisie vorzubereiten [...] Erst unter dem zweiten Bonaparte scheint sich der Staatvöllig verselbständigt zu haben. [79]

Daß nunmehr die bonapartistische >Staatsmaschinerie< es ist, welche den bürgerli-chen Parlamentarismus, d. h. das Wechselspiel der Minoritätenherrschaft besiegtund beendet, bedeutet nicht einfach die Restituierung monarchistischer Formenoder Restauration atavistischer Staatsstrukturen auf dem Boden entwickelterkapitalistischer Verhältnisse, was deren momentanem Sieg wenig Dauer verhieße.Sondern es scheint vielmehr, als sei mit diesem Machtantritt einer zentralisiertenGewalt »dem Keime nach« der proletarische Sieg gelungen:

>C'est le triomphe complet et definitif du socialisme!< So charakterisierte Guizot den 2.Dezember. Aber wenn der Sturz der parlamentarischen Republik dem Keime nach den Tri-umph der proletarischen Revolution in sich enthält, so war ihr nächstes handgreiflichesResultat der Sieg Bonapartes über das Parlament, der Exekutivgewalt über die Legislativge-walt, der Gewalt ohne Phrase über die Gewalt der Phrase. [80]

Guizot unterliegt gerade der Täuschung, die diese »Revolution von oben«(Engels) [81] kennzeichnet. Täuschung ist, daß diese Konterrevolution sich mitrevolutionären >Kostümen< und Phrasen drapiert, und doch ist es dieser Mecha-

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nismus, der Bonaparte seine politische Herrschaft erringen ließ, und mit dem erdie von ihm beherrschten Massen in seinem Bann hielt. Daß Bonaparte mit einerbreiten, spontanen Massenbasis siegte, das Pariser >Proletariat< auf seiner Seitehabe, auch das beruht auf einer, von Bonaparte geschickt produzierten Täu-schung. Seine >Hausmacht<, seine >Armee<, die ihm zum Sieg verhalf, war jene»Gesellschaft des 10. Dezember«:

Diese Gesellschaft datiert vom Jahre 1849. Unter dem Vorwande, eine Wohltätigkeitsge-sellschaft zu stiften, war das Pariser Lumpenproletariat in geheime Sektionen organisiertworden, jede Sektion von bonapartistischen Agenten geleitet, an der Spitze des Ganzen einbonapartistischer General. Neben zerrütteten Roues mit zweideutigen Subsistenzmittelnund von zweideutiger Herkunft, neben verkommenen und abenteuernden Ablegern derBourgeoisie, Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufeneGaleerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler,Maquereaus, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scheren-schleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte aufgelöste, hin- und hergewor-fene Masse, die die Franzosen la boheme nennen. [82]

Als gefeierter Führer dieser >scheinbar< proletarischen Masse gab sich Bonaparte,der sie als Publikum auf alle seine Reisen in die Provinz mitnahm, wo sie »dieAvantgarde bilden, Gegendemonstrationen zuvorkommen oder sie auseinander-jagen« [83] mußte. Benjamin verwies auf die Faszinationskraft, welche diese >bo-heme< auf die literarischen Strömungen, speziell Baudelaire, ausüben mußte. [84]

Kraft des scheinbar revolutionären Ziels — der Zerschlagung der parlamentari-schen Ordnung — und kraft der Mobilisierung einer scheinbar proletarischenMassenbasis konnte Bonaparte eine dritte Illusion bei der Klasse erwecken, derenGewinnung oder Gegnerschaft die französischen Revolutionen von jeher ent-schieden hatte: bei den Bauern. — Napoleon I. hatte durch die Beseitigung desagrarischen Feudaleigentums die >Parzelle< geschaffen, das Eigentumsrecht jedes,vormals leibeigenen, Bauern an seinem Stück Boden. Das verschaffte ihm, nebenpolitischer Gefolgschaft, seine Soldaten, das Instrument seiner imperialen Pläne.Die Bauern im Soldatenrock—sie hatten in Napoleons Kriegen das zu verteidigen,was er ihnen gegeben hatte, ihre Parzelle:

Die Uniform war ihr eigenes Staatskostüm, der Krieg ihre Poesie, die in die Phantasie verlän-gerte und abgerundete Parzelle das Vaterland und der Patriotismus die ideale Form desEigentumssinnes. [85]

In dieser Tradition konnte Louis Bonaparte das Werk der Täuschung allein schonmit seinem Namen beginnen, wenngleich der Parzellenbauer selbst inzwischendurch Kapitalisierung, Hypothek und Steuerlast pauperisiert war. Doch dieSchuld an ihrer Pauperisierung gaben die Bauern eben jener parlamentarischenOrdnung, deren Abschaffung abermals der Mann mit dem heroischen Namenversprach. »Mit der fortschreitenden Zerrüttung des Parzelleneigentums« aber,

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die durch Bonaparte keineswegs aufgehalten werde, bricht, so Marx, »das auf ihmaufgeführte Staatsgebäude zusammen.«*

Die Zertrümmerung der Staatsmaschine wird die Zentralisation nicht gefährden [86] - Diestaatliche Zentralisation, deren die moderne Gesellschaft bedarf, erhebt sich nur auf denTrümmern der militärisch-bürokratischen Regierungsmaschinerie, die im Gegensatz zumFeudalismus geschmiedet ward. [87]

Die Strategie der »Zertrümmerung der Staatsmaschine«, wie sie in diesen Zei-len anklingt, ist auf politischer Ebene die zentrale revolutionstheoretische Thesedes »Brumaire«. Hier erstmals gewonnen, bleibt sie über den »Bürgerkrieg inFrankreich« (1871), der fast wörtlich auf Stellen im Brumaire Bezug nimmt, bishin zu Lenins »Staat und Revolution« (1917) und den neueren Analysen der ita-lienischen Gruppe »Potere Operaio« das Kernproblem der marxistischen Theo-riengeschichte. [88]

Die Strategie der »Zertrümmerung der Staatsmaschine« konkretisiert die frü-here des Manifests, - die Strategie der »Aufhebung des Privateigentums«. DasPräsent-Werden des revolutionären Subjekts der »Aufhebung« konzipierte Marxentlang eines implizit dramatischen (und explizit drama-metaphorischen)Modells. So aber kam Bonaparte zur Macht. Sein Staatsstreich bedeutete auf po-litischer Ebene die »Aufhebung« der bürgerlichen Gesellschaft auf ihrem eigenenBoden; diese Verkehrung der revolutionären in eine konterrevolutionäre Bewe-gung mit Mitteln der Revolution offenbart die eigentliche »Gefahr«, die derAugenblick des Staatsstreichs barg. Marx begegnet ihr - theoretisch - durch prä-zise Kritik dessen, was Engels 1895 »die Färbung unserer Vorstellungen von derNatur und dem Gang der Revolution nannte, der »Vorbilder von 1789-1830«;er entwickelt eine Kritik der immanent dramatischen Momente bürgerlicherRevolutionen, eine Kritik allerdings, die sich selbst »dramatisch« artikuliert.Zeichnen wir ihre einzelnen Schritte nach:

»Die Menschen machen«, so beginnt Marx generell, »ihre eigene Geschichte, aber sie ma-chen sie nicht [...] unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gege-benen und überlieferten Umständen. [...]Wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nichtDagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sieängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf [...] So maskierte sichLuther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789-1814 drapierte sich abwechselnd alsrömische Republik und als römisches Kaisertum, und die Revolution von 1848 wußte nichts

* Engels' »Einleitung« von 1895 in die Klassenkampf-Schrift gibt im übrigen schon Auf-schluß darüber, wie sehr Marx irrte, wenn er hier den Zusammenbruch des Staates aus der»Zerrüttungder Parzelle« ableitet. Was er nicht sehen konnte, war, daß mit dem »SecondEmpire« jene »große ökonomische Revolution« begann, die wie Engels 1895 schreibt, »denganzen Kontinent ergriffen und die große Industrie in Frankreich [...] erst wirklich einge-bürgert, :i11s Dmtst/liland ;»ber cm Industrieland ersten Ranges gemacht hat« (a.a.O., S.SI6).

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besseres zu tun, als hier 1789, dort die revolutionäre Überlieferung von 1792-1795 zu paro-dieren.« [89]

Alle bisherigen Revolutionen also waren Marx zufolge Parodien auf vorherge-hende. Aus welchem Grund?

Die Totenerweckungen in jenen Revolutionen dienten [...] dazu, die neuen Kämpfe zu ver-herrlichen, nicht die alten zu parodieren, die gegebene Aufgabe in der Phantasie zu übertrei-ben, nicht vor ihrer Losung in der Wirklichkeit zurückzuflüchten, den Geist der Revolutionwiederzufinden. [90]

Die Parodie ist also nicht einfach Parodie. Sie reaktualisiert den »Geist« desGewesenen, um nie Dagewesenes zu vollbringen. »Die große Revolution führteeinen neuen Kalender ein. Der Tag, mit dem der Kalender einsetzt, fungiert alsein historischer Zeitraffer«. [91] Die revolutionäre Parodie vergangener Revolu-tionen will also Gegenwart stillstellen, um aus der Vergegenwärtigung des Ver-gangenen ein neues Jetzt zu gewinnen. Doch diese das Kontinuum der Geschichteaufbrechende »Jetztzeit« (Benjamin) ist nur »Ekstase«:

Die neue Gesellschaftformation einmal hergestellt, verschwanden die vorsintflutlichenKolosse und mit ihnen das wiederauferstandene Römertum [...] Die bürgerliche Gesell-schaft in ihrer nüchternen Wirklichkeit hatte sich ihre wahren Dolmetscher und Sprachfüh-rer erzeugt, [...] ihre wirklichen Heerführer saßen hinter dem Kontortisch [92]

Marx faßt zusammen:

Unheroisch, wie die bürgerliche Gesellschaft ist, hatte es jedoch des Heroismus bedurft, derAufopferung, des Schreckens, des Bürgerkriegs und der Völkerschlachten, um sie auf dieWelt zu setzen, (ebd)

Damit ist gesagt: Die bürgerliche Gesellschaft reaktualisiert in ihrer, am Vorbildaller bisherigen Revolutionen verlaufenden revolutionären Phase nicht einfachden »Geist des Gewesenen«, sondern einen bestimmten: Sie »beschwört« denHeroen vergangener Epochen. »Um den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrerKämpfe sich selbst zu verbergen« mußte die Bourgeoisie als Held sich drapieren[93], mußte die griechischen und römischen Helden zur idealischen Wiedergeburtsich gegenüber bringen. Dies wird noch bei Hegel näher zu verfolgen sein. Sovielalso »Danton, Robespierre, St. Just, Napoleon« in ihren Taten »Heroen« warenund, ihre Leidenschaft »auf der Höhe der geschichtlichen Tragödie« haltend [94],heldenhaft an ihren Taten zugrunde gingen, >tragische< Helden der Herstellungbürgerlicher Verhältnisse, — sowohl ihrer Funktion nach, wie dem Inhalte ist dieseVergegenwärtigung des Vergangenen beschränkt. Marx nennt sie eine »Poesie«,die »aus der Vergangenheit schöpft«. [95] Diese »Poesie« ist, wie zu sehen seinwird, derjenigen entsprechend, die die Hegeische »Ästhetik« definierte. Gerade

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von solcher >Poesie aus der Vergangenheit< setzt Marx die Weise ab, nach der die»soziale«, proletarische Revolution ihre »Poesie« allein zu gewinnen vermag:

Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Ver-gangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft [96]

Ist damit Fouriers oder Cabets Utopien einer kommenden kommunistischenGesellschaft spätes Recht verliehen? Zumindest aber ist deutlich, daß Marx dieproletarische Revolution nicht mehr als innerhalb der Mechanismen und Formenverlaufend denkt, welche die »Vorbilder von 1789—1830« darboten. Sie sollstattdessen ihre Kraft aus dem >Geist< einer Poesie schöpfen, die es offenbar nichtgibt: die >Poesie aus der Zukunft<.

Walter Benjamin, dem der Achtzehnte Brumaire wie sonst kein MarxscherText verwandt war, gibt in der 14. seiner Thesen »Über den Begriff derGeschichte« eine Interpretation dieser Marxschcn Konzeption der Poesie derRevolution:

Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leereZeit, sondern die von >Jetztzeit< erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom einemit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraus-sprengte. Die Französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom. Sie zi-tierte das alte Rom genauso, wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert. Die Mode hatWitterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tiger-sprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klassekommandiert. Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische,als den Marx die Revolution begriffen hat. [97]

Benjamin übernimmt von Marx die Kritik der Poesie bürgerlicher Revolutionen;er versteht sie immanent. Der »Tigersprung« der bürgerlichen Revolutionäre istgleichsam ein domestizierter. Das will sagen, daß es nur eine bestimmte Weise derbürgerlichen Gesellschaft ermöglicht, sich ihrer Vergangenheit zu bemächtigen.Als ihre wissenschaftliche Disziplin nennt Benjamin den » Historismus «. Sein Ver-fahren sei von einem historischen Blick geleitet, der sich in die jeweiligen Siegerder Geschichte »einfühlt«. Nichts anderes tat Robespierre. »Die jeweils Herr-schenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in denSieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut« (7. These). Wendie bürgerliche Poesie aus der Vergangenheit aktualisiert, ist eben der antike Sie-ger, der Held des dramatischen Geschehens im »heroischen Weltzustand«(Hegel). In ihn sich einzufühlen, kommt nur den Herrschenden zugute.

Ins Zentrum seiner Kritik der Regeln der aristotelischen Dramatik hat Brechtden Mechanismus der »Einfühlung« gestellt. Zugleich entwickelte er eine andere,>freiere<, nicht-einfühlende Weise, sich sowohl der literarischen Tradition wie demgeschichtlichen Stoff selbst zuzuwenden. [98] Insofern sich diesem Verfahren die

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ganze Fülle der Vergangenheit eröffnet, ist damit erst die Möglichkeit bereitet, ausdem kritischen, nicht-einfühlenden Aneignen von Vergangenem als aus seiner>Zukunft< zu schöpfen. — »Unter dem freien Himmel der Geschichte« besagt da-her, daß die Gesellschaftsformation, die sie bedeckt, d. h. ein bestimmtes, nämlicheinfühlendes, mythologisierendes und historistisches Verhältnis zu ihrerGeschichte hat, sie bedeckend auch in dem Sinn, ihr jede Zukunft zu versagen*- daß diese Gesellschaft nur durch ihren Umsturz die Kräfte freizusetzen vermag,die der Geschichte ihren Zukunftsindex zurückzugeben und aus ihrer Zukunft >zuschöpfen< befähigt sind.

Von Benjamin oder Brecht her ist aber eine immanente Interpretation desMarxschen Wortes von der >Poesie aus der Zukunft< nicht möglich. Der Hinweisin ihre Richtung lehrt vielmehr, was bei Marx an dieser Stelle fehlt, mangelt, leerbleibt: Brecht und Benjamin entfalten eine immanente Kritik der »weltgeschicht-lichen Totenbeschwörungen«, die einer bestimmten bürgerlichen Manier ent-spricht, Vergangenes zu reaktualisieren. Marx entwickelt nicht erst den ästheti-schen oder geschichtstheoretischen Diskurs, innerhalb dessen er erklärte, was essei, das die >poetischen< Revolutionäre geschichtlich identifizieren. Dieser Ort derErklärung ist bei Marx leer, denn er ist der der Metapher und Metonymie der»Poesie«, »Tragödie« etc. Und weil er leer bleibt, ist Marx die einfache Umkeh-rung von »Vergangenheit« in »Zukunft« ermöglicht. — Doch es wäre noch zu ver-früht, schon an dieser Stelle systematisch auf den Ort der Bedeutung der Drama-metaphern weiter einzugehen. Vorerst ist fortzufahren in der kritischenRekonstruktion des revolutionstheoretischen Kontextes des Brumaire.

Für Marx nämlich zeigt sich »bei Betrachtung jener weltgeschichtlichenTotenbeschwörungen«, welche die bürgerlichen Revolutionen vollzogen, »einspringender Unterschied«. [99] Es ist eben jener >Unterschied<, den die Anfangs-sätze des »Brumaire« anvisierten: der >Unterschied< zwischen »Tragödie« und»Farce«. Es sind dies zwei Genres, die, wie bei Hegel näher zu sehen sein wird,

* »Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr« — Marx über Proudhon(MEW Bd. 4, S. 139). Das naturgeschichtliche Selbstverständnis der bürgerlichen Wissen-schaft, die die von ihr postulierten Kategorien und Gesetze für ewig hält, greift auf Vergange-nes im Sinne einer Mythologie des Jetzt zurück. So setzen Smith und Ricardo die Robinso-nade des »vereinzelten Jägers und Fischers« an den »Anfang« der Geschichte, HegelsKunstideal den antiken Heroen und die historistische Geschichtsschreibung den >Sieger<,»als das naturgemäße Individuum, angemessen ihrer Vorstellung von der menschlichenNatur«, ein ursprüngliches >Individuum< also, das sie »nicht als ein geschichtlich entstehen-des, sondern von Natur gesetztes« verstehen. Eine verwandte Art >Poesie aus der Vergan-genheit< sieht Marx so bei »Proudhon u. a.« am Werk:

»Für Proudhon ist es natürlich angenehm, den Ursprung eines ökonomischen Verhältnis-ses, dessen geschichtliche Entstehung er nicht kennt, dadurch geschichtsphilosophisch zuentwickeln, daß er mythologisiert, Adam oder Prometheus sei auf die Idee fix und fertig ge-fallen, dann sei sie eingeführt worden etc.« (alle Zitate in: Grundrisse, Berlin 1953, S. 5 f.)

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einen Unterschied in der Rolle des dramatischen Subjekts markieren. Das eine,das tragische, konstituiert sich und seine Welt durch die Handlung, seine Hand-lung, an der es zerbricht. Das andere, das komische, beruht wesentlich auf sichselbst, auf seinem »Charakter«, von dem es Schaustücke liefert in seinen Kollisio-nen mit der Welt, ohne daß sie ihn veränderten. Für Marx heißt dies: die Reprä-sentanten der Großen Französischen Revolution waren tragische »Heroen« (s.o.),die nur indem sie dies waren, »in dem römischen Kostüme und mit römischenPhrasen die Aufgaben ihrer Zeit« vollbringen konnten, »die Entfesselung undHerstellung der modernen bürgerlichen Gesellschaft«. Daran gingen sie ebenso-wohl zugrunde. Die Repräsentanten der 48er Revolution waren nur komische,schärfer noch, farcenhafte >Helden<, bloße »Karikatur«. Historisch hatten sienichts zu tun, als »nur das Gespenst der alten Revolution um [gehen]« zu machen.[100] Sie vollbrachten nur die ästhetische Form (»Parodie«) eines Mechanismusder >Wiederholung< historischer Ereignisse, dem Hegel schon (an noch zu be-trachtender Stelle) eine spezifische Funktion in der Durchsetzung weltgeschicht-lich neuer Gesellschaftsformationen zugewiesen hatte.

Den »tragischen« Helden sowie der Verlaufsform der bürgerlichen Revolutio-nen als »Tragödien« vermag Marx also eine geschichtsmaterialistische Fundie-rung zu geben. Sie haben ihre Wahrheit darin, durch Heroisierung jenen von sichaus >beschränkten<, »unheroischen« kapitalistischen Zielen und Instanzen ihrehistorische Durchsetzungskraft zu geben. Von daher erst eröffnet sich dem Kriti-ker der bürgerlichen Revolution die ganz andere Funktion und Wirkung, die eine>Wiederholung< der bürgerlichen Revolution auf bürgerlichem Boden selbst hat.Sie macht nur eine >Schein<-Revolution, eine »Farce«; doch zugleich, wohl ernsterzu nehmen, eine Konterrevolution; sie schafft eine ungeheure und neue Repres-sionsinstanz staatlicher Herrschaft über die Gesellschaft. Um diesen Gegensatzzwischen »Staatsgewalt« und »Gesellschaft« rein herauszuarbeiten, hielt Marxdie Konterrevolution des Bonaparte für »notwendig«*. Die »Farce« also scheintvon einigem Gewicht; sollte man daher Herbert Marcuse folgen, der schrieb:»Oder vielmehr: die Farce ist furchtbarer als die Tragödie« ? [101] Auf die Frage,ob Marx solches geschrieben haben könnte, wollen wir nicht eingehen; daß er esnicht tat, ist signifikant. Und sehr wohl hat Marx (was Marcuse bestreitet [102])»vorausgesehen, wie schnell [...] die Kräfte, die [den Kapitalismus] sprengen soll-ten, zu Instrumenten seiner Herrschaft wurden.« Gerade weil er sah, wie dieKräfte der zerrütteten Parzellenbauernklasse, die Kräfte der von ihrer Klasse ab-gespaltenen Lumpenproletarier und die revolutionären Ziele selbst verkehrt undzu Instrumenten bonapartistischer Politik wurden, analysiert er den Mechanis-

* »Die Parodie des Imperialismus [Napoleons des Ersten; W. H.] war notwendig, um dieMasse der französischen Nation von der Wucht der Tradition zu befreien und den Gegensatzder Staatsgewalt zur Gesellschaft rein herauszuarbeiten.« (a.a.O., S. 203) Das Von-der-Wucht-Befreien verweist wieder auf eine Mäeutik gesellschaftlicher Verhältnisse, wie sie dieKlassenkampf-Schrift entfaltete. Vgl. dazu, unten S. 62

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mus dieser Verkehrung. Sie beruht auf einem Funktionswandel dramatischerHandlungsformen der bürgerlichen Revolution auf dem Boden der bürgerlichenGesellschaft selbst.

Dieser Funktionswandel betrifft die Marxsche Revolutionstheorie selbst, inso-fern ihr diese dramatischen Handlungsformen der bürgerlichen Revolution, wiees Engels 1895 bezeugte, für die 48er Revolution zum »Vorbild« dienten. Daßdieses Vorbild nunmehr, nach der Erfahrung der bonapartistischen Politik, zurbloßen »Farce« herunterkommt, wäre alles andere als »furchtbar«. Man muß hiergenau lesen: Wenn Marx den Mechanismus der beschwörenden, mythologisie-renden Wiederholung des Vergangenen für nunmehr unwiederholbar hält, es seidenn als bloße »Farce«, so ist darin impliziert, daß keine Revolutionstheorie län-ger die Präsentation oder Konstitution des revolutionären Subjekts im Begriff die-ses Mechanismus denken kann.

Daher heißt es im Brumaire bezogen auf die 48er Revolution (von deren Ver-ständnis als »revolutionäres Drama«, als Bewegung, deren Endpunkt der proleta-rische Sieg sei, die Schriften bis 1851 ausgegangen waren):

Jeder erträgliche Beobachter übrigens, selbst wenn er nicht Schritt vor Schritt dem Gangder französischen Entwicklung gefolgt war, mußte ahnen, daß der Revolution eine uner-hörte Blamage bevorstehe. [103]

Die Bewegung von 48 als Revolution aufzufassen, konnte nur geschehen, übertrugman auf sie die Verlaufsform der bürgerlichen Revolutionen als »Vorbild«. Es er-weist sich für Marx nicht, daß diese Übertragung falsch war; sondern gerade des-halb, weil sie richtig war, konnte die 48er Revolution keine wirkliche, sondernnur »Blamage« sein. - Die Theorie der Revolution aber, die sie als >wirkliche< auf-gefaßt hatte, muß folglich revoziert werden.

»Proletarische Revolutionen«, schreibt daher Marx im ersten allgemein-einleitenden Teildes »Brumaire«, »wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst,unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Voll-brachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam gründlich dieHalbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche.«

Die Ebene, auf der Marx hier die Verlaufsform der proletarischen Revolution be-schreibt, ist deskriptiv, z. T. phänomenologisch. So kommt hier deutlich die Hete-rogeneität des revolutionären Bildungs- und Kritikprozesses zum Ausdruck, wel-che die Dialektik von Katastrophe und Katharsis nur verschwieg und unsichtbarmachte. Die Mäeutik der Katastrophe, d. h. das Lernen durch die Niederlage unddurch die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst ist nunmehr nur ein Moment derVerlaufsgeschichte, neben permanenter Selbstkritik, Diskontinuitäten und Wie-derholungen; Marx nennt überdies das geradezu entgegengesetzte Bildungsele-ment, den >scheinbaren Sieg<:

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[...] scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde saugeund sich riesenhafter ihnen gegenüber wiederaufrichte, schrecken stets von neuem zurückvor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffenist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen:

Hie Rhodus, hie salta!Hier ist die Rose, hier tanze! [104]

Auf dieser Ebene des Marxschen Diskurses erscheinen die Zweckbestimmungen,die das Manifest und die Klassenkampf-Schrift mit »Aufhebung« des Privatei-gentums und >Diktatur des Proletariats< bestimmt hatten [105], als »unbestimmteUngeheuerlichkeit«. Marx wechselt das Terrain und begibt sich in die Rolle, dieder des »Erzählers« [106] vergleichbar sein mag, davon berichtend, wie wenig sichdie Präzepte des Manifests in der 48er Revolution verwirklichen ließen, wie wenig»geheuer« sie waren. Die Nicht-Präsenz des aufhebenden Subjekts wird darinnicht länger als (implizit dramatisches) dialektisches »Noch-Nicht« derGeschichte verstanden, sondern allererst artikuliert. Ungeheuerlich ist eben dieNicht-Präsenz dessen, das doch präsent ist, ungewiß nur, auf welche Weise, wound wie. Was Marx hier also gibt, ist nicht ein theoretischer Vermittlungsversuchdieser Präsenz/Nicht-Präsenz des revolutionären Subjekts, sondern der Ausdruckihrer Unvermitteltheit selber.

Von dieser Ausdrucksweise, die das Präsente als seiner selbst nicht ganz >ge-heuer<, das Bestimmte als in sich unbestimmt darstellt, kurz: verfremdend ver-fährt, ist der ganze Schluß des zitierten Abschnitts strukturell geprägt. Die Situa-tion unmöglicher Umkehr, welche soll »geschaffen« werden kraft jener Mäeutikder Verhältnisse, wird gleich noch einmal benannt, wiederholt in dem äsopischenVers,den »die Verhältnisse selbst rufen«. Die Verhältnisse selbst also haben einepoetische Stimme erlangt; und ihr »Ruf«, der selbst schon die Situation derUnumkehrbarkeit verbildlicht, bleibt selbst nicht ohne innere Differenz und Ver-fremdung: Der Ruf aus der äsopischen Fabel schallte dem entgegen, der von seinengroßen Sprüngen vergangener Tage in Rhodos erzählt. Wie der proletarischenKlasse aber, deren Kampfgeschichte Großes enthält, wurde ihm Größeres abver-langt und gerufen: »Hier ist Rhodos« - »hie salta«, »Spring jetzt«! - Doch Marxübersetzt »Rhodos« aus Homophonie mit »Rose« und entschärft die Schärfe desAufrufs zum Sprung, indem er >saltare< mit >tanzen< übersetzt. Selbst also dieBestimmtheit des proletarischen Umsturzes, den die Verhältnisse erzwingen, istim doppelt verfremdeten literarischen Duktus unbestimmt gelassen.

Mag sein, daß wegen dieser Verfremdungen und deskriptiven Plastizität dieStelle ihre Berühmtheit erlangt hat und so wegen der oszillierenden Ambiente je-der ihrer Halbsätze alle Marx-Leser, selbst dogmatische und anti-marxistische,faszinieren mußte. - Die Blickrichtung aber, aus der wir lesen, erspart uns dasMoment Blindheit, das jeder Faszination zugehört. Marx verfällt auf den phäno-mcnologischcn und literarischen Diskurs an einer Stelle, wo etwas zu revozieren

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war: seine Theorie der Revolution. Er revoziert indes nicht das Problem, das derRevolutionstheorie sich stellte, sondern eine Weise der Lösung. Das Problem, dasaufhebende Subjekt, die Bewegung der Negation, zu ihrer historischen Nicht-Prä-senz zu vermitteln, bleibt bestehen. In seiner Ungelöstheit ist es artikuliert.

Wenn Marx so keine differente Verlaufsstruktur anzugeben vermag, innerhalbderer das revolutionäre Subjekt historisch sich konstituiert, sondern nur die früherbehauptete dekonstruiert, so bleibt nur eines: Wir müssen die explizierte Dialektikder Subjektkonstitution als Problem vertiefen, d. h. ihre implizit dramatischenMomente schärfer akzentuieren; die Metaphern des »revolutionären Dramas«,der »Tragödie«, der »Farce« etc. nach ihrer Tragfähigkeit für die Bedeutung be-fragen, die ihnen geliehen wurde, wenn sie für die Bezeichnung der 48er Revolu-tion als Konstitutionsprozeß des revolutionären Subjekts standen. — Marx sagt:»Weltgeschichtliche Totenbeschwörungen« sind nicht mehr revolutionär, son-dern bloße »Farce«. Doch seine Kritik der »Tragödie« durch die »Farce« ist dieKritik des Dramas durch sich selbst. Ihre Implikationen sind im Folgenden zu un-tersuchen.

8. »Was Hegel irgendwo bemerkte«

Wir wollen Marx' Verwendung des >Dramatischen< im Kontext seinerGeschichtstheorie und Theorie der Revolution mit der geschichtsphilosophischreflektierten Theorie der »dramatischen Poesie« Hegels konfrontieren. Dies isterfordert, weil Marx in seiner Rede vom »Drama«, der »Tragödie« und der»Farce« eine unausgesprochene Voraussetzung macht: daß nämlich in derBezeichnung historischer Handlungsformen als »heroisch« etwa oder als »Tragö-die « immer schon evident wäre, was heroisches oder tragisches Handeln sei. Marxleiht diesen ästhetischen Begriffen eine Bedeutung und Funktion, die vorausset-zen, daß die Träger dieser Funktion, die ästhetischen Metaphern nämlich, in ih-rem eigenen Bedeutungskreis bekannt sind. An keiner Stelle wird von Marx expli-ziert, was dramatisches Handeln meint, außer, daß »dramatisch« eben etwa die48er Revolution verlaufe. Damit wird nicht auf irgendein Bühnenstück verwiesen.Verwiesen ist vielmehr gleichsam auf deren »Idee« [107]. Das heißt: der Verweisauf »dramatisches« Handeln schließt immer schon seine theoretische, zumal phi-losophische Explizier barkeit ein (welchen Status auch immer die Explikationselbst habe) - anders ja der Name und Autor eines Stückes mitgenannt sein müßte.Von »Drama« als solchem zu sprechen, meint dessen Begriff.

Wenn also, was über Marx hinausgeht, dessen Explikation nötig ist, so bleibtgleichwohl entscheidend, daß Marx ihm, im Brumaire zumal, eine geschichfs-theoretisch, aus der Analyse der Verlaufscharaktere bürgerlicher Revolutionen

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gewonnene historische Stelle und Schranke zuweist. Nur also derjenige Begriff desDramas kann der bei Marx verwandte sein, der selber schon historisch reflektiertist. Als solcher wäre er im Marxschen Text zugleich kritisiert (was immer der Sta-tus dieser Kritik selbst sei).

Den Begriff des Dramas an einer historischen Reflexion zu entfalten, ist geradedie Absicht der Hegeischen Ästhetik gewesen. Dort aber steht er im spekulativ-geschichtsphilosophischen Rahmen, den die ganze Ästhetik umschließt; es isteben dasjenige geschichtsphilosophische Konzept, auf das Marx explizit, zuAnfang des Brumaire, aus den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichtezitierend, verweist. Dort war dem Hinweis: »Hegel bemerkt irgendwo« ein: »Ervergaß hinzuzufügen« beigestellt. Die darin gelegene Hegel-Kritik wäre ebenfallszu explizieren. Daher wird im Folgenden auch die Geschichtsphilosophie heran-gezogen, im Hinblick darauf, welchen ästhetischen Handlungs- und Verlaufsmo-dellen Hegel innerhalb seiner Geschichtsphilosophie Funktion und Begriff zu ge-ben vermag. —

Sowohl Hegels Philosophie des »Kunstschönen« wie seine Systematik derKunstformen sind zentriert um seine Auffassung der griechischen Dramenform,genauer der »Tragödie«:*

In den Vorlesungen über Ästhetik denkt Hegel das Kunstschöne wesentlich von der Tragö-die her, wenn er (sc: es) durch Bestimmungen wie >das Göttliche als Einheit und Allgemein-heit< und als >Götterkreis<, >Handlung< und >Kollision< faßt. [108]

Umgekehrt aber steht die Philosophie der Tragödie selbst — das Kernstück desAbschnitts über die »dramatische Poesie« — in unmittelbarem Zusammenhangmit der aus der Bestimmung des Kunstschönen folgenden generellen >These vomEnde der Kunst«. Wie immer man diese These verstehen mag - ob als Ende jederMöglichkeit von Kunst überhaupt, oder als Relativierung oder Transformationihres Ausdrucksgehalts —, für Hegel sind die betreffenden Restriktionen außer-ästhetisch und solche des modernen »Weltzustandes«, der »reflektierendenWelt«. [109] Deren arbeitsteilige Verhältnisse, Institutionen, Gesetze, Moralenetc. stehen dem individuellen, unmittelbaren Handeln als beschränkende Mächtegegenüber; Mächte freilich, die die »Rechtsphilosophie« als vernunftgemäßeOrdnungen reflektieren kann, die aber in ihrer Unmittelbarkeit zunächst die Par-tikularität der empirischen Individualität zur Folge haben.

* Diese Bedeutung der antiken Tragödie reicht bis zu den ersten philosophischen Konzep-tionen des jungen Hegel zurück. Szondi, der im »Versuch über das Tragische« den mehrfa-chen Bestimmungen des Tragischen bei Hegel nachgegangen ist, hat an der frühesten nach-zuweisen versucht, wie in ihr »die dialektische Struktur [...] unmittelbar zutage« tritt(Frankfurt 19642, S. 21). Er hat so den strategischen Wert der frühen Tragödienkonzeption,wo »Tragik und Dialektik zusammen[fallen]« (S. 22), bemessen können für die Herausbil-dung der Dialektik Hegels als »Weltgesetz und Methode der Erkenntnis« (S. 27), wie sieseil der »Phänomenologie« das identitätsphilosophische System beherrscht.

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Hegel geht daher von einer Explikation des »ursprünglich Tragischen« aus.Dies sodann seinen Restriktionen in der Moderne gegenübergestellt, erbringt fürHegel einen >ästhetischen Verlust< und >philosophischen Gewinn< zugleich.Zunächst aber wollen wir der Definition des »ursprünglich Tragischen« folgen— in aller Ausführlichkeit, um noch im Dickicht des spekulativen Diskurses seineBruch- und Einbruchstellen aufzuspüren:

Das eigentliche Thema der ursprünglichen Tragödie [ist] das Göttliche; aber nicht das Gött-liche, wie es den Inhalt des religiösen Bewußtseins als solchen ausmacht, sondern wie es indie Welt, in das individuelle Handeln eintritt, in dieser Wirklichkeit jedoch seinen substan-tiellen Charakter weder einbüßt, noch sich in das Gegenteil seiner umgewendet sieht. In die-ser Form ist die geistige Substanz des Wollens und Vollbringens das Sittliche. [...] Durchdas Prinzip der Besonderung nun, dem alles unterworfen ist, was sich in die reale Objektivi-tät hinaustreibt, sind die sittlichen Mächte wie die handelnden Charaktere unterschiedenin Rücksicht auf ihren Inhalt und ihre individuelle Erscheinung. Werden nun diese besonde-ren Gewalten, wie es die dramatische Poesie fordert, zur erscheinenden Tätigkeit aufgerufenund verwirklichen sie sich als bestimmter Zweck eines menschlichen Pathos, das zur Hand-lung übergeht, so ist ihr Einklang aufgehoben, und sie treten in wechselseitiger Abgeschlos-senheit gegeneinander auf. Das individuelle Handeln will dann unter bestimmten Umstän-den einen Zweck oder Charakter durchführen, der unter diesen Voraussetzungen, weil erin seiner für sich fertigen Bestimmtheit sich einseitig isoliert, [...] und dadurch unausweich-liche Konflikte herbeileitet. Das ursprünglich Tragische besteht nun darin, daß innerhalbsolcher Kollision beide Seiten des Gegensatzes für sich genommen Berechtigung haben,während sie andererseits dennoch den wahren positiven Gehalt ihres Zwecks und Charak-ters nur als Negation und Verletzung der anderen, gleichberechtigten Macht durchzubrin-gen imstande sind und deshalb in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe ebensosehr in Schuldgeraten [...] Was daher in dem tragischen Ausgange aufgehoben wird, ist nur die einseitigeBesonderheit, welche sich dieser Harmonie nicht zu fügen vermocht hatte und sich nun inder Tragik ihres Handelns, kann sie von sich selbst und ihrem Vorhaben nicht ablassen, ihrerganzen Totalität nach dem Untergange preisgegeben oder sich wenigstens genötigt sieht, aufdie Durchführung ihres Zwecks, wenn sie es vermag, zu resignieren. [110]

Die »dialektische Struktur« (Szondi) dieser (späten) Auffassung vom Tragischenist deutlich zu sehen. Sie beschreibt eine >Selbstentzweiung irn Sittlichen', die dieWelt der >realen Objektivität» - als » sittliche Totalität« verstanden - zerrissen hat,und zugleich doch, indem es tragische Entzweiung ist, der Versöhnung fähigbleibt. In ihr kommt, der Hegeischen Auffassung nach, die Dialektik der Identitätdes »absoluten Waltens der ewigen Gerechtigkeit« zur ästhetischen Anschauung,sofern sie noch als entzweite Kollision der »gleichberechtigten« sittlichen Mächtegegeneinander die je durchscheinende Substantialität, daß gerade in ihrer Ent-zweiung die absolute Sittlichkeit erst wirksam werde, soll wahrnehmen lassen.

Gleichviel: Diese Kollision entzweiter Sittlichkeit, tragische »Poiesis«, ist für diemoderne Welt inaktuell; daher das Abstrakte und die »formale Weite« (Szondi)[111] in Hegels Definition, denn nur »unter bestimmten Umständen« will der in-dividuelle Handelnde einen bestimmten »Zweck oder Charakter durchführen«,und nur »unter dieser Voraussetzungen« sind entstehende Konflikte von tragi-

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scher Dignität. Darin ist wirksam, was Hegel unterm Titel der »gegenwärtig pro-saischen Zustände« [112] begreift. Für Hegel hat das moderne Individuum seineSelbständigkeit verloren und ist »in eine unendliche Reihe der Abhängigkeitenvon anderen verschränkt«:

Was [der Mensch; W. H.] für sich selber braucht, ist entweder gar nicht oder nur zu einemgeringen Teile nach seine eigene Arbeit, und außerdem geht jede dieser Tätigkeiten statt inindividuell lebendiger Weise mehr und mehr nun maschinenmäßig nach allgemeinen Nor-men vor sich. [113]

Daher partikulieren sich die Zwecke des Handelnden in der modernen Welt »zueiner Breite und Mannigfaltigkeit sowie zu einer Spezialität, in welcher das wahr-haft Wesentliche oft nur noch in verkümmerter Weise hindurchzuscheinen ver-mag«. [114] Gegen das »ursprünglich Tragische« gehalten, leiten sich für Hegeldaraus Einwände gegen die moderne Tragödie ab, deren Helden »in einer Breitezufälliger Verhältnisse« stehen, wo sich so oder auch anders handeln ließe,

so daß der Konflikt, zu welchem die äußeren Voraussetzungen allerdings den Anlaß darbie-ten, wesentlich in dem Charakter liegt, dem die Individuen in ihrer Leidenschaft nicht umder substantiellen Berechtigung willen, sondern weil sie einmal das sind, was sie sind, Folgeleisten. [115]

Diese Versubjektivierung der tragischen, wie der dramatischen Konzeption über-haupt, ist, wiewohl es den Verfall des »ursprünglich Tragischen< anzeigt, zugleichGewinn. Denn in ihr ist die »selbstbewußte Subjektivität hervorgetreten, die nurauf dem Boden der Komödie spielt, der letzten der von Hegel behandelten Kunst-formen.

Der allgemeine Boden für die Komödie ist daher eine Welt, in welcher sich der Mensch alsSubjekt zum vollständigen Meister alles dessen gemacht hat, was ihm sonst als der wesentli-che Gehalt seines Wissens und Vollbringens dient; eine Welt, deren Zwecke sich deshalbdurch ihre eigene Wesenlosigkeit zerstören. [116]

Der zum tragischen Zweikampf verunfähigte Mensch befähigt sich so - beiShakespeare als »glänzendem Beispiel - einer >Wohligkeit des Gemütss »sichererAusgelassenheit bei allem Mißlingen und Verfehlen< und »Übermut und Keckheiteiner in sich selbst grundseligen Torheit<, - einer Subjektivität also,

die in sich befriedigt, sich nicht mehr mit dem Objektiven und Besonderen einigt und sichdas Negative dieser Auflösung in dem Humor der Komik zum Bewußtsein bringt. [117]

So aber tritt die Kunst selbst »aus der Poesie der Vorstellung in die Prosa des Den-kens hinüber« [118], d. h. die Komödie führt hin zur »Aufhebung« der Kunst

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überhaupt. Der >Humor der Komik< ist Humor immer noch über die partikulari-sierte Welt und zugleich Humor der in sich ruhenden Subjektivität. Damit aberist die Kunst, die die Aufgabe hatte, das >an und für sich Wahre in realer Erschei-nung und Gestalt für unsere äußere Anschauung zu geben< aus ihrer Pflicht, diesie erfüllt hat, entlassen; und die in sich ruhende Subjektivität als ihre letzte Gestaltvermag sich aufzuheben in den höheren Gedankenkreis der Religion.

Die Systematik der Hegeischen Philosophie, in die integral die Ästhetik einge-bettet liegt, schlägt somit Gewinn aus der von ihr selbst weltzuständlich fixiertenHandlungsunfähigkeit der Individuen, die ihre künstlerische Darstellung alsHandelnde verunmöglicht. Das resultiert aus der komplex arbeitsteiligen Struk-tur der modernen bürgerlichen Gesellschaft, deren ausschließlich wissenschaftli-che Darstellbarkeit, unter dem Gewand des spekulativen Programms, bereitsHegels Einsicht ist (eine Darstellung aber, die ihre Veränderbarkeit ausschließt).Keineswegs aber folgt aus dieser Einsicht, worauf Oelmüller mit Recht verwies,die Behauptung vom Ende der Kunst schlechthin. [119] Denn ohne die historischeDiagnose des prosaischen Weltzustandes zu revozieren (also unter der Prämisseder Handlungsunfähigkeit der Individuen und ihrer ästhetischen Undarstellbar-keit), liegt Hegels Rettung der Kunst in einer Art spekulativer Rezeption desShakespeareschen Humors als >Gipfel und Auflösung der Kunst« zugleich.*

Die Bestimmung des »ursprünglich Tragischen« ist Teil des Hegeischen Ver-suchs, ein objektives Kunstideal zu entfalten. Das individuelle Handeln ist in ihman einen historischen >Weltzustand< gebunden, und nur in ihm als noch in der Kol-lision mit der Welt identisches Subjekt—Objekt vorhanden. Das macht, daß esschön ist. Aber schon in diesem Ideal schöner, weil substantieller Kollisionenscheint eine Erfahrung durch, der die »Geschichte als Krise vor Augen steht«, wieB. Lypp es an der frühen Tragödienkonzeption im »Naturrechtsaufsatz« (1803)bemerkte. [120] Denn selbst im »heroischen Weltzustand«, wo das Individuum

* In systematischer Absicht hat Adorno darin einen neuen Kunstbegriff gelesen, weilHegels ästhetische Reflexionen sehr zutreffend auf »die Unwiderstehlichkeit von Vergeisti-gung« hingewiesen hätten. »Wie Hegel erstmals gewahrte« sagt Adorno, fügt »der Geistder Kunstwerke einem übergreifenden Prozeß von Vergeistigung sich ein, dem des Fort-schritts von Bewußtsein. Kunst möchte gerade durch ihre fortschreitende Vergeistigung,durch die Trennung von der Natur, diese Trennung, an der sie leidet und die sie inspiriert,revozieren.« (Ästhetische Theorie, Frankfurt 1970, S. 141 f.) Von Adorno deutlicher alssonst expliziert, enthält die These vom Ende der Kunst bei Hegel neben der avancierten Dia-gnose der kunstfeindlichen Welt den Ansatz zu einer Theorie der Kunst der Avantgarde, diesich der unmittelbaren »aporetischen Anschaulichkeit der Kunst« (Adorno) entschlägt. Siekomponiert ihre Werke nach einer Immanenz des Materials, deren Kriterium »nicht dieReinheit der Anschauung ist [...], sondern wie tief sie deren Spannung zu den intellektivenMomenten austragen, die ihnen inhärieren« (a.a.O., S. 152).

Adorno trennt sehr scharf zwei ästhetische Qualitäten, welche in der Tat »unvereinbar«bei Hegel zusammengehen: Anschaulichkeit' und >Vergeistigung<. So alt diese Unterschei-dung ist, so wenig löst sie die systematischen Probleme, welche Hegels Ästhetik zu formulie-

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ren verhilft. Denn schon Baumgartens Unterscheidunng von »unteren« und »oberen Seelen-vermögen« (gnoseologica inferior et superior; 1741), die in Kants Bestimmung derästhetischen Urteilskraft als einem Spiel von Einbildungskraft und Verstand aufging, verfälltder Kritik des Hegeischen Versuchs, die Ästhetik aus einer »Theorie des Weltzustandes« undder »Handlung« zu entwickeln, worin das »Wahre«, als Prozeß und Resultat zugleich, auchdas »Schöne« ist. Es ist ein Versuch der historisch reflektierten Gehaltsästhetik, die dasästhetische Maß, das sie an Kunstformen legt, zugleich in deren historischer und systemati-scher Darstellung zu explizieren unternimmt. »Sie untersucht und wertet Kunstwerke vorallem nach dem Sujet, das ist, nach Maßgabe seines durchgearbeiteten und erschöpfendenErscheinens« (E. Bloch, Subjekt-Objekt, Frankfurt 1972, S. 276). Das Sujet aber bestimmtsich im Maß seiner Durcharbeitung am Ideal der Kunst, welches die >Idee in einer bestimm-ten Form< nämlich als »sinnliches Scheinen< vorstellt und wesentlich in der Poesie der »schö-nen Individualität< liegt, in dem Pathos seiner Handlung, dem »eigentlichen Mittelpunkt,der echten Domäne der Kunst« (Hegel). Die »Handlung* aber, so Metscher über Hegel, »re-sultiert, formell gesprochen, aus der Nichtidentität von Subjekt und Objekt, sie entspringtrealen Widersprüchen, und indem sie im Kampf der Gegensätze diese Widersprüchlichkeitauf ihre Auflösung hin austrägt, formuliert sich in ihr das dialektische Formgesetz allesLebens, sein prozessualer Charakter« (Th. Metscher, Hegel und die philosophische Grund-legung der Kunstsoziologie, in: Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften I, Grundla-gen und Modellanalysen, Stuttgart 21972, S. 36) Wo hier das Ideal des Prozesses dialekti-scher Handlungskollisionen als Formgesetz alles Lebens angesprochen wird, ist es geradeHegel, der es einbindet in einen historischen >Weltzustand<, nämlich den >heroischen<. Nurin ihm stehe das Individuum in einem »sittlichen Ganzen« und »hat ein Bewußtsein von sichnur als in substantieller Einheit mit diesem Ganzen«. Dies war die spekulativ geschieh tsphi-losophische Prämisse, unter der die Bestimmung des »ursprünglich Tragischen« stand. Nurder »heroische Weltzustand« aber garantiert dessen Möglichkeit, denn in ihm ist, wie Hegelkonkretisiert, »die nächste Umgebung [...] der Individuen, die Befriedigung ihrer unmittel-baren Bedürfnisse [...] noch ihr eigenes Tun. Die Nahrungsmittel sind noch einfacher unddadurch idealer, wie z. B. Honig, Milch, Wein, während Kaffee, Branntwein usf. uns so-gleich die tausend Vermittlungen ins Gedächtnis zurückrufen, deren es zu ihrer Bereitungbedarf [...] In einem solchen Zustande hat der Mensch in allem, was er benutzt und womiter sich umgibt, das Gefühl, daß er es aus sich selbst hervorgebracht und es dadurch in denäußeren Dingen mit dem Seinigen und nicht mit entfremdeten Gegenständen zu tun hat«(Ästhetik I, a.a.O., S. 337f.). Die demgegenüber von Hegel festgehaltene »maschinelle*Abstraktion der Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft, ihre unüberschaubar arbeitsteiligeKomplexität hat zur Folge, daß »in der jetzigen Wirklichkeit der Kreis für ideale Gestaltun-gen nur sehr begrenzter Art« ist (a. a. O., S. 253). Metscher hält am »ursprünglichen« Ideal,der Dialektik als Formgesetz allen Lebens fest wie Adorno gleichsam an der geschichtsphi-losophischen Ernte dessen Verfalls: dem Prinzip der »inneren Subjektivität«. Der eine fixiertdas spekulative Primat der weltsetzenden Handlung, worin als >ursprüngliche< Poiesis beiHegel Wahrheit und Schönheit zugleich liegt, noch gegen Hegels These von Zerrissenheitund Prosaisierung, während der andere, diese These zugebend, an »Vergeistigung« alswerk-immanentem Reflexionsprinzip >intellektiver< Spannung anschaulicher Momente an-knüpft. Wo bei Metscher weltzuständlich adäquates Handeln, vom Bild des HegeischenHeroismus abgezogen, nur noch Behauptung normativer Poetik, hierin dem frühen wie spä-ten Lukács verwandt, bleiben kann, insofern seine ästhetische Gestaltung an der zerrissenenWelt gebricht, verdünnt es sich bei Adorno zu einem Reflexionsprinzip »ästhetischen Ver-haltens«, als eine, wie Adorno sagt, »produktive Arbeit« am Kunstwerk, die als »vergeistigte*indes nur »ihr Modell an der materiellen Arbeit hat«. (S. 120) Adorno freilich, der hierinja dem systemphilosophischen Ausgang, dem Prinzip der »inneren Subjektivität« als Gipfelund Auflösung der Kunst folgt, ist der konsequentere Hegelianer.

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als substantieller Kreator seiner Welt gezeigt werden kann, bleibt sein Handelneines, das nur in Kollision wider in ihm und gegen ihn aufgereizte Mächte< sichdurchsetzt. Doch das »heroische Zeitalter« verbleibt noch im Kreis des »einfachenWiderspruchs« (Althusser) [121] der selbstentzweiten Sittlichkeit und vermag dieKrise, noch wo der geschichtliche Akteur als solcher zugrunde geht oder >auf sichVerzicht leistete durch Versöhnung im Tragischen als schöne Wahrheit zu lösen.Das Schöne ist also auch hier die Instanz, die die Wahrheit der Krise bezeugt.Geschichtsphilosophie und Ästhetik bedingen sich wechselseitig: Das Wahre istnur wahr, weil es als Krise schön ist; und das Schöne nur schön als die Wahrheitder Krise. Beides ist vereint in der Tragödie.

Geht Hegel so von einem Ideal der Handlung als Kunstideal aus, so steht amAnfang eine Kunstform. Im Rahmen des heroischen Weltzustandes bestehtFormidentität zwischen Welt und Kunst, denn seine philosophische Darstellungist zugleich Darstellung der Kunstform, die er zeitigt. — Zerfällt aber die Welt inarbeitsteilig zerrissene Komplexität, so kann keine Kunstform im Sinne einesidealen Formprinzips von Handlung länger ihr entsprechen. Der >Humor derKomik« konstituiert sich nur als Betätigung eines bestimmten Charakters, einer>in sich selbst grundseligen Torheit« etc. und gründet so auf die »innere Subjektivi-tät«. Weltkonstitutive allgemeine Zwecke aber, eine Objektivität des Handelnsgegenüber einer anderen objektiven Macht der Herrschaft, lassen sich Hegel zu-folge aus der Partikularität des bürgerlichen Individuums nicht gewinnen. Jedesrevolutionäre Drama, gar eine Tragödie, wird eben dies aber, will sie das tragischeModell nicht aufgeben, behaupten müssen. Bloch hat dieses Problem als Verhält-nis von Unmittelbarkeit und Idealität revolutionärer Zwecke thematisiert, woraufim Zusammenhang der Sickingenbriefe zurückzukommen sein wird (vgl. S. 75 f.)

Sowenig also der zerrissenen Welt eine geschlossene Kunstform zu entsprechenvermag, kann jene weltgeschichtlich als kraft ästhetischer Handlungsformen sichkonstituierende darstellen. Individuell partikularer und allgemeiner Zweck derWelt sind auseinandergefallen und können nicht mehr über ästhetische Hand-lungsmodelle zueinander vermittelt werden. [122] Hegels Geschichtsphilosophie,deren Programm die Geschichte nach der Idee der Vernunft entfalten will, gleich-wohl aber sich vornimmt: »Die Geschichte aber haben wir zu nehmen, wie sie ist;wir haben historisch, empirisch zu verfahren« [123], steht prinzipiell vor demgleichen Dilemma. Sie rettet sich bekanntlich durch ihre >Heldenethik< und die>List der Vernunft«. Diese List aber, kraft welcher die Vernunft die »Leidenschaf-ten« der »welthistorischen Individuen« für sich wirken läßt [124], impliziert inihrer Darstellung wiederum ein Bühnenmodell; nicht aber das von Tragödie/Komödie/Drama: Denn daß hinter den empirischen Leidenschaften Cäsars oderNapoleons die Vernunft listig ihre Fäden zieht, macht sie als solche noch nichtzu dramatischen. »Geschäftsführer des Weltgeistes« sind sie, prosaische Kontori-sten gleichsam, und,

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... ist ihr Zweck erreicht, so fallen sie, die leeren Hülsen des Kerns, ab. Sie sterben früh wieAlexander, sie werden wie Cäsar ermordet, wie Napoleon nach St. Helena transportiert.[125]

Wohl im Anschluß hieran bemerkte Gurland, auf die soziologische Psychologieund Inkonsistenz des Leidenschaftsbegriffs verweisend, daß es sich bei Hegelswelthistorischer »Leidenschaft« nur um »das Merkmal des höchsten und größtenDurchbruchs der geschichtlichen Substanz« handele. [126]

Also ohne eigentliche dramatis personae erscheint Hegel dennoch die Weltge-schichte als »Theater«, das Wirken der Menschen in ihr als »Schauspiel der Tätig-keit« [127]; nicht Weltgeschichte als Weltgericht, mehr ein logifiziertes Theatrummundi spielt sich ab. Nicht unwichtig zu bemerken, daß auch der diesem >barok-ken< Schauplatz entsprechende Blick der Melancholie [128] von Hegel geltend ge-macht wird: Als Gegenbild zu seiner Deduktion der Dialektik von Idee, Mittelund Material, kraft deren Logik die welthistorische Durchsetzung der Vernunftsich vollziehe, kommt Hegel an mehreren Stellen seiner methodischen Einleitung,rhetorisch die Einwände möglicher Gegenstimmen ventilierend, auf solche »tief-ste ratloseste Trauer« [129] zurück. Denn in Betrachtung des Weltgeschehensscheint auf den ersten Blick die Vernunft aus ihm gewichen:

Wenn wir dieses Schauspiel der Leidenschaften betrachten und die Folge ihrer Gewalttätig-keit, des Unverstandes erblicken, der sich [...] sogar vornehmlich zu dem, was gute Absich-ten, rechtliche Zwecke sind, gesellt, wenn wir daraus das Übel, das Böse, den Untergangder blühendsten Reiche, die der Menschengeist hervorgebracht hat, sehen, so können wirnur mit Trauer über diese Vergänglichkeit erfüllt werden. [130]

Welt erscheint - im von Hegel sollizitierten Gegenbild — als »furchtbarstesGemälde«, »Schlachtbank«, »verworrene Trümmermasse« [131]; doch dieserBlick wird rasch abgefertigt, nämlich logisch:

Wir [haben] die Begebenheiten, die uns jenes Gemälde für die trübe Empfindung und fürdie darüber sinnende Reflexion darbieten, sogleich als das Feld bestimmt, in welchem wirnur Mittel sehen wollen für das, was wir behaupten, daß es die substantielle Bestimmung,der absolute Endzweck oder, was dasselbe ist, daß es das wahrhafte Resultat der Weltge-schichte sei. [132]

Im Verwerfen des ästhetischen Gegen-Blicks, der die Welt - wider Logik und Ver-nunft — als »Trümmergemälde« sieht, vollzieht Hegel implizit sein Diktum vomEnde der Kunst noch einmal. Weder in Kunstformen als ästhetischen Modellendes Handelns noch einer ästhetischen Rezeption überhaupt eröffnet sich, daßVernunft in der Geschichte waltet. — Von ihrem entsprechenden Trauer-Blick ent-lassen, muß die »Welt als Theater«, will sie von Korrespondenz zu in ihr wirksa-men Kunstformen nicht lassen, diese auf spekulative Höhe ihrer Gestaltung trei-

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ben. So verwirft Hegel an anderer Stelle, die von »Veränderung« und»Vergänglichkeit der Reiche und Menschen« handelt, den Blick der »Trauer überein ehemaliges, kraftvolles und reiches Leben« auf folgende Weise:

Der abstrakte Gedanke bloßer Veränderung verwandelt sich in den Gedanken des seineKräfte nach allen Seiten seiner Fülle kundgebenden, entwickelnden und ausbildenden Gei-stes. [...] Zwar verwickelt mit der Naturbedingung, der inneren und äußeren, wird er anihr nicht nur Widerstand und Hindernisse antreffen, sondern durch sie auch seine Versucheoft mißlingen sehen und den Verwicklungen, in die er durch sie oder durch sich versetzt wird,oft unterliegen. Aber er geht so in seinem Berufe und in seiner Wirksamkeit unter und ge-währt auch so noch das Schauspiel, als geistige Tätigkeit sich bewiesen zu haben. [133]

In dem »Schauspiel im Geistigen« sind alle Rollen allen gegeben. Der Geist machtim Untergang gegen die »Naturbedingung«, die er doch selbst ist, auf sich selbstdie Probe seiner Wirksamkeit. In diesem gedanklichen Spiel der Begriffe aberscheint noch die dialektische Struktur durch, die auch die Tragik-Definition be-herrschte. Ebenso ist in diesem »Schauspiel« des Geistes noch der Subjektbegriffder kollidierenden Handlungstotalität des heroischen Weltzustandes enthalten;denn wo das >Drama im Geistigen< alle Entzweiung in gedanklicher Bedeutungs-verschiebung der Begriffe aufgehoben hat, ist der Geist nur noch absolut Han-delnder: Hegel fährt fort:

Der Geist handelt wesentlich, er macht sich zu dem, was er an sich ist, zu seiner Tat, zuseinem Werk; so wird er sich Gegenstand, so hat er sich als ein Dasein vor sich.

Dieser Gedanke des absolut handelnden Subjekts der Geschichte kann sich zu sei-ner Empirie nur logisch, nach Maßgabe einer Dialektik von Idee und Mittel, ver-mitteln; die Krise des Subjekts, von der das tragische Handlungsmodell noch Aus-kunft gab, ist im spekulativen Handlungsraum gelöst. >Prosaische< Gesetze undlogische Kategorien etc. bestimmen so den Entwicklungsgang der >empirischen<Geschichte; eins von ihnen ist die »Wiederholung«, ein Vorgang, den Hegel aufverschiedene Weise in der Geschichte am Werke sieht. Zunächst als »Wiederho-lung der früheren Epochen« [134]; so wiederholen sich die Perserreiche in derEpoche Karls des Großen und die griechische Welt in der Karls des Fünften etc.

Ein anderer Wiederholungsmechanismus ist der von Staatsumwälzungen:

wie denn überhaupt eine Staatsumwälzung gleichsam im Dafürhalten der Menschen sank-tioniert wird, wenn sie sich wiederholt. So ist Napoleon zweimal unterlegen, und zweimalvertrieb man die Bourbonen. Durch die Wiederholung wird das, was im Anfang nur als zu-fällig und möglich erschien, zu einem Wirklichen und Bestätigten. [135]

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9. »Er hat vergessen hinzuzufügen«

Auf bestimmte Weise, nämlich als Kritik, nehmen die Dramametaphern* inMarx' Analyse des »Brumaire« die Hegeische These vom Ende der Kunst implizitzurück. Der Begriff dramatischer Handlung impliziert die Identität von Subjektund Welt. Diese Identität freilich ist Hegel zufolge nicht je schon vorhanden, son-dern nur als Krise, d. h. als Nichtidentität oder »selbstentzweit« ästhetisch denk-bar. Nur im tragischen Modell vermag diese Identität als Versöhnung der kolli-sionsvoll miteinander streitenden gesonderten Subjekte und »sittlichen Mächte«erscheinen. Dieser Begriff des Subjekts ist kein rationalistischer; es ist nicht selbstschon je die Totale, sondern muß gerade auf seine »ganze Totalität«, d. h. daßes seinen Zweck für den der Welt nimmt, Verzicht leisten, worin es die Identitätvon Welt und sich, im tragischen Untergang, erst konstituiert.

Marx affirmiert und kritisiert dieses spekulative Modell der nur tragischenIdentität des Subjekts mit der Welt auf zwei absolut geschiedene Weisen.

Die erste ist die der Klassenkampf-Schrift. Dort folgt die Dialektik von Kata-strophe und Katharsis einer tragischen Figur im Hegeischen Sinne. Im Darnieder-liegen des revolutionären Subjekts ist ihm erst seine Identität mit der Welt< be-schieden. Gleichwohl ist der spekulative Entfaltungsrahmen dieser tragischenDialektik (als sittliche Totalität, in deren Selbstentzweiung und realer Besonde-rung sittliche Mächte, in je berechtigter Weise, gegeneinander auftreten) bei Marxgesprengt. »Was daher im tragischen Ausgang aufgehoben wird«, ist nicht mehr»die einseitige Besonderheit, welche sich [der] Harmonie nicht zu fügen vermochthatte« (Hegel). Die Identität mit der Welt ist nicht aus dem Selbstverzicht des re-volutionären Subjekts auf sich gewonnen. Denn der »Verzicht« war die, Nieder-lage im Klassenkampf. Sie steht, in der Klassenkampf-Schrift, in dem größerenZusammenhang der »Permanenz der Revolution«. Daher erscheint die »Unbe-siegbarkeit«, die im spekulativen Modell dem selbstverzichtenden tragischen

* Verwiesen sei hier darauf, daß die explizit linguistischen und texttheoretischen Fragen,die die Analyse Marxscher Texte aufwirft, von uns nicht behandelt werden konnten. Dievorliegende Arbeit versteht sich dazu als Vorarbeit. — Dennoch muß gerade in bezug aufden Diskurs des »Brumaire« angemerkt werden, daß gewisse Dramametaphern eher alsMetonymien zu bezeichnen wären. Betrachtet man den Weg, den zumal die einleitendenPassagen von der zitierten Briefstelle Engels' her nahmen, so hat sich das metaphorische »esscheint wirklich, als ob«, mit dem Engels die Ästhetik der Wiederholung beschrieb, in einenmetonymischen Diskurs verschoben. Metonymien beruhen auf Kontiguität, d. h. auf derkontextuellen Nähe des in ihnen Bezeichneten. Es ist nicht mehr nur auf Ähnlichkeiten undÄquivalenzen beruhend, auf einfacher Substitution (die Kennzeichen der Metapher sind),wenn Marx im »Brumaire« von der 48er Revolution als »Farce«, von den bürgerlichenRevolutionären als »Heroen« etc. spricht. Diese Termini erfüllen vielmehr kontextuell sel-ber argumentative Funktionen; die ornamentalen Metaphern Engels', wörtlich im »Bru-maire« wiederholt, müssen im »Brumaire« selbst viel weniger Ornamentales, nämlich denhistorischen Funktionswandel der Verlaufsform der bürgerlichen Revolution ausdrücken.Insofern sie kontextuell bestimmt sind, ist ihr Gebrauch ein metonymischer.

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Helden als Signum seiner Identität eignete, nicht als Versöhnung, sondern als Ver-söhnbarkeit, nicht als Identität sondern als herzustellende Identität. Was das im-plizit tragische Modell der Marxschen Revolutionstheorie verspricht, ist also dasgerade Gegenteil von der Versöhnung, die dem Hegeischen innewohnt. Das Pro-letariat ist ebenso »unbesiegbarer« wie »unversöhnbarer« Feind. [136] Die Per-spektive des Klassenkampfs, die so von außen her das tragische Modell Hegelsaufnimmt und »umstülpt« [137] zugleich, wird von Marx in der Metapher des»revolutionären Dramas« bezeichnet. Wie es schon auf formeller Ebene die»Rücksicht auf Darstellbarkeit« einer Handlungsfolge meint (gegenüber epischerVielfalt), erklärte eine Stelle der Klassenkampf-Schrift das »Drama« in der Funk-tion eines >Zeitraffers<. Darin ist eine andere These Hegels sollizitiert, nämlich dievom »gegenwärtig prosaischen Weltzustand«. In der modernen bürgerlichen Welthielt Hegel dramatische Handlungsformen für nicht mehr darstellbar. Individu-elle Zwecke seien innerhalb der arbeitsteilig zerrissenen Welt absolut partikular.— Daran bringt Marx, bezogen auf die Artikulation von Klassen im Kampf gegen-einander, schon früh eine Korrektur und Kritik an. Die »Kritik der HegeischenRechtsphilosophie. Einleitung« reflektiert das Verhältnis der nur »theoretischenEmanzipation« in Deutschland zu der vorgängig praktischen in Frankreich in fol-genden Worten:

Es fehlt ebensosehr jedem Stand [in Deutschland; W. H.] jene Breite der Seele, die sich mitder Volksseele, wenn auch nur momentan, identifiziert, jene Genialität, welche die mate-rielle Macht zur politischen Gewalt begeistert, jene revolutionäre Kühnheit, welche demGegner zuschleudert: Ich bin nichts und ich müßte alles sein [...] Das Verhältnis der ver-schiedenen Sphären der deutschen Gesellschaft ist daher nicht dramatisch, sondern episch[...] Die Rolle des Emanzipators geht [...] der Reihe nach in dramatischer Bewegung andie verschiedenen Klassen des französischen Volkes über. [138]

Im gleichen Sinn spricht die Klassenkampf-Schrift von »dramatischen« Entwick-lungsbedingungen der verschiedenen Klassen der französischen Gesellschaft (vgl.oben S. 32 f.). Dramatische Entwicklung wird den Klassen Subjekten attestiert.Der Begriff des Klassensubjekts schließt aber hier den von Engels beschriebenenMechanismus minoritärer Repräsentation ein. Erst dieser Mechanismus (der inder »Einleitung« ebenfalls anklingt: »Breite der Seele«, »die sich mit der Volks-seele, wenn auch nur momentan, identifiziert«) ermöglicht es Marx, von Klassen-subjekten in den Termini individueller Subjektivität zu sprechen; ermöglicht alsodie Rede von einer »dramatischen« Entwicklung der Klassen, wiewohl im »Dra-matischen« die Subjektivität des Individuums impliziert ist. Immer aber ist in die-ser Rede ein Subjektsbegriff enthalten, der, interessensoziologisch gesprochen, dieMinorität fürs Ganze nimmt, oder hegelisch gesprochen, die Zwecke seines Han-delns für »substantiell«, d. h. als mit den allgemeinen Zwecken der Welt iden-tische oder »identifizierbare« nimmt. Vorausgesetzt ist also die Totalität des Sub-jekts des Hegeischen »heroischen Weltzustandes«, das die Welt »aus sich selber

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hervorgebracht« sehe »und es dadurch in den äußeren Dingen mit dem Seinigenund nicht mit entfremdeten Gegenständen zu tun hat« (Hegel). Dieser, dem »re-volutionären Drama« implizite Subjektbegriff ist auch in der Marxschen»Umstülpung« der tragischen Versöhnung Hegels in eine Tragik der Unversöhn-lichkeit noch enthalten. In der Niederlage und dem Verzicht auf Handlung undKampf liegt zwar nicht die spekulativ nur prädizierbare Identität und Versöhnungmit der Welt, doch ist dem, der »unversöhnlich« den Kampf um die zufolge seiner»Unbesiegbarkeit« mögliche Identität und praktische »Aufhebung« der Gesell-schaft führt, prädiziert, was er sein wird: das Weltsubjekt, das dem Bilde desheroischen, alles aus sich hervorbringenden Hegeischen Weltgeists entstammt.

Dieser Subjektbegriff geschichtlichen Handelns steht - und das ist die andereWeise der impliziten Hegelrezeption — im »Achtzehnten Brumaire« zur Kritik.Marx greift zunächst den von Hegel beschriebenen Mechanismus der Wiederho-lung von »Staatsumwälzungen« auf. Hegel zufolge diente er dazu, »das, was amAnfang zufällig«, war zu bestätigen und zu sanktionieren. Doch Marx reklamiertdaran — ironisch — ein »Vergessen« Hegels. »Er hat vergessen hinzuzufügen. Daseine Mal als große Tragödie das andere Mal als lumpige Farce«. Doch Hegel hatnichts vergessen. Vielmehr bringt Marx auf die Ebene der Geschichte eine Dimen-sion ästhetischer Darstellungsformen zurück, die Hegel gerade im Argument dernur politischen Logik und List, mittels derer der »Weltgeist« sich durchsetze, ex-orziert hatte. Die Staatsumwälzung, auf die auch Hegel abzielt, die Große Franzö-sische Revolution des 18. Jahrhunderts, kannte in ihrem Verlauf das Wirken tra-gischer Heroen. Daß Marx diese ästhetische Beschreibung macht, ist nichtfeuilletonistisches Akzidenz. Denn nur in ihr wird die Dialektik der historischenKonstitution der bürgerlichen Gesellschaft einsichtig.

Zu deren Explikation, die an diese ersten Sätze des Brumaire anschließt, faßtMarx den Hegeischen Mechanismus der Wiederholung immanent ästhetisch: dieTragödie der bürgerlichen Revolution ist eine Art kultischer Wiederholung [139],nämlich »Totenbeschwörung«. Um »die Aufgabe ihrer Zeit«, die Herstellung derbürgerlichen Gesellschaft, zu vollbringen, beschwören die Akteure der Revolution»ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienst herauf« etc. ZwischenWiederholtem und Wiederholenden markiert Marx eine entscheidende Differenz.Das Wiederholte, Rom und die griechische Polis, ist im Wiederholenden nur als»Kostüm« und Draperie eines Dritten gegenwärtig. Dieses Dritte ist als Effekt derWiederholung die Prosa der »wahren Heerführer hinterm Kontortisch«, die poli-tische Hegemonie des Kapitalismus. Aber es ist in keinem der beiden Momenteder Wiederholung, nicht im Wiederholten und nicht im Wiederholenden als sol-ches präsent. Der historische Akteur muß die griechische Polis und römische Vir-tus begeisternd wiederholen, beschwören und vergegenwärtigen, muß Gleichheit,Freiheit und Menschlichkeit darin idealisieren, zum Subjekt seiner Handlung,muß Täter werden. Doch indem sich in der Umwälzung der Gesellschaft, die erbetreibt, dasjenige ökonomisch und institutionell manifestiert, was seine Tat als

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Wiederholung zum Effekt hat, ist seine Funktion erfüllt und er muß, wie Hegelsagt, » resignieren « oder ist» dem Untergange preisgegeben «.Daßdieldentität desSubjekts schon bei Hegel eine der Krise ist, wird von der Kritik Marxens am Sub-jektbegriff der bürgerlichen Revolution geschichtsmaterialistisch fundiert.

Dessen tragisches Handeln so aus der Differenzierung der »Wiederholung« alskultische oder »beschwörende« entwickelnd, markiert Marx eine weitere Unter-scheidung: die zwischen Tragödie und Farce. Das tragische Subjekt, das die Weltnach seinen Prinzipien idealiter gesetzt oder zu setzen sieht und daran gebricht,wird nicht durch sich selbst zum Farcenhaften. Das bemerkte schon Hegel. Daskomische Subjekt hat ein Verhältnis zur »Welt, deren Zwecke sich [...] durch ihreeigene Wesenlosigkeit zerstören«. Es ist gerade die absolute Trennung von Subjektund Welt, von dem »Charakter« des Handelnden und der struktiven Ordnungseiner weltlichen Gegenstände, die das »Komische« produziert. Wiederumsprengt Marx diesen spekulativen Entfaltungsrahmen und historisiert das Komi-sche radikal. Farce ist das Agieren des Subjekts der Tragik auf dem Boden desEffekts seines vormals tragischen Untergangs: auf dem Boden der bürgerlichenGesellschaft.

Hegel hat also nichts vergessen, außer, was sein System zusammenbrechenließe, das auf der nur logisch-spekulativ darstellbaren Identität von Subjekt undSubstanz, »Geist« und Geschichte basiert. Dagegen behauptet Marx das Wirkenästhetischer Handlungsformen in Politik und Geschichte. Das Subjekt des Dra-mas ist historisch präsent, ja konstitutiv für die Herstellung bürgerlicher Verhält-nisse. Zugleich aber liegen dem Kritiker dieses ästhetisch-politischen Subjekts undHandlungstypus mit der konstitutiven Wirksamkeit deren historische Schrankenoffen. Gerade die Kenntnis dieser historischen Schranken versetzt Marx instand,dem Weiterwirken dieser ästhetisierten Politikform auf bürgerlichem Boden selbstSinn und Funktion kritisch zu entnehmen. Denn die Funktion ist verwandelt: diehistorisch notwendige Funktion ästhetisierter Politik zur Herstellung bürgerlicherVerhältnisse ist auf deren Boden zu einer von Herrschaft umgeschlagen; der StaatLouis Bonapartes ist eine historisch neue Repressionsinstanz gerade darin, daß erdie Ästhetisierung seiner Politik als integrales Moment enthält: Bonaparte spieltden Napoleon, umgibt sich mit Figuren, die Namen und Status der Umgebung desHeroischen haben, geriert sich so als Retter der Bauern, kann sich deshalb als vonden Massen getragener und sie begeisternder Held aufführen, obwohl er sie allebezahlt, besticht etc.

Ästhetisches (und diese Bonaparteschen Mobilisationsformen sind nicht wenigkunstvoll) wird so unmittelbar politisch wirksam, nicht nur in der gleichsamauratischen Ferne der bürgerlich-revolutionären Heroen, sondern »wiederholt«.Ästhetik als Moment der Organisation bürgerlicher Herrschaft ist hier nicht akzi-dentell zu nehmen. Das folgt aus dem Marxschen Argument, daß Bonapartenichts anderes tut als bürgerliche Revolutionäre taten: er wiederholt, aktualisiertvergangene heroische Epochen und wiederholt damit einen Mechanismus und

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eine Handlungsform, die, wie Marx betont, konstitutiv wird zur Herstellung desmodernen Staates.

Die Differenz, die innerhalb dieser Wiederholung wirkt, hat indes einen radikalunterschiedenen Status. War im Akt der bürgerlichen Revolution das Wiederholteim Wiederholenden als Draperie eines Dritten, das jedoch selber erst als Effektdes Wiederholungsprozesses erzeugt wurde, bestimmt, so enthält die Bonaparti-stische »Wiederholung« dies Dritte schon in seinem polit-ästhetischen Kalkül:

In einem Augenblicke, wo die Bourgeoisie selbst die vollständigste Komödie spielte, aberin der ernsthaftesten Weise von der Welt, ohne irgendeine der pedantischen Bedingungender französischen dramatischen Etikette zu verletzen, und selbst halb geprellt, halb über-zeugt von der Feierlichkeit ihrer eigenen Haupt- und Staatsaktionen, mußte der Abenteurersiegen, der die Komödie platt als Komödie nahm. Erst wenn er seine feierlichen Gegner be-seitigt hat,, wenn er nun selbst seine kaiserliche Rolle im Ernst nimmt und mit der napoleo-nischen Maske den wirklichen Napoleon vorzustellen meint, wird er das Opfer seiner eige-nen Weltanschauung, der ernsthafte Hanswurst, der nicht mehr die Weltgeschichte als seineKomödie, sondern seine Komödie als Weltgeschichte nimmt. [140]

Die Beseitigung der parlamentarischen Bourgeosie ist im polit-ästhetischen Kalkülenthalten. Das heißt, daß der politische Mechanismus der ästhetisierenden Wie-derholung heroischer Epochen, der einmal historisch berechtigt nur war, weil erdas dramatische Subjekt auf die Bühne brachte, um das nie dagewesene kapitali-stische »Subjekt« zu evozieren, nunmehr als Intervention und Eingriff im histori-schen Raum selber funktioniert, als unmittelbares Repressionsmoment. —Geschichte aber, gar »Weltgeschichte« vermag er weder zu machen, noch, nachMarx, aufzuhalten. Geschichte ist hier verstanden als Produktionsgeschichte,worin die tragischen Heroen der großen Revolution als die Subjekte begreifbarwaren, deren Taten historisch notwendig waren, insofern sie den Mechanismusder idealisierenden Wiederholung betrieben, dessen Wirken die bürgerliche Pro-duktionsweise zum Resultat hatte. Geschichte aber auf dem Boden entwickelterkapitalistischer Strukturen wird nicht mehr von dramatischen Subjekten gemacht.Deren Funktion ist einzig Herrschaft.

Obwohl auf der Text-Ebene viel davon zeugt, ist es wichtig hervorzuheben,daß Marx nicht von einer »Ästhetisierung der Politik« [141] spricht. Er machtnur ästhetische Begriffe zu Metaphern im Kontext der Geschichtstheorie, die diesePolitik analysiert. Das konnte unsere Interpretation als geschichtsmaterialistischeFundierung der »Tragödie« und des »dramatischen Subjekts« lesen; doch nur de-ren spekulativ-idealistische Explikation ist darin sowohl ihrer Möglichkeit alsIdeologie nach wie in ihren ideologie-kritisch fixierbaren Wahrheitsmomentengegeben. Das heißt: die Dramametaphorik der Revolutionsanalysen kritisiert dieBegriffe ästhetischer Philosophie, Begriffe solcher Art also, die die systematischeIdee konkreter Kunstformen und die historische ihrer Entwicklung geben wollten.Insofern sie geschichtsplülosophisch reflektiert und entfaltet waren, ist die Dra-

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mametapher daran als Bestätigung und Kritik zugleich zu lesen. Es gibt in der Tateinen Begriff des »Tragischen«, der »Tragödie«, des »heroischen Subjekts« etc.,der die differentielle Wirksamkeit revolutionär-bürgerlicher Subjektivität zu fas-sen vermag. Insofern er aber klassenmäßig und historisch differenziert ist, Ästhe-tisches als auf politischem und klassengesellschaftlichen Boden wirkend be-stimmt, sprengt er die homogene Sphäre des Ästhetischen ebenso wie die derPolitik und Klassenformation, und vermittelt sie ineinander. Das ist die entschei-dende Lehre, die aus der impliziten Kritik der Marxschen Dramametaphern zuziehen ist. Zugleich aber liegt darin die Grenze ihrer Explikationskraft, soweit sieMetaphern bleiben, begründet. Denn letztlich enträt die Rede, die bürgerlicheRevolutionäre tragische Heroen nennt, nicht einer tautologischen Tendenz, wennnicht gesagt wird, wie sie es gemacht haben. Deshalb also, da Marx in seiner hi-storischen Dramametapher nur ideologiekritisch verfährt, wo die Benennung derRevolution als Drama (»Tragödie«) sollte Analytisches beisteuern, hätte dieThese der »Ästhetisierung der Politik« deren Funktionsweise zu analysieren ge-habt, um als solche hätte aufgestellt werden können. Analytische Anhaltspunktedazu gab, wie zu sehen war, der Marxsche Text selbst.

Wenn so im Herrschaftscharakter des bürgerlichen Staates ästhetische Mecha-nismen der Organisation und Mobilisierung der Massen wirken, beschreibenMetaphern wie »Farce«, »Komödie«, »Haupt- und Staatsaktionen« etc. nur de-ren spezifischen Schein nach Kategorien und Begriffen der klassischen Ästhetik,die nur spekulativ im geschichtsphilosophischen Rahmen entwickelt auf die be-grenzte Sphäre der Kunst selbst Anwendung fanden. Auf Politisches, auf staatlicheRepressionsmechanismen angewandt, erscheinen sie stumpf, können das Neuenicht artikulieren. Metakritisch und immanent reflektiert offenbart so die Ver-wendung der Dramametapher als Kritik des bonapartistischen Staatsstreichs dieWirkung eines »Schocks«, den die konterrevolutionäre Selbstaufhebung der bür-gerlichen Republik, verlaufend in historisch modifizierten ästhetischen Hand-lungsformen und ästhetisch modifizierten historischen Handlungsabläufen, beiMarx (und Engels) hinterließ. [142] Dieser Schock wurde dabei immanent, in derliterarisierenden Reduzierung der Revolutionstheorie, in der Verfremdung der»unbestimmten Ungeheuerlichkeit« wirksam. Darin wurde als ungelöstes Pro-blem artikuliert, welcher Begriff des Subjekts dem Proletariat, welche »Zwecke«ihm prädizierbar waren.

Im Argument aber, daß die »Parodie des Imperialismus« nur notwendig sei zurBefreiung von der »Wucht der Tradition« (s. o.) klingt — ungebrochen — die Kon-zeption der Mäeutik der gesellschaftlichen Entwicklung an. Ihr ist, wie die Klas-senkampf-Schrift zeigt, ein dramatischer und »dramatisch« apostrophierter Sub-jektbegriff des Kampfes inhärent. Seine >Zwecke< sind nach der tragischendialektischen Figur als »unbesiegbare« bestimmt. An ihm hält Marx also auchdann noch fest, wenn er im Diskurs der dramatischen Metaphern ideologiekri-tisch destruiert ist. Daran ist die Grenze und der theoretische Status der einleiten-

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den Passagen des »Brumaire« zu ermessen. Sie scheinen ohne Zusammenhang mitden revolutionstheoretischen Reflexionen der Klassenkampf-Schrift zu stehen.Ihre Dramametapher gewann Bedeutung aus dem implizit dramatischen Kontextdes revolutionstheoretischen Diskurses. Im Brumaire ist die revolutionstheore-tische Reflexion selbst in den Kontext des metaphorischen Diskurses gebannt, wasihn, wie bemerkt, in die Nähe eines metonymischen bringt. Dieser Diskurs desBrumaire teilt den Charakter des Zusammenhanglosen, der alle Marxschen Texteüber Ästhetik prägt, was die Herausgeber einer entsprechenden Anthologie so be-gründen:

Wenn Marx und Engels nach 1844 nicht dazu kamen, zusammenhängend über literarischeund künstlerische Fragen zu schreiben, so geschah dies wegen der Vorrangigkeit der poli-tisch-ideologischen Fragen, denen sie sich im Rahmen der internationalen Arbeiterbewe-gung widmen mußten. [143]

Dieses formelle Argument der theoretischen Biographie wäre durch ein inhaltli-ches zu ersetzen: Ästhetische Konzeptionen, wie sie die bürgerlichen bezogen aufjene Fragen »zusammenhängend« entwickeln, sind für die Marxsche Theorie, wosie — ideologiekritisch fundamentiert — >Außerästhetisches<, d. h. Formen des Ver-laufs bürgerlicher Revolutionen und der Funktionsmechanismen staatlicherOrganisation der Gesellschaft beschreiben, nur eben in diesem Zusammenhangentwickelbar; das gerade tut Marx - aber in der Form der Metapher. Ein meta-phorischer Diskurs ist freilich nicht-stringent, inhomogen und auf spezifischeWeise zusammenhanglos. Wenn die zitierten Herausgeber der Anthologie»Marx, Engels: Über Literatur und Kunst« Gleiches reklamieren in bezug aufMarx' Bemerkungen über ästhetische Fragen insgesamt, so ist der Grund nicht,daß Marx zum Schreiben eines solchen stringenten Diskurses Zeit fehlte, sondernBegriffe; Begriffe nämlich, die jenes Verhältnis von Geschichte, Produktionsweiseund Ästhetik stringent darzustellen vermögen, das die nicht-stringente Ideologie-kritik der Dramametaphorik impliziert.

Solche Begriffe zu entwickeln und sie in die Kunsttheorie neu einzuführen, istim Werk Walter Benjamins versucht. Benjamin selbst, an Marx anknüpfend, gibtAufschluß über die entscheidende Bedingung, welche erst erfüllt sein mußte, da-mit solche Reflexionen auf stringent-kritische Begriffe materialistischer Kunst-theorie produktiv sein konnten. Benjamins Distanz zu Marx ist vor allem eine hi-storische:

Als Marx die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise unternahm, war diese Produk-tionsweise in den Anfängen. [...] Er ging auf die Grundverhältnisse der kapitalistischen Pro-duktion zurück und stellte sie so dar, daß sich aus ihnen ergab, was man künftighin demKapitalismus noch zutrauen könne. Es ergab sich, daß man ihm nicht nur eine zunehmendverschärfte Ausbeutung der Proletarier zutrauen könne, sondern schließlich auch die Her-stellung von Bedingungen, die die Abschaffung seiner selbst möglich machen. Die Umwäl-

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zung des Überbaus, die viel langsamer als die des Unterbaus vor sich geht, hat mehr als einhalbes Jahrhundert gebraucht, um auf allen Kulturgebieten die Veränderung der Produk-tionsbedingungen zur Geltung zu bringen. In welcher Gestalt dies geschah, läßt sich erstheute angeben. [144]

Aus den materiellen Veränderungen des »Überbaus«, der Produktionsbedingun-gen von Kunst also, kann Benjamin »Thesen über die Entwicklungstendenzen derKunst« [145] allererst ableiten. Vor allem in den technischen Entwicklungen derPhotographie und des Films sieht er Bruchstellen dieser Veränderungen. »Tech-nik« meint hier die »Art und Weise« der »Sinneswahrnehmung« »menschlicherKollektiva«, die sich in ihren Veränderungen an solchen im Bereich der Kunst ma-nifestiert. [146] Dasselbe meint Marx, wenn er von der »Wucht der Tradition«spricht, die die Bauernmassen dem >falschen< Napoleon folgen lassen. Ihre poli-tische Wahrnehmung folgte der täuschenden Aura, die Bonaparte künstlich umsich verbreitete. Von »der Wucht der Tradition zu befreien« hieße nunmehr, derReproduzierbarkeit dieser Aura einsichtig zu werden. Daß aber diese Einsicht zugewinnen abhängt von materiellen Veränderungen im Bereich der Produktions-bedingungen kollektiver »Sinneswahrnehmung« und von der bewußten Einset-zung ihrer Produktionselemente, die vormals der geschlossenen Sphäre der»Kunst« zugehörten, im Klassenkampf, konnte Marx infolge ihrer historischenUnentwickeltheit nicht erkennen.

Marx' nicht-stringenter Diskurs artikuliert vielmehr die Schock-Erfahrungnicht von materieller, sondern politischer Funktions-Veränderung kollektiverWahrnehmungsweisen: wie sonst nur der dramatische Held sein Publikum zurBegeisterung hinriß, folgen die Massen in Paris und der Provinz dem Bonaparte.Die Metaphorik beläßt es bei dieser Analogie. Wir wollen sehen, ob in einem wei-teren nicht-stringenten Text über Ästhetik, im Brief an Lassalle, Marx sich ihrererinnert; oder ob auch er »vergessen hat hinzuzufügen«...

III. Zum Briefwechsel um den »Sickingen«

10. Die Tragik »von selbst«

»Du sollst dir kein Bild von der Welt machen des Bildes wil-len«

Brecht

Das definitive Titelblatt wird außer meinem Namen noch als Motto ein Wort Eurer Exzel-lenz tragen, [...] ein Wort, das mir so unvergeßlich geblieben und so sehr hierher gehört,weil es in einfachster und klarster Größe grade die Motive zusammenfaßt, welche michhauptsächlich bewogen haben, die Form des Dramas für diese Produktion zu ergreifen, dasWort Eurer Exzellenz: >Die höchste Macht der Begünstigung eines Stoffes bleibt doch derPoesie gegeben« [1]

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Das Wort stammt von Alexander von Humboldt, dem Naturforscher. Es ist einrationalistisch verdünntes Zitat des Aristoteles, der in der »Poetik« bekanntlichdas Drama und seine Handlungsformen philosophischer als die Geschichte« ge-nannt hatte. Besser aber, als die »Begünstigung eines Stoffes« zur Absicht zu neh-men, konnte Lassalle nicht das Urteil seiner Kritiker vorwegnehmen: denn genaudas werfen sie ihm vor. Er habe >zu sehr< begünstigt, und zwar sich selbst oderseine »Idee«.

David Friedrich Strauß:

Sie wollen so [...] verfahren, daß es sich in der Tragödie nicht mehr um die Individuen alssolche handele, sondern um sie nur noch als Träger und Verkörperungen jener Gegensätzedes allgemeinen Geistes. Dabei glauben Sie aber doch noch immer, Individuen, selbst derbrealistisch bestimmte, geben zu können. [...] Daß er [Sickingen] mir aber so, wie Sie ihnhalten, nicht einmal die Illusion poetischer Wahrheit macht, muß ich wohl als Realismusmeiner persönlichen Denkart auf mich nehmen. [2]

Friedrich Theodor Vischer:

Verargen Sie mir nicht, wenn ich offen ausspreche, daß ich in ihrer Arbeit nicht den Natur-ton, nicht die unmittelbare Kraft der Individualisierung, nicht die Farbe, Ton, Wurf, Hauchder Zeit, wie darin der geistige Kern als einem Naturelement schwimmen soll, erkennenkann. [...] Die naive Weise, wie sie zum Kolorit der Zeit gehört, will an manchen Stellen,eben gerade in Sickingens Haltung namentlich, ans Licht treten, herrschend aber ist undbleibt des Dichters hinter den Masken hervorredende geistige Bewußtheit der Idee. EineProbe der Kraft einer im echten Sinne naiven Gestaltung ist namentlich die Behandlung derMassen, vgl. Goethe, Shakespeare. [3]

Karl Marx:

Du hättest [...] mehr shakespearisieren müssen, während ich dir das Schillern, das Verwan-deln von Individuen in bloße Sprachröhren des Zeitgeistes, als bedeutensten Fehler an-rechne. [...] Ich vermisse das Charakteristische an den Charakteren [...] Hütten ist mir vielzu sehr bloßer Repräsentant von >Begeisterung«, was langweilig ist. War er nicht zugleichgeistreich, ein Witzteufel, und ist ihm also nicht großes Unrecht geschehen? [4]

Friedrich Engels:

Ihr >Sickingen< ist durchaus auf der richtigen Bahn; die handelnden Hauptpersonen sindRepräsentanten bestimmter Klassen und Richtungen, somit bestimmter Gedanken ihrerZeit, und finden ihre Motive nicht in kleinlichen, individuellen Gelüsten. [...] Worauf Sieaber nicht, wie mir scheint, den gehörigen Nachdruck gelegt haben, sind die nicht-offiziel-len, plebejischen und bäurischen Elemente, mit ihrer daneben laufenden theoretischenRepräsentation. (... ] Für meine Ansicht vom Drama, die darauf besteht, über dem Ideellendas Realistische, über Schiller den Shakespeare nicht zu vergessen, hätte die Hereinziehungder damaligen so wunderbar bunten plebejischen Gesellschaftssphäre aber noch einen ganz

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anderen Stoff zu Belebung des Dramas [...] abgegeben [...] ein Falstaff'scher Hintergrund[...] Diese Zurücksetzung der Bauern [ist] der Punkt, durch den Sie verleitet worden sind,auch die nationale Adelsbewegung, wie mir scheint, nach einer Seite hin unrichtig darzustel-len und zugleich das wirklich tragische Element in Sickingens Schicksal sich entgehen zulassen. [5]

Allen vier Äußerungen gemeinsam ist, daß Lassalles philosophisches Verständnisdes historischen Sickingen in seiner Dramatisierung mißlungen sei. Durchgängigauch, was hier nur am Rande erwähnt sein soll, die Kritik an der Versifikation.[6] Stellen wir nun noch eine Passage aus Lassalles Brief an Humboldt hierher,und es wird deutlich, daß auch der Autor selbst von der entscheidenden »Klippe«,an der sein Stück scheiterte, schon vorher wußte:

Zumal da ich das Historische durchaus nicht in den historischen Stoff, die Begebenheitenund Personen, sondern wesentlich dahinein setze, das der innerste historische Gedanke undGedankenkonflikt einer solchen Wendeepoche in vollständiger Klarheit dramatisch entfal-tet wird, konnte die Gefahr naheliegen, in das Unding einer abstrakten und gelehrten Poesiezu verfallen. [7]

Eben darin verfallen zu sein, werfen Strauß, Vischer, Marx und Engels Lassallevor. Auf Strauß und Vischer näher einzugehen, gestattet unser Gegenstand nicht;ihre eigene Position ist aus den Briefen nur undeutlich zu entnehmen, und es be-dürfte einer eigenen Untersuchung, sie aus dem Angedeuteten zu rekonstruieren.Doch festzuhalten ist, daß sie auf der Ebene ungebrochener ästhetischer Philoso-pheme verbleiben. Strauß und Vischer reflektieren nicht, ob der historische Sik-kingen des 16. Jahrhunderts dem entsprach, den Lassalles »historische Tragödie«ahnen läßt; oder ob die Applikation einer »allgemeinen Idee« auf Geschichte jeüberhaupt möglich ist. Jenseits dieser Fragen läuft ihre Kritik darauf hinaus, die»Individualisierung« (Vischer), das »selbst derb realistisch Bestimmen« (Strauß)der Individuen unter diesen Auflagen, Verkörperungen einer »Idee« zu sein, fürmißlungen zu halten. Zwischen beidem geht ihnen kein Zusammenhang auf.

Anders Marx. Er bestreitet zunächst, daß Sickingen überhaupt je der gewesensei, als den Lassalle ihn hinstelle: ein revolutionärer Held.

Sickingen ging nicht unter an seiner Pfiffigkeit. Er ging unter, weil er als Kitter und alsRepräsentant einer untergehenden Klasse gegen das Bestehende sich auflehnte oder viel-mehr gegen die neue Form des Bestehenden. [8]

Dem historischen Sickingen sind keinerlei Beziehungen zu den Bauern nachweis-bar; daß in Lassalles V. Akt Hütten, aus Zürich zurückkommend, mit dem Bau-ernführer Jost Fritz ein Abkommen schließt, ist pure Erfindung. Hütten starb inZürich, und Jost Fritz war bereits seit Jahren verschollen. Und statt einer offenenUnterstützung der Bauern »lauerte« bei Sickingen, wie Marx sagt, »immer nochder Traum des alten Kaisertums und des Faustrechts«. [9] Hätte Lassalle die Bau-

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ern und die revolutionären Elemente in den Städten< in den Mittelpunkt gestellt,so

hättest [du] dann auch in viel höherem Grade grade die modernsten Ideen in ihrer naivestenForm sprechen lassen können, während jetzt in der Tat, außer der religiösen Freiheit, diebürgerliche Einheit die Hauptidee bleibt. [10]

Marx plädiert also fast für ein anderes Drama: wenn Lassalle den Franz von Sik-kingen und dessen Aufstand gegen die Fürsten, wenige Jahre vor Beginn der Bau-ernkriege, darstellen wolle, so sei eben darzustellen, wie notwendig er an den reli-giösen und nationalen Illusionen zugrunde gegangen sei; ein reaktionärerAufstand gleichsam, ein letztes Aufbäumen einer untergehenden Klasse, des »Rit-tertums« . Wir sind hier mitten in der Analyse der Vorgeschichte der Bauernkriegeim Anfang des 16. Jahrhunderts, die Engels schon 1850 unternommen hatte.Engels zeigte, nur soviel soll hier erwähnt werden, daß der Aufstand des rheini-schen, fränkischen und westfälischen Adels, organisiert von Hütten und Sickin-gen, nur das eine Resultat hatte, den Adel als selbständige »Körperschaft« gegen-über den Fürsten zum Verschwinden zu bringen. [11] Der Kampf war, infolge derabsoluten Isolation dieser alten Klasse und der militärischen Übermacht der inStädten seßhaften Fürsten von vorneherein aussichtslos. Es war ein Kampf derReaktionäre gegen die herrschenden Mächte: »Von Aufhebung der Leibeigen-schaft und der Lasten, die der Bauer dem Adel schuldig war, ist bei Hütten nir-gends die Rede«. [12] Gleichwohl war Hütten immerhin lutherischer Oppositio-neller, trat ein für vollständige Säkularisation und bekämpfte die Abhängigkeitvon Rom.

Lassalles Drama stellt nun diesen bauern- und fürstenfeindlichen Luther-Freund Sickingen in den Mittelpunkt. »Bist du nicht selbst gewissermaßen«, fragtdaher Marx, »wie dein Franz von Sickingen, in den diplomatischen Fehler gefal-len, die lutherisch-ritterliche Opposition über die plebejisch-münzersche zu stel-len?« [13] Der »innerste historische Gedanke und Gedankenkonflikt« (Lassalle)der Epoche der Bauernkriege ist nach Marx, wenn überhaupt, bei Münzer unddem »Bundschuh«, nicht bei Sickingen gelegen. — Doch was hat dies mit demDrama zu tun? Nicht viel, denn: Marx reflektiert vor allem geschichtstheoretisch;und zwar die Frage, ob Sickingen in seiner Stellung gegenüber den Bauern einRevolutionär war oder nicht.

Lassalle antwortet, indem er die von Marx ausgesparte Frage der dramatischenStilisierung wieder hereinbringt. Er kann daher leicht die Marxschen Argumentezugeben; der historische ist nicht sein Sickingen; der historische sei sogar reaktio-när, »Ein Drama ist kein kritisch-philosophisches Geschichtswerk«. [14] AuchLassalle liest aus Marx' Brief die Andeutung über das >andere Drama< heraus, dasdie »plebejisch-münzersche Opposition« in den Vordergrund stellen sollte. Undseine Erwiderung ist nicht wenig treffend:

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Hätte ich einen >Thomas Münzer< oder eine andere Bauernkriegstragödie geschrieben [...],so hätte ich doch immer nur die Tragödie einer bestimmten, historischen, einer abgeschlos-senen und vergangenen hinter uns liegenden Revolution geschrieben.Die tragische Grundidee meines Dramas, diesen bei fast jeder Revolution wiederkehrendenewigen Grundkonflikt konnte ich doch einem »Thomas Münzer< nicht leihen. Woran auchMünzer zugrunde gegangen ist, keinesfalls ist er jedoch daran zugrunde gegangen, daß errealistisch diplomatisiert hat und nicht mit exklusivem Fanatismus und zugedrückten Augenan die äußerste Position der revolutionären Situation und ihre Kraft appelliert hat. DieserVorwurf läßt sich doch Münzer nicht machen! [15]

Treffend ist diese Bemerkung in ihrer Absurdität und Berechtigung sowohl für dasLassallesche Stück wie für die »Debatte«. Lassalle, der die »Tragödie der formalenrevolutionären Idee par excellence« beansprucht geschrieben zu haben (ebd.), willin jeder Revolution jenen Widerstreit von »endlichem Verstand« und »revolutio-närer Idee« (die nur in der historischen Teleologie des Masseninstinkts materiellwerden soll; vgl. Teil I) wirksam sehen. Daher muß er Münzer und die Bauernin ihren Kämpfen, wo kein »endlicher Verstand« aufs Sickingensche Diplomati-sieren verfiel, für »nicht revolutionär« halten. Die Begründung, in geschicktHegelianischer Argumentation gegeben, legt den Kern von Lassalles Ideologie of-fen:

Nicht revolutionär. Denn die Bauern verlangten überall den Adligen gegenüber nur dieBeseitigung des Mißbrauchs, nicht des Gebrauchs. Je sorgfältiger man die Bauernkriegestudiert, je genauer sieht man dies; auch kann es nicht wundern. Die Idee der Berechtigungdes Subjekts als solchen ging eben über die ganze Zeit hinaus. Hätte man sie hineinlegenwollen, wäre man im schlimmsten Sinne unhistorisch verfahren. [16]

Lassalle gibt die Kritik der Ahistorizität, die Marx am Sickingen geleistet hatte,diesem in bezug auf Münzer zurück. Möglich aber ist dies ihm nur, da er einenganz anderen Geschichtsbegriff unterstellt: jenen idealistischen nämlich, derGeschichte als Herausbildung und »Verkörperung« eines »freimenschlich auf sichselbst gestellten« Subjekts begreift. [17] Die Analyse des Dramas und die der frü-hen »Assisenrede« von 1849 (vgl. Teil I) konnte genau diesen Subjektbegriff alsdie Konstante fixieren, die eine ungebrochene Verbindungslinie von der unmittel-baren >dramatischen< Erfahrung der Revolution zur Konzeption des Dramas zuziehen forderte.

Zwei Fragezeichen macht Lassalle denn auch hinter die Marxsche Geschichts-auffassung von Münzers Kampf, worin »grade die modernsten Ideen in ihrer nai-vesten Form« aufweisbar wären. Sie sind verständlich, denn Lassalle vermochtekeine seiner geschichtsphilosophischen Ideen, d. h. was er für »modernste Ideen<hielt, in den Bauernkriegen zu finden, noch weniger etwa deren >naive< Präsenz.Marx indessen sah in den Bauernkriegen Vorformen der Jahrhunderte später ent-stehenden Klassenaktionen des modernen Proletariats. Münzers Predigten »von

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der christlichen Gleichheit und der evangelischen Gütergemeinschaft«, von der»gleichen Verpflichtung aller zur Arbeit« und von der »Abschaffung aller Obrig-keit« kommen sogar, wie chiliastisch verbrämt [18], den kommunistischen Pro-grammen sehr nahe. [19] Doch ist darin, daß Marx sie — mit Recht — als derenVorformen oder >naive< Artikulation bezeichnet, zugleich schon ihrem histori-schen Scheitern eine tragische Dignität verliehen? Uns scheint diese Frage ausMarx' Brief nicht beantwortbar, weil darin nicht gestellt. Zu sehen wird sein,warum nicht.

Zuvor jedoch zum Brief Engels'. Im Unterschied zu Marx stellt er eine Konzep-tion des Tragischen vor, die gleichsam als ein immanent dramatisches Darstel-lungsmuster dem historischen Stoff applizierbar sei: Lassalle lasse sich, nachEngels, »das wirklich tragische Element in Sickingens Schicksal entgehen«. DieTragik Sickingens in Lassalles Drama war die, daß er, statt seine revolutionärenIdeen offen zu proklamieren und zu verfechten, »diplomatisierte«, dem »endli-chen Verstand« des Ränkeschmiedens sich hingab usf. Unvermittelt stellt sich demLeser im V. Akt überdies die Offenbarung ein, daß, hätte Sickingen nur offen ge-fochten, die Bauernmassen, ihn zum Führer kürend, seinen Sieg nahegebrachthätten. Das alles hatte Marx für bloße Produkte von Sickingens-Lassalles »Einbil-dung« gehalten: »so mußten Sickingen und Hütten untergehen, weil sie in ihrerEinbildung Revolutionäre waren« [20]; und hinzuzufügen wäre, daß der »Einge-bildete« wohl eher der »Kranke« oder komisch ist, als tragischer Held. — Engelsaber, dessen Analyse der Bauernkriege gerade die Stütze der Marxschen Argu-mentation abgab, »will [Lassalle] keineswegs das Recht abstreiten, Sickingen undHütten so aufzufassen, als hätten sie vorgehabt, die Bauern zu emanzipieren«![21] Und gerade indem Engels ihm und sich das »Recht« freier dramatischer Ver-fügung über den geschichtlichen Stoff zubilligt, korrigiert er die »geringereDimension« (ebd.) des tragischen Konflikts Sickingens in die »wirkliche«. Dessenwirkliche Tragik sei, daß Sickingen »zwischen den Adel einerseits«, welcher dieBauernbefreiung, wie historisch belegbar ist, »entschieden nicht wollte«, und»den Bauern andererseits gestellt war«; die Bauern aber, in Sickingen wegen des-sen >adliger< »Diplomatie« auch mit Recht nur den Adligen sehend, der sie unter-drückt, können ihm nicht folgen:

Hier lag meiner Ansicht nach die tragische Kollision zwischen dem historisch notwendigenPostulat und der praktisch unmöglichen Durchführung, (ebd)

Aus Lassalles Konzept einer Tragik, der »revolutionären Idee«, die an den Hän-deln mit dem »endlichen Verstand« gebricht, macht Engels kurzerhand eine ArtTragik dessen, der seine Klasse, um der Revolution willen, verraten hat. VonMünzer oder münzerschen Elementen steht im ganzen Brief kein Wort. »Die bäu-rische und plebejische Bewegung«, auf die Lassalle nur nicht »den gehörigenNachdruck« gelegt h;ibc, soll keineswegs statt der »lutherisch-ritterlichen Oppo-

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sition« als historisches Paradigma moderner Revolutionsbewegungen zur Dar-stellung kommen (wie Marx es forderte), sondern nur innerhalb einer anderen,größeren »Dimension« von Sickingens Tragik stärker zur Geltung kommen.Gerade um die — tragische — Zwischenstellung Huttens und Sickingens zwischenAdel und Bauern zu verdeutlichen, täte es nach Engels gute Dienste, »wenn vorherschon die grollende Bauernbewegung und die durch die frühen Bundschuhe undden armen Konrad unbedingt konservativer gewordene Stimmung des Adels mehrhervorgehoben worden wäre.« [22]

Engels scheint unter den dreien der einzige, der die Tragödie wirklich als Tra-gödie nimmt. Lassalle schrieb, »fast keine«. Fast alle dramaturgischen und ästhe-tischen Kriterien, einschließlich die der Versifikation vernachlässigend, wollte ernur die »Idee der Tragik aller Revolutionen« vorstellen, und nur der größerenPublizität halber verfiel er aufs Drama. [23]

Die theoretische Abhandlung Über die tragische Idee, die Lassalle dem Briefan Marx beigelegt hatte, war Engels unbekannt; er las nichts als die Tragödieselbst. Lassalle schloß daraus, Engels habe die »tragische Idee durchaus nichtübersehen, aber andererseits auch ebensowenig in ihrer ganzen Schärfe, Stellungund Totalität aufgefaßt«. Weniger also als die Tragödie ist Lassalle die »TragischeIdee «, abstrakt in jener Abhandlung entfaltet, wichtig. Statt auf den authentischenRezensenten seines Dramas einzugehen, empfiehlt er Engels zu allernächst dieLektüre dieser Abhandlung. [24] Die historisch und dramaturgisch reflektierteKorrektur, die Engels anbrachte, um die » wirklich tragischen Elemente in Sickin-gens Schicksal« herauszubringen, müssen daher an Lassalles Konzeption vorbei-gehen, in der Sickingen keine «wirkliche« Tragik haben soll, sondern — wieVischer sagt — nur als »Maske« der Idee des »Dichters« fungiert.

Vischers, Strauß' und Engels' Argumente sind in dieser Korrespondenz näherverwandt, als es die absolute Divergenz ihrer theoretischen und politischenGrundanschauungen vermuten ließe. Ihr gemeinsames Hauptargument ist dieses:Es fehle den Individuen des Franz von Sickingen die >derbe Realistik<, das»Naturelement« ihrer Taten (Strauß und Vischer), »die Hereinziehung der dama-ligen [...] plebejischen Gesellschaftssphäre« (Engels). Engels' Kritik ist als Kon-kretisierung der Strauß-Vischerschen auffaßbar. Die dramatische Konzeption, dieEngels alternativ vorschlägt, ist durchaus einleuchtend. Nur läßt sie die entschei-dende Frage offen, die Frage nämlich, ob die Tragik des Sickingen, der seine Klas-senherkunft verriet und doch zugrunde ging, die Tragik eines Revolutionärs dar-stellt.

Auch Marx folgt in seinem Brief den Kritiken von Strauß und Vischer, wenner das »Charakteristische an den Charakteren« vermißt, »hier und da übertriebe-nes Reflektieren« und »das Verwandeln der Individuen in bloße Sprachröhren desZeitgeistes« >tadelt<. Gegenüber der Hauptsache seiner Kritik aber bleibt diese se-kundär. Daran ist zugleich die Inkonsistenz seiner Argumentation zu ersehen:Wenn Marx Sickingen und Hütten als >Repräsentanten< einer »untergehenden

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Klasse«, als nur »eingebildete Revolutionäre« auffaßt, so daß Sickingen keineTragik des Revolutionärs eignen könne - was sagt es dann, daß Lassalle dem Hüt-ten »großes Unrecht« tue, wenn er, statt den »Witzteufel« zu zeichnen, ihm die>Maske< bloßer »Begeisterung« und Reflexion aufsetze. Wo Marx geschichts-theoretisch argumentiert, reflektiert er nicht dramaturgisch oder ästhetisch, undwo er dies tut, reflektiert er nicht historisch.

Dasselbe liegt in den Sätzen vor, die auf die Abhandlung »über die tragischeIdee« Lassalles eingehen:

Die beabsichtigte Kollision ist nicht nur tragisch, sondern ist die tragische Kollision, worandie revolutionäre Partei von 1848/49 mit Recht untergegangen ist. Ich kann also nur meinehöchste Zustimmung dazu aussprechen, sie zum Drehpunkt einer modernen Tragödie zumachen. [25]

Und Marx fährt fort:

Aber ich frage mich dann, ob das behandelte Thema passend zur Darstellung dieser Kolli-sion war? (ebd)

Wir wissen, daß Marx dies verneint.- Was demnach bleibt, ist die »Absicht« Las-salles, welche in jenem Manuskript über die »tragische Idee« ausgeführt war. Las-salle wollte die >Tragik der Revolution überhaupt entwickeln, doch Marx weisteine Art »Tragik« nur der historischen Konstellation der Niederlage der revolu-tionären Partei von 1848 zu. - In der Tat hatte Marx diese Niederlage revolu-tionstheoretisch in der Dialektik von Katastrophe und Katharsis beschrieben, de-ren immanent tragische Figur herauszustellen nunmehr Marx selbst unternimmt.Marx >erinnert< sich also der implizit dramatischen Momente seiner Revolutions-theorie, welche die Klassenkampf-Schrift entfaltete.

Doch wäre hier nicht >hinzuzufügen<, was die Analyse des »Brumaire« be-schied? Wie läßt sich denken, daß Marx hier im Sickingenbrief von einer Tragikder proletarischen Revolution spricht, im Brumaire aber, absolut gegensätzlich,von der »Tragödie« der bürgerlichen Heroen? Und man muß hinzufügen: ImBrumaire wurde gleichsam in einer Ideologiekritik des tragischen Modells Hegelsjene »Poesie aus der Vergangenheit« (nicht-stringent) kritisiert und deren histori-sche Funktion offenbart, welche in einer ästhetisierenden Wiederholung von Ver-gangenem als bewußtlose Produktion eines Dritten, nämlich der politökonomi-schen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, bestand. - Hans-Jürgen Krahl hatauf diesen Widerspruch oder diese Inkonsistenz der Marxschen Revolutionstheo-rie als einer der ersten aufmerksam gemacht:

So sehr [Marx] im 18. Brumaire die Differenz zwischen bürgerlicher und proletarischerRevolution feststellt, nämlich die, daß alle bürgerlichen Revolutionen um ihrer Legitimationwillen eine Totenbeschwörung der Vergangenheit zu sein und sich ins Gewand vergangener

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Revolutionen zu kleiden hätten, [...] so sehr projiziert Marx doch noch den blind-naturge-setzlichen Verlauf bürgerlicher Revolutionen auf die dem nicht angemessene Bewußtseins-verfassung einer Verlaufsform proletarischer Revolution. [26]

Was Marx auf die Verlaufsform der proletarischen Revolution »projiziert«, ist»Tragik«. Oder, insofern, wie wir sahen, im Zentrum des tragischen Modells derBegriff des heroischen, historischen Subjekts steht - dieser Subjektbegriff. Marxhat ihn nirgendwo kritisiert noch thematisiert - außer in jenem metaphorischenDiskurs der »unbestimmten Ungeheuerlichkeit«, in den Anfangspassagen des18. Brumaire.

An dieser Stelle wird deutlich, welche weitere Funktion der metaphorische Dis-kurs neben derjenigen hat, daß er eine Nicht-Stringenz, oder wie im Brumaireeinen literarisch-verfremdeten Text erzeugt: Er erzeugt ein Verschweigen.*Gerade die Nicht-Stringenz des Sinnes oder der Argumentation, die einen Textkennzeichnet, der, wie der »Brumaire«, von dem Zur-Farce-Werden der Tragödieoder, wie der Sickingenbrief, von einer Tragik der Revolutionäre spricht, ver-

* Die »Debatte« zwischen Marx-Engels und Lassalle endete bekanntlich ebenfalls miteinem Schweigen. Auf die Replik Lassalles, welche beide Briefe, den Marxschen und denEngelsschen behandelte, erfolgte keine Antwort. Am Tage, als Marx diese Replik erhielt,schrieb er an Engels folgende Zeilen:

»Ein ganzer Wald von engbeschriebenen Seiten. Unbegreiflich, wie ein Mensch in dieserJahreszeit und unter diesen welthistorischen Umständen nicht nur selbst Zeit findet, sol-cherlei von sich zu geben, sondern uns sogar die Zeit zumutet, es zu lesen.« (MEW 29, S.450)

Das Gewicht dieses polemischen Verwerfens der Lassalleschen Tragödie und seinerBegründung, die zu leisten gerade dieser Brief Lassalles sich vornimmt, wird durch dieUmstände, aus denen Marx schrieb, erheblich geschmälert. Erstens blockierten Druck undAuslieferung der Lassalleschen Tragödie die Drucklegung des in diesem Jahr publiziertenersten Entwurfs der »Kritik der politischen Ökonomie«; trotz der besten Verbindungen, dieLassalle zum Verleger Dunker unterhielt, schien er außer großen Worten zu keinen Tatenbereit, in Berlin wenigstens auf das termingerechte Abliefern der Korrekturbögen zu drin-gen. Zweitens erschien im Mai des Jahres eine politisch weit brisantere Schrift Lassalles, »Deritalienische Krieg und die Aufgabe Preußens. Eine Stimme aus der Demokratie«. Lassallevertrat darin eine Position, die in aller Offenheit derjenigen von Marx und Engels wider-sprach, so sehr, daß Marx nicht einmal mehr Sinn darin sah, auf sie kritisch Lassalle gegen-über einzugehen (vgl. MEW 29, S. 451 und 606). - Zu Lassalle unterhielten seit der Zeitbeide, besonders Marx, ein ausschließlich von taktischen Interessen bestimmtes Verhältnis;denn Lassalle war immerhin einer der wenigen >Verbindungsleute< nach Berlin, renommiertgenug, daß Marx auf ihn, wie es in den folgenden Jahren mehrfach geschah, Wechsel ziehenkonnte, die die arge Bedrängnis, in welcher sich Marx befand, überbrücken konnten. Aneinem solchen Wechselgeschäft ging die Beziehung Marx-Lassalle schließlich zu Bruch (vgl.G. Mayers Einleitung in Lassalle, Nachgelassene Briefe, a. a. O., Bd. 3). — Aus alledem folgt,daß die oben zitierte Briefstelle nicht zwanglos auf den immanenten Zusammenhang derSickingenbriefe bezogen werden kann, zumal Marx am selben Tage noch Lassalle eine Ant-wort versprach, (MEW 29, S. 606).

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schweigt, was diese Metaphern (oder Metonymien), die einen genau bestimmba-ren Ort in der Sinnstruktur des Textes selbst haben, sagen sollen. Wir haben die-sen Ort bestimmbar gemacht, indem wir die Problematik des geschichts- undrevolutionstheoretischen Kontextes, der ihn lokalisiert, entfaltet haben. Wenn wirsagten, der metaphorische Diskurs des Brumaire artikuliere eine nicht-stringenteIdeologiekritik der ästhetischen Philosophie dramatischer Handlungsformen, soist damit zugleich gesagt, daß Marx sie verschweigt. (Es wäre denn auch ein offen-barer Widersinn, der Marxschen Rede von der Tragik der Revolutionäre entge-genzuhalten, im »Brumaire« stehe, daß Tragödien nunmehr nur noch als Farcenvorkämen.) Es kann nicht darum gehen, Marx immanent mit sich selbst zu wider-legen; sondern einzig darum, die spezifische Zusammenhanglosigkeit des ästheti-schen Diskurses, d. h. den Status der Dramametaphern in den historischen Analy-sen, soweit wir sie untersucht haben, zu erklären.

Seit der Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung von 1844 war dasProblem der Marxschen Revolutionstheorie, das historische Subjekt der Revolu-tion zugleich in seiner Präsenz und Nicht-Präsenz zu denken. Die Metapher desDramas, die schon in den ersten Analysen der Epoche der 48er Revolution wirk-sam war, artikulierte diese Präsenz/Nicht-Präsenz als Noch-Nicht. Die Revolu-tionstheorie der Klassenkampf-Schrift, an der Analyse der Juni-Niederlage desPariser Proletariats entwickelt, implizierte ein tragisches Modell, das der Sickin-gen-Brief nun expliziert.

Was die Termini und theoretischen Modelle, die Marx in seinen Analysen der48er Revolution verwandte, implizierten, konnte gezeigt werden. Der Ort indes,an dem sie stehen, als Metaphern (oder Metonymien) nämlich, produziert zu-gleich ein Schweigen oder besser Verschweigen dieser Implikationen. Daher istdas, worauf Krahl verwies, nicht eigentlich ein Widerspruch, sondern Zeicheneines Verstummens, des Verstummens der Marxschen Texte vor dem Problem desSubjekts der bürgerlichen Revolution, das als »heroisches« zu apostrophieren,den Begriff des Subjekts in einer Hegeischen Tradition illuminiert (und — aufstumme Weise — an bestimmten Hegeischen Begriffen eine ideologiekritische Kor-rektur anbringt), wobei aber die Mechanismen der politisch-historischen Wirk-samkeit dieser »Heroen« selbst nicht thematisiert sind; eines Verstummensebenso vor dem Problem des proletarisch-revolutionären Subjekts, das in seinerBestimmung als heroisch oder »unbesiegbares« ebenso eine bestimmte HegeischeTradition illuminiert, und doch als Problem seiner empirischen Konstitution [27]nicht Thema wird.

Wir sind also im Verfolg der Dramametaphern in den geschichtstheoretischenAnalysen Marxens auf einen Ort gestoßen, wo gerade deren zentralste Problemein der Metaphorisierung der Begriffe zum Verstummen kamen. Insofern es ästhe-tische Begriffe waren, die als Metaphern funktionierten, ist aus der textuellenStruktur, in der sie eine Art beredten Schweigens hervorbrachten, leicht zu erklä-ren, woher die (so oft beklagte) Zusammenhanglosigkeit und Fragmentarizität

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der Marxschen Äußerungen über Ästhetik rühren. * Sie rühren aus dem Verstum-men her, das die ästhetischen Begriffe, zumal die des Dramas, in der MarxschenGeschichtsauffassung produzieren. Hätte Marx sie thematisiert und einer syste-matischen Kritik ihrer idealistischen Herkunft unterzogen, so wäre er zur Artiku-lation dessen gezwungen gewesen, was ihr bloßes Metapher-Sein verschweigenund aussparen konnte: zur Thematisierung des Subjekt- und Geschichtsbegriffsseiner Geschichtsauffassung.

Mit Benjamin haben wir auf die historische Schranke des Marxschen Diskursesüber Ästhetik schon verwiesen. So wichtig es nun wäre, auch am Problem desSubjekt- und Geschichtsbegriffs dasselbe zu versuchen oder gar an diesem Pro-blem »den Marxismus auf sich selbst anzuwenden« (Korsch), so wenig kann dashier geleistet werden. Im Groben umrissen, hätten solche Überlegungen an derFrage anzusetzen, welchen Geschichtsbegriff die Kritiker und Theoretiker des 19.Jahrhunderts überhaupt, in deren Reihe Marx an erster Stelle steht, fähig warenzu entfalten. Die Marxsche Theorie selbst stellt dieses Problem: wir haben zu zei-gen versucht, wie die ursprüngliche Auffassung von der >Bewegung der Negation<,welche das Proletariat sowohl als pauperisiertes wie als »Aufhebung« der bürger-lichen Gesellschaft vollziehe, bei Marx als eine historische verstanden war; ebendieser Begriff von »Aufhebung« modifiziert sich auf der Ebene der Kritik der »po-litischen Ökonomie«. Dort, wo Marx sich allererst das Problem der systemati-schen Darstellung der kapitalistischen Strukturen stellt, ist die >Bewegung derNegation< eine, die immanent die Darstellungsweise der polit-ökonomischenKategorien und Kategorienrelationen strukturiert. Geltung und Genesis derökonomischen Struktur des Kapitals fallen auseinander, und somit stellt sich dasProblem der Historizität dieser Struktur als eines, das Marx zwar benennt, indesrevolutionstheoretisch nicht mehr reflektiert. Nach der Auffassung des »Kapi-tals« setzen sich jene Geltung der kapitalistischen Strukturen und deren weltweiteExpansion »naturwüchsig-blind« durch. [28] Jedoch fällt die Auffassung vomnaturgeschichtlichen Bildungsprozeß des Kapitals mit einem revolutionstheoreti-schen Geschichtsbegriff, der die kapitalistischen Strukturen vom Standpunkt ihrerVeränderbarkeit aus begreift, nicht je schon in eins. Wenn Marx die kapitali-stische Produktionsweise für produktionsgeschichtlich transitorisch hielt, sospricht seine strukturelle Kritik und Darstellung der politischen Ökonomie impli-zit dagegen, insofern letztlich alle historischen Elemente, welche der Kapitalismuserhält, nur Effekte und Resultate der Produktions- und Reproduktionsstrukturenselbst sind (z. B. Durchschnittsbildungen der »Produktivität der Arbeit« und der»Reproduktion der Arbeitskraft« etc.). Dies aber hat zur Folge, daß zentraleKategorien der klassischen Geschichtsphilosophie (von Ethik und Anthropologie

* Ein signifikantes Beispiel sind die sogenannten »Vischer-Exzerpte«; Marx hat 1857 die»Ästhetik« Vischers exzerpiert, ohne nur ein Wort eines eigenen Kommentars hinzuzufü-gen. (Siehe hierzu den im übrigen problematischen Aufsatz von G. Lukacs in »Probleme derÄsthetik«, Neuwied 1969, S. 233 ff.)

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nicht zu sprechen), nämlich vor allem die des historischen (Welt-)Subjekts, gegen-über dem Bild des Menschen, das der Kapitalismus erzeugt, unhaltbar gewordensind. Zumal ein auf sich selbst angewandter Marxismus hätte diesen anthropolo-gischen oder geschichtsutopischen Heroen, wie ihn etwa Hegel bestimmt (»daßer es aus sich selber hervorgebracht und es dadurch in den äußeren Dingen mitdem Seinigen und nicht mit entfremdeten Gegenständen zu tun hat«), als Ideologiedes bürgerlichen Philosophen zu destruieren, der seine Philosophie an der ver-dinglichten Zirkulation der Äquivalenzen, die seine universelle Spekulation er-möglicht, gewinnt.

Eine historisch reflektierte Affirmation des »Tragischen«, wie sie Hegel (mitsystemphilosophischem Vorbehalt) und Marx (metaphorisch, metonymisch)vollziehen, stößt freilich sehr schnell an genau dieses Problem des historischenSubjekts, wenn sie auf dem Terrain ästhetischer Reflexionen materialistisch fort-getrieben wird. Wir möchten, um dies zu demonstrieren, die Marxisten Bloch undBrecht hinzuziehen.

Bloch, an den noch zu betrachtenden Sickingenaufsatz Lukács' anschließend,reflektiert das Problem des tragischen Todes »im sozialistischen Bewußtsein«[29]:

Die revolutionären Materialisten hielten sich vor dem Galgen des Klassenfeindes aufrecht,als stärkste Idealisten sozusagen, obwohl ihnen persönlich nichts anderes blieb als das Grab,als die Idee, als die Gewißheit, bei der Verwirklichung dieser Idee nicht anwesend zu sein.[30]

Das revolutionär-solidarische Bewußtsein< ist »untötbar«, und doch hat es, imUnterschied zum bürgerlichen Revolutionär und Romantiker, mit der »Todesver-achtung aus der Zeit der heroischen Revolution abgeschlossen«. [31] Bloch siehtsehr gut, daß jenes revolutionäre Bewußtsein eines der Klasse ist, worin das Indi-viduum selbst aufgehört habe, »sein Ich so wichtig zu nehmen«. [32] Doch dasProblem des Todes ist von dem des Individuums, das darin — als »Träger« desKlassenbewußtseins - aufgehoben wäre, nicht zu trennen. »Die Vermittlung mitdem Subjekt der Gesellschaft«, folgert Bloch, »ist in der klassenlosen gelungen,jedoch das hypothetische Subjekt der Natur, woraus der Tod kommt, liegt aufeinem anderen Feld, auf einem weiteren als dem des geglückten sozialen Ein-klangs«. [33] Darin ist ein Zentrum der Blochschen Philosophie, die Resurrektionder »Natur«, getroffen; das Natursubjekt, als Grund des Todes genommen, stehtnoch unvermittelt selbst zum avanciertesten Bewußtsein der revolutionärenKlasse. Die Tragik, welche darin liegt, ist freilich zugleich eine der Hoffnung:

Niemand weiß, was in der Welt außerhalb des menschlichen Arbeitsradius, also im nochunvermittelten Natursein, steckt; welches Subjekt hier den Umsatz lenkt, ob es überhauptein solches Subjekt ausgemacht gibt oder bereits so gibt; ob es als angetroffenes, ausgemach-tes, herausgeschafftes in Vermittlung mit dem Mensch als Subjekt der Geschichte gebracht

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werden kann. [...] Theorie—Praxis, wenn sie die soziale Utopie berichtigt und auf die Füßegestellt hat, hat eines ihrer letzten Probleme im Kraut gegen den Tod.[34]

Sozialistische Tragik also wäre nach Bloch das gegenwärtige Signum des noch un-vermittelten Klassensubjekts zu jenem, das »auf einem anderen Feld« liegt, — eineTragik, die von der Hoffnung getragen und genährt ist, daß sich der Mensch mitder Natur, die die seine sein soll, versöhne.

Bert Brecht ist, wie Bloch dem Problem des tragischen Modells von einer mate-rialistischen Sichtweise her folgend, in der Konsequenz auf dasselbe Problem desVerhältnisses Mensch/Natur gestoßen. Er hat jedoch - im Unterschied zu Bloch— einen radikalen Terrainwechsel [35] vollzogen, von dem aus das ProblemMensch/Natur in der Tragik sich anders, als dezentriertes Problem nur noch stellt.Wir zitieren das »Dreigespräch über das Tragische«:

Karl. Ihr meint, Eure Spielweise, die zu allem sagt: >Das kann sein und kann nicht sein<,könnte doch auch tragische Stimmung erzeugen?Thomas. Selbst wenn zu jedem Handeln eines Menschen ein anders Handeln als ebenfallsmöglich hinzugedacht wird und die Darstellung dies berücksichtigt, kann die betreffendeaktuelle Handlung, diejenige, die gewählt wird, noch so ernst genommen werden, daß mantragisch berührt wird.Lukas. Das zeigt eine merkwürdige Gleichgültigkeit gegen das Problem der Tragik.Thomas. Das hoffe ich. [36]

Die Spielweise, auf die Karl anspielt, hatte Thomas, aus dem Brecht spricht, einegenannt, »die die gesellschaftliche Grundlage als praktikabel und historisch (ver-gänglich) darstellt«, und es ist diese Spielweise der Verfremdung, des »eingreifen-den Denkens« [37], welche einen allgemeinen homogenen Begriff der Tragik ver-unmöglicht. - Am Ende des Dreigespräches, das Luka(c)s in keinem allzugünstigen Licht stehen ließ, wird genau von diesem gleichsam die Grundfrage ge-stellt:

Lukas. Bei den Alten traten die tragischen Schauer ein, wenn ein Mensch seiner Natur folgte.Bei euch Neueren hat er wohl gar keine Natur?Thomas. O doch, wenn Sie wollen. Nur: Er kann ihr dann auch nicht folgen.Lukas. Das nenne ich nicht Natur.Thomas. Und wir nennen es Natur.Karl. Das ist sehr philosophisch. [38]

Was geschieht? Thomas kehrt das tragische Modell (ein Mensch, der eine Naturhat, ihr aber folgend, ihr nicht folgen kann) gegen den Philosophen des Tragischenzurück, indem er die Situation der Tragik gleichsam enttragisiert. Das, was »beiden Alten« tragisch war, nämlich ein an seiner Natur festhaltender und an deräußeren Natur scheiternder Mensch, (die tragische >Selbstentzweiung< des Men-schen mit seiner Natur, welche nur der Tod versöhnt [Hegel] wird von Brecht sel-ber für >Natur<-Zustand gehalten. Von Lukas wird also verlangt, eine Subjekt-

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konzeption aufzugeben, die an der Idee der Naturidentität festhält. Dagegen istnicht gefordert, was Bloch dem revolutionären Materialisten< abverlangte: Daßer, wo er beim >Verwirklichen< einer Idee >nicht anwesend< zu sein gewiß sei, jenehöhere Naturidentität, jenes »hypothetische« Natursubjekt affirmieren solle, alsHoffnung in der Tragik.

»Sehr philosophisch« erscheinen diese letzten Sätze aus eben diesem Grund derZurückwendung des tragischen Modells auf seine philosophischen Konstruk-teure. Hier wird denn auch gar nicht »philosophisch« argumentiert, sondern dasaus anderem Blickwinkel, von anderem I errain aus fixierte tragische Modell ge-gen das Licht seiner Philosophie gehalten, das es verdunkelt. [39] Das hat nichts,wie mehrfach betont wird, mit Liquidation der tragischen Konstellationen, des»tragischen Schauers« etc. zu tun. Vielmehr komme es nur darauf an, sie in eineDarstellung zu bringen, »welche die Historizität und Praktikabilität der gesell-schaftlichen Grundlage berücksichtigt«. [40] Darin liegt die Verschiebung, dieBrecht am Tragischen vollzieht: Im Tragischen ist nicht je schon das »Subjekt derGesellschaft« oder »Geschichte« darstellbar, sondern eine spezifische Konstella-tion unter spezifischen, veränderbaren Bedingungen. Einzig in dieser Weise sind,Brecht zufolge, auch die anderen traditierten Theaterformen und dramatischenKonstellationen nur darstellbar. Jedoch beim Tragischen trifft diese »Spielweise«in dessen philosophisches Selbstverständnis hinein, insofern sich die Konzeptiongesellschaftlicher und historischer Subjektivität der >verfremdenden< Spielweisean derjenigen bricht, welche die Philosophie der Tragik impliziert. In ihr ist einApriori des historischen Subjekts gesetzt, das selbst an sich scheiternd noch —apriorisch — auf sich Hoffnung machen kann. Brecht indessen geht darauf aus,die Historizität des Subjekts allererst durch Variation und den variierenden Ein-griff in den gesellschaftlichen Zusammenhang, der es umgibt, in ihren Strukturbe-dingungen zu zeigen. Dies macht Hoffnung, jedoch nur, indem die Kategorienund Begriffe der Hoffnung, welche Lukács und die Klassische Philosophie deshistorischen Subjekts machten, radikal der Kritik unterzogen werden.

Marx ist soweit nicht gegangen, denn sein Verständnis der 48er Niederlage alseiner tragischen verschweigt diese weiteren Konsequenzen durch eine nur meta-phorische und metonymische Artikulation. Seine Revolutionstheorie bleibt un-ausgesprochen einem Begriff eines historischen Subjekts verhaftet, der immerauch, wie es Bloch zumal und auch Marx selbst im metaphorischen Diskurs alsden des bürgerlich-heroischen Geschichtssubjekts beschrieben, Momente desNaturgeschichtlichen enthält. Naturgeschichtlich soll das jetzt nur in seiner Tra-gik präsente revolutionäre Subjekt sich bilden, auf dem Wege, welche die naturge-schichtlich-transitorische Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise be-schreibt. Doch tatsächlich ist es in seiner Tragik nur repräsentiert, undmetaphorisch verschwiegen bleibt, wonach Brecht erstmals zu fragen begann,nämlich unter welchen Bedingungen das revolutionäre, d. h. verändernde Subjektin der tragischen Handlungsstruktur repräsentierbar ist.

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Marx fragt von Beginn an nach den Möglichkeiten der historischen Präsenz desrevolutionären Proletariats. Die Metapher des Dramas ist der Ort, an welchemder Marxsche Diskurs darauf Antwort gibt. Eine Antwort, die, wie die —unmeta-phorischen-Diskurse Blochs und Brechts zeigen, darin, daß sie metaphorisch ge-geben wird, nicht wenig signifikant ist. Es ist die Signifikanz eines verschwiegenen,weil ungelösten Problems; eben jene »unbestimmte Ungeheuerlichkeit« derZwecke und auch der Präsenz des proletarischen Subjekts, welche Marx an demOrt zugab, der ungefährlich für ihn blieb, weil dort nur die Dramametaphern sichan sich selbst brachen und sich durch sich selbst kritisierten.

Der Ort der Verwendung der Dramametaphern ist demnach kein zufälliger.Dies zeigt deutlich die Rede von der Tragik im Sicfcingenbrief Marxens an Las-salle. Dort ist sie sie - metonymisch - an den Kontext gebunden, den Marx' ge-schichts- und revolutionstheoretisches Verständnis der 48er Revolution be-schrieb. Unabhängig von diesem Kontext spricht Marx keiner historischenKonstellation, die Thema des Briefes ist, eine Tragik zu. Doch gerade um eine»Tragik überhaupt« und um ein wirkliches Bühnenstück, Lassalles Tragödie,wäre der Brief, verstände man ihn bloß als >Antwortbrief<, zentriert. Doch Marxkritisiert nur das »Thema«, nicht die »Tragik« des Franz von Sickingen auf sei-nem geschichtstheoretischen Boden. Daß dabei die Probleme ästhetischer Theo-rie, wie das der dramatischen Stilisierungs von dem immerhin der halbe BriefEngels' handelt,* ausgespart bleiben, wird erklärlich, wenn die Problematik derZusammenhanglosigkeit des Marxschen Diskurses über Ästhetik so aufgefaßtwird, daß sie aus seiner metaphorischen Lokalisierung im Kontext der MarxschenGeschichtstheorie rührt.

In ihm können die Termini des Dramas gleichsam nur wie »von selbst« fungie-ren- ebenso beredt wie stumm; Marx, durch Lassalle oder besser dessen mißlun-gene Tragödie gezwungen zu reden, gibt dies zu: er kritisiert den Sickingen als»Repräsentanten« einer >untergehenden Klasse<, als nur >eingebildeten< Revolu-tionär. Revolutionär in den Bauernkriegen waren die »plebejisch-münzerscheOpposition«, die revolutionären Elemente auf dem Land und in den Städten; siegestaltend, schreibt Marx an Lassalle, »hättest [du] von selbst mehr shakespeari-sieren müssen«. [41] Im gleichen Maße »von selbst« erscheint auch die Niederlageder revolutionären Partei als »Tragik«. Wie wenig »von selbst« aber sie es tat-sächlich war, war zu zeigen.

* Auf die Differenz zwischen Marx' und Engels' Briefen, welche hervorgehoben wurde,kann hier in Richtung der Position Engels' nicht weiter eingegangen werden. Es ist nichtdas erste Mal, daß auf manifeste Differenzen zwischen beiden hingewiesen wurde. Vgl.hierzu: L. Althusser, Das Kapital lesen, a .a.O., I, S. 150ff; J. Ranciere, Der Begriffder Kritik [...], a. a. O., S. 88 ff; auch wurden schon auf der Ebene der Metaphorik in unse-rem Zusammenhang Differenzen markiert, denen nicht nachgegangen werden konnte. Ins-gesamt ist bekannt, daß Engels sich über Fragen der Literatur und Kunst, wenn auch nichtsehr zusammenhängend, so doch wesentlich präziser ausgesprochen hat; vgl. den Brief überRealismus an Miss Harkness etc. — Wir haben Engels nur herangezogen, wenn er eine Marx-sche Argumentation verdeutlichen oder kontrastieren konnte.

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IV. Zur Rezeptionsgeschichte der »Sickingen-Debatte«

11. Das »Naiveste« als »Reinstes« - Wo Marx schwieg, spricht Lukdcs»Als ich durch erneute Marxstudien — vor allem der >ökonomisch-philosophischen Manu-skripte< - über die fehlerhaften Momente von »Geschichte und Klassenbewußtsein Klarheitgewann, (wandte sich) mein theoretisches Interesse... wieder ästhetischen Problemen zu . . .Es war davon auszugehen, daß Marx von seiner philosophisch-historischen Gesamtkonzep-tion aus auch in diesem Bereich methodologisch Selbständiges herausarbeiten konnte undmußte. In Zusammenarbeit mit M. Lifschitz bildeten sich um 1930 diese Anschauungen beimir aus. Meine erste Studie auf diesem Gebiet ist die über die Sickingendebatte zwischenMarx-Engels und Lassalle.« [la]

Als Georg Lukács 1931 nach Berlin übersiedelte, um nach seiner Tätigkeit im»Marx-Engels-Lenin-Institut« in Moskau diejenige des Leiters der kommunisti-schen Fraktion im »Schutzverband Deutscher Schriftsteller« (SDS) aufzunehmen,brachte er das Manuskript seines Aufsatzes über die Sickingendebatte (»Die Sik-kingendebatte zwischen Marx—Engels und Lassalle«) mit. Lukács' Berliner Akti-vitäten waren nicht auf die im SDS beschränkt. Er wurde Mitglied im »Bund Pro-letarisch-Revolutionärer Schriftsteller« (BPRS) und avancierte zum führendenTheoretiker der »Linkskurve«, dem Organ des Bundes. Helga Gallas hat in ihrerArbeit über den »BPRS« und die »Linkskurve« die Bedeutung von Lukács' Einflußhervorgehoben. Lukács' Definition der »Parteilichkeit« der Literatur, die als seinerster programmatischer Beitrag in der »Linkskurve«, Juni 1932, erschien (dieBehauptung enthaltend, daß nur die »realistische Darstellungsweise derGesamtepoche und ihrer >treibenden Kräfte<« dem Anspruch proletarischer Lite-ratur gerecht werde, »eine Methode, die Lukács [...] beispielhaft im Roman des19. Jahrhunderts vertreten sieht« [1 b]) zielte auf die Abwehr der »offenen For-men« , d. h. derjenigen literarischen Techniken, die wie Montage, Reportage, Ver-fremdungseffekte etc. von Brecht, Tretjakow, Ottwalt u. a. ausgebildet und ange-wandt worden waren. Es kündigte sich schon in der Kontroverse mit Ottwalt unddessen Roman Denn sie wissen was sie tun [2] thematisch bei Lukács jene andere,größere Kontroverse an, die zum Thema »Expressionismus - Realismus« seit 1936im Exil geführt wurde. [3]

Eine weitere Aktivität der »Linkskurve«, die wohl mit Lukács in Zusammen-hang gebracht werden kann, ist die Veröffentlichung der »Klassiker«-Texte überI iteratur. Der berühmte Brief F. Engels' an M. Harkness über den Realismus imMärz 1932 und das ebenfalls 1932 erschienene Goethe-Sonderheft, das den(ioethe-Aufsatz Engels' aus dem Jahre 1847 enthielt, geben davon Zeugnis. [4]Wenngleich nicht mehr in der »Linkskurve« veröffentlicht (sie stellte mit demNovemberheft 1932 ihr Erscheinen ein), muß der Sickingen-Aufsatz Lukács' indieser Reihe der Edition und Rekonstruktion der »Literaturtheorie« der »Klassi-ker« des Marxismus gesellen werden.

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Fortsetzung fand dies Bemühen in der Exilzeitschrift »Internationale Litera-tur«. Dort erschien Lukács' Aufsatz 1933 neben gleichartigen, ebenfalls auf die»Marx-Engels-Forschung« bezogenen Arbeiten von Lifschitz und F. Schiller(Herwegh und Marx, Heine und Marx, Marx und die Realisten des 19. Jahrhun-derts, Karl Marx und die Ästhetik). [5]

Zum einen also ist der Sickingenaufsatz Lukács' als Versuch anzusehen, dieüber ein halbes Jahrhundert verschollenen Briefe wieder bekanntzumachen. Zumanderen aber folgt diese Rekonstruktion der >Anschauungen der Klassiken einerdezidierten Strategie, die, früh in der »Linkskurve« sich ankündigend, Lukács'Interpretation der Sickingenbriefe wesentlich bestimmt.

Auf unmittelbar philologischer Ebene schon macht diese Strategie sich geltend.Lukács spricht durchweg die Positionen, die Marx und Engels gegenüber Lassalleeinnahmen und deren Unterschied zu sehen war, als gleiche an. Folgt man Lukács,so hätten Marx und Engels in ihren Sickingen-Briefen die Theorie der »Tragödiedes zu früh gekommenen Revolutionärs« [6] entwickelt. Diese Tragödie sei, soLukács, nach der Marx-Engelschen Auffassung die Tragödie des historischenUntergangs Thomas Münzers. Schon in Engels' Sickingen-Brief steht, wie zu sehenwar, von Münzer oder einer Münzerschen Tragik kein Wort. Statt dessen arbei-tete Engels, Lassalles historische Tragödie erstlich als Tragödie, als Problem dra-matischer Stilisierung ete. ernstnehmend, die »wirkliche Tragik« Sickingens her-aus. Will Lukács also behaupten, auch Engels (wie es Marx unternahm) halteLassalle Münzer, mehr noch »die Tragik Münzers« [7] entgegen, so muß er ausanderen Quellen schöpfen. Diese andere Quelle ist ein langes Zitat aus Engels'Schrift über den »Deutschen Bauernkrieg« von 1850. Engels sagt dort:

Es ist das Schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei widerfahren kann, wenn ergezwungen wird, in einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung nochnicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er vertritt. [...] Er findet sich so notwendiger-weise in einem unlösbaren Dilemma: Was er tun kann, widerspricht seinem ganzen bisheri-gen Auftreten, seinen Prinzipien und den unmittelbaren Interessen seiner Partei; und waser tun soll, ist nicht durchzuführen. Er ist, mit einem Wort, gezwungen, nicht seine Partei,seine Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herrschaft die Bewegung gerade reifist [...] Wer in diese schiefe Stellung gerät, ist unrettbar verloren. [8]

Und Lukács fahrt unmittelbar nach dem Zitat fort: »Die Tragik Münzers ist alsohistorisch.« [9] Engels aber sagt im folgenden Satz:

In der neuesten Zeit noch haben wir Beispiele davon erlebt, wir erinnern nur an die Stellung,die in der letzten französischen provisorischen Regierung die Vertreter des Proletariats ein-nahmen, obwohl sie selbst nur eine sehr untergeordnete Entwicklungsstufe des Proletariatsrepräsentierten.

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Gemeint sind Louis Blanc und der Arbeiter Albert, die als Repräsentanten desProletariats in die nach der Februarrevolution provisorisch gebildete Regierungeintraten. Im Grunde spricht Engels hier nur jene objektive Notwendigkeit dersich aus den Bewegungscharakteren der48er Revolution ergebenden »Doppelstra-tegie« aus, die wir im 1. Teil untersuchten. Daran war immanent ein dramatischesEntwicklungsmodell spürbar, jedoch erscheint nunmehr, Mitte des Jahres 1850,die Doppelstrategie als »schiefe Stellung«, aus der keine Rettung möglich sei. Die»Stellung Münzers« aber, fährt Engels weiter fort, »war noch viel gewagter alsdie irgendeines modernen revolutionären Regenten«. Münzer stand, wie manweiß, an der Spitze »des ewigen Rats zu Mühlhausen«, von wo aus er jene unge-heuer weit vorgreifenden, eigentümlich egalitaristischen Programmatiken ver-kündigte. Aber »nicht nur die damalige Bewegung, auch sein ganzes Jahrhundertwar nicht reif für die Durchführung der Ideen, die er selbst erst dunkel zu ahnenbegonnen hatte«. Also ist Münzer nicht einmal Louis Blanc oder irgendwemgleichzusetzen, der in der Stellung »revolutionärer Regentschaft das nicht tunkonnte, was seine Prinzipien waren und was er wollte.« Im Gegenteil: Münzertat's und mußte dennoch scheitern.

So verwirrend die Konkretionsebene der Lektüre hier auch erscheinen mag: wirmüssen uns zunächst auf sie einlassen, um die Haltlosigkeit von Lukacs' Lektürezu demonstrieren. Lukacs zitiert diejenige Konstellation des Scheiterns, die aus der»schiefen Stellung«, d. h. aus dem historischen Unvermögen der Artikulation ex-plizit revolutionärer Ziele resultiert. Daran anschließend schreibt er von einer»Tragik Münzers«, obwohl Engels selbst die Konstellation des Scheiterns Mün-/ers anders, nämlich aus der historischen Unmöglichkeit der Realisierung revolu-lionärer Ziele begründet hatte. Beide Konstellationen sprechen zwar von »einemnotwendigen Untergang« - aber Engels spricht keiner eine »Tragik« zu.

Lukacs greift also auf diese Engels-Stelle zurück, weil in ihr thematisiert ist, wasEngels' Sickingen-Brief nicht enthielt: die Konstellation des notwendig histori-schen Untergangs des Revolutionärs. Ob Sickingen ein Revolutionär war, bliebbei Engels eine offene Frage. Lukacs aber folgt hierin Marx und hält Sickingenebenfalls für »eingebildet«:

Die Tragödie liegt nach Marx darin, daß >Sickingen und Hütten untergehen, weil sie in ihrerEinbildung Revolutionäre waren<. [10]

Darüber, wie eine Art >Tragödie des Eingebildeten<, die irgend Anspruch darauflegt, eine historische zu sein, noch denkbar ist, schweigt Lukacs, der sonst aufHegelsche Tradition Wert legt, sich aus. Er geht noch weiter. Den eingebildetenRevolutionär, bzw. seine Tragik identifiziert er sodann mit der Tragik des Reak-tionärs: l.ukács bezieht sich auf die Stelle in der Einleitung von 1844, die denUntergang des » Ancien Regimes« einen tragischen nannte, einen »weltgeschicht-

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lichen Irrtum«. [11] Formell gesprochen wäre es die Tragik dessen, der im revolu-tionären Kampf an dem Bestehenden festhält, und darin sowohl irrt wie unter-geht. Lukács schließlich identifiziert nunmehr dieses tragische Modell mit dem»Hegeischen Typus der Tragödie«. Marx und Engels, so Lukács, hätten diesenTypus »als eine Form der Tragödie angenommen [...] Daneben steht aber für siedie Tragödie des zu früh gekommenen Revolutionärs«. [12] Die Theorie ist alszweifache somit komplett. Sickingen sei ein »Thema des ersten Typs der Tragö-die«, der »Held einer untergehenden Klasse«, den Lassalle allerdings »nicht alsuntergehenden« schildere. Das hieße demnach, Marx und Engels hätten dieTheorie der Tragödie des Sickingen schon jenseits der Lassalles entwickelt undSickingen als tragischen Held einer untergehenden Klasse angesehen. Genau aberdas taten weder Marx noch Engels.1. Marx hat den »Sickingen« abgelehnt, weil seine Stilisierung zum Revolutionärverwischt, daß er »Repräsentant« einer untergehenden Klasse war und seine re-volutionäre Phrase daher Einbildung. Die Konstellation mit der des kämpfenden»Ancien Regime« in Analogie zu setzen, wie es Lukács tut, geben weder Marx,Engels noch die historische Situation, soweit sie von beiden dargestellt wurde, ir-gend Grund. Zur Tragik, welche aus einem welthistorischen Irrtum resultierte,fehlt dem historischen (wie dem Lassalleschen) Sickingen der revolutionäre Geg-ner, der gegen ihn kämpfen würde. (Eine Tragik des »Ancien Regime« mit »demHegelschen Typus der Tragödie« in eins zu setzen, folgt bei Lukács einer ebensogewagten Lektüre Hegels. Zu vermuten steht, daß Lukács sich auf die mehrfacheAntigone-Rezeption Hegels bezieht. Schon aber die Phänomenologie nimmt Par-tei für Kreon, für die Mächte des Bestehenden und des Gesetzes gegenüber denender Natur und Liebe. In der Ästhetik ist es, wie zu sehen war, die philosophischeParteinahme« fürs Bestehende, die bei Hegel die Tragödie [wie jede dramatischeDarstellungsform] von innen heraus in den nur außerästhetisch und logisch dar-stellbaren »prosaischen Weltzustand« auflöste. Doch Lukács produziert dieAbsurdität eines Hegeischen Tragödientypus, um auch auf ästhetischer Ebeneaugenfällig machen zu können, daß »Marx auch in dieser Frage Hegel auf dieFüße gestellt hat«. [13])

2. Die »Tragödie des zu früh gekommenen Revolutionärs« kann sich gleichfallsauf keinen expliziten Gedanken Marx' oder Engels' stützen. Das einzige Mal, woin Marx' Brief von »Tragik« die Rede war, wurde »Tragik« metonymisch ver-wandt, überdies in Separation von dramaturgischen und ästhetischen Fragen undnicht in bezug auf die historische Konstellation von Münzers Untergang. Statt daßLukács diese Getrenntheit und das Problem der Verwendung des Terminus »Tra-gik« für die Beschreibung einer historischen Konstellation überhaupt wahrnimmt,konstruiert er aus Engels' Analyse der Bauernkriege die »Tragik Münzers «. Dieseaber wäre, selbst wenn Engels von ihr gesprochen hätte, ein gleichermaßen met-onymischer Ausdruck wie der Marxsche, der von der Tragik der revolutionärenPartei 1848 sprach.

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Lukács selbst projiziert diesen Ausdruck der »Tragik Münzers« in seine um-greifende Theorie der zwei Tragödientheorien Marx' und Engels'; die Metonymieder Tragik wird ins System der »künstlerischen Widerspiegelung« verschoben:

Die Tragödie erscheint als dichterischer Ausdruck bestimmter Stufen des Klassenkampfes,und zwar sowohl bei der absteigenden als auch bei der revolutionären Klasse. Und der zweiteTypus des Tragischen hebt auch die Hegeische Charakteristik der Gegenwart als mnpoe-tisch< auf [...] durch einen revolutionären Realismus, der die inneren Widersprüche derkapitalistischen Entwicklung mit schonungsloser Offenheit, mit unerschrocken-zynischeroder revolutionär-kritischer Wahrheit bloßlegt. Es ist die Poesie der revolutionären Klarheitliber die Fundamente der Vorwärtsentwicklung. [14]

Lukács verallgemeinert die Metonymie und Metaphern des Tragischen im ge-schichtstheoretischen Kontext Marxens zu einem selbständigen, geschlossenenästhetischen Diskurs. Er tut damit genau das, was Marx noch im »Brumaire«nicht vermochte, wo seine Analyse der Ästhetik bürgerlicher Revolutionen gleich-sam bis an die Stelle der nicht-metaphorischen Kritik trat, die zu überschreitendie Sprengung des Kategorienapparates idealistischer Ästhetik erfordert hätte.

Die Fähigkeit der Verallgemeinerung aber, die Möglichkeit angesichts derMarxschen Theorie der Geschichte noch einen stringenten, homogenen Diskurs»marxistischer Ästhetik« zu schreiben, erwarb sich Lukács nicht aus Marx. Sierührt vielmehr aus seinen frühesten, stark von Simmel beeinflußten literaturphi-losophischen Reflexionen her. [15] Schon 1909, in 7MT Soziologie des modernenDramas, also noch in Lukács' vormarxistischen Zeit, ist der Problemzusammen-hang präsent, der auch den Sickingenaufsatz beherrscht: Das Verhältnis von dra-matischer Form und Gesellschaft/Geschichte. Im Hintergrund stand auch schondamals das Problem des Romans, des »Romanhafter-Werdens« des Lebens, wo-von Lukács' Theorie des bürgerlichen Romans des 19. Jahrhunderts wesentlichbestimmt ist, gleichwie seine dezisionistische Parteinahme für »geschlossene For-men« gegenüber den Montagetechniken und »offenen Formen«, welche die erstenproletarischen Romane (z. B. die Bredels) prägten. In dem Text von 1909 siehtLukács jene kapitalistische Tendenz zur »Versachlichung des Lebens« [16] sehrdeutlich, die schon Hegel (aus nur spekulativ-logisch vermittelter Kenntnis derbürgerlichen Strukturen) in der Zerstörung der dramatischen Form wirksam sah.Indessen wendet Lukács diese Einsicht gegen das »bürgerliche Drama« zurück.Dieses trachtete, wie Lukács bemerkte, »mittels der Fiktion des Allgemein-Menschlichen eine Verbindung herzustellen zwischen allen Menschen und — imÄsthetischen - die ewigen Symbole der alten Dichtung und die Symbolmöglich-keiten der Sagen und der Geschichte für sich zu erobern«. [17] Solcher Intentionkonnte es eben deshalb aber nie genügen, das bürgerliche Drama hatte weder eine» Kühne« noch eine »Öffentlichkeit«. Das Drama, noch mehr seine Kernfigur, dieTragödie, war in der Moderne »dem Leben gegenüber apriorisch«, während um-

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gekehrt, wie Lukács sehr genau sieht, das Drama der Antike »vom Gesichtspunktder handelnden Personen und der Stilisierung der Welt aposteriorisch« war. [18]Nicht einmal in der Bühnenwirklichkeit also konnte die »Fiktion« des bürgerli-chen Dramas, ihr Subjektbegriff, die Fiktion des Aphorismus verwirklichen. Wasaber zustande kam, war das »Buchdrama« eine »Ausdrucksmöglichkeit« desDramatischen also, die »endlich die fast ausschließliche Form der Wirkung vondramatischen Werken wird«. [19]

Es ist schon hier zu sehen, obwohl wir es im einzelnen nicht verfolgen können,woran Lukács' frühe Romantheorie ansetzt. Das »Buchdrama« hat, literaturso-ziologisch im Sinne Lukács' gesehen, die Prädisposition des Romans. Die »drama-tische Individualität« war in der bürgerlichen Gesellschaft partikularer Teil desversachlichten Lebens< und darum nicht verwirklichbarer Apriorismus der Fik-tion des Subjekts. Lukács argumentiert dialektisch: an der dramatischen Indivi-dualität festhaltend, muß die Bühnenform, die sie undarstellbar machte, aufgege-ben werden, um ihr Wirklichkeit zu geben, die Wirklichkeit des Buches, d. h. desgeschlossenen Romans des bürgerlichen 19. Jahrhunderts. Nur in ihm ist »dieverlorene utopische Heimat« des dramatischen Helden, der im Hegeischen Sinnhandlungsunfähig wurde [20], zurückzugewinnen, kraft der nur dem Romanmöglichen Darstellung der Innerlichkeit des Helden.

Der Prozeß, als welcher die innere Form des Romans begriffen wurde, ist die Wanderungdes problematischen Individuums zu sich selbst, der Weg von der trüben Befangenheit inder einfach daseienden, in sich heterogenen, für das Individuum sinnlosen Wirklichkeit zurklaren Selbsterkenntnis. [21]

Lukács reflektiert lebensphilosophisch die Krise des bürgerlichen Subjekts; seineEntdeckung des fatalen Apriorismus des Dramas aber wäre gegen ihn selbst zuwenden. Denn dessen Subjektbegriff unterliegt als ebenso fataler Apriorismus sei-ner Romantheorie (die im übrigen nach der Hochblüte des bürgerlichen Romanslebensphilosophisch und aposteriorisch zugleich dessen normative Regeln setzt).

Es kommt uns hier nur darauf an, diese philosophische Konzeption von Lukács'früher Literaturtheorie in ihrer Wirksamkeit für seine spätere marxistische Posi-tion zu zeigen. Die dialektische Stellung, welche das Drama und der dramatischeHeld in seiner frühen Romantheorie innehatten, behält sie unverwandelt auch inLukács' späterer. Im Historischen Roman aus dem Jahre 1938 heißt es:

Indem das Drama die Widerspiegelung des Lebens auf die Gestaltung einer großen Kollisionkonzentriert [...] vereinfacht und verallgemeinert es die möglichen Stellungnahmen derMenschen zu ihren Lebensproblemen. [22]

Das Drama als Konstellation so in den Kreis der »Lebenstatsachen« [23] gestellt,ist bei Lukács historisch gebunden. Gebunden ist seine Darstellungskraft an die

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>innere Dramatik< der Geschichte, es hat »die großen Konvulsionen, die tragischenZusammenbrüche einer Welt« zum Gegenstand; einen Gegenstand somit, der anden »unwiderstehlichen Gang der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung«fixiert ist. [24] Wo Lukács in seiner frühen Theorie die »Versachlichung desLebens« als »Zersetzung« der dramatischen Form [25], als Verunmöglichung der>sinnlich-unmittelbaren< Darstellung individueller >Weltsubjektivität< diagnosti-zierte, was den Roman und seine Darstellungsfähigkeit der Innerlichkeit und des»Suchens« gegenüber dem Drama favorisierte, markiert seine späte Theorie nurmarginale Unterschiede: Zwar kann auf »bestimmten Stufen des Klassenkamp-fes« (s.o.) das Drama durchaus wieder historische Situationen darstellen. Aber:»Der normalen Erscheinungsweise des Lebens«, so Lukács 1938, ist »die Darstel-lungsart des Romans [...] näher als die des Dramas« [26]:

Die großen Romane der Weltliteratur, insbesondere die des 19. Jahrhunderts, gestalten we-niger den Zusammenbruch einer Gesellschaft als ihren Auflösungsprozeß, je einen Schritt,der in die Richtung dieser Auflösung führt. [.. .] Die Ziele der Gestaltung sind vollständigerfüllt, wenn der unwiderstehliche Gang der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklungmit überzeugender Kraft dargestellt wird. Das wesentliche Ziel des Romans ist die Darstel-lung der Bewegungsrichtung der Gesellschaft. [27]

Deutlich ist, daß Lukács der Klassenkampf nicht als permanenter, sondern gleich-sam als - dramatische — Ausnahme vor Augen steht. Mehr oder minder abstraktist ihm dies auch von den meisten Kritikern aus dem Kreis der »Neuen Linken«vorgeworfen worden. [28] An diesen Kritiken ist soviel richtig, daß im Spätkapi-talismus jede Fundamentalopposition, auch theoretische, eine Permanenz desKlassenkampfes zu gewinnen hat, die nicht die »Aktualität der Revolution« [29]immer schon als gegebene unterstellt, sondern die Aktualität revolutionärer Ver-iinderbarkeit permanent zu bestätigen versucht. Diese Veränderbarkeit aller ge-sellschaftlichen Strukturen, der ökonomischen, technologischen wie kulturell-ideologischen, einerseits praktisch zu erproben und ihre Möglichkeit konkretzu reflektieren, andererseits auf die Organisation dieser Praxis und Theo-rie zu dringen, wäre dasjenige Konzept des permanenten Kampfes, in welchemdie Vorstellung des »dramatischen« Klassenkampfes nur als hinderlich, als Ret-tung einer idealistischen Konzeption des Subjekts erschiene. Für Lukács aber wa-ren, wie es seine Polemik gegen Gotsche in der »Linkskurve« beweist, die kämp-fenden Arbeiter, welche Bredels Romane gut fanden, nur Gegenstand derKontemplation, wie das Romanschreiben selbst ja nicht die Sache Lukács' war:

Wenn Arbeiterleser den Kritiker auffordern, >selbst etwas besseres zu leisten<, so müßte Gen.Gotsche sie darüber aufklären, daß dies nicht Aufgabe des Kritikers ist. [30]

Solange sich also der Kritiker nicht auf das Kritisierte selbst einläßt — eine Kritik,die sowohl Ottwalt wie Brecht gegen Lukács führten [31] - ist sein Nominalismus

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gekehrt, wie Lukács sehr genau sieht, das Drama der Antike »vorn Gesichtspunktder handelnden Personen und der Stilisierung der Welt aposteriorisch« war. [18]Nicht einmal in der Bühnenwirklichkeit also konnte die »Fiktion« des bürgerli-chen Dramas, ihr Subjektbegriff, die Fiktion des Apriorismus verwirklichen. Wasaber zustande kam, war das »Buchdrama« eine »Ausdrucksmöglichkeit« desDramatischen also, die »endlich die fast ausschließliche Form der Wirkung vondramatischen Werken wird«. [19]

Es ist schon hier zu sehen, obwohl wir es im einzelnen nicht verfolgen können,woran Lukács' frühe Romantheorie ansetzt. Das »Buchdrama« hat, literaturso-ziologisch im Sinne Lukács' gesehen, die Prädisposition des Romans. Die »drama-tische Individualität« war in der bürgerlichen Gesellschaft partikularer Teil desversachlichten Lebens< und darum nicht verwirklichbarer Apriorismus der Fik-tion des Subjekts. Lukács argumentiert dialektisch: an der dramatischen Indivi-dualität festhaltend, muß die Bühnenform, die sie undarstellbar machte, aufgege-ben werden, um ihr Wirklichkeit zu geben, die Wirklichkeit des Buches, d. h. desgeschlossenen Romans des bürgerlichen 19. Jahrhunderts. Nur in ihm ist »dieverlorene utopische Heimat« des dramatischen Helden, der im Hegeischen Sinnhandlungsunfähig wurde [20], zurückzugewinnen, kraft der nur dem Romanmöglichen Darstellung der Innerlichkeit des Helden.

Der Prozeß, als welcher die innere Form des Romans begriffen wurde, ist die Wanderungdes problematischen Individuums zu sich selbst, der Weg von der trüben Befangenheit inder einfach daseienden, in sich heterogenen, für das Individuum sinnlosen Wirklichkeit zurklaren Selbsterkenntnis. [21]

Lukács reflektiert lebensphilosophisch die Krise des bürgerlichen Subjekts; seineEntdeckung des fatalen Apriorismus des Dramas aber wäre gegen ihn selbst zuwenden. Denn dessen Subjektbegriff unterliegt als ebenso fataler Apriorismus sei-ner Romantheorie (die im übrigen nach der Hochblüte des bürgerlichen Romanslebensphilosophisch und aposteriorisch zugleich dessen normative Regeln setzt).

Es kommt uns hier nur darauf an, diese philosophische Konzeption von Lukács'früher Literaturtheorie in ihrer Wirksamkeit für seine spätere marxistische Posi-tion zu zeigen. Die dialektische Stellung, welche das Drama und der dramatischeHeld in seiner frühen Romantheorie innehatten, behält sie unverwandelt auch inLukács' späterer. Im Historischen Roman aus dem Jahre 1938 heißt es:

Indem das Drama die Widerspiegelung des Lebens auf die Gestaltung einer großen Kollisionkonzentriert [...] vereinfacht und verallgemeinert es die möglichen Stellungnahmen derMenschen zu ihren Lebensproblemen. [22]

Das Drama als Konstellation so in den Kreis der »Lebenstatsachen« [23] gestellt,ist bei Lukács historisch gebunden. Gebunden ist seine Darstellungskraft an die

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>innere Dramatik< der Geschichte, es hat »die großen Konvulsionen, die tragischenZusammenbrüche einer Welt« zum Gegenstand; einen Gegenstand somit, der anden »unwiderstehlichen Gang der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung«fixiert ist. [24] Wo Lukacs in seiner frühen Theorie die »Versachlichung desLebens« als »Zersetzung« der dramatischen Form [25], als Verunmöglichung der>sinnlich-unmittelbaren< Darstellung individueller >Weltsubjektivität< diagnosti-zierte, was den Roman und seine Darstellungsfähigkeit der Innerlichkeit und des»Suchens« gegenüber dem Drama favorisierte, markiert seine späte Theorie nurmarginale Unterschiede: Zwar kann auf »bestimmten Stufen des Klassenkamp-fes« (s.o.) das Drama durchaus wieder historische Situationen darstellen. Aber:»Der normalen Erscheinungsweise des Lebens«, so Lukács 1938, ist »die Darstel-lungsart des Romans [...] näher als die des Dramas« [26]:

Die großen Romane der Weltliteratur, insbesondere die des 19. Jahrhunderts, gestalten we-niger den Zusammenbruch einer Gesellschaft als ihren Auflösungsprozeß, je einen Schritt,der in die Richtung dieser Auflösung führt. [...] Die Ziele der Gestaltung sind vollständigerfüllt, wenn der unwiderstehliche Gang der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklungmit überzeugender Kraft dargestellt wird. Das wesentliche Ziel des Romans ist die Darstel-lung der Bewegungsrichtung der Gesellschaft. [27]

Deutlich ist, daß Lukács der Klassenkampf nicht als permanenter, sondern gleich-sam als - dramatische — Ausnahme vor Augen steht. Mehr oder minder abstraktist ihm dies auch von den meisten Kritikern aus dem Kreis der »Neuen Linken«vorgeworfen worden. [28] An diesen Kritiken ist soviel richtig, daß im Spätkapi-talismus jede Fundamentalopposition, auch theoretische, eine Permanenz desKlassenkampfes zu gewinnen hat, die nicht die »Aktualität der Revolution« [29]immer schon als gegebene unterstellt, sondern die Aktualität revolutionärer Ver-änderbarkeit permanent zu bestätigen versucht. Diese Veränderbarkeit aller ge-sellschaftlichen Strukturen, der ökonomischen, technologischen wie kulturell-ideologischen, einerseits praktisch zu erproben und ihre Möglichkeit konkretzu reflektieren, andererseits auf die Organisation dieser Praxis und Theo-rie zu dringen, wäre dasjenige Konzept des permanenten Kampfes, in welchemdie Vorstellung des »dramatischen« Klassenkampfes nur als hinderlich, als Ret-tung einer idealistischen Konzeption des Subjekts erschiene. Für Lukács aber wa-ren, wie es seine Polemik gegen Gotsche in der »Linkskurve« beweist, die kämp-tenden Arbeiter, welche Bredels Romane gut fanden, nur Gegenstand derKontemplation, wie das Romanschreiben selbst ja nicht die Sache Lukacs' war:

Wenn Arbeiterleser den Kritiker auffordern, >selbst etwas besseres zu leisten<, so müßte Gen.(lutsche sie darüber aufklären, daß dies nicht Aufgabe des Kritikers ist. [30]

Solange sich also der Kritiker nicht auf das Kritisierte selbst einläßt — eine Kritik,die sowohl Ottwalt wie Brecht gegen Lukács führten [31] ist sein Nominalismus

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gegen jeden Widerstand des Nominatum sowohl gefeit wie auch unfähig, seinemGegenstand selbst eine Veränderung zuzutrauen, deren Nominativ er nicht jeschon kennt. Wer den Klassenkampf ein Drama nennt, schaut zu.

Die Steigerung des stetigen gesellschaftlichen »Auflösungsprozesses« in »großeKonvulsionen«, welche der Klassenkampf vollbringe, entspricht bei Lukács dieSteigerung der literarischen Formen, vom Roman zum Drama. Die literarischenFormen selbst sind »dichterischer Ausdruck« oder »Darstellung« dieses objekti-ven Geschichtsprozesses, seine »künstlerische Widerspiegelung«. Begründen in-des kann sich die Widerspiegelungsthese nur tautologisch und weltanschaulichzugleich: Sie sieht im Gespiegelten immer schon das Spiegelbild, wie sich Lukács'Theorie der »Lebenstatsachen«, d. h. die Geltung mehr dramatischer oder mehrepischer Konstellationen, denn auch nur zurückspiegelt in seiner Geschichtsauf-fassung, die der Geschichte selbst >innere Dramatik« oder unwiderstehliche Ent-wicklung« zuwies.

Oskar Negt hat den legitimationswissenschaftlichen Charakter der Widerspie-gelungstheorie analysiert und die Geburtsstätte dieser Theorie somit angebenkönnen. Die Industrialisierungszwänge der nachrevolutionären NEP-Periode inder Sowjetunion waren anders als durch die absolute Disziplinierung der revolu-tionären Massen (etwa im Fall der Proletkultbewegung [32]) und ihre Unterord-nung unter ökonomische Gesetzmäßigkeit« nicht zu bewältigen. Genau dort lagder Geburtsort der Widerspiegelungstheorie, welche den bewußten Eingriff revo-lutionärer Massenorganismen in einen naturgeschichtlichen Zusammenhangökonomischer Entwicklungsgesetze umdefinieren mußte. [33] Unter diesenZwang gestellt, die ungeheure ökonomische und technologische Entwicklungallererst zu leisten, die Elektrifizierung, die Technologie der agrarischen Produk-tion und der Schwerindustrie zu entwickeln, erhielt Lenins folgender Satz weitrei-chende Bedeutung:

Aus der Tatsache, daß ihr lebt und wirtschaftet, Kinder gebärt und Produkte erzeugt, sieaustauscht, entsteht eine objektiv notwendige Kette von Ereignissen, eine Entwicklungs-kette, die von eurem gesellschaftlichen Bewußtsein unabhängig ist, die von diesem niemalsrestlos erfaßt wird. Die höchste Aufgabe der Menschheit ist es, diese objektive Logik derwirtschaftlichen Evolution (der Evolution des gesellschaftlichen Seins) in den allgemeinenGrundzügen zu erfassen, um derselben ihr gesellschaftliches Bewußtsein und das der fortge-schrittenen Klassen aller kapitalistischen Länder so deutlich, so klar, so kritisch als möglichanzupassen. [34]

Soviel es sich also bei der Widerspiegelungstheorie um die Ideologie einer be-stimmten Phase des sozialistischen Aufbaus« handelt, so folgenschwer ist ihrephilosophische Übernahme bei Lukács (und der sowjetmarxistischen Theorien-tradition bis heute); ihm geht es bei »künstlerischer Widerspiegelung« um das»Nacherleben« [35] gesellschaftlich-objektiver Zusammenhänge, Entwicklungenund konvulsivischer Klassenaktionen. [36] Derjenige also, der in der gesellschaft-

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lichen »Entwicklungskette« (Lenin) steht, die unmittelbar, wie schon Hegel fand,für ihn undurchdringlich ist, muß, um - künstlerisch - zu ihrer Wahrnehmung be-fähigt zu werden, sich in der gestalteten Objektivität »nacherleben«. Der Schrift-steller hat also die erste Unmittelbarkeit des erscheinenden Lebens »aufzuheben«,und zu einer »neuen Unmittelbarkeit« zurückzuführen.

Es entsteht durch diese doppelte Arbeit eine neue, gestaltet vermittelte Unmittelbarkeit, einegestaltete Oberfläche des Lebens, die, obwohl sie in jedem Moment das Wesen klar durch-scheinen läßt (was in der Unmittelbarkeit des Lebens selbst nicht der Fall ist), doch alsUnmittelbarkeit, als Oberfläche des Lebens erscheint. [37]

Kunst und Literatur müssen sich also, um ihrer selbst (und Lukács') willen, jenseitsder Unmittelbarkeit stellen, welche die bestehende Gesellschaft beherrscht. Überdiese Forderung, die erneut einen Bereich autonomer Kunst restituiert, war sichLukács in seiner Kulturfunktionärstätigkeit völlig im klaren. Seit der zitiertenPolemik gegen Gotsche, die überhaupt den Beginn seiner literaturpolitischenTätigkeit markiert, spürte er immer wieder solche literarischen und künstlerischenVersuche auf, die sich als Element des Klassenkampfes selbst verstanden. Siekonnten den Klassenkampf nicht je schon »nacherleben« lassen, sondern mußten,um ihn allererst zu befördern, anderen, »offeneren« schnell verwandelbaren Cha-rakter tragen. Lukács griff diese andere, technisch und politisch different reflek-lierte Position früh in geradezu liquidatorischer Vehemenz an: Ottwalts Repor-tage-Roman, die Faktographie Tretjakows, Brechts Verfremdungstechnik,l'.hrcnburg, Arvatov u. a. verfielen seinem Verdikt, ebenso die Plakat- und Foto-montagen Heartfields, denen er nicht mehr als die Kraft eines »guten Witzes« zu-schrieb. [38]

In der Theorie des »Nacherlebens« ist Lukács' eigene so gut wie die Theorieder »künstlerischen Widerspiegelung« auf den Begriff gebracht. Bei Lukács hatdas »Nacherleben«, das dichterische Gestalten der vermittelten Unmittelbarkeitsseine Herkunft aus der frühen Romantheorie. Dort entspricht ihm die Formel der»zweiten Naivität«, welche dem Romandichter, der der Zerrissenheit der Weltwegen »reflektieren muß«, eignen solle. Der Dichter schaffe so »das freischwe-bendc Gleichgewicht von einander aufhebenden Reflexionen« [39], ein Ausdruck,der auch den genannten Gestaltungsweg des »Nacherlebens« (Unmittelbarkeit —Abstraktion von Unmittelbarkeit —Aufhebung der Abstraktion = neue Unmittel-karkeit) beschreiben könnte. Nur erst diese »zweite Naivität« aber ermöglicht je-nen »Wanderungsprozeß des problematischen Individuums zu sich selbst«, die(Gestaltung der »sinnlosen Wirklichkeit« zu einer, in der es sich »selbst erkennt«.So wie also in der frühen Romantheorie des Individuums nur als >epopöetisch< ge-staltetes wirklich ist, so liegt in der späteren auch erst im künstlerischen »Nacher-leben« das eigentliche Leben des Klassenindividuums. Wer nicht Gorkis Mutterlas, weiß nichts vom Klassenkampf.

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Lukács' Konzeptionen reflektieren nicht Kunst als Terrain, Mittel oder »Tech-nik« im Dienste des Klassenkampfs, sondern verstehen den Klassenkampf selbstals Kunst. Sein »sinnliches Scheinen« (Hegel) mache ihn erst wahr. Aber in derTheorie des »Nacherlebens« steckt eben derselbe Apriorismus, den eine der frü-hesten Arbeiten Lukács' gegen das bürgerliche Drama einwandte. Dort lag dasApriori des Dramas vor seiner Wirklichkeit, ihm fehlte die Bühne und die entspre-chende Öffentlichkeit; es wich aus ins Buch. Gleiches geschah Lukács: KeinDrama und kein Roman konnte seine normative Poetik verwirklichen.

Lukács' Theorie des historischen Dramas, eingebunden in dies Konzept des»Nacherlebens« klassenkämpferischer Konvulsionen, muß, was hier nur ange-deutet werden sollte, von ihren eigenen Voraussetzungen her kritisiert werden.Indes aber präsentiert sie sich im Sickingenaufsatz als Lektüre Marxens und alsMarxsche Theorie. Wie wenig schon auf rein philologischer Ebene die Sickingen-briefe dafür hergaben und wie sehr Lukács zu Zitatmontagen greifen mußte, umwenigstens das zu sagen, was er sagen wollte — dies wurde schon deutlich. Dieentscheidende Problematik der Briefe, vor allem die Marxschen, aber überhauptwahrzunehmen, ist Lukács durch seine eigenen Voraussetzungen verstellt. DaßMarx mit spezifischer Prägnanz von historischen Konstellationen als »tragisch«,»Farce«, »Drama« etc, spricht, muß derjenige, der die Welt immer schon nur alsSchauplatz seiner lebensphilosophischen Romanhelden wahrnahm, mit Freudenlesen. In jenen Marx-Stellen etwa auf den Ort oder die Verwendungsweise dermeist offensichtlich metaphorisch gebrauchten Termini des »Drama« zu reflek-tieren, hätte aber bedeutet, daß Lukács auch seine eigenen Voraussetzungen hättethematisieren müssen.

Wie gründlich Lukács die Marxschen Texte über-las, wird an einer Stelle mani-fest. Marx sah in den Ideen des historischen Thomas Münzer, der von Güterge-meinschaft und gleicher Arbeit für jeden predigte, die »modernsten Ideen in ihrernaivesten Form«. Was sieht Lukács, der die Marxsche Theorie vom zu früh ge-kommenen tragischen Revolutionär konstruierte, welche Marx gleichsam exem-plarisch am Münzer entwickelt habe? Lukács liest: »die modernsten Ideen in ihrerreinsten Form« [40]. Mit dem, daß er Münzer so den modernen Kommunismusschon »rein« artikulieren ließ, hat Lukács sich sicherlich einen Stützpfeiler für dieThese der Tragik Münzers gebaut. Dennoch aber bleibt diese Lektüre selbst, gut300 Jahre Geschichte einfach überspringend, im gewissen Sinn selber naiv. * Nichtdeshalb aber war Lukács' Sickingenaufsatz entscheidend wichtig zu nehmen, son-

* Das Verlesen von »Naivesten« als »Reinsten« ist, rein philologisch gesehen, Lukácsnicht allein anzulasten. Es rührt aus einem Druck- oder Lesefehler her, den die MayerscheAusgabe des Lassalleschen Briefnachlasses im HL Band auf S. 174 enthält (Selbst neuesteAusgaben des Briefwechsels wie die von Raddatz und Knilli/Münchow, a. a. O., schleppendas Mayersche »Reinsten« mit, obwohl — signifikant für ihre Editionspraxis — Knilli/Mün-chow als Quelle ihres Abdrucks die MEW angeben (S. 82). In der MEW aber, Bd. 29 S. 592,steht unmißverständlich »Naivesten«. Im übrigen schleppen Raddatz und Knilli/Münchow

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dern eher darum, weil er - in einer Entschiedenheit, wie nach ihm kaum jemand- aus diesen Briefen die »Reinheit« der »Marxschen Ästhetik« konstruierte. Undes ist wohl am wenigsten naiv, gerade diese >Reinheit<, die widerspiegelnde Auto-nomie der Kunst und Literatur gegenüber Geschichte und Klassenkampf in Zwei-fel zu ziehen.

12. Die »dramaturgische Kybernetik« - Zur DDR-Rezeption (Schumacher, Mit-tenzwei)

Auf die Bedeutung dieser »für die marxistische Literaturtheorie entscheidendwichtigen Debatte« hat Lukács immer wieder in späteren Aufsätzen hingewiesen.[41] Nach dem Krieg wurde der Aufsatz Lukács selbst zuerst in der DDR 1948wiederveröffentlicht. Nach der sowjetischen Intervention in Ungarn 1956 undnach dem Sturz der Nagy-Regierung, der Lukács als Volksbildungsminister ange-hört hatte, wurde er der revisionistischen Abweichung bezichtigt und seine Theo-rie in der DDR öffentlich kritisiert. Damit war der Weg für eine Wiederaneignungder Theorie Brechts geebnet, der seine Position infolge des Einflusses von Lukácsin den Exildebatten nicht einmal hatte publizieren können. [42]

Zu den wichtigsten Zeugnissen dieser Wiederaneignung Brechts in der DDRzählt Ernst Schumachers Anfang der 60er Jahre veröffentlichtes Buch Drama und(Umschichte, B. Brechts >Leben des Gallilei< und andere Stücke. Schumacher be-zieht sich in der Einleitung auf die Sickingen-Debatte:

Aber wenn die Klassiker des Marxismus die Geschichte als Drama verstanden, nicht nurtils solches apostrophierten und metaphorisch umschrieben, so stellt sich das Problem ineiner neuen Sicht. So, wie der historische Materialismus die Gesetzmäßigkeiten der ge-schichtlichen Entwicklung zum ersten Mal auf eine wissenschaftlich befriedigende Weise zuerklären vermochte, gilt es seitdem, die Kategorie der dramatischen Abbildung gleichsamzu .materialisieren«. Marx und Engels haben dafür in der >Sickingen-Debatte< mit Lassallebrauchbare Definitionen entwickelt [43]

Schumacher nennt einige: die »Angemessenheit« des Zusammenhangs der dra-matisierten geschichtlichen Konstellation mit den aktuellen Klassenkämpfen;»daß die handelnden Personen des Dramas sowie ihre Vorbilder in der Geschichtesozial repräsentativ zu sein haben« und daß

noch ein paar andere Druckfehler mit, die alle aus der Mayerschen Ausgabe stammen.) DerMayersehe Druckfehler korrigiert sich aber noch an Ort und Stelle. Im letzten Brief Lassallesan Marx nämlich zitiert Lassalle die entsprechende Stelle des Marxschen Briefs richtig»Naivcsten«. Lukács hatte, wie heute noch alle Leser der Ausgabe Raddatz', beide »Lesar-ten« des Marxschen Briefes vor Augen. Wie alle nachfolgenden Kommentatoren, soweit siejene Stelle überhaupt zitieren, entscheidet sich auch Lukács für »Reinsten«. Diese marginaleÜbereinstimmung mit I.ukács ist keineswegs zufällig.

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90 Wolfgang Hagen

die die geschichtliche Bewegung vorantreibenden Kräfte, als Klassen und Massen verstan-den, selbst aktive Faktoren der dramatischen Handlung zu bilden haben. Aber es kann heutenicht mehr genügen, sich auf diese Bestimmungen zu beschränken [...] es muß [...] be-stimmt werden, wie die Elemente des Dramas, besonders des >Dramas von der Geschichte<beschaffen sein müssen, um der vorgegebenen >Dramatik der Geschichte< zu einem Aus-druck zu verhelfen, der dem modernen Zuschauer ästhetisch wie ideell etwas zu besagen hat.(ebd.)

Der Bogen wird weit geschlagen: zunächst benennt Schumacher den metaphori-schen Status des Drama-Verständnisses der Klassiker als ein >nicht nur<; in der Tatwaren es »nicht nur« Metaphern, vielmehr konnte der Ort ihres Sinnes sehr genaubestimmt werden als einer, in dem eine geschichtstheoretische Problematik zumVerstummen kam, die Problematik des historischen Subjekts und des Geschichts-begriffs, der seine historische Konstitution prädizierte. Schumacher indes ver-deckt diesen Ort, indem er selber metaphorisch redet (»Geschichte als Drama ver-standen«), um darauf das Naheliegende abzuwenden (»nicht nur [...]metaphorisch«). Das Ende des Zitats (um von der Unhaltbarkeit der aus der Sik-kingendebatte extrapolierten »Definitionen« nicht zu sprechen) gibt indes dasProblem offen zu: es müssen allererst, Schumacher zufolge, die »Elemente desDramas« bestimmt werden, welche die vorgegebene »Dramatik« in derGeschichte auszudrücken vermögen. Schumacher bringt damit nur die Rede voneiner »Dramatik der Geschichte« auf andere Weise zum Verstummen. Denn wennja problematisch geworden ist, wie sich das Vorgegebene dramatisch ausdrückenkönne, wer versteht dann, was der Ausdruck »Drama« im Vorgegebenen selbstbesagt? Klaus Kandier, der sich in seinem Buch Drama und Klassenkampf aufdiese Schumacher-Stelle bezieht, schreibt denn auch konsequent, es sei Sache des»historischen Materialismus«, herauszufinden, was es mit der »Dramatik in derGeschichte« in einem konkreten Epochenkonflikt auf sich habe. [44] Also stehtder Ausdruck »Drama«, wie wir es bei Marx gefunden haben, auch bei Schuma-cher für ein ungelöstes geschichtsmaterialistisches Problem.

An anderer Stelle aber hat Schumacher, was er unter »Dramatik derGeschichte« versteht, nicht verschwiegen. Wir haben es in der Einleitung zitiert.Das Zitat entstammte einem früheren Aufsatz Schumachers, der unter dem Titel»Geschichte und Drama« seine Auffassung systematisch entfaltet. Auch Schuma-cher gerät schnell in die Crux des Geschichtsdramas, an das Problem desGeschichtssubjekts oder der »historischen Persönlichkeit«:

Zur Grunderkenntnis des Marxismus gehört auch, daß es keinen geschichtlichen Automa-tismus gibt, sondern daß die Menschen die Geschichte machen. Das Individuum wird geradedadurch zu einer historischen Persönlichkeit, daß es die gesellschaftlichen Bedürfnisse einerEpoche erkennt [...] Ein Individuum kann sich dann zu einer historischen Persönlichkeitentfalten, wenn es von der Klasse getragen wird, die für die Produktionsverhältnisse aus-schlaggebend ist. Es kann die allgemeine Richtung nicht verändern, es kann sich aber zumVollstrecker der Veränderung machen. [45]

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Diese an Plechanow anschließende Bestimmung eines geschichtlichen Halb-»Automatismus« und der »historischen Persönlichkeit« enthüllt das Geheimnisvon Schumachers Dramatik der Geschichte. Denn wenn »die Klasse selbst als hi-storische Persönlichkeit in die Geschichte« tritt (ebd.) ist das Problem, auf hege-lianische Weise, gelöst. Über die Klasse vermittelt sind es die »großen Männer«(Plechanow), welche verändernd tätig sind, historische Subjekte, denen die Weltals durch ihre Tat machbar erscheint: die Klassenvermittlung ist wieder, wie schonder Mechanismus der minoritären Repräsentation (Engels) es war, eine HegeischeAufhebung. Insofern nun die Klassen selbst in Individuen personifizierbar sind,bedarf es nur noch der Bestimmung des Orts, sie in Aktion zu sehen. Er ist, worinSchumacher Lukács folgt, die »Revolution«:

Die Revolution enthält die dramatischen Elemente der Geschichte, in ihr [...] findet die dra-marische Kollision der miteinander im Kampf liegenden Kräfte ihre Zuspitzung und Lösung.Sie selbst ist die reale Peripetie, bestehend aus vielen einzelnen Umschlägen, von dem altenGescllschaftszustand in einen neuen (denn selbst bei einer Niederlage der Revolution ist dasErgebnis ein neuer Gesellschaftszustand), in ihr offenbart sich die reale Dialektik am deut-lichsten. Die Geschichte besitzt in sich selbst eine objektive dramatische Vollkommenheitund Schönheit. [46]

Politisch unterscheiden sich Schumacher und Lukács in nichts. Beiden ist Klassen-kampf Kunst. Die Ontologie der realen Dialektik in der Geschichte ist je schon»schön«, wie immer auch ihre »künstlerische Widerspiegelung« ihre Dramatikausdrücken kann. Denn darin unterscheiden sich offenbar Schumacher undI uk.ics: daß Lukács immer das »Schöne« des Klassenkampfs in seinem drama-tisch-konvulsivischen Ausdruck fand, während Schumacher, einen Mangel beiden Klassikern markierend (»es kann heute nicht mehr genügen«), den künstleri-schen Ausdruck selbst noch abhängig machte von der Bestimmung, »wie die Ele-mente des Dramas, besonders des >Dramas von der Geschichte< beschaffen seinmüssen«. Doch der Unterschied scheint uns von einem beträchtlichen Theorien-verfall bedingt. Ohne es wahrzunehmen, und um an beiden, Brecht und Lukács,festzuhalten, führt Schumacher eine unausgesprochene Verdoppelung des >künst-lerischcn Abbilds« ein: das »vorgegebene« Drama in der Geschichte, welchesschhon das Dramatische, Schöne etc. ihrer Konstellationen enthält, und darüber,oder dies abbildend, jene Elementenstruktur des Dramatischen. Auf diese Ele-nentarizität des Dramatischen hat einzig Brecht reflektiert. Wir wissen, daß seinenicht aristotelische Dramatik auf dem Verfremdungsprinzip basierend die Tradi-tion des Dramas zu »zersetzen« bemüht war. Darauf hat, wie anzudeuten seinwird, W. Mittenzwei abgehoben. Wo Schumacher aber den Widersinn der dop-pelten künstlerischen Abbildung konstruiert, hat er Brechts Kritik des aristoteli-schen Dramas die Spitze abgebrochen, jene Spitze eben, die hineinreicht in die re-volutionstheoretische Konzeption des Subjckts. Schumacher trennt dieelementare Reflexion auf Dramatisches von der Benennung der >Geschichte als

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Drama*. Diese Benennung muß daher vielsagend stumm bleiben: Schumacherverhüllt seine geschichtsontologische Position, in der das historische Subjekt nurausführendes Organ des geschichtlichen Seins und Werdens ist, dann (also »nichtnur«) in Metaphern, wenn er von dieser »realen Dialektik« der Historie als Dramaspricht. Die Reflexionen, welche diesen metaphorischen Diskurs sprengen wür-den, sind hermetisch abgeschlossen auf einem anderen Terrain situiert.

Mittenzwei hat, ohne Schumacher explizit zu kritisieren, an diesem Widersinnder doppelt künstlerischen Abbildung eine entscheidende Korrektur angebracht;er hat indes nur das Mißverständnis Brechts systematisiert. Anfang 1967 veröf-fentlichte er in »Sinn und Form« einen Aufsatz unter dem Titel Marxismus undRealismus. Z,ur Brecht-Lukdcs-Debatte. In diesem in mehrere Sprachen über-setzten Aufsatz rekurriert Mittenzwei auf die Exildebatte um Expressionismus,Realismus und Volkstümlichkeit, die Mitte der 30er Jahre in den Exilzeitungen»Das Wort« und »Internationale Literatur« u. a. ausgetragen wurde. Brecht hattesich in ihr öffentlich nicht zu Wort gemeldet, weil er, um sich zu artikulieren,Lukács hätte scharf kritisieren müssen, was er unterließ, um dem politischen Zielder Debatte, der Herstellung der Einheitsfront antifaschistischer Schriftsteller,nicht zu schaden. [47] Die Aufsätze und Notizen, die Brecht während der Debatteschrieb, ohne sie zu veröffentlichen, erschienen posthum. Mittenzweis Aufsatz istals erste gründliche Analyse dieser Debatte in der DDR zu lesen.

Neben der Sickingen-Debatte, die Marx und Engels Mitte des vorigen Jahrhunderts mitLassalle führten, muß sie zu den wichtigsten Dokumenten der marxistischen Ästhetik ge-zählt werden. [48]Während die Methode Lukács die Zwangsläufigkeit des gesellschaftlichen Prozesses unter-streicht und auf diese Weise wenig sozialistische Impulse ermöglicht, macht die MethodeBrechts die Veränderungsmöglichkeiten, den Eingriff auffällig [...] Die Widersprüchlichkeitzwischen Abbild und Abgebildetem dient bei Brecht dazu, das Natürliche, das Selbstver-ständliche für den Rezeptiven auffällig zu machen. >Nur so< schreibt Brecht, >konnten dieGesetze von Ursache und Wirkung zutage treten<. Damit ist zugleich der wesentliche Punktder marxistischen Abbildtheorie berührt: [...] Genaue Abbildungen der Wirklichkeit müs-sen die dialektischen Bewegungsgesetze des sozialen Getriebes, den Kausalnexus aufhellen,um so dem Menschen die Meisterung seiner Existenz zu erleichtern. [49]

Daß es Brecht je darum gegangen sei, »dialektische Bewegungsgesetze« aufzuhel-len, ist der Kern jenes Mißverständnisses, das am besten ein Brecht-Wort von der»Anwendung dialektischer Methoden« aufklärt:

In den Köpfen der Dialektiker nämlich spiegelt sich nur dieses Ding Dialektik, das die Eigen-schaft der Natur ist, wider. So in Kenntnis gesetzt von den Eigentümlichkeiten irdischerErscheinungen, sind die Dialektiker, in gewaltigem Vorsprung zu anderen Menschen, im-stand, ihre Vorkehrungen zu treffen. Die Anhänger dieser einfachen, aber begeisterndenAuffassung verfallen, wenn man sie auf die Ähnlichkeit ihrer Auffassung mit der einigerHandleser, sie könnten die in der Handfläche gelesenen bevorstehenden Ereignisse jetzt nachihrer Feststellung natürlich vereiteln, hinweist, in mürrisches und übelnehmerisches Gemur-

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mel. In Wirklichkeit ist die Dialektik eine Denkmethode oder vielmehr eine zusammenhän-gende Folge intellegibier Methoden, welche es gestattet, gewisse starre Vorstellungen aufzu-lösen und gegen herrschende Ideologien die Praxis geltend zu machen. [50]

Daß Brecht selbst zumindest seine Methode der verfremdenden Abbildung als indiesem Sinn angewandte Dialektik verstand, kann wohl deutlicher nicht gesagtwerden. Mittenzwei korrigiert also jene Verdoppelung des künstlerischen Abbildsbei Schumacher, streicht aber damit dessen Intention nur umso deutlicher heraus.Die Brechtsche Verfremdungslehre erscheint ihm nur als Mittel, die je schon fi-xierte dialektische Gesetzlichkeit des »sozialen Getriebes« auf bestmöglicheWeise abzubilden. Mittenzwei integriert Brecht instrumenteil in das Inventar sei-ner »Vorkehrungen«. Damit ist die Brechtsche Kritik des traditionellen Theaters,die nicht nur Kritik des Theaters ist, domestiziert.

In seinem Buch Gestaltung und Gestalten im modernen Drama hat Mittenzweidiese InventarisierungBrechtssystematisiert. Der »Widerspruch im Abbild« [51],widersprüchlich die Gesetze des Sozialen abbildend, ist darin als gleichsam tech-nisches Medium der Vermittlung dieser Gesetzmäßigkeiten aufgefaßt. DieseGesetzmäßigkeiten, bei Schumacher »reale Dialektik« genannt, werden bei Mit-tenzwei gerade nicht als immer schon dramatisch oder »schön« angesehen, wiees Schumacher in der Nachfolge Lukács' sah.

Wenn auch das eigentliche Wesen des Dramatischen stets an bestimmte Bereiche und Kon-stellationen der Wirklichkeit gebunden ist, so läßt sich eine ästhetische Grundform wie dasDramatische nur in den seltensten Fällen direkt aus der objektiven Wirklichkeit ableiten [...]Es bedarf einzelner Strukturelemente, wie des Theatralischen, des Gestischen und des Mimi-schen der dramatischen Eigenart von Sprache, Dialog, Fabel, Konflikt und anderer, um be-stimmte Lebenstatsachen für die Bühne geeignet zu machen. Die gegenwärtigen Theorien,die mit einem einzelnen Element, sei es nun der dramatischen Kollision, dem Zwischenakt,dem Mimischen oder dem Theatralischen - das wahre Wesen des Dramatischen zu bestim-men glauben, verfahren mehr oder weniger undialektisch. [52J

Lebenstatsachen für sich genommen sind also nicht immer schon schön, wie esLukács und Schumacher dekretierten. Schön ist, wenn die spezifische Anordnungheterogenster Strukturelemente des Dramatischen gelang. Doch insofern Mitten-zwei es an jeder erkenntniskritischen Reflexion auf diesen struktiven Abbildungs-vorgang als Erkenntnis oder eingreifendes Denken< fehlen läßt, eine hierarchischePrävalcnz der szientivischen Erkenntnis der »sozialen Getriebe«-Gesetze behaup-tet, macht er sich für die authentische Erkenntnissphäre der »widersprüchlichen«,verfremdenden Abbilder blind. Übrig bleibt eine Apparatur dramatischer Effekteund Elemente, die einzusetzen abhängt von der je schon erkannten » nicht-antago-nistischen«, >nichtentfremdeten< Grundstruktur der Lebenstatsachen [53] in dersozialistischcn Gesellschaft der DDR.

In dieser Arbeit Mittenzweis ist keine Erwähnung der Sickingendebatte mehrzu linden. Dir Wichlichkcit, die er ihr zuerkannte, bleibt bloße verbale Geste. Der

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Grund dafür ist der, daß die Metapher des Dramas, oder die Bezeichnung derGeschichte als Tragik »von selbst« jene Lukácseanische Theorie der unmittelbardramatischen Lebenstatsachen impliziert, welche Mittenzwei ablehnt. Doch seineGegenposition ist eine bloß pragmatische. »In der Konsequenz bedeuten seineForderungen an das Drama«, schreibt Mittenzwei über Lukács, »daß nur sehrwenigen Lebenstatsachen die adäquate dramatische Form abzuringen wäre«. [54]In der Tat ließ eine Geschichtsphilosophie der Lebenstatsachen bei Lukács nur dieRevolution als Drama zu. Darin war ein ontologischer Geschichtsbegriff unter-stellt, die ästhetische Kontemplation des Klassenkampfes, ein idealistischer Sub-jektbegriff geschichtlichen Handelns affirmiert, der sich politisch als Liquidationdes revolutionären, auf Heterogeneität und Veränderbarkeit hin verstandenenSubjektbegriff hervortat. Mittenzwei aber fährt in seiner Lukács-Kritik pragma-tisch fort: »In unserem Jahrhundert [haben sich] bestimmte >Lebenstatsachen<herausgebildet, die in der alten, von Lukács beschriebenen Weise nicht mehr zufassen sind.« Sie sind eben, nach Mittenzwei, nicht mehr als »von selbst« drama-tisch zu fassen; der Ort, an dem sich bei Schumacher und Lukács das »Drama«einstellte, ist bei Mittenzwei ausgelöscht. Geblieben sind höhere Abstraktionender Gesetzmäßigkeit, der nicht-antagonistischen Nicht-Entfremdung der >sozia-listischen Persönlichkeit<. Sie zu verdeutlichen, d. h. dramatisch abzubilden, hießenach Mittenzwei, die passendste dramatische Situation zu finden:

Gozzi fand 36 dramatische Situationen. Der französische Dramaturg Georges Polti hat spä-ter, gestützt auf die Aufzählung Gozzis, alle dramatischen Situationen und ihre Abarten ineiner Tabelle zusammengefaßt. Sie könnte beinahe Grundlage einer dramaturgischenKybernetik sein. [55]

Die Kalkulationen einer kybernetischen Dramaturgie sind also an die Stelle ge-rückt, wohin Marx das stumme Wort des Dramas stellte und Brecht das Terrainfür den dialektischen verändernden Eingriff in die Geschichte zu ebnen versuchte.Bei Marx ist, wie problematisch auch immer, das Subjekt des Dramas als das re-volutionäre der Geschichte verstanden; bei Brecht expliziert sich im Eingriff, wieexperimentell und unentfaltet auch immer, eine revolutionäres Subjekt; der Steu-ermann aber der »dramaturgischen Kybernetik« Mittenzweis bleibt anonym.Nicht zuletzt dieser Umstand macht die Gefahr seiner Konzeption aus.

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Einleitung

1 L. Marcuse, Marx und das Tragische, in: Der Monat 47 (1952), S. 5202 in: Probleme der Ästhetik, Neuwied und Berlin 1969, S. 2333 a.a.O., S. 4904 E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt 19672, S. 1376 f.5 E. Schumacher, Geschichte und Drama, in: Weimarer Beiträge 4/1959, S. 764f.6 A. L. Dymschitz, Zur Sickingendebatte, in: Weimarer Beiträge 4/1960, S. 764f.7 Klaus Kandier, Drama und Klassenkampf, Berlin und Weimar 1970, S. 108 F. J. Raddatz, Vorwort zu: Marxismus und Literatur, Bd. 1, Reinbek 1969, S. 189 W. I. Lenin, Prinzipielle Fragen zur Wahlkampagne, Werke Bd. 17, S. 386 ff.; hier vor

allem S. 40810 F. Mehring, Lassalles Trauerspiel »Franz von Sickingen«, 1902, in: Aufsätze zur deut-

schen Literatur von Hebbel bis Schweichel, Berlin 1961, S. 12 ff. Auf Lenin und Mehringwird hier nicht näher eingegangen, weil sie als eigentliche Rezipienten der Sickingen-Briefwechsel nicht gelten dürfen. Ihnen war lediglich der — freilich umfangreiche — Briefvon F. Lassalle bekannt, der auf den Marx- und den Engelsschen Brief antwortete, selberaber unbeantwortet blieb. So daß Lenins und Mehrings Anmerkungen nur verständlichsein können aus dem Kontext ihres eigenen theoretischen Diskurses, den zu entfaltennicht Thema dieser Arbeit ist.

11 W. Mittenzwei, Marxismus und Realismus. Zur Brecht-Lukács-Debatte, in: Das Argu-ment 46 (1968), S. 14

12 Sie findet sich im Brief an Lassalle vom 8. 10. 1860:»Laß mich diese Gelegenheit benützen, um Dir (ach, wie spät!) für deinen >Sickingen<aufs wärmste und herzlichste zu danken! Du hast mir eine große Freude mit dem Gedichtgemacht — eine um so größere, als ich offen und zu meiner Beschämung gestehen will,daß ich Dich für viel zu gescheit hielt, Poet zu sein. Der scharfe, klare Verstand und dieInspiration, die traumhafte, unbewußte, gehen selten Hand in Hand. Aber der Teufelweiß, was alles in einem steckt. Ist doch auch der Poet Freiligrath ein Bankagent gewor-den, und macht als solcher seine Sache ganz leidlich.«Freiligrath stand, wie G. Mayer berichtet, zu jener Zeit der Londoner Agentur der Gene-ral Bank of Switzerland vor. Vgl.: F. Lassalle, Nachgelassene Briefe und Schriften, hrsg.von G. Mayer, Bd. 2, Berlin 1923, S. 226

13 in: Probleme der Ästhetik, a. a. O., S. 461 ff.14 Zugängliche Wiederveröffentlichungen sind, soweit ich sehe: Meisterwerke Deutscher

Literaturkritik, hrsg. von H. Mayer, Berlin 1956, S. 579 ff. (eine hervorragend kom-mentierte, leider aber nicht textkritische, weil der Mayerschen Ausgabe folgende Aus-gabe); Marxismus und Literatur, Bd. 1, a.a.O., S. 53ff.; Frühes Deutsches Arbeiter-theater 1847-1918, hrsg. von F. Knilli und Münchow, München 1970, S. 62 ff. (dieAusgabe ist unvollständig; das Stück selbst ist in Szenennacherzählung und -ausschnit-ten abgedruckt, was allen anderen Ausgaben fehlt; enthält eine Rezension einer Auffüh-rung des Stückes von 1876); K. Marx/F. Engels, Über Kunst und Literatur, Bd. 1, Berlin1967, S. 166ff.; wir zitieren durchweg die letztgenannte Ausgabe, weil sie die einzigeAusgabe ist, die sowohl vollständig als auch textkritisch geprüft ist. (Vgl. hierzu denSchluß des II. Teils dieser Arbeit.) Nach Beendigung dieser Arbeit wurde dem Verfassereine Vorankündigung des Luchterhand-Verlages bekannt, der in seiner Reihe »Samm-lung-Luchtcrhand« im Frühjahr 1974 eine Ausgabe der Sickingen-Korrespondenz ein-schließlich des großen Teils der bisher nur in der Mayerschen Ausgabe verstreut gesam-melten Briefe ankündigt.

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Zu Teil I

1 Über Kunst und Literatur, a.a.O., (im Folgenden abgekürzt: KL 1), S. 169f.2 Ebd.3 S. 1664 S. 1845 S. 2096 S. 1707 S. 1718 S. 1729 S. 171 f.

10 S. 17211 Ebd.12 Auf Arbeiten über Lassalle aus einer Sicht zu verweisen, die gegenüber bürgerlicher, hi-

storistischer Politologie und dogmatischem Marxismus an der Theorie und Praxis der»Neuen Linken« der 60er Jahre geschult wäre, kann nicht geschehen; es gibt sie nicht.Der Höhepunkt der Edition und Diskussion um Lassalle war, wie Shlomo Na'aman mitRecht bemerkt, bereits 1925, als weder die Frühschriften noch die »Grundrisse« Mar-x' publiziert waren, überschritten (vgl. S. Na'aman, Lassalle, Hannover 1970, S. 870;wir folgen hier Na'amans Argumenten, wenn wir statt der zwölfbändigen Bernsteinaus-gabe von 1919 ff. die dreibändige von 1893 zitieren, welche in vielem der späteren Las-salle-Edition überlegen ist; vgl. a. a. O., S. 871 f.). Seit der Zeit ist die theoretische Aus-einandersetzung um revolutionäre Strategien an Marx orientiert. Zuletzt war es derAustromarxismus gewesen, der an Lassalle festhielt (vgl. hierzu exemplarisch: HansKelsen, Marx oder Lassalle — Wandlungen in der politischen Theorie des Marxismus,in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, hrsg. von C.Grünberg (abgk. »Grünberg-Archiv«), 11. Jahrgang, Leipzig 1925, S. 261 ff.). —Na'amans Biographie löst, auf den ganzen Umfang der seitherigen Lassalle-Editionenund auf die seitherige Geschichte der Marx-Publikation und -Diskussion basierend, die1904 von H. Onken verfaßte ab (H. Onken, Lassalle - Zwischen Marx und Bismarck,Stuttgart 19665). Aus der unübersehbaren Lassalle-Literatur zum Jahrhundertanfangsei noch die hochinteressante psychoanalytische Studie von Erwin Kohn, Lassalle derFührer, Leipzig—Wien-Zürich 1926, hervorgehoben.

Grundlegend für die Lassalle-Diskussion nach dem Kriege waren: H.-J. Frederici, DerPolitiker Ferdinand Lassalle. Seine Entwicklung vom revolutionären Demokraten zumkleinbürgerlichen Staatssozialisten. Diss. Karl-Marx-Universität Leipzig 1958; vgl.auch E. Colberg, Die Erlösung der Welt durch F. Lassalle, München 1969; im Übrigensei auf den dritten Band des »Archiv für Sozialgeschichte«, Hannover 1963, hingewie-sen, in dem B. Andreas die wohl bisher vollständigste Lassalle-Bibliographie vorgelegthat.

13 F. Lassalle, Reden und Schriften, hrsg. v. E. Bernstein, Berlin 1892-93, Bd. 3, S. 40714 Ebd. S. 40815 Ebd.16 Ebd.17 G. W. F. Hegel, Philosophie der Geschichte, Werke, hrsg. von E. Moldenhauer u. K.

M. Michel, Bd. 12, Frankfurt 1970, S. 3818 Lassalle, Reden und Schriften, a. a. O., Bd. 3, S. 40919 Ebd.

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20 Zur Motivation seines Dramas schreibt Lassalle u. a.: »Es ist sehr hart, nach 48 und49, wo schon so vieles Blut geflossen und so viele Taten um Rache schreien, noch theo-retisieren zu müssen.« KL 1, S. 167

21 MEW (d. I. Marx-Engels-Werke, Berlin 1962 ff.) Bd. 6, S. 25722 Vgl. MEW 6, S. 30 und 3323 MEW 6, S. 24224 S. 242 f.25 Vgl. E. Bernstein,¥. Lassalle und seine Bedeutung in der Geschichte der Sozialdemokra-

tie, in: Lassalle, Reden und Schriften, a.a.O., Bd. 1, S. 25f.26 Lassalle, Assisen-Rede, a.a.O., Bd. 1, S. 20927 Ebd. S. 28628 MEW 6, S. 257, unsere Hervorhebung29 MEW 7, S. 56530 Lassalle, Assisen-Rede, a. a. O., S. 286 f.3 I Zum Staatsbegriff bei Lassalle verweisen wir auf die hervorragende, 1925 geschriebene

Rezension Lukács' der Mayerschen Ausgabe von Lassalles Nachlaß: G. Lukdcs, Dieneue Ausgabe von Lassalles Briefen, in: »Grünberg-Archiv«, a. a. O., S. 401 ff. hier vorallem S. 414 f.

32 Lassalle, Assisen-Reden a. a. O., S. 28933 Ebd.34 Vgl. den Neunten Brief »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«35 MEW 38, S. 4036 Lassalle, Franz von Sickingen, in: Reden und Schriften, a. a. O., Bd. 3, S. 492; wir zitie-

ren im Übrigen, soweit die betreffenden Abschnitte enthalten sind, die Ausgabe Knilli/Münchow, Frühes Deutsches Arbeitertheater, a. a. O.

37 Lassalle, a. a. O., S. 49338 Ebd. S. 486; auch Knilli/Münchow, a .a.O., S. 6639 Knilli/Münchow, a. a. O., S. 7040 KL 1, S. 17341 Knilli/Münchow, a.a.O., S. 7142 Aristoteles: in KL 1, S. 17343 Vgl. Knilli/'Münchow, S. 64; dort ist eine aufschlußreiche Rezension abgedruckt, aus

der die Kürzungstechnik der wenigen Aufführungen hervorgeht: S. 88 ff.44 I.assalle, Franz von Sickingen, a.a.O., S. 598; daß durch Hutten Lassalle selbst spricht,

ist belegt in einem von Bernstein mitgeteilten Brief Lassalles an Sophie von Solutzew:»Alles, was ich Ihnen hier sagen könnte, habe ich Hütten aussprechen lassen. Auch erhat alle Verleumdungen, alle Arten von Haß, jede Feindseligkeit zu ertragen. Ich habeaus ihm den Spiegel meiner Seele gemacht, und ich konnte dies, da sein Schicksal unddas meinige einander vollständig gleich und von überraschender Ähnlichkeit sind.«( Bernstein, Lassalle und seine Bedeutung für die Sozialdemokratie, a.a.O., S. 34). Indiesem Sinn interpretieren die in Anm. 12 aufgeführten Lassalle-Biographen, ebenso wieauch Bernstein, a.a.O., das Lassallesche Drama.

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98 Wolfgang Hagen

Zu Teil II

1 Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, MEW 8, S. 52 S. 5 f.3 S. 464 S. 765 S. 466 S. 217 S. 228 S. 65 u. S. 419 S. 42

10 Vgl. S. 2311 S. 4212 Es handelt sich um die »Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850«,

die die erste rückblickende Aufarbeitung der Ereignisse der Jahre 48 und 49 leistet.Sie wurde in London verfaßt, in Deutschland illegal vertrieben und diente zur theoreti-schen Reaktualisierung der Thesen des »Manifest« von 1848. Daß es nach dem»Manifest« der nächstwichtige strategische Text auch im »Bund« war, geht aus einerBemerkung des Ausschlußprotokolls der Fraktion »Willich/Schapper« vom 15. 9.1850 hervor; vgl. MEW 8, S. 598

13 Ansprache [...], MEW 7, S. 253 f.14 »Kommunistisches Manifest«, MEW 4, S. 47015 Der Begriff »historisch« hat hier vor allem relationale Bedeutung. In ihm liegt das Pro-

blem materialistischer Empirie verborgen, das seit Lukács' »Geschichte und Klassenbe-wußtsein« (1923) in der marxistischen Theorientradition ungelöst geblieben ist (vgl.hierzu die m. E. die Theoriengeschichte um dieses Problem am besten reflektierendeDiskussion zwischen F. Cerutti, D. Claussen, H.-J. Krahl, O. Negt und A. Schmidt,Geschichte und Klassenbewußtsein heute, in: Geschichte und Klassenbewußtseinheute, Amsterdam 1971, S. 8 ff.; zum Empiriebegriff S. 28). Relational ist seine Ver-wendung hier, insofern er auf eine Differenz verweisen soll, welche bei Marx zwischendem revolutionstheoretischen Gegenstand und seiner Theorie im Spiel ist. Beim Ver-weis auf diese Differenz ist von uns nicht intendiert, eine Korrektur Marxens (oderLukács') in der Hinsicht anzubringen, ein neues theoretisches Verfahren ihrer Eineb-nung vorzuschlagen. Noch weniger soll bei einer Art »unglücklichen Bewußtseins«verweilt werden, das sich bei dem Theoretiker der Revolution einstellt, welcher die hi-storisch-adäquate Aktualität der Revolution als das Totalitätsbewußtsein des Aus-bruchs aus der verdinglichten Welt abstrakter Arbeitszeitnormen und tauschabstrakterVerkehrsformen denkt und dennoch sich vor folgende ungelöste Fragen gestellt sieht:»Die Organisation des politischen Kampfes leistet jetzt Lukács zufolge insofern eineantizipatorische Aufhebung der abstrakten Arbeit, als sie ja dieses Totalitätsbewußt-sein herstellt. Wie bildet sich jetzt im Proletariat dieses Totalitätsbewußtsein? Wie affi-ziert dieses Totalitätsbewußtsein schließlich auch die Wahrnehmungswelt des einzel-nen empirischen Proletariers?« (a. a. O., S. 31) — Für unseren Zusammenhang dient dieAufstellung der entsprechenden Frage keinem Interesse unmittelbar revolutionstheo-retischer Art. Vielmehr soll sie die Einsicht vermitteln helfen, wie bei Marx die Redevom dramatischen« Geschichtsverlauf zu verstehen ist.

16 Vorwort zur »Kritik der politischen Ökonomie« (1859), MEW 13, S. 717 Vgl. hierzu vor allem die Arbeit über das »Holzdiebstahlgesetz«, MEW 1, S. 109ff.18 »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, MEW 1, S. 391

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19 Ebd.20 MEW 4, S. 47221 S. 490; Hervorheb, von uns22 S. 47223 47524 Ebd.25 K. Korsch, Thesen zur »Krise des Marxismus« (1931), in: ders., Die materialistische

Geschichtsauffassung und andere Schriften, Frankfurt 1971, S. 169. Diese Thesen sindim Zusammenhang der Vorlesungsfolge entstanden, die der Ordinarius der Juristi-schen Fakultät Jena seit 1924 regelmäßig in Berlin abhielt. Deren Hörer waren u. a.Bert Brecht und Alfred Döblin. Zum Einfluß Korschs auf Brecht: alternative 41(1965); vgl. auch Brüggemann, Literarische Technik und Soziale Revolution, Reinbek1973, S. 117ff. und Anm. 187 auf S. 285 f.

26 Vgl. hierzu: Über materialistische Dialektik (1924), a. a. O., S. 135; Marxismus undPhilosophie (1923), Frankfurt 1966, S. 140, 166 und passim; Karl Marx, Frankfurt1967, S. 54 u. passim

27 Zum Problem des Empiriebegriffs bei Marx und seine mögliche Bestimmung vgl. Anm.15 und: H.-J. Krahl, Thesen, in: ders., Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt1971, S. 336

28 Karl Marx, a.a.O., S. 2829 »Wer aber das Wesen der Marxschen Methode nicht nach diesen Zitaten bestimmt,

sondern sich in die theoretische Praxis Marxens vertieft, der sieht sehr leicht, daß auchdieser methodische >Übergang<, wie alle Übergänge, keine bloße abstrakte Umdrehungdarstellt, sondern einen reichen konkreten Inhalt hat.« Korsch bezieht sich auf dasMarx-Zitat aus dem Nachwort zur 2. Auflage des »Kapitals«, wo Marx von der»Umstülpung« der Hegeischen Methode durch die seine spricht (Über mat. Dialektik,a. a. O., S. 134). Vgl. L. Althusser, Der Prozeß der theoretischen Praxis, in: ders. FürMarx,Frankfurt 1968,S. 124ff.; A. versucht, den Marxschen Diskurs des »Kapitals«,d. h. dessen dialektische Methode überhaupt, nach dem Schema: Grundstoff (Allge-meinheit I) - Produktionsmittel/Bearbeitung (Allgemeinheit II) - Produkt (Allgemein-heit III) zu formalisieren. Vgl. dazu Korschs Bestimmung des Begriffs der »theoreti-schen Gedankenproduktion«: »Auch beim Denken kann durch Anwendung derDenkkraft auf einen denkend zu bearbeitenden Gedankenstoff ein wirkliches >mate-riellcs< Gedankenprodukt zustandegebracht werden.« (Einleitung zu: K. Marx' Rand-glossen zum Programm der Deutschen Arbeiterpartei, Berlin-Leipzig 1922, S. 13.)Korschs und Althussers Versuche entraten in ihrer Formalität nicht der positivistischenManier, Methode und Sache zu trennen. — Althusser hat indessen einen weiteren,brauchbareren Versuch der Formulierung dieses Verhältnisses gemacht im Begriff der»symptomalen Lektüre«. Dieser Begriff bezeichnet die Weise, in der Marx die klassi-sche politische Ökonomie und deren Kategorien kritisch liest. Deren Begriffe, die sichselbst ontologisch oder anthropologisch evident verstehen, liest Marx (und stellt siedemnach dar) als in sich differenzierte, relational aufeinander verwiesene Kategorien.In ihnen gelte es Marx »rendre manifeste ce qui est latent« (Lire le capital I, Paris 1968,p. 37). Was Marx als Wirkung der Latenz entdeckt habe, ohne es selber reflektiert zuhaben, sei der »Begriff der Einwirkung einer Struktur auf ihre Elemente« (Das Kapitallesen, Reinbek 1972, Bd. 1, S. 34). Althusser bemüht sich nicht, diesen Begriff derStruktur am Darstellungsprozeß des »Kapitals« selber zu entwickeln; in seiner univer-sellen Inhaltsleere und Gültigkeit wird er so behauptet und ficht seinen eigenen theore-tischen Status nicht an.

30 Marxismus und Philosophie, a.a.O., S. 151: »Ob eine wissenschaftliche Methodeneblig ist oder nicht, kann niemals durch ein theoretisches Drumherumreden, sondern

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100 Wolfgang Hagen

immer erst durch eine sozusagen >praktische< Erprobung dieser Methode endgültigentschieden werden.« — Zur Kritik am latenten Positivismus Korschs vgl. Krahl,a.a.O., S. 136ff.; des weiteren: O. Negt: Theorie, Empirie und Klassenkampf, in:Politikon 38 (1971), S. 15 ff.; F. Cerutti: Hegel, Lukacs, Korsch. Zum dialektischenSelbstverständnis des kritischen Marxismus, in: Aktualität und Folgen der PhilosophieHegels, Frankfurt 1970, S. 195 ff.; E. Gerlach, Einleitung zu K. Korsch, Materialisti-sche Geschichtsauffassung, a. a. O., S. III f.; M. Buckmiller, Bemerkungen zu O. NegtsKorschkritik, in Politikon 39 (1972) S. 3 ff.

31 MEW 1, S. 38532 Philosophisch-ökonomische Manuskripte von 1844, MEW Ergänzungsband 1 (EB 1),

S. 57433 MEW EB 1, S. 57034 L. Altbusser/E. Balibar: Lire le capital, a. a. O., p. 60 f.; die deutsche Übersetzung im

Rowohlt-Verlag ist selten zitierbar, weil zu schlecht übersetzt.35 Von 1923 an, seit der Veröffentlichung von Lukacs' »Geschichte und Klassenbewußt-

sein« und Korschs »Marxismus und Philosophie«, datieren die Versuche, den Statusder revolutionären Theorie anhand ökonomiekritischer Begriffe: Ware, abstrakteArbeit, Geldfetisch etc. zu begreifen. In den 60er Jahren wurden sie unter ganz anderenhistorischen Umständen in Frankreich und in Anknüpfung (Wiederbelebung) an ihreTradition in Deutschland wiederaufgenommen. Für die vorliegende Interpretationsind die Arbeiten aus diesem Umkreis, nämlich die von Ranciere (z. T. Althusser), J.J. Goux und H.-J. Krahl wichtig gewesen. - Ranciere, dessen Arbeit in der zweitenAuflage von »Lire le capital«, a. a. O., eliminiert wurde, denkt den Übergang von derKritik des frühen zu der des späten Marx unter der Hypothese des Bruchs (Coupure,rupture) zwischen dem »anthropologischen«, Hegeischen Diskurs des frühen und dem»wissenschaftlichen« Diskurs des späten Marx. Die Marxsche Darstellung des »sinn-lich-übersinnlichen« Charakters der Ware (im ersten Abschnitt des »Kapital«) inter-pretiert Ranciere als Transformation:

»Die Vereinigung des Sinnlichen und des Übersinnlichen bringt hier eben dieErscheinungsform des Wertes zum Ausdruck und nicht ihre spekulative Übersetzung.Im Manuskript von 1843 (gem. ist die »Kritik des Hegeischen Staatsrechts«; W. H.)wurde diese Vereinigung als spekulative Operation dargestellt. Hegel transformiertedas Sinnliche (die Empirie), das er am Ausgangspunkt vorfand, und machte daraus eineübersinnliche Abstraktion, die er dann in einer sinnlichen Existenz verkörperte, welchedieser Abstraktion als Körper diente. Das soll heißen, daß die Figur, die in der anthro-pologischen Kritik das Verfahren der Spekulation bezeichnete, hier den Prozeß be-zeichnet, der im Feld der Wirklichkeit selbst abläuft. Der Begriff der Wirklichkeit mußgenaugenommen als Raum verstanden werden, in dem die Bestimmungen der Struktursich manifestieren.« (J. Ranciere, Der Begriff der Kritik und die Kritik der politischenÖkonomie, Berlin 1972, S. 52).

Der Begriff des »wirklichen Prozesses«, der hier gewonnen ist, und in dem der Dis-kurs von Identität und Negation, die Dialektik von Sinnlichem und Übersinnlicheminsgesamt »umgestülpt« gedacht ist, hat Althusser später aufgenommen. Er formu-lierte die These des »Prozesses ohne Subjekt« und wies der Dynamik und Struktur derkapitalistischen Gesellschaft diesen Charakter zu (vgl.: Lenine devant Hegel, in: L.Althusser, Lenine et la philosophie, Paris 1972, p. 87 f). Freilich subjektlos ist der Pro-zeß, den Ranciere bezeichnete, keineswegs. Es ist der Prozeß, dem die kritische Darstel-lung der ökonomischen Kategorien und Instanzen der kapitalistischen Produktions-weise zu folgen hat. Als Transformation eines »Verfahrens« gedacht, das diedialektisch eingefangene Widersprüchlichkeit des spekulativen Subjekts enthielt, be-zeichnet er nunmehr das die Widersprüchlichkeit seiner Konstitutionsbcdingungcn

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dialektisch einfangende »Subjekt« der kapitalistischen Produktion: die Trinität vonAusbeutung, Akkumulation und Krise.

H.-J. Krahl (Zur Wesenslogik der Marxschen Warenanalyse, in: ders., Konstitu-tion und Klassenkampf, a. a. O.) zeichnet, an Ranciere (und Adorno) anschließend,diese Transformation des spekulativen Diskurses in die Philosophie Kants und Hegelsrückbezogen ein:

»Während die Hegeische Logik der dinghaften Existenz identitätsphilosophisch dieimmanente Kraft verleiht, >sich zu einem Gesetztsein zu machen", autonom ihren we-sentlichen Grund, die Reflexion zur wahren Erscheinung zu bringen, so enthüllen sichdie >Natureigenschaften< des Geld- und Kapitalverhältnisses erst dem analytischenVerfahren der materialistischen Ökonomiekritik als eine rein subjektive Thesis gesell-schaftlicher Formbestimmungen. Erst sie reflektiert die begriffslose Existenz der Wert-form >in das Anderssein' der Erscheinung eines an sich nicht gegenständlichen Wertes«(S. 44).

Marx reflektiert auf außerphilosophischer Ebene der Ökonomiekritik philoso-phisch-spekulativ entfaltete Begriffsbeziehungen der Hegeischen Logik und vermagihrer »impliziten« (S. 39), »indirekten« (S. 37) Integration in die ökonomiekritischeAnalytik und Systematik zuzuschreiben, daß sie als »wirkliche Abstraktionen«,»Abstraktionen in actu« (S. 46) funktionieren. Hier aber entsteht das Problem, denStatus dieser »Wirklichkeit« zu fassen, worin »die Individuen nur von Abstraktionenbeherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen« (K. Marx, Grundrisse,Berlin 1953, S. 81). Das Statusproblem von »Wirklichkeit«, das die Kritik der politi-schen Ökonomie durchzieht, steht aber gleichfalls im Zentrum unserer Frage nach demVerhältnis der Theorie der Revolution und ihrem präsenten/nichtpräsenten Gegen-siand.

36 »Kommunistisches Manifest«, MEW 4, S. 46837 MEW 23, S. 12738 S. 12839 Vgl. die Quellenangabe in Anmerkung 3540 Grundrisse, a. a.O., S. 2241 Zum Begriff der »begriffslosen Form «vgl. Krahl, Zur Wesenslogik [...] a.a. O.,S.44f.

und Rangiere, a.a.O., S. 103ff.42 An einer Kritik Keynes' und Schumpeters ist diese These entwickelt in: Toni Negri,

Zyklus und Krise bei Marx, Berlin 1972, S. 69: der »Gebrauch der Krise als allgemei-nes Moment der Verifizierung der Kräfteverhältnisse und als Instrument der gewalt-samen und entscheidenden Wiederherstellung des grundlegenden Verhältnisses«.

43 Ranciere, a.a.O., S. 130f.44 Vgl. dazu: A. Grunenberg, Einleitung zu: Die Massenstreikdebatte, Frankfurt 1970,

S. 22 f.45 MEW 7, S. 51446 S. 51547 Ebd.48 S. 51649 S. 1850 S. 4451 S. 10252 S. 2853 S. 1154 S. 6155 S. .3256 S. 11

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57 Krahl, Zu Marx: Klassenkämpfe in Frankreich, a.a.O., S. 15858 MEW 5, S. 13359 »Die Dialektik von Niederlage und Revolution stellt sich als die von Katastrophe und

Katharsis dar.« {Krahl, a.a.O., S. 159)60 MEW 7, S. 3361 Ebd. unsere Hervorhebung62 Ebd.63 Wir verweisen auf die Gemeinsamkeit folgender so grundverschiedener Darstellungen

des Tragischen in diesem Punkt: W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels,Frankfurt 1972, S. 109ff.; W. Jaeger, Paideia, Berlin 1959, Bd. 1, S. 307ff.; S. Freud,Totem und Tabu, Ges. Werke Bd. 9, S. 186 ff. Daß hierin auch Hegel zustimmt, istunserem Hegel-Teil (Abschnitt 8) zu entnehmen.

64 G. Lukacs, Die Sickingerdebatte zwischen Marx-Engels und Lassalle, a.a.O., S. 49165 Dieselbe Paradoxie im Begriff des »Proletariats« auf der Ebene der Theorie der Pro-

duktionsgeschichte in »Das Elend der Philosophie« (1848): »Die Bourgeoisie beginntmit einem Proletariat, das selbst wiederum ein Überbleibsel des Proletariats des Feu-dalismus ist [...] In dem Maße, wie die Bourgeoisie sich entwickelt, entwickelt sich inihrem Schöße ein neues Proletariat, ein modernes Proletariat.« Im Handexemplarkorrigierte Marx das >Proletariat des Feudalismus< in »la classe travailleur« des Feu-dalismus. MEW 4, S. 141

66 MEW 8, S. 59867 S. 25468 Zum Agoniebegriff vgl. Benjamin, Ursprung [...] a.a.O., S. 11069 Grundriß der Geschichte für die Oberstufe der höheren Schulen, Bd. 2, Stuttgart 1966,

S. 85. - Auf seine Weise deutet der bürgerliche Historiker an, daß ihm im »SecondEmpire« moderne Zeiten angebrochen scheinen.

70 VI. These aus: »Über den Begriff der Geschichte«, in: Illuminationen, Frankfurt 1969,S. 270, dort unter dem Titel »Geschichtsphilosophische Thesen«.

71 MEW 8, S. 12372 Wir zitieren die ersten Sätze nach der ersten Auflage, die in der MEW nicht enthalten

ist: »Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, Sammlung Insel 9, o. O. 1965,S. 9

73 M E W 8, S. 12274 S. 127, 122, 14075 S. 14476 S. 16177 Ebd.78 Ebd.79 S. 19780 S. 19681 Über die Periode nach dem Staatsstreich Bonapartes schreibt Engels 1895: »Die

Periode der Revolutionen von unten war einstweilen geschlossen; es folgte eine Periodeder Revolutionen von oben«, MEW 7, S. 517

82 MEW 8, S. 160 f.83 S. 16284 W. Benjamin, Charles Baudelaire, Frankfurt 1969, S. 19 ff.85 MEW 8, S. 20386 »Der Achtzehnte Brumaire [...], Insel-Ausgabe, a.a.O., S. 13187 MEW 8, S. 203 f.88 Vgl. T. Negri, Krise des Planstaats, Kommunismus und revolutionäre Organisation,

Berlin 1973

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Zur Archäologie der marxistischen Geschichts- und Literaturtheorie 103

89 MEW 8, S. 115 /90 S. 11691 Benjamin, Illuminationen, a. a. O., S. 27792 MEW 8, S. 11693 Vgl. hierzu: H. Schlaffer, Der Bürger als Held, Frankfurt 1973, S. 126 ff.94 MEW 8, S. 115 f.95 S. 11796 Ebd.97 Benjamin, a. a. O., S. 27698 B. Brecht, 11. Abschnitt aus dem »Kleinen Organon für das Theater«, Werke, Frank-

furt 1967, Bd. 16, S. 666; vgl. dazu auch Brüggemann, a.a.O., S. 26ff.99 MEW 8, S. 115

100 S. 116f.101 Nachwort zur Insel-Ausgabe des »Brumaire«, a.a.O., S. 143102 S. 149103 MEW 8, S. 119104 S. 118105 Im Zusammenhang der These von der »Permanenz der Revolution (vgl. Abschnitt 6.,

S. 35f.) entwickelt Marx auch das Konzept der »Klassendiktatur des Proletariats«:»[Der] Sozialismus ist die Permanenzerklärung der Revolution, die Klassendiktaturdes Proletariats als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunter-schiede überhaupt, zur Abschaffung sämtlicher Produktionsverhältnisse, worauf sieberuhen, zur Abschaffung sämtlicher gesellschaftlicher Beziehungen, die diesen Pro-duktionsverhältnissen entsprechen.« MEW 7, S. 89f.

106 Zum »Erzähler«, der dem »Chronisten« aus Benjamins III. These »Über den Begriffder Geschichte« entspricht, vgl. Benjamins Aufsatz »Der Erzähler in: Illuminationen,a.a.O., S.409ff.

107 P. Szondi, Versuch über das Tragische, Frankfurt 19642, S. 7: »Seit Aristoteles gibtes eine Poetik der Tragödie, seit Schelling erst eine Philosophie des Tragischen. AlsUnterweisung im Dichten will die Schrift des Aristoteles die Elemente der tragischenKunst bestimmen; ihr Gegenstand ist die Tragödie, nicht deren Idee.«

108 (). Pöggeler, Hegel und die griechische Tragödie, in: Hegel-Studien, Beiheft 1, Bonn1964, S. 296

109 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, in: Werke, a.a.O., Bd. 13,S. 25 (abgk.Ästhetik I)

110 ders., Vorlesungen über die Ästhetik III, a. a. O., Bd. 15, S. 522 ff. (abgk. Ästhetik III)111 Szondi, Versuch [...] a. a. O., S. 25112 Ästhetik I, S. 253 ff.113. 337114 Ästhetik III. S. 556115 S. 560116 S. 527117 S. 572118 Ästhetik I, S. 123119 Vgl. W. Oelmüller, Die unbefriedigte Aufklärung, Frankfurt 1969, darin: Der Satz

vom Ende der Kunst, S. 240ff.120 H. Lypp, Ästhetischer Absolutismus und politische Vernunft, Frankfurt 1972, S. 186:

»Als notwendige Bedingung, eine Erfahrung zu erklären, die davon ausgeht, freiesHandein konstituiere sich nur in Pro/essen, die sich vom Handelnden selbst nicht über-blicken lassen, kann Hegel gemäß festgehalten werden, daß ihr die Geschichte alsKrise vor Augen steht. Diese Erfahrung macht den Hintergrund für die Affinität der

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frühen Hegeischen Systematik zum Vergleich der Welt mit einem dramatischen Ge-schehen aus.« - Es ist zu sehen, daß Lypp, der sein Buch Peter Szondi widmete, SchülerHenrichs ist.

121 L. Althusser, Widerspruch und Überdeterminierung, in: Für Marx, Frankfurt 1968,S. 66 f.

122 Vgl. hierzu auch G. Lukdcs,Karl Marx und Friedrich Theodor Vischer, a. a. O., S. 238123 G. W. F. Hegel, Philosophie der Geschichte, a.a.O., S. 22124 S. 49125 S. 47126 A. Gurland, Marxismus und Diktatur, Leipzig 1930, S. 6127 Hegel, Philosophie der Geschichte, a. a. O., S. 34128 Zum Begriff der Melancholie vgl. Benjamin, Ursprung [...] a. a. O., S. 149 ff.129 Hegel, Philosophie der Geschichte a. a. O., S. 35130 S. 34131 S. 35132 Ebd.133 S. 98 f.134 S. 417135 S. 380136 MEW 7, S. 33137 »Man muß sie [die Dialektik Hegels; W. H.] umstülpen, um den rationellen Kern in

der mystischen Hülle zu entdecken.« MEW 23, S. 27138 MEW 1, S. 389f.139 Unter dem Titel »Die infantile Wiederkehr des Totemismus« analysiert Freud den

Ursprung der Tragödie als »entstellte« Wiederholung des Vatermords, welchen dievereinigten Brüder gemeinsam begingen: »Die Szene auf der Bühne ist durch zweck-mäßige Entstellung [...] aus der historischen Szene hervorgegangen. In jener altenWirklichkeit waren es gerade die Chorgenossen, die das Leiden des Helden verursach-ten; hier aber erschöpfen sie sich in Teilnahme und Bedauern, und der Held ist selbstan seinem Leiden schuld. Das auf ihn gewälzte Verbrechen, die Überhebung und dieAuflehnung gegen eine große Autorität, ist genau dasselbe, was in Wirklichkeit dieGenossen des Chors, die Brüderschar, bedrückt. So wird der tragische Held — nochwider seinen Willen - zum Erlöser des Chors gemacht.« (Totem und Tabu, a.a.O.,S. 188). Auch Freud faßt einen Mechanismus der kultischen Wiederholung (freilichphylogenetisch reflektierend) als konstitutiv für die Konstellation der Tragödie auf.

140 MEW 8, S. 161141 Vgl. W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar-

keit, in: Illuminationen, a.a.O., vgl. zu neuern Diskussion um diesen Begriff derÄsthetisierung der Politik«: M. Jürgens, Bemerkungen zur »Ästhetisierung der Poli-tik«, in: M. Jürgens, K. Schrader-Klebert u. a., Ästhetik und Gewalt, Gütersloh 1970,S. 8 ff.; ebenso: M. Scharang: Zur Emanzipation der Kunst, in: Ästhetik und Kom-munikation 1 (1970)

142 Vgl. Benjamins Anmerkungen zum Schock-Begriff, in: »Zentralpark«, Illuminationen,a.a.O., S. 254; Charles Baudelaire, a.a.O., S. 74 u. passim

143 KL 1, S. 7144 Illuminationen, a.a.O., S. 148f.145 Ebd.146 S. 153

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Zur Archäologie der marxistischen Geschichts- und Literaturtheorie 105

Zu Teil III

1 F. Lassalle, Nachgelassene Briefe und Schriften, a. a. O., S. 1742 S. 194 f.3 S. 206 f.4 KL 1, S. 1815 S. 184 ff.6 Vgl. Lassalle, a.a.O., S. 195 und S. 207; vgl. KL 1, S. 179 und S. 1837 Lassalle, a.a.O., S. 1738 KL 1, S. 1809 S. 181

10 Ebd.11 MEW 7, S. 375 f.12 S. 374 f.13 KL 1, S. 18114 S. 19215 S. 208 f.16 S. 20917 S. 21018 E. ß/oc/?, Thomas Münzer, Frankfurt 1967, S. 7019 MEW 7, S. 40220 KL 1, S. 18021 S. 18722 Ebd.23 »Es hätte zunächst als das Einfachste und Angemessenste erscheinen können, die

Gedanken [...], mit denen mich das Studium jener Zeit erfüllt hat, in ein gelehrtes Werkniederzulegen. [...] Aber ich wollte hierbei nicht ein Werk schreiben, das nur für denBücherschrank der Gelehrten vorhanden wäre. [...] Was ich wollte, war, jenen gewalti-gen kulturhistorischen Prozeß, auf dessen Resultaten unsere ganze Wirklichkeit lebt, deraber nur noch den Gelehrten bekannt, vom Volk dagegen, bis auf einige Stichworte, dienoch immer eine traditionelle Wirkung auf es ausüben und die Flamme seines Bewußt-seins zum Aufflackern bringen, vergessen ist, zum inneren bewußten Gemeingut desVolkes machen. [...] Die Macht, einen solchen Zweck zu erreichen, ist nur der Poesiegegeben, - und darum entschloß ich mich zu diesem Drama. —« F. Lassalle, Reden undSchriften, a. a. O., Bd. 3, S. 407

24 KL 1,S. 18825 S. 179 f.26 Krahl, Konstitution und Klassenkampf, a.a.O., S. 39027 Zum Problem der »empirischen Konstitution« des revolutionären Subjekts vgl. die

Anm. 15, 29 und 35 des II. Teils dieser Arbeit.28 Im Vorwort zur ersten Auflage des »Kapitals« heißt es: ». . . mein Standpunkt, der die

Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichenProzeß auffaßt.« MEW 23, S. 16

29 E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, a.a.O., S. 137830 S. 137931 S. 138232 S. 137933 S. 1381 f.34 S. 1383

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106 Wolfgang Hagen

35 Zum Begriff des »Terrainwechsels« vgl. L. Althusser/E. Balibar, Lire le capital, a. a. O.,p. 9 ff.

36 Brecht, Werke, a. a. O., Bd. 15, S. 31237 Vgl. Brüggemann, Literarische Technik, a.a.O., S. 88f.38 Brecht, a .a.O., S. 31339 Von dem Bemühen, die »Geschichtsphilosophie« des Trauerspiels und der Tragödie ge-

gen eine philosophische »Ästhetik des Tragischen« zu wenden, ist auch Benjamin imTrauerspielbuch bestimmt; vgl. Ursprung, a. a. O., S. 101 ff. Vgl hierzu die Kritik Szon-dis im »Versuch über das Tragische«, a.a.O., S. 57f.

40 Vgl. Brecht, a.a.O., S. 31141 KL 1, S. 181

Zu Teil IV

la G. Lukács, Nachwort (1970) zu: Essays über Realismus, Neuwied u. Berlin 1971, S.676

lb H. Gallas, Marxistische Literaturtheorie, Neuwied und Berlin, 1971, S. 682 neu gedruckt bei Paco-Press, Amsterdam 19723 Vgl. hierzu, K. Völker, Brecht und Lukács, Analyse einer Meinungsverschiedenheit, in:

Alternative 67/68 (1969), hier bes. S. 138 ff. Die Debatte selbst ist wiederveröffentlichtin: Expressionismusdebatte, Frankfurt 1973

4 Vgl. den Nachdruck der »Linkskurve«, Frankfurt 19715 Vgl. Lexikon sozialistischer deutscher Literatur, Nachdruck s'Gravenhage 1973, S. 2476 G. Lukács, Die Sickingendebatte, a. a. O., S. 4907 S. 4808 MEW 7, S. 400 f.9 Lukács, a. a. O., S. 480

10 S. 47911 Die Stelle aus der »Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung« lautet voll-

ständig: »Solange das ancien regitne als vorhandene Weltordnung mit einer erst wer-denden Welt kämpfte, stand auf seiner Seite ein weltgeschichtlicher Irrtum, aber keinpersönlicher. Sein Untergang war daher tragisch.« (MEW 1, S. 381) Neben der Bezeich-nung der bürgerlichen und proletarischen Revolutionäre findet sich bei Marx als Drittesdie Bezeichnung der feudal-aristrokratischen Konterrevolutionäre als »tragische«. DasUngewisse und Problematische, das wir als in einer solchen Bezeichnung wirksam ana-lysierten, kommt darin nun gleichsam nach außen, daß es für Marx scheinbar völlig be-liebig war, wer denn nun wirklich der »tragische« Held der Geschichte sei.

12 Lukács, a. a. O., S. 49013 S. 48714 S. 490 f.15 Vgl. hierzu: A. Asor-Rosa, Der junge Lukács - Theoretiker der bürgerlichen Kunst, in:

Alternative 67/68 (1969) S. 174ff.; Vorwort von P. Ludz zu: G. Lukács, Literaturso-ziologie, Neuwied und Berlin 1961, S. 19 ff.

16 Lukács, Zur Soziologie des modernen Dramas, in: ders. Literatursoziologie, a. a. O., S.287

17 S. 27918 S. 293

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Zur Archäologie der marxistischen Geschichts- und Literaturtheorie 107

19 S. 269; vgl. hierzu die Erwähnung dieses Aufsatzes bei P. Szondi, Zur Theorie des mo-dernen Dramas, Frankfurt 19707, S. 14 ff. und S. 162

20 Vgl. diese Arbeit, oben Abschnitt 8.21 G. Lukács, Die Theorie des Romans, Neuwied und Berlin 1971, S. 7022 In: Probleme des Realismus III, Neuwied und Berlin 1965, S. 11323 S. 108 ff.24 S. 17425 Vgl. Zur Soziologie [...], a. a. O., S. 26826 Historischer Roman, a.a.O., S. 16727 S. 17428 Z. B. die Lukács-Kritik in: Zum Verhältnis von Ökonomie, Politik und Literatur im

Klassenkampf, Berlin 1971, S. 109 ff.29 G. Lukdcs, Lenin, Neuwied und Berlin, 19693, S. 7 ff.30 G. Lukdcs, Gegen die Spontaneitätstheorie in der Literatur, in: Linkskurve 4, April

1932, S. 3031 Vgl. E. Ottwald, »Tatsachenroman« oder Formexperiment, wiederabgedruckt in: Zur

Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland, Berlin und Weimar 19672, S.463 ff.; B. Brecht, Über den Realismus, in: Werke, a.a.O., Bd. 19, S. 290ff.

32 Vgl. die ausgezeichnete Kontroverse um den Proletkult zwischen Knödler-Bunte undStcinborn/Boehnke in: Ästhetik und Kommunikation 5/6 (1972).

33 Vgl. O. Negt, Marxismus als Legitimationswissenschaft. Zur Genese der stalinistischenPhilosophie, in: A. Deborin, N. Bucharin, Kontroversen über dialektischen und mecha-nistischen Materialismus, Frankfurt 1969, S. 7 ff.

34 Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1968 (= Werke, Bd. 14), S. 328 f.35 Vgl. zum Begriff »Nacherleben« den Diltheyschen Hintergrund: W. Dilthey, Der Auf-

bau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt 1970, S. 263 ff.36 »Es geht also um die Erkenntnis der richtigen dialektischen Einheit von Erscheinung und

Wesen, das heißt um eine künstlerisch gestaltete, nacherlebbare Darstellung der »Ober-fläche«, die gestaltend, ohne von außen hinzugetragenen Kommentar, den Zusammen-hang von Wesen und Erscheinung in dem dargestellten Lebensausschnitt aufzeigt.« G.Lukács. Es geht um den Realismus, in: Marxismus und Literatur, a. a. O., Bd. 2, S. 65

37 S. 7038 S. 73; Heartfield hatte unter dem nachhaltigen Einfluß Lukács' noch in den ersten Jahren

der DDR sehr zu leiden; vgl. Wieland Herzfelde, J. Heartfield. Leben und Werk, Dres-den 19702, S. 96

39 Theorie des Romans, a. a. O., S. 7440 Die Sickingendebatte, a.a.O., S. 48541 So neben den angeführten Erwähnungen (vgl. Einleitung) noch in »Hegels Ästhetik«,

in: Probleme der Ästhetik, a.a.O., S. 13842 Erst nach Brechts Tod, 1956, wurden sie veröffentlicht.43 Berlin 1965, S. 844 Berlin und Weimar 1970, S. 43245 Sinn und Form 4/1959, S. 59646 S. 59347 Mittenzwei, Die Brecht-Lukacs-Debatte, a.a.O., S. 1548 S.1449 S. 3250 Brecht, Werke Bd. 20, S. 15251 Mittenzwei, a.a.O., S. 3052 W. Mittenzwei, Gestaltung und Gestalten im modernen Drama, Berlin und Weimar

1969, S. 461.

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53 S. 161 ff.54 S. 4255 S. 33