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1 schmerz forum 2011 bulletin Arzneimittelwechselwirkungen sind eine häufige Ursache für unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAWs). So sind circa fünf Prozent aller Kranken- hauseinweisungen auf eine UAW zurückzufüh- ren. 1 Dies war auch Gegenstand des Vortrages von Prof. Dr. med. Walter E. Haefeli von der Abtei- lung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepi- demiologie an der Universitätsklinik Heidelberg. Er erläuterte, dass gerade in der Schmerztherapie, bei der häufig Substanzen mit einer engen the- rapeutischen Breite eingesetzt werden, die Be- handler sehr oft mit Arzneimittelinteraktionen kon- frontiert sind. Vor allem die Polypharmazie ist laut Haefeli mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten einer UAW assoziiert. Da es sich bei Schmerzpati- enten in vielen Fällen um ältere Patienten mit mul- tiplen Begleiterkrankungen handle, sei es wichtig, Arzneimittelwechselwirkungen in der Schmerzthe- rapie besonders zu beachten und gegebenenfalls die Dosierung von Analgetika anzupassen. Hierzu sei jedoch eine genaue Kenntnis der wichtigsten Prinzipien von pharmakokinetischen und phar- makodynamischen Arzneimittelinteraktionen von großer Bedeutung. Arzneimittelinteraktionen – pharmako- kinetische Arzneimittelinteraktionen sind häufig, Konzentrationsänderung beeinflusst die Wirkung Die Wirkung eines Arzneimittels ist von verschie- denen Prozessen abhängig und weist eine hohe interindividuelle Variabilität auf. Neben der korrek- ten Einnahme (Verabreichungsprozess) und der Freisetzung aus der Galenik (pharmazeutischer Prozess) tragen insbesondere die Verteilung zum Wirkungsort und die Elimination aus dem Körper (pharmakokinetischer Prozess) sowie die Wirkun- gen am Wirkort (pharmakodynamischer Prozess) zum therapeutischen Resultat (therapeutischer Prozess) bei. 2 Für eine UAW sind häufig pharma- kokinetische Wechselwirkungen, bei denen es zu Änderungen der Konzentrations-Zeit-Profile der gleichzeitig verabreichten Arzneimittel kommt, verantwortlich. In Folge davon wird die Wirkung einer Substanz beeinflusst. Davon unterschieden Wechselwirkungen in der Schmerztherapie mit Opioiden Wechselwirkungen seien in der Schmerztherapie aufgrund der engen therapeutischen Breite vieler Substanzen und dem hohen Anteil an älteren Patienten mit multiplen Begleiterkrankung- en eine häufige Herausforderung für den Behandler, erläuterte Prof. Dr. med. Walter E. Haefeli von der Abteilung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie in Heidelberg. Um Wechselwirkungen zu vermeiden, sei es deshalb wichtig, die Stoffwechselwege der Opioide genau zu kennen und die Arzneimitteldosierungen in der Verordnungspraxis der Schmerzthe- rapie dementsprechend gegebenenfalls anzupassen. Besonders abhängig ist die Sicherheit und Wirksamkeit vieler Schmerzmittel dabei von einer Komedikation, die zu ihrer Akkumu- lation oder ihrer beschleunigten Elimination führen kann. Insbesondere Analgetika, die über Cytochrom-P450-Stoffwechselwege in der Leber metabolisiert werden, weisen im Allgemei- nen ein größeres Interaktionspotenzial auf als Substanzen, die über die Uridin-5-Diphospho- Glucuronosyl-Transferase (UGT) zu ihren Glucuroniden abgebaut werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Therapie chronischer Schmerzen stellt uns in der täglichen Praxis immer wieder vor neue Herausforder- ungen. Denn Schmerz ist ein komplexer Bewusst- seinsinhalt, an dessen Entstehung und Verarbeitung die verschiedensten Gehirnareale beteiligt sind. Des- halb sind zur Schmerztherapie interdisziplinäre und mechanismenorientierte Ansätze erforderlich. Ein häufiges Problem, mit dem wir immer wieder konfrontiert werden, sind Nebenwirkungen, die bei der Gabe von hochpotenten Analgetika auftreten und die Compliance gefährden. Wir stehen hier im- mer wieder vor der Herausforderung, die richtige Balance zwischen ausreichender Wirksamkeit und akzeptablen Nebenwirkungen zu finden. Neben ei- ner bestmöglichen medikamentösen Therapie sollten Schmerzpatienten im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzeptes auch nichtmedikamentöse Thera- piemaßnahmen erhalten. Aktuelle Umfragen bei chronischen Schmerzpatien- ten zeigen, dass die Kontrolle von Schmerzen immer noch oft unzureichend ist. Es ist deshalb an der Zeit, umzudenken und die neuen Erkenntnisse aus der Forschung in die praktische Schmerztherapie zu in- tegrieren. Doch wie setzen wir die aktuellen Erkennt- nisse aus der Schmerzforschung in unsere klinische Praxis um? Welche Therapiemöglichkeiten gibt es für Schmerzen mit einer neuropathischen Komponente? Für diese und viele andere Fragen ist der kollegiale Austausch enorm wichtig. Hierfür boten uns die von der Firma Grünenthal organisierten Symposien „Fo- rum Schmerz 2011“ in Baden-Baden, Nürnberg und Freising reichlich Gelegenheit. Wir bedanken uns da- her bei allen Kolleginnen und Kollegen für die aktive Teilnahme an den Diskussionen und für den gemein- samen Erfahrungsaustausch. Diese Broschüre fasst alle wichtigen Inhalte der drei Veranstaltungen nochmals zusammen. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und viel Erfolg für Ihre tägliche Arbeit in der Praxis. Mit kollegialen Grüßen Dr. med. U. Köster, Prof. Dr. med. C. Maihöfner, Stuttgart Erlangen 13.−14. Mai, Baden-Baden 27.−28. Mai, Nürnberg 22.−23. Juli, Freising ARZNEIMITTELINTERAKTIONEN Baden-Baden Prof. Dr. med. Walter E. Haefeli

schmerz 2011 bulletin forum - CHANGE PAIN® - Die ... · Rolle spielen.3 In seinem Vortrag wies Haefeli da-rauf hin, dass man sich für die Schmerztherapie mit Opioiden insbesondere

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1

schmerzforum2011 bulletin

Arzneimittelwechselwirkungen sind eine häufige

Ursache für unerwünschte Arzneimittelwirkungen

(UAWs). So sind circa fünf Prozent aller Kranken-

hauseinweisungen auf eine UAW zurückzufüh-

ren.1 Dies war auch Gegenstand des Vortrages

von Prof. Dr. med. Walter E. Haefeli von der Abtei-

lung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepi-

demiologie an der Universitätsklinik Heidelberg. Er

erläuterte, dass gerade in der Schmerztherapie,

bei der häufig Substanzen mit einer engen the-

rapeutischen Breite eingesetzt werden, die Be-

handler sehr oft mit Arzneimittelinteraktionen kon-

frontiert sind. Vor allem die Polypharmazie ist laut

Haefeli mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten

einer UAW assoziiert. Da es sich bei Schmerzpati-

enten in vielen Fällen um ältere Patienten mit mul-

tiplen Begleiterkrankungen handle, sei es wichtig,

Arzneimittelwechselwirkungen in der Schmerzthe-

rapie besonders zu beachten und gegebenenfalls

die Dosierung von Analgetika anzupassen. Hierzu

sei jedoch eine genaue Kenntnis der wichtigsten

Prinzipien von pharmakokinetischen und phar-

makodynamischen Arzneimittelinteraktionen von

großer Bedeutung.

Arzneimittelinteraktionen – pharmako­

kinetische Arzneimittelinteraktionen

sind häufig, Konzentrationsänderung

beeinflusst die Wirkung

Die Wirkung eines Arzneimittels ist von verschie-

denen Prozessen abhängig und weist eine hohe

interindividuelle Variabilität auf. Neben der korrek-

ten Einnahme (Verabreichungsprozess) und der

Freisetzung aus der Galenik (pharmazeutischer

Prozess) tragen insbesondere die Verteilung zum

Wirkungsort und die Elimination aus dem Körper

(pharmakokinetischer Prozess) sowie die Wirkun-

gen am Wirkort (pharmakodynamischer Prozess)

zum therapeutischen Resultat (therapeutischer

Prozess) bei.2 Für eine UAW sind häufig pharma-

kokinetische Wechselwirkungen, bei denen es zu

Änderungen der Konzentrations-Zeit-Profile der

gleichzeitig verabreichten Arzneimittel kommt,

verantwortlich. In Folge davon wird die Wirkung

einer Substanz beeinflusst. Davon unterschieden

Wechselwirkungen in der Schmerztherapie mit OpioidenWechselwirkungen seien in der Schmerztherapie aufgrund der engen therapeutischen Breite

vieler Substanzen und dem hohen Anteil an älteren Patienten mit multiplen Begleiterkrankung­

en eine häufige Herausforderung für den Behandler, erläuterte Prof. Dr. med. Walter E. Haefeli

von der Abteilung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie in Heidelberg. Um

Wechselwirkungen zu vermeiden, sei es deshalb wichtig, die Stoffwechselwege der Opioide

genau zu kennen und die Arzneimitteldosierungen in der Verordnungspraxis der Schmerzthe­

rapie dementsprechend gegebenenfalls anzupassen. Besonders abhängig ist die Sicherheit

und Wirksamkeit vieler Schmerzmittel dabei von einer Komedikation, die zu ihrer Akkumu­

lation oder ihrer beschleunigten Elimination führen kann. Insbesondere Analgetika, die über

Cytochrom­P450­Stoffwechselwege in der Leber metabolisiert werden, weisen im Allgemei­

nen ein größeres Interaktionspotenzial auf als Substanzen, die über die Uridin­5­Diphospho­

Glucuronosyl­Transferase (UGT) zu ihren Glucuroniden abgebaut werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,die Therapie chronischer Schmerzen stellt uns in der täglichen Praxis immer wieder vor neue Herausforder­ungen. Denn Schmerz ist ein komplexer Bewusst­seinsinhalt, an dessen Entstehung und Verarbeitung die verschiedensten Gehirnareale beteiligt sind. Des­halb sind zur Schmerztherapie interdisziplinäre und mechanismenorientierte Ansätze erforderlich. Ein häufiges Problem, mit dem wir immer wieder konfrontiert werden, sind Nebenwirkungen, die bei der Gabe von hochpotenten Analgetika auftreten und die Compliance gefährden. Wir stehen hier im­mer wieder vor der Herausforderung, die richtige Balance zwischen ausreichender Wirksamkeit und akzeptablen Nebenwirkungen zu finden. Neben ei­ner bestmöglichen medikamentösen Therapie sollten Schmerzpatienten im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzeptes auch nichtmedikamentöse Thera­piemaßnahmen erhalten. Aktuelle Umfragen bei chronischen Schmerzpatien­ten zeigen, dass die Kontrolle von Schmerzen immer noch oft unzureichend ist. Es ist deshalb an der Zeit, umzudenken und die neuen Erkenntnisse aus der Forschung in die praktische Schmerztherapie zu in­tegrieren. Doch wie setzen wir die aktuellen Erkennt­nisse aus der Schmerzforschung in unsere klinische Praxis um? Welche Therapiemöglichkeiten gibt es für Schmerzen mit einer neuropathischen Komponente? Für diese und viele andere Fragen ist der kollegiale Austausch enorm wichtig. Hierfür boten uns die von der Firma Grünenthal organisierten Symposien „Fo­rum Schmerz 2011“ in Baden­Baden, Nürnberg und Freising reichlich Gelegenheit. Wir bedanken uns da­her bei allen Kolleginnen und Kollegen für die aktive Teilnahme an den Diskussionen und für den gemein­samen Erfahrungsaustausch.Diese Broschüre fasst alle wichtigen Inhalte der drei Veranstaltungen nochmals zusammen.Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und viel Erfolg für Ihre tägliche Arbeit in der Praxis.

Mit kollegialen Grüßen

Dr. med. U. Köster, Prof. Dr. med. C. Maihöfner,

Stuttgart Erlangen

13.−14. Mai, Baden­Baden27.−28. Mai, Nürnberg22.−23. Juli, Freising

ARZNEIMITTELINTERAKTIONEN

Baden-Baden Prof. Dr. med. Walter E. Haefeli

2

ARZNEIMITTELINTERAKTIONEN

werden pharmakodynamische Arzneimittelinter-

aktionen, bei denen es zu Wirkungsänderungen

der verabreichten Substanz kommt, ohne dass

deren Konzentration verändert wurde.

Opioid­Clearance ist oft abhängig von

Cytochrom­P450­Stoffwechselwegen

Pharmakokinetische Arzneimittelinteraktionen

können die Ausscheidung (Clearance) einer

Substanz aus dem Organismus beeinträchtigen.

Somit beeinflussen sie den Dosisbedarf eines

Arzneimittels. Die Elimination eines Arzneimittels

und seiner Abbauprodukte aus dem Organismus

erfolgt in den meisten Fällen über die Nieren (re-

nale Clearance) und/oder metabolisch in der Le-

ber (hepatische Clearance) anhand einer Phase-

1-Reaktion über die Cytochrom-P450-(CYP-)

Isoenzyme und mittels einer Phase-2-Konjuga-

tion zum Beispiel über die Uridin-5-Diphospho-

Glucuronosyl-Transferase (UGT) (Abb.1). Viele

Arzneimittel werden in der Leber über die CYP1-,

CYP2- und CYP3-Familien metabolisiert. Von be-

sonderer Bedeutung für Arzneimittelinteraktionen

ist dabei die CYP3A-Familie, da fast die Hälfte

aller Arzneimittel über dieses Enzym abgebaut

wird (Abb. 2). Daneben werden circa 20 Prozent

der Arzneimittel über die CYP2C-Familie verstoff-

wechselt, wozu beispielsweise das Phenprocou-

mon (Marcumar®) gehört. Wichtig sind zudem die

Enzyme der CYP2D-Familie. Sie bauen circa 25

Prozent der Arzneimittel ab, während Enzyme der

CYP1A-Familie mit nur fünf Prozent eine geringe

Rolle spielen.3 In seinem Vortrag wies Haefeli da-

rauf hin, dass man sich für die Schmerztherapie

mit Opioiden insbesondere zwei CYP-Isoformen

merken solle: Das CYP3A4 sowie das CYP2D6.

Beide seien an der Metabolisierung von Opioiden

beteiligt. Man solle zudem daran denken, dass

bei den drei Isoformen CYP2C9, CYP2C19 so-

wie CYP2D6 bei circa fünf bis zehn Prozent der

Bevölkerung genetische Varianten vorkämen, die

eine stark verminderte Enzymaktivität aufwiesen.

Als Folge davon würden Medikamente, die an

diese drei Isoformen bänden, nur sehr langsam

metabolisiert. Bei der Arzneimitteltherapie von

Patienten mit diesen CYP-Varianten, sogenann-

ten langsamen Metabolisierern, sei zu berück-

sichtigen, dass bei allen Medikamenten aufgrund

einer erhöhten Arzneimittelkonzentration bereits

in der Standarddosierung mit einem geringerem

Dosisbedarf und oft auch mit vermehrten Neben-

wirkungen gerechnet werden müsse, so Haefeli.

Einfluss einer Komedikation auf die CYP­

Stoffwechselwege

Die Aktivität der CYP-Enzyme kann durch be-

stimmte Arzneimittel sowohl erhöht (Enzymindu-

ktion) als auch vermindert (Enzyminhibition) wer-

den. Die CYP-Induktion erfolgt dabei über eine

Aktivierung nukleärer Rezeptoren im Zellkern der

Leberzelle, die zu einer vermehrten Transkription

und damit zur verstärkten Enzymsynthese führt.4

Dieser Prozess dauert in der Regel mehrere Tage,

sodass ein maximaler induktiver Effekt erst ein

bis zwei Wochen nach der Verabreichung eines

induzierenden Arzneimittels zu erwarten ist. Die

Folge einer CYP-Induktion ist ein beschleunigter

Abbau von Arzneimitteln im Organismus und da-

mit ein erhöhter Dosisbedarf. Laut Haefeli kann

die Clearance dabei sogar um das bis zu 20-Fa-

che erhöht werden. Das bedeute, dass auch bis

zu 20-fach höher dosiert werden müsse. Für die

Schmerztherapie mit Opioiden heißt dies, wie

Haefeli erläuterte, dass bei einer gleichzeitigen

Phase I(Red/Ox)

CYP: Cytochrom-P450-IsoenzymeUGT: Uridin-5-Diphospho-Glucuronosyl-TransferaseTrsp: aktiver Transport

CYP UGT Trsp

Trsp

Trsp,Filtration

Bio

verfü

gbar

keit

F

UGT

Phase II(Konjugation)

Phase III(gerichteterTransport)

Abb. 1: Die meisten Arzneimittel werden vor der Ausscheidung über die Niere in der Leber durch eine Phase-1-Reaktion über die CYP-Enzyme und/oder eine Phase-2-Konjugation über die UGTs metabolisiert und anschließend entweder biliär oder renal eliminiert. Einige Stoffe werden auch direkt über die Nieren aus-geschieden.

Abb. 2: Wichtigste CYP-Isoformen des Arzneistoffwechsels. Für die Schmerz-therapie mit Opioiden sind insbesondere CYP3A4 und CYP2D6 von Bedeutung. Modifiziert nach Shimada T et al., J Pharmacol Exp Ther 1994.

Gabe eines CYP-Induktors ohne eine Dosiser-

höhung des Opioids Entzugssymptome auftreten

können. Wichtige CYP3A4-Induktoren seien das

Tuberkulostatikum Rifampicin, die Antiepileptika

Carbamazepin, Phenytoin und Phenobarbital, das

Virustatikum Efavirenz, der Endothelin-Rezeptor-

antagonist Bosentan sowie Johanniskraut. Da es

sich bei Letzterem um ein frei verkäufliches pflanz-

liches Präparat handelt, werde es häufig bei der

Anamnese nicht erfasst. Die Inhaltsstoffe von Jo-

hanniskraut lassen sich aber laut Haefeli bei circa

fünf Prozent aller Patienten im Blut nachweisen.

Bei der CYP-Inhibition wird das Enzym durch den

Hemmstoff entweder reversibel oder irreversibel

gehemmt, woraus ein verminderter Abbau eines

Arzneimittels resultiert. Die reversible Hemmung

ist dadurch gekennzeichnet, dass das Substrat

durch den CYP-Inhibitor kompetitiv von der Bin-

dungsstelle verdrängt wird. Der Effekt der Inhibi-

tion ist konzentrationsabhängig und setzt rasch

ein. Bei der irreversiblen Hemmung kommt es

hingegen zu einer kovalenten Bindung an das

Enzym oder zur Zerstörung der CYP-Enzyme.

Der inhibitorische Effekt erreicht dann erst verzö-

gert nach einigen Tagen sein Maximum. Die En-

zymaktivität ist bei einer irreversiblen Hemmung

erst nach einer Neubildung der CYP-Enzyme – in

der Regel nach zwölf Tagen – wiederhergestellt.4

Haefeli betonte, dass diese zeitlichen Verzöge-

rungen bei Dosisanpassungen unbedingt zu be-

rücksichtigen seien.

CYP­Inhibition – Einfluss auf Opioide, die

als Prodrug vorliegen

Die Effekte einer CYP-Inhibition auf Opioide hän-

gen von deren pharmakokinetischen Eigenschaf-

ten ab. So liegen einige Opioide wie das Tramadol

50% aller metabolisierten Arzneimittel

20%

5%

Opioide

(in-)aktive MetabolitenOpioide

25%

CYP3A4 30% CYP1A2 13%

CYP2C9

CYP2C19

CYP2D6 2%

CYP2E1 7%

20%

3

ARZNEIMITTELINTERAKTIONEN

oder das Codein als sogenanntes Prodrug vor,

was bedeutet, dass sie ihre pharmakologische

Wirkung erst nach einer Metabolisierung über

das CYP2D6 zum jeweiligen aktiven Metaboli-

ten entfalten. Wird nun Tramadol gemeinsam mit

einem Inhibitor des CYP2D6, wie zum Beispiel

mit dem Antidepressivum Paroxetin, verabreicht,

dann können weniger aktive Tramadolmetabo-

liten ((+)-O-Desmethyl-tramadol, ein µ-Agonist)

gebildet werden und das Prodrug akkumuliert.

Die Folge davon ist eine Wirkungsminderung

oder -verlust des Tramadols.5 Eine vergleichbare

Situation liegt bei Patienten mit einer genetischen

Variante des CYP2D6, den langsamen Metaboli-

sierern, vor.6 Dadurch, dass weniger oder lang-

samer aktive Metabolite gebildet werden können,

kommt es bei einer Standarddosierung zu einer

beschränkten Response auf Tramadol. Auch das

Codein wird über das CYP2D6 in seinen aktiven

Metaboliten, das Morphin, umgewandelt. Unge-

fähr neun Prozent der Bevölkerung sind langsa-

me Metabolisierer im CYP2D6. Bei diesen Pati-

enten ist die Halbwertszeit von Codein um das

circa Zehnfache erhöht.7 Sowohl bei langsamen

Metabolisierern, als auch bei Patienten, die als

Komedikation einen CYP2D6-Inhibitor erhalten,

kann mit Codein keine ausreichende Analgesie

erreicht werden. Um Wirkungsverluste zu vermei-

den, müsse man folglich beim Einsatz von Opio-

iden in der Schmerztherapie die Inhibitoren von

CYP2D6 kennen, erklärte Haefeli. Dazu gehörten

zum Beispiel die selektiven Serotonin-Wiederauf-

nahmehemmer Paroxetin und Fluoxetin (Tab.1).

Wichtig sei jedoch auch zu wissen, dass es sich

bei pharmakokinetischen Wechselwirkungen

nicht um einen Klasseneffekt handelt. Somit habe

man, so Haefeli, oft die Möglichkeit, auf eine an-

dere Substanz derselben Klasse, wie zum Bei-

spiel auf Citalopram, auszuweichen.

„Eine Kenntnis der wichtigsten CYP-Isoenzy-

me ist für die Abklärung von Wechselwirkun-

gen in der Schmerztherapie und insbesonde-

re für den Einsatz von Opioiden sehr hilfreich.“

Prof. Dr. Walter E. Haefeli

CYP­Inhibition – Einfluss auf Opioide, die

als aktive Muttersubstanz vorliegen

Die Opioide Fentanyl, Methadon und Oxycodon

liegen im Gegensatz zu Tramadol und Codein

bereits als aktive Muttersubstanz vor. Sie werden

über das CYP3A4 in ihre vorwiegend inaktiven

Metaboliten abgebaut. Erhält ein Patient unter

einer Therapie mit diesen Opioiden als Komedi-

kation einen CYP3A4-Inhibitor, wie zum Beispiel

den HIV-Protease-Inhibitor Ritonavir, kommt es

in Folge des verminderten Abbaus zu einer Ak-

kumulation des aktiven Wirkstoffes und damit zu

einer Wirkungsverstärkung mit der Gefahr einer

Überdosierung.8 Weitere wichtige CYP3A4-Inhi-

bitoren sind Azol-Fungistatika (z. B. Itraconazol)

und Cimetidin sowie Makrolide, wie Erythromycin

und Clarithromycin (Tab. 1).9 Letztere binden sich

als irreversible Hemmstoffe kovalent an CYP3A4,

sodass mit einer erneuten Enzymaktivität von

CYP3A4 erst nach der Neubildung des Enzyms

(nach vielen Tagen) gerechnet werden kann. Ha-

efeli betonte, dass es im Zusammenhang mit der

durch eine CYP-Inhibition auftretenden Wirkungs-

verstärkung von Opioiden wichtig sei, zwischen

Dosis und Konzentration zu unterscheiden. So

könne beispielsweise durch eine Komedikation

mit Ritonavir die Exposition gegenüber Fenta-

nyl um bis zu 170 Prozent ansteigen, was einer

2,7-fachen Steigerung der ursprünglichen Dosis

entspricht.10 Auch bei einer topischen Applikation

von Opioiden, wie zum Beispiel bei Verabreichung

von Fentanyl über ein Pflaster, führe eine Kome-

dikation mit CYP3A4-Inhibitoren zur Akkumulation

von Fentanyl und damit zu einer Wirkungsverstär-

kung.10 Interessanterweise scheine die topische

Applikation von Buprenorphin nicht davon betrof-

fen zu sein.11

„Eine bestimmte Dosis muss deshalb nicht

immer zur selben Wirkstoff-Konzentration im

Menschen führen; vielmehr können beson-

dere Rahmenbedingungen wie Komedikati-

on und Zustand der Eliminationsorgane die

Exposition ganz massiv verändern.“ Prof. Dr.

Walter E. Haefeli

Opioide und Niereninsuffizienz – Akkumula­

tion von aktiven und toxischen Metaboliten

Bevor eine Substanz über die Niere ausgeschie-

den werden kann, wird sie oft über die Enzyme

der Phase-2-Konjugation in der Leber wasser-

löslich gemacht. Dies erfolgt zum Großteil durch

eine Glucuronidierung über die UGTs. Arzneimit-

telinteraktionen an den UGTs sind laut Haefeli

im Gegensatz zu den CYP-Enzymen sehr selten

(Abb. 3). Eine hemmende Wirkung auf die UGTs

haben, wie Haefeli erläuterte, zum Beispiel das

Urikosurikum Probenecid und das NSAID Nap-

roxen. Eine der wenigen Substanzen, die nach

Umwandlung durch die UGTs in der Phase-2-

Konjugation weiterhin als aktiver Metabolit in

Form von Morphin-6-Glucuronid vorliege, ist laut

Haefeli Morphin. Da dieser Metabolit fast aus-

schließlich über die Niere eliminiert werde, könne

im Falle einer Niereninsuffizienz das pharmakolo-

gisch aktive Morphin-6-Glucuronid akkumulieren.

Da bei circa 14 Prozent der internistischen Pati-

enten eine Niereninsuffizienz vorliege, sollte man,

forderte Haefeli, insbesondere bei älteren Patien-

ten bei akuter Einschränkung der Nierenfunktion

Morphin vorsichtig dosieren. Eine Niereninsuffizi-

enz könne, so Haefeli, auch bei der Bildung von

toxischen Metaboliten problematisch werden.

Dies sei zum Beispiel beim Pethidin der Fall, das

in der Leber zu Normeperidin abgebaut werde.

Denn Normeperidin wirkt neurotoxisch und kann

bei Akkumulation im Organismus Epilepsien aus-

lösen.12 Pethidin eigne sich deshalb nicht für eine

Langzeittherapie und sollte bei einer Niereninsuf-

fizienz nicht verabreicht werden.

Tapentadol – geringes Interaktionspotenzial

durch Metabolisierung über UGTs

Das zentral wirksame Analgetikum Tapentadol

vereint in einem Molekül zwei unterschiedliche

Wirkmechanismen − den µ-Opioidrezeptor-Ago-

nismus (MOR) sowie die Noradrenalin-Wiederauf-

nahmehemmung (NRI).13 Im Gegensatz zu vie-

len anderen Opioiden spielt der Metabolismus

über das Cytochrom-P450-System (CYP2D6,

CYP3A4, CYP2C9, CYP2C19) nur eine unter-

geordnete Rolle.14 Der Abbau erfolgt hingegen

hauptsächlich über die UGTs, über die es in sei-

ne inaktiven Metaboliten metabolisiert wird. Die

Ausscheidung erfolgt nahezu ausschließlich über

die Nieren.15 Da die Metaboliten inaktiv seien,

sei wahrscheinlich auch eine Niereninsuffizienz

unproblematisch, vermutete Haefeli. Eine Hem-

mung der UGTs durch die beiden UGT-Hemmer

Probenecid und Naproxen führten zu einem

Anstieg der Wirksubstanz (AUC) um 57 bezie-

hungsweise 17 Prozent.16,17 Laut Haefeli wird

dies in der Regel als nicht klinisch relevant ange-

sehen. Tapentadol selbst habe, betonte Haefeli,

in vitro nur einen leichten hemmenden Effekt auf

CYP2D6 gehabt und an den anderen CYP-Enzy-

men weder ein hemmendes noch induzierendes

Potenzial aufgewiesen.16 Die gleichzeitige Ver-

abreichung des CYP2C19-Inhibitors Omeprazol

ebenso wie eine begleitende Paracetamol- und

Aspiringabe hatten laut Haefeli keinen Einfluss auf

die Pharmakokinetik von Tapentadol.17

CYP2D6

AmiodaronBupropionChlorpheniraminCimetidinClomipraminDoxepinDuloxetinFluoxetinHaloperidolMethadonParoxetinRitonavir

CYP3A4

AmiodaronCimetidinClarithromycinDiltiazemErythromycinFluconazolGrapefruitsaftIndinavirItraconazolKetoconazolNelfinavirRitonavirVerapamilVoriconazol

Tab. 1: Klinisch relevante Inhibitoren der beiden für den Opioidmetabolismus wichtigen CYP-Enzyme CYP2D6 und CYP3A4. Modifiziert nach Hafner V et al., Internist 2010.

4

ARZNEIMITTELINTERAKTIONEN

„Nach den bisherigen Daten zu Tapentadol

sind Probleme mit Wechselwirkungen nicht

zu erwarten.“ Prof. Dr. Walter E. Haefeli

Pharmakodynamische Interaktionen in der

Schmerztherapie

Bei pharmakodynamischen Interaktionen führt

die Anwesenheit zweier Substanzen am glei-

chen Wirkort zu Wirkungsänderungen, ohne

dass deren Konzentration verändert wird. In der

Schmerztherapie spielt dies beispielsweise eine

Rolle, wenn zu einem vollen Opioidagonisten, wie

zum Beispiel Morphin, Fentanyl, Oxycodon oder

Pethidin, zusätzlich ein partieller Opioidagonist,

wie zum Beispiel Nalbuphin oder Buprenorphin,

verabreicht wird.18,19 Dies könne, so Haefeli, zu

einer Abschwächung der starken analgetischen

Wirkung des vollen Agonisten durch den partiel-

len Agonisten führen. In Einzelfällen kann es da-

durch zu ungenügender Analgesie kommen.20,21

Eine weitere wichtige pharmakodynamische In-

teraktion, vor der auch in den Fachinformationen

gewarnt wird, ist das Auftreten von Kreislauf-,

Atem- und ZNS-Störungen im Rahmen eines Se-

rotoninsyndroms bei der Kombination von MAO-

Hemmern und Pethidin. Obwohl diese Interaktion

zwar nur für Pethidin eindeutig nachgewiesen

wurde, ist die Kombination eines Monoaminoxi-

dase-(MAO-)Hemmers mit einem Opioid kontra-

indiziert. Es wird deshalb allgemein empfohlen,

einen MAO-Hemmer mindestens zwei Wochen

vor einer Opioidtherapie abzusetzen (Abb. 4).

Abb. 3: Insbesondere die Opioide, die in der Phase-1-Reaktion über die CYP-Enzyme abgebaut werden, weisen ein erhöhtes Interaktionspotenzial auf. Modifiziert nach Haefeli WE 2011.

Abb. 4: Empfehlungen zum Ein- und Ausschleichen von MAO-Hemmern bei Trizyklika sowie Opioidtherapie. Modifiziert nach Bienentreu A et al., Ther Umschau 2008 und Haefeli WE 2011.

Opioide Tranylcypromin

SSNRI(Venlafaxin) SSRITZA

MAO-B-Hemmer(Selegilin, Rasagilin)

MAO-A-Hemmer(Moclobemid)

14 Tage Pause

14 Tage Pause 7 Tage Pause14 Tage Pause

14 Tage Pause

14 Tage Pause

14 Tage Pause

2 Tage Pause

5 HWZ Pause

1 Tag Pause

1 Tag Pause

5 HWZ Pause 5 HWZ Pause

5 HWZ Pause

5 HWZ Pause

HWZ: HalbwertszeitSSRI: Selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer SSNRI: Selektiver Serotonin-Noradrenalin-WiederaufnahmehemmerTZA: Trizyklische Antidepressiva

14 Tage Pause7 Tage Pause

überlappend ein-

bzw. ausschleichend

überlappend ein- bzw. ausschleichend

überlappend ein-

bzw. ausschleichend

Prodrug(metabolische Aktivierungerforderlich)

Codein

Dihydrocodein

Tilidin

(Tramadol)

Morphin M-6-G

Dihydromorphin

Nortilidin

O-Desmethyl-Tramadol

M-3-Glucuronid

Nordihydrocodein

Bisnortilidin

Aktives Prinzip(eigentliche Wirksubstanz)

Buprenorphin

Fentanyl

Hydrocodon

Hydromorphon

Morphin

Methadon

Oxycodon

Pethidin

Piritramid

Tapentadol

Norbuprenorphin

Hydromorphon

M-6-Glucuronid

?

(Oxymorphon)

Normeperidin

?

Buprenorphin

Norfentanyl

inaktive Glucuronide

inaktive Glucuronide

Morphin-3-Glucuronid

Noroxycodon

Glucuronide

inaktive Glucuronide

Aktive Metaboliten(mit aktivem Beitrag zur Wirkung)

Inaktive Metaboliten(ohne Beitrag zur Wirkung)

viele Interaktionen kaum Interaktionen

UGT

Phase-2-EnzymePhase-1-Enzymevor allem CYP2D6 und CYP3A4

5

THERAPIE CHRONISCHER SCHMERZEN

Mechanismenorientierte Schmerztherapie bei NichttumorpatientenDie Behandlung chronischer Schmerzen stellt eine große Herausforderung dar. Die Erfahrun­

gen der letzten Jahre zeigen, dass eine erfolgreiche Therapie von chronischen Schmerzen

sich an den zugrundeliegenden Schmerzmechanismen orientieren sollte. Tiefere Einblicke

in die Mechanismen der Schmerzentstehung und ­chronifizierung geben die neuen Erkennt­

nisse aus der (bildgebenden) Schmerzforschung. Neben kortikalen Reorganisationsphäno­

menen, Aktivitätszunahmen in definierten Gehirnarealen und Veränderungen der Neuro chemie

scheint insbesondere auch eine fehlende endogene Schmerzhemmung für die Schmerzchro­

nifizierung von Bedeutung zu sein. Analgetika können über verschiedene Wirkmechanismen

in die pathophysiologischen Vorgänge bei der Schmerzchronifizierung eingreifen. Mit Tapen­

tadol steht ein zentral wirksames Analgetikum zur Verfügung, das zwei Wirkmechanismen

in einem Molekül vereint: Es bindet nicht nur an µ­Opioidrezeptoren, sondern hemmt auch

gleichzeitig die neuronale Wiederaufnahme des Noradrenalins. Damit verstärkt es die Wir­

kung der endogenen Schmerzhemmung.

Mindestens 19 Prozent der erwachsenen Bevöl-

kerung in Europa leiden an chronischen nicht-

tumorbedingten Schmerzzuständen.23 Dies de-

monstrierte der Pain-in-Europe-Survey, bei dem

die Daten von über 46.000 Teilnehmern aus 15

europäischen Ländern und Israel erhoben wur-

den. Damit gehören chronische Schmerzen zu

den häufigsten Erkrankungen. Dr. med. Stefan

Schramm vom Schmerztherapie Zentrum in

Mannheim wies in seinem Vortrag darauf hin,

dass jedoch trotz der Häufigkeit von chroni-

schen Schmerzzuständen in der klinischen Pra-

xis die Qualität der Schmerzreduktion zu wün-

schen übrig lasse. Er bezog sich hierbei auf den

Pain-in-Europe-Survey in dem 64 Prozent der

Studienteilnehmer angaben, dass der Schmerz

unter der verordneten Schmerzmedikation nach

eigenen Aussagen nur unzulänglich kontrolliert

wäre. Eine der Ursachen für eine unzureichen-

de Schmerzkontrolle sind Nebenwirkungen, die

eine Dosisreduktion des Analgetikums erfor-

derlich machen oder gar zum Therapieabbruch

führen. Laut eines systematischen Reviews

brechen chronische Schmerzpatienten unter

einer Therapie mit WHO-III-Opioiden eine Be-

handlung häufiger wegen Nebenwirkungen ab

als wegen ungenügender Wirksamkeit.24 Eine

unzureichende Schmerzlinderung kann aber

auch die Folge einer unzulänglichen Wirkung

des verwendeten Schmerzmittels auf die vor-

herrschende Schmerzart sein. Experten fordern

deshalb seit längerem eine mechanismenorien-

tierte Schmerztherapie, die sich an den zugrun-

deliegenden pathophysiologischen Vorgängen

orientiert.

Auch die WHO arbeitet im Moment an neuen

Leitlinien für die Therapie chronischer gutartiger

Schmerzen, die eine individuellere und spezi-

fisch auf den Patienten und seine Schmerzsym-

ptomatik zugeschnittene Therapie ermöglichen

soll.25

Therapie chronischer Schmerzen – Bedeu­

tung der körpereigenen Schmerzhemmung

Für eine mechanismenorientierte Schmerztherapie

sind genaue Kenntnisse über die Entstehung no-

zizeptiver und neuropathischer Schmerzen sowie

über die an der Schmerzweiterleitung und -modula-

tion beteiligten Schmerzbahnen erforderlich. Durch

die aufsteigenden (aszendierenden) Nervenbahnen

wird das vom Nozizeptor gesendete Schmerzsig-

nal über das Rückenmark in das Gehirn weiterge-

leitet. Im zerebralen Kortex und in verschiedenen

anderen Kerngebieten wird der Schmerz wahr-

genommen und emotional bewertet. Eine wich-

tige Bedeutung für die Schmerzverarbeitung hat

zudem die körpereigene Schmerzhemmung über

absteigende (deszendierende) Schmerzbahnen,

die zu einer vermehrten Freisetzung der beiden

Neurotransmitter Noradrenalin (inhibitorisch) und

Serotonin (inhibitorisch und exzitatorisch) im Rü-

ckenmark führen. Wie Schramm ausführte, gibt

es inzwischen auch Hinweise darauf, dass ein

Ausfall der körpereigenen Schmerzhemmung eine

wichtige Rolle bei der Entstehung von chronischen

Schmerzerkrankungen, wie beispielsweise der Fi-

bromyalgie, spielt. In den nächsten Jahren sei es

deshalb möglich, dass therapeutische Ansätze, die

in die körpereigene Schmerzhemmung über des-

zendierende Schmerzbahnen eingreifen, weiter an

Bedeutung gewinnen.

„Eine spezifische Schmerztherapie kann ich

als Schmerztherapeut nur beginnen, wenn ich

die spezifischen Schmerzmechanismen ken-

ne.“ Dr. med. Stefan Schramm

Pain Router® – Hilfe bei der Schmerzdiffe­

renzierung und Therapieauswahl

In der klinischen Praxis kann der Pain Router® dem

Arzt bei der Auswahl einer geeigneten mechanis-

menorientierten Schmerztherapie eine gute Ori-

entierung bieten.26 Mithilfe eines übersichtlichen

Schemas können der Schmerzcharakter und die

Symptome des Patienten eingeordnet werden.

Danach kann der Arzt eine medikamentöse The-

rapie auswählen, die sich an den zugrundeliegen-

den Mechanismen orientiert. Leidet der Patient

beispielsweise im Rahmen einer Arthrose oder

eines myofaszialen Schmerzsyndroms an einem

belastungsabhängigen lokalen Druckschmerz

ohne Anzeichen einer Entzündung, dann handelt

es sich in der Regel um einen rein nozizeptiven

Schmerz. Dieser sollte mit Nichtopioiden (NSAR,

Paracetamol), Muskelrelaxanzien oder – bei star-

ken Schmerzzuständen – mit Opioiden therapiert

werden. Bei einer diabetischen Polyneuropathie

hingegen klagt der Patient über brennende und

einschießende Schmerzen – insbesondere auch

in Ruhe. Bei diesen rein neuropathischen Schmer-

Baden-BadenDr. med. Ulrich Köster

NürnbergDr. med. Stefan Schramm

Nürnberg und FreisingProf. Dr. med. Christian Maihöfner

FreisingProf. Dr. med. Marcus Schiltenwolf

6

THERAPIE CHRONISCHER SCHMERZEN

zen kommt es durch die periphere Nervenläsion

zur Neubildung von Rezeptoren und Ionenkanä-

len, die zu einer Veränderung des Ruhepotenzials

und damit zu einer vermehrten Spontanaktivität

der Nervenzellen führt. Zur Therapie des neuro-

pathischen Schmerzes kommen deshalb memb-

ranstabilisierende Substanzen, wie Antikonvulsiva

(Natrium- und Kalzium-Kanalblocker) oder An-

tidepressiva, zum Einsatz. Von Bedeutung sind

hier auch Wirkstoffe, die über eine noradrener-

ge und serotonerge Wiederaufnahmehemmung

in die endogene Schmerzhemmung eingreifen.

Hierzu gehören bestimmte Antidepressiva wie

die selektiven Serotonin- und Noradrenalin-Wie-

deraufnahmehemmer (SSNRI) oder das zentral

wirksame Analgetikum Tapentadol.

„Über 70 Prozent der Ärzte verordnen bei

neuropathischen Schmerzen ein NSAR.“ Dr.

med. Stefan Schramm

Tapentadol vereint zwei Wirkmechanismen

in einer Substanz

Tapentadol vereint zwei Wirkmechanismen –

µ-Rezeptor-Agonismus (MOR) und Noradrena-

lin-Wiederaufnahmehemmung (NRI) in einem

Molekül. Beide Mechanismen beteiligen sich auf

synergistische Weise am analgetischen Effekt von

Tapentadol.27 Aufgrund dieser einzigartigen Phar-

makologie wurde Tapentadol von einem interna-

tionalen pharmakologischen Advisory Board als

erster Vertreter der Substanzklasse „MOR-NRI“

zugeordnet.28,29 Der MOR-Agonismus hemmt

spinal über die Stimulation der prä- und postsy-

naptischen Opioidrezeptoren die Schmerzleitung

an den aufsteigenden Bahnen und moduliert den

Schmerz supraspinal. Über die NRI wird hinge-

gen in den absteigenden schmerzhemmenden

Bahnen die Konzentration von Noradrenalin im

synaptischen Spalt erhöht und damit die kör-

pereigene Schmerzhemmung verstärkt (Abb. 1).

Studien demonstrierten, dass die relative Betei-

ligung der beiden Wirkmechanismen dabei von

der zugrundeliegenden Schmerzart abhängt.

Während im nozizeptiven Schmerzmodell die

schmerzhemmende Wirkung verstärkt über den

MOR-Agonismus vermittelt wird, hat die NRI im

neuropathischen Schmerzmodell eine bedeu-

tendere Rolle bei der Schmerzhemmung als die

µ-Rezeptorwirkung.30 Trotz dieser Gewichtung

sind immer beide Mechanismen gleichzeitig wirk-

sam und an der Schmerzinhibition beteiligt. Ta-

pentadol weist somit ein breites Wirkspektrum auf

und eignet sich deshalb sowohl für die Therapie

von nozizeptiven und neuropathischen Schmer-

zen als auch von gemischten Schmerzen (Mixed

Pain). Da die Affinität zum µ-Rezeptor im Vergleich

zu Morphin um das 50-Fache geringer ist, kommt

es, basierend auf den Erfahrungen des Entwick-

lungsprogramms, unter Tapentadol zudem zu

deutlich weniger opioidtypischen Nebenwirkun-

gen wie beispielsweise Übelkeit und Obstipation,

als unter Oxycodon – bei allerdings vergleichbarer

Wirksamkeit beider Wirkstoffe.31 Ein weiterer Vor-

teil im Hinblick auf Neben- und Wechselwirkun-

gen ist die günstige Pharmakokinetik von Tapen-

tadol. Seine absolute Bioverfügbarkeit wird durch

eine gleichzeitige Nahrungsaufnahme nur unbe-

deutend beeinflusst. Tapentadol kann deshalb

unabhängig von den Mahlzeiten eingenommen

werden. Da es eine niedrige Bindungsaffinität für

Plasmaproteine aufweist und weitgehend über

CYP-unabhängige Stoffwechselwege abgebaut

wird, ist das Interaktionspotenzial gering. Weil

beim Abbau von Tapentadol keine aktiven Meta-

bolite gebildet werden, ist zudem das Risiko für

eine Kumulation sehr gering.32,33,29

Tapentadol – Schmerzreduktion bei nozi­

zeptiven und neuropathischen Schmerzen

Die Wirksamkeit von Tapentadol-Retardtabletten

wurde in klinischen Studien bei unterschiedli-

chen chronischen Schmerzzuständen unter-

sucht.31,34,35,36 Bei nozizeptiven Schmerzen zeigte

Tapentadol bei Patienten mit starken chronischen

Schmerzen aufgrund einer Gonarthrose eine

wirksame und gleich starke Schmerzlinderung

wie Oxycodon.34 Im Vergleich zu Placebo än-

derten sich die durchschnittlichen Schmerzin-

tensitätswerte für Tapentadol retard signifikant

(p < 0,001). Für Patienten mit chronischen, rein

nozizeptiven Schmerzen kann deshalb Tapen-

tadol eine wirksame Therapieoption sein (siehe

Kasuistik 1).

Die Wirksamkeit von Tapentadol konnte auch bei

rein neuropathischen Schmerzen demonstriert

werden. In einer Studie zur diabetischen Poly-

neuropathie führte Tapentadol retard während

der dreiwöchigen offenen Titrationsphase zu ei-

ner deutlichen Schmerzreduktion (Abnahme der

mittleren Schmerzintensität (SE) von NSR 7,3 auf

3,5). In der doppelblinden Erhaltungsphase stieg

die durchschnittliche Schmerzintensität in der

Placebogruppe wieder an (mittlere Änderung der

SE 1,3), wohingegen die Schmerzintensität in der

Tapentadol-retard-Gruppe auf einem stabilen Ni-

veau blieb (mittlere Änderung der SE -0,1).35 Die

Wirksamkeit von Tapentadol zeigte sich auch in

Verbesserungen der gesundheitsbezogenen Le-

bensqualität. Die Therapie mit Tapentadol führte

zu numerischen Verbesserungen aller SF-36-

Scores.38

Tapentadol – Analgetische Wirkung auch

auf gemischte Schmerzsyndrome

Daneben wurde die analgetische Wirksamkeit

von Tapentadol retard bei gemischten Schmerz-

syndromen mit nozizeptivem und neuropathi-

schem Anteil untersucht. In einer klinischen

Studie bei Patienten mit chronischen Rücken-

schmerzen verbesserten sich unter Tapentadol

retard (100–250 mg zweimal täglich) sowie Oxy-

codon CR während der gesamten Titrations- und

Erhaltungsphase (15 Wochen) die durchschnitt-

lichen Schmerzintensitätswerte signifikant im

Vergleich zu Placebo.36 Tapentadol retard war im

Vergleich zu Oxycodon CR besser verträglich,

insbesondere hinsichtlich opioidtypischer gast-

rointestinaler Nebenwirkungen. Die bessere Ver-

träglichkeit von Tapentadol retard im Vergleich zu

Oxycodon CR zeigte sich auch an einer deutlich

reduzierten Rate an Studienabbrüchen aufgrund

behandlungsassoziierter unerwünschter Neben-

wirkungen (TEAEs).36 Mit retardiertem Tapentadol

steht somit eine Behandlungsoption in Form einer

Monotherapie zur Verfügung, die sowohl die nozi-

zeptive als auch die neuropathische Komponen-

Aszendierende Schmerzbahnen

Steuerung der Schmerzweiterleitung über Schmerzbahnen

Schmerzweiterleitung zum Gehirn

endogene Hemmung derSchmerzweiterleitung(deszendierende Regulation)

→ Hemmung der Schmerzweiterleitung über µ-Opioid- Rezeptoraktivierung

→ über Aktivierung des α2-Rezeptors durch Noradrenalinfreisetzung

Deszendierende Schmerzbahnen

Tapentadol = µ-Opioid-Rezeptor-Agonist

Tapentadol = Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer

MOR NRI

Abb. 1: Tapentadol vereinigt zwei Wirkmechanismen in einem Molekül. Es beeinflusst somit über den MOR sowohl die Schmerzweiterleitung an den aszendierenden Schmerzbahnen als auch über den NRI die endo-gene Hemmung der Schmerzweiterleitung über die deszendierenden Bahnen. Modifiziert nach Tzschentke TM et al., Drugs Fut 2006 und Tzschentke TM et al., JPET 2007.

7

THERAPIE CHRONISCHER SCHMERZEN

te von chronischen Schmerzen behandelt (siehe

Kasuistik 2).

„Gerade auch bei nicht auf Dauer opioid-

pflichtigen Schmerzzuständen ist Tapentadol

gut geeignet, da es in der Regel beim Abset-

zen keine Probleme bereitet“ Dr. med. Ulrich

Köster

Auf das Problem einer Chronifizierung beim

neuropathischen Schmerz ging Prof. Dr. med.

Christian Maihöfner von der Neurologischen Uni-

versitätsklinik in Erlangen in seinem Vortrag ein.

Er berichtete, dass das Risiko hier aufgrund der

durch die Nervenläsion induzierten morphologi-

schen Veränderungen an den Neuronen höher

zu sein scheint als beim nozizeptiven Schmerz.

Die anhaltende Aktivität der geschädigten Ner-

venfasern führe im ZNS zu dauerhaften neuro-

plastischen Veränderungen – ein sogenanntes

Schmerzgedächtnis bilde sich aus. Ein wesent-

licher Teil der Chronifizierungsmechanismen

beim chronischen Schmerz findet laut Maihöfner

im Gehirn statt. Neue spektakuläre Einblicke in

die Schmerzverarbeitung und in die Entstehung

des Schmerzgedächtnisses seien in den letzten

Jahren durch moderne, nichtinvasive bildgeben-

de Methoden, wie die Magnetenzephalografie

(MEG), das funktionelle MRT (fMRT) sowie die

Positronenemissionstomografie (PET), ermög-

licht worden. Maihöfner betonte, dass es nicht

wie früher angenommen nur „ein Schmerzzent-

rum“ gebe, sondern dass durch Schmerzreize ein

komplexes Netzwerk an Hirnarealen aktiviert wer-

de – zum Beispiel das laterale Schmerzsystem.

Es besteht laut Maihöfner aus dem primären (S1)

und dem sekundären somatosensorischen Kor-

tex (S2).39 Beide Areale verarbeiteten vorwiegend

die sensorisch-diskriminativen Subkomponenten

der Schmerzempfindung. Das mediale Schmerz-

system sei an der affektiv-motivationalen Verar-

beitung des Schmerzes beteiligt und setze sich

aus dem anterioren Cingulum (ACC) und dem

präfrontalen Kortex (PFC) (Abb. 5a) zusammen.

Eine Zwischenstellung bei der Schmerzverarbei-

tung nehme, so Maihöfner, die Inselrinde (Insula)

ein. Da Aktivierungen der Insel mit sympathischen

Antworten einhergehen, werde vermutet, dass

die Insel ein wichtiger Bestandteil bei der autono-

men Subdimension der menschlichen Schmerz-

erfahrung sei.

„Schmerz ist ein komplexer Bewusstseinsin-

halt, das Gefühl „Schmerz“ entsteht erst im

Gehirn.“ Prof. Dr. med. Christian Maihöfner

Kortikale Reorganisationsphänomene bei

neuropathischen Schmerzen

Bei chronischen neuropathischen Schmerzen

kann laut Maihöfner die Schmerzverarbeitung in

den beteiligten Gehirnarealen deutlich verändert

sein (Abb. 5b). Hierzu gehörten beispielsweise

Reorganisationen der somatotopischen Karten

in den sensorischen und motorischen Arealen

der Hirnrinde. Diese Phänomene beobachte man

insbesondere bei Phantomschmerzen und kom-

plexen regionalen Schmerzsyndromen (CRPS).

So zeigten CRPS-Patienten eine erhebliche Ab-

weichung der Körperrepräsentationen im sensori-

schen Kortex. Maihöfner und seine Arbeitsgruppe

konnten zeigen, dass bei Patienten mit CRPS die

kortikale Ausdehnung der Handrepräsentati-

on kontralateral zur CRPS-Seite schrumpft und

sich zudem das Handareal in Richtung Lippe

1

74­jährige Patientin mit schwerer Gonarthrose

Dr. med. Stefan Schramm, Schmerztherapie Zentrum Mannheim

Anamnese:

Die 74-jährige Patientin stellte sich – bei schwerster Gonarthrose und De-

formitäten in beiden Knien – aufgrund von starken chronischen Schmer-

zen im Schmerzzentrum vor. Wegen einer begleitenden Kardiomyopathie

war eine kausale Therapie mit einer Knie-TEP nicht möglich.

Diagnose:

Bei der Untersuchung zeigte sich eine rein bewegungsabhängige

Schmerzsituation ohne Hinweis auf eine neuropathische Schmerzkom-

ponente. Trotz einer analgetischen Therapie mit Fentanylpflastern (200

µg/h, Wechsel alle drei Tage) konnte bei der Patientin keine ausreichende

Schmerzreduktion erzielt werden. Die subjektive Schmerzwahrnehmung

auf der visuellen Analogskala (VAS) wurde mit 7 von 10 angegeben. Die

Funktionskapazität war relevant eingeschränkt. Zudem klagte die Patientin

über opioidbedingte Nebenwirkungen mit Obstipation und Schwindel.

Therapie:

Die Patientin wurde äquianalgetisch auf Tapentadol retard umgestellt. Un-

ter der aktuellen Therapie mit retardiertem Tapentadol in einer Dosierung

von 500 mg/Tag weist die Patientin nur noch eine mäßig eingeschränkte

Funktionskapazität bei guter Verträglichkeit auf. Die subjektive Schmerz-

wahrnehmung auf der VAS wird mit 3 von 10 angegeben.

Fazit:

• Mit Tapentadol konnte bei der Patientin mit rein nozizeptiven chronischen

Schmerzen eine gute Schmerzkontrolle bei guter Verträglichkeit erzielt

werden.

• In der Regel ist bei älteren Patienten über 65 Jahre der bisherigen Studi-

enlage zufolge keine Dosisanpassung notwendig.37

• Im Hinblick auf die bestehende Kardiomyopathie sollte die kardiovas-

kuläre Verträglichkeit einer Schmerzmedikation berücksichtigt werden.

Tapentadol führte in therapeutischen Dosierungen in den klinischen

Studien nicht zu Veränderungen der EKG-Parameter – insbesondere zu

keiner Verlängerung des QT-Intervalls.37

Kasuistik

• Seit 15. September 2010 als Palexia® retard in Deutschland erhältlich• Untersteht der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung• Formulierung: retardierte Filmtabletten• Wirkstärken: 50, 100, 150, 200, 250 mg• Dosierung: zweimal täglich bis 500 mg/Tag• Indikation: starke chronische Schmerzen, die eine Therapie mit Opioiden erfordern

Empfehlungen für den Therapiestart:

• Opioidnaive und opioiderfahrene Patienten mit Morphinäquivalent von < 80 mg: Startdosis von 50 mg zweimal täglich (circa alle zwölf Stunden)

• Opioiderfahrene Patienten mit Morphinäquivalent von ≥ 80 mg: Startdosis von 100 mg zweimal täglich (circa alle zwölf Stunden)

• Therapieüberprüfung und Steigerung der Dosis (falls notwendig): circa alle drei Tage

• Als Bedarfsmedikation sind schnell freisetzende Analgetika, auch Kombinationen mit anderen Opioiden möglich

• Eine adjuvante Therapie mit Antiemetika und Laxanzien ist in der Regel nicht erforderlich

Tapentadol – Fakten für die Praxisi

8

THERAPIE CHRONISCHER SCHMERZEN

2

76­jährige Patientin mit chronischer Lumboischialgie nach Band­

scheibenoperation

Dr. med. Ulrich Köster, Klinik für Anästhesiologie, Spezielle Schmerzthera-

pie, Marienhospital Stuttgart

Anamnese:

Bei der 76-jährigen berenteten Patientin wurde im Dezember 2010 auf-

grund einer chronischen Lumbalgie und eines sensomotorischen L5-

Syndroms links bei Spinalkanalstenose L4 bis S1, multisegmentaler Fa-

cettengelenkshypertrophie lumbal und Bandscheibenprotrusionen (L4/5

neuroforaminal beiderseits sowie L5/S1 neuroforaminal links) eine mik-

rochirurgische Entfernung des Bandscheibenvorfalls bei L5/S1 durchge-

führt. Daraufhin kam es zu einer nahezu vollständigen Rückbildung der

Radikulopathie L5 links. Nach sechs Wochen traten erneut Beschwerden

auf, worauf die Patientin im März 2011 stationär zur konservativen, multi-

modalen Schmerztherapie aufgenommen wurde.

Diagnose:

Bei der Aufnahmeuntersuchung zeigten sich bis auf einen brennenden

Streifen links, der vom Gesäß bis ans Sprunggelenk reichte, keine neuro-

logischen Defizite. Es lag jedoch eine schmerzhafte Bewegungseinschrän-

kung des linken Beines vor. Die subjektive Schmerzwahrnehmung auf der

visuellen Analogskala (VAS) wurde mit 9 von 10 angegeben. Das Lasègue-

Zeichen war beiderseits negativ, der Zehen- und Hackengang nur unter

Schmerzen demonstrierbar.

Medikation bei Aufnahme:

• Tolperison 50 mg 1-0-1

• Novaminsulfon 20 Tropfen bei Bedarf

• Prednisolon 20 mg 1-0-0

• Omeprazol 20 mg 1-0-0

• Bisoprolol 10 mg ½-0-0

Im Rahmen der durchgeführten Untersuchungen wurde die Schmerz-

diagnose eines L5-Syndroms links mit vorwiegend neuropathischem

Schmerzcharakter (pain detect 20) bei einer subjektiven Schmerzstärke

auf der VAS (0–10) in Ruhe von 5 sowie 9 unter Belastung gestellt. Im

MRT stellte sich eine multisegmentale lumbale Spinalkanalstenose (L4 bis

S1 mit absoluter spinaler Enge), eine Protrusion von Bandscheibenmate-

rial L4/5 beiderseits intraforaminal und L5 links neuroforaminal sowie eine

Hypertrophie der Facettengelenke dar. Daneben zeigte sich eine fortge-

schrittene lipomatöse Umwandlung der autochthonen Rückenmuskulatur.

Therapie:

Die Patientin führte eine 18-tägige stationäre multimodale Schmerzthera-

pie durch. An den Wurzeln L5 und S1 links wurde zudem eine periradiku-

läre Therapie durchgeführt.

Medikation bei Entlassung:

• Gabapentin 300 mg 1-1-1

• Tapentadol retard 100 mg 1-0-1

• Concor 5 mg 1-0-0

• Novastatin 40 mg 0-0-1

Die subjektive Schmerzstärke bei der Entlassung wurde mit 2 von 10 (VAS)

angegeben.

Fazit:

Die Patientin zeigte ein gemischtes Schmerzsyndrom mit nozizeptiver und

überwiegend neuropathischer Komponente, das unter Medikation mit ei-

nem Muskelrelaxans, einem NSAR und einem Glukokortikoid nur unzurei-

chend kontrolliert war.

Mit der die multimodale Therapie begleitenden Umstellung auf Gabapentin

und Tapentadol retard, bei der auch die neuropathische Komponente des

Schmerzsyndroms berücksichtigt wurde, konnte eine gute Schmerzre-

duktion erzielt werden.

Kasuistik

Veränderungen und der Schmerzstärke feststel-

len.40,41,42 Kortikale Reorganisationsphänomene

seien mittlerweile auch bei anderen Erkrankun-

gen, wie chronischen Rückenschmerzen sowie

bei Nervenläsionen, nachgewiesen worden, so

Maihöfner. In der Zwischenzeit sei bekannt, dass

kortikale Reorganisationsphänomene durch mul-

timodale Therapieprogramme, die eine suffizi-

ente Schmerztherapie sowie neurorehabilitative

Therapieverfahren umfassen, wieder verbessert

werden können.41,43 Zu den neurorehabilitativen

Therapieverfahren gehöre die sogenannte Spie-

geltherapie, bei der durch das Spiegelbild der ge-

sunden Extremität und einem sensomotorischen

Training die krankheitsbedingten kortikalen Ver-

änderungen und somit die Schmerzentstehung

im Gehirn positiv beeinflusst werden sollen (siehe

Kasuistik 3). Durch Studien seien die positiven Ef-

fekte der Spiegeltherapie bei Phantomschmerzen

und CRPS mit einer deutlichen Schmerzreduktion

und einer verbesserten Kontrolle der erkrankten

Extremität oder des Phantomglieds bereits de-

monstriert worden, berichtete Maihöfner44,45

Aktivierung von emotionalen Gehirnarealen

und fehlende Schmerzhemmung

Neben kortikalen Reorganisationsphänomenen in

den somatotopischen Hirnrindenkarten beobach-

te man, so Maihöfner, bei chronischen Schmerz-

syndromen zudem eine vermehrte Aktivierung

von emotionalen Gehirnarealen wie dem dorso-

lateralen präfrontalen Kortex (PFC). Diese Akti-

vierung werde von multiplen Faktoren, wie einem

zugrundeliegenden pathologischen Schmerzzu-

stand, Erwartungshaltungen, Aufmerksamkeit,

Affekt und Stimmung beeinflusst und somit auch

als „individuelle Schmerzsignatur“ bezeichnet.

Mehrere tierexperimentelle Studien haben, wie

Maihöfner berichtete, gezeigt, dass bei chroni-

Abb. 5: a) Hirnaktivierung bei experimentellen Schmerz reizen: li. laterales Schmerzsystem mit S1 (primärer somatosensorischer Kortex) und S2 (se-kundärer somatosensorischer Kortex), re. mediales Schmerzsystem mit ACC (anteriorer cingulärer Kor-tex) und PFC (präfrontaler Kortex). b) Hirnaktivierung bei neuropathischen Schmerzen. Die Inzidenz der Aktivierungen entspricht den Größendarstellungen der jeweiligen Kortexareale. Modifiziert nach Mai-höfner C et al., Schmerz 2010.

a

b

verschoben hatte. Sowohl bei CRPS als auch

bei Phantomschmerzen konnte er eine positive

Korrelation zwischen dem Ausmaß der kortikalen

9

THERAPIE CHRONISCHER SCHMERZEN

334­jähriger Patient mit CRPS I Stadium 3 nach Mittelhand­

trümmerbruch (MHK 2) rechts

Prof. Dr. med. Marcus Schiltenwolf, Universitätsklinikum Heidelberg,

Stiftung Orthopädische Universitätsklinik, Heidelberg

Anamnese:

Der 34-jährige Patient, von Beruf Stukkateur im Bauhauptgewerbe,

klemmte sich im Oktober 2008 die rechte Hand in der Autotür ein, nach-

dem die Tochter die Tür unerwartet zugeschlagen hatte. Dabei erlitt er

einen Trümmerbruch des zweiten Mittelhandköpfchens. Die Fraktur wurde

operativ mit einer Osteosynthese versorgt. Nach der Metallentfernung im

Januar 2009 konnte der Patient wieder in das Berufsleben eingegliedert

werden. Im April 2009 fiel während der Arbeit eine Gerüstbauklappe auf

die operierte rechte Hand. Im Mai wurde der Patient aufgrund zunehmen-

der Beschwerden stationär aufgenommen. Im Rahmen der dort durchge-

führten Untersuchungen wurde ein CRPS I Stadium 3 der rechten Hand

sowie eine Anpassungsstörung diagnostiziert und eine medikamentöse

Schmerztherapie begonnen. Im November 2009 erhielt der Patient zudem

eine ambulante Psychotherapie, die im Januar 2010 aufgrund der weiter

bestehenden Schmerzsymptomatik mit einer tagesstationären Schmerz-

therapie ergänzt wurde. Parallel dazu erfolgten erste Rentengutachten

(handchirurgisch, neurologisch, psychiatrisch), die eine Minderung der

Erwerbsfähigkeit von 40 Prozent sowie eine Empfehlung zum Einhänder-

training aussprachen. Ab Mai 2010 erfolgte eine medizinische und berufli-

che Rehabilitation bei der ein Einhändertraining sowie eine berufliche Um-

schulungsmaßnahme zur Qualitätsfachkraft durchgeführt wurden. Nach

einem Wegeunfall auf dem Weg zur Schulung, bei der es zu keinen neuen

strukturellen Schäden an der Hand kam, brach der Patient die Umschu-

lung ab. Bei weiter fortbestehender Schmerzsymptomatik und deutlicher

Funktionseinschränkung der rechten Hand sowie zunehmender Stress-

symptomatik mit Panikattacken stellte sich der Patient in der Ambulanz

und Tagesklinik für Schmerztherapie in Heidelberg vor.

Diagnose:

Bei der körperlichen Untersuchung war die Spontanmotorik des rechten

Armes kaum mehr vorhanden, nach Aufforderung war ein schwacher

Grobgriff und Faustschluss möglich. Der Zeigefinger wurde gestreckt ge-

halten und war mehr als 2° C kühler. Die funktionellen Einschränkungen

der Hand waren teilweise überwindbar. Daneben lagen eine Hyperhidrose

und eine mechanische Allodynie vor. Die subjektive Schmerzwahrneh-

mung auf der visuellen Analogskala (VAS) wurde mit 5–8 von 10 angege-

ben. Der HADS (Hospitality Anxiety and Depression Scale) Angst lag bei

21 Punkten (Grenzwert 11 Punkte), der HADS Depression bei 14 Punk-

ten (Grenzwert 11 Punkte). Der Wert der freien Rückenfunktion nach dem

Funktionsfragebogen Hannover (FfbH-R) lag bei 35 Prozent. Auffällig war

ein deutlich angespannter Gesichtsausdruck mit Anzeichen für Ärger und

Wut über die Situation. Die psychosomatische Untersuchung ergab ge-

hemmte Aggressionstendenzen gegenüber dem strengen Vater und der

Tochter, die der Patient für den Unfall verantwortlich machte. Nach der

Befunderhebung wurden die folgenden Diagnosen gestellt:

• CRPS, Stadium 3

• Somatoforme Schmerzstörung

• Panikstörung mit Panikattacken

• Anpassungsstörung

Therapie:

Zur Refunktionalisierung des rechten Armes wurden eine Spiegeltherapie

und eine Ergotherapie veranlasst. Daneben erhielt der Patient eine nor-

male Physiotherapie und ein Belastungstraining. Zur Therapie der psy-

chosomatischen Komponente wurde bei dem Patienten eine begleitende

Psychotherapie (vier psychotherapeutische Einzelgespräche pro Woche

und drei Gruppengespräche) durchgeführt. Zweieinhalb Wochen nach

Therapiebeginn fühlte sich der Patient bereits deutlich besser und war mit

dem Therapieergebnis zufrieden. Mit der rechten Hand konnte er wieder

einen Händedruck ausführen, der rechte Arm wurde teilweise wieder in die

Psychomotorik integriert. Obwohl durch die Therapie noch eine weitere

Verbesserung der rechten Hand zu erwarten gewesen wäre, wollte der

Patient die Therapie beenden, um sein Anrecht auf eine Umschulung und

die Unfallrente nicht einzubüßen.

Fazit:

• Der Patient wies neben der Bewegungsstörung im Rahmen eines CRPS

psychische komorbide Störungen auf. Aufgrund der Häufigkeit von ko-

morbiden psychischen Störungen sollte die Therapie des CRPS immer

ganzheitlich orientiert sein – auch Psychotherapie und nichtmedikamen-

töse Maßnahmen sind ein Bestandteil davon.

• Die Persönlichkeit und das Umfeld sowie der sekundäre Krankheitsge-

winn sollten immer bedacht und therapeutisch integriert werden.

• Mit der Spiegeltherapie als einem ergotherapeutischen Verfahren, das in

den Pathomechanismus der kortikalen Reorganisation eingreift, konnte

bei dem Patienten eine deutliche Verbesserung der Psychomotorik so-

wie eine Schmerzreduktion erreicht werden.

Kasuistik

schen Schmerzen zudem eine verminderte Aktivi-

tät des endogenen Schmerzhemmungssystems

eine Rolle spiele. Man vermute, dass auch beim

Menschen eine fehlende Schmerzhemmung für

die Schmerzchronifizierung relevant sei. Dane-

ben scheinen auch veränderte Opiatrezeptorbin-

dungsprofile für die Chronifizierung von neuropa-

thischen Schmerzen eine Rolle zu spielen. Nach

Maihöfner gebe es Hinweise darauf, dass Fib-

romyalgiepatienten eine verminderte Anzahl von

Opioidrezeptoren im Gehirn aufweisen.46

Bei der Spiegeltherapie soll der Patient anstatt der erkrankten beziehungs weise amputierten Extremität das Spiegelbild der gesunden Extremität wahrnehmen. Dazu steht vor dem Patienten in der Sagittalebene ein Spiegel, hinter dem sich die erkrankte oder nach einer Amputation nicht mehr vorhandene Extremität des Patienten befindet. Der Patient blickt in den Spiegel und sieht somit zwei gesunde Extremitäten. Unter ergotherapeutischer Anleitung führt er ein sensomoto-risches Training (zum Beispiel Übungen mit dem Ball, Knetrolle, Nagelbrett) zunächst vor dem Spiegel, nach einiger Zeit dann ohne den Spiegel durch.

Indikationsgebiete der Spiegeltherapie

Deafferenzierungsschmerzen bei:• Amputationen • CRPS (M. Sudeck)• Plexusläsionen • Hirninfarkt

Spiegeltherapiei

10

SCHMERZTHERAPIE BEI TUMORPATIENTEN

Differenzierte Schmerztherapie bei TumorpatientenTumorschmerzen gehören zu den häufigsten und für den Patienten belastendsten Sympto­

men einer Tumorerkrankung. Eine bestmögliche, individuell auf den Patienten ausgerichtete

Schmerztherapie ist deshalb die Grundvoraussetzung für den Erhalt der Lebensqualität von

Tumorpatienten. Die Behandlung eines Mixed Pain erweist sich häufig als schwierig und er­

fordert eine frühzeitige Kombinationstherapie aus einem Opioid und einem Koanalgetikum,

wie zum Beispiel einem Antidepressivum oder einem Antikonvulsivum. Die Anforderungen

an eine gute Schmerztherapie umfassen neben einer effektiven Schmerzlinderung auch eine

akzeptable Verträglichkeit. Eine mögliche Therapieoption bei Mixed Pain könne, wie PD Dr.

med. Christoph Wiese von der interdisziplinären Schmerzambulanz des Universitätsklini­

kums in Regensburg in seinem Vortrag erläuterte, aufgrund seines dualen Wirkmechanismus

auch Tapentadol sein.

Die Zahl von Patienten und Patientinnen, die meist

für längere Zeit wegen einer Tumorerkrankung be-

handelt werden, ist seit 1990 erheblich angestie-

gen. So erhöhte sich die Prävalenz in den letzten

20 Jahren bei den Frauen um circa 35 Prozent, bei

den Männern sogar um 80 Prozent.47 Da rund ein

Drittel aller Betroffenen bereits bei der Erstdiag-

nose Schmerzen aufweist, steigt auch der Bedarf

einer geeigneten Schmerztherapie für Tumorpa-

tienten. Das primäre Ziel der Tumorschmerzthe-

rapie sei, die Lebenszufriedenheit des Patienten

zu verbessern, betonte Wiese. Eine analgetische

Therapie sollte dabei möglichst frühzeitig unter

Nutzung von medikamentösen und nichtpharma-

kologischen Therapieoptionen, wie zum Beispiel

Physiotherapie, Psychotherapie und transkutane

Nervenstimulation (TENS), begonnen werden.

Häufig auch neuropathische Komponente

beim Tumorschmerz vorhanden

Trotz der Möglichkeiten der modernen Schmerz-

therapie muss vor allem die Behandlung von

Tumorschmerzen verbessert werden. So beur-

teilten beispielsweise 75 Prozent der Patienten

ihre aktuelle Schmerzmedikation im Hinblick

auf die Therapie von Durchbruchschmerzen als

nur unzureichend.48 Aufgrund der vielen Facet-

ten, die der Tumorschmerz in puncto Ursachen

und Schmerzart aufweisen kann, erscheint dies

nicht verwunderlich. Nach pathophysiologischen

Gesichtspunkten unterscheidet man beim Tu-

morschmerz zwischen nozizeptiv-somatischen

(45 Prozent), nozizeptiv-viszeralen (30 Prozent)

und neuropathischen (zehn Prozent) Schmer-

zen. Wiese berichtete in seinem Vortrag, dass

beim Tumorschmerz häufig gleichzeitig sowohl

ein nozizeptiver als auch ein neuropathischer

Schmerztyp existiere – man spreche dann vom

sogenannten „Mixed Pain“.49 Die Behandlung ei-

ner Mischung aus nozizeptiven und neuropathi-

schen Schmerzen sei – ähnlich wie beim chro-

nischen Nichttumorschmerz – in der klinischen

Praxis häufig schwierig. Der Mixed Pain erfordere

eine spezifisch auf beide Schmerzanteile wirken-

de analgetische Therapie. Um eine differenzierte

Schmerztherapie beim Tumorschmerz zu ermög-

lichen, sei es allerdings erforderlich, zunächst

eine ausführliche Schmerzdiagnostik durchzufüh-

ren, betonte Wiese.

„Die Diagnose „Mixed Pain“ sollte nach ei-

ner korrekten Schmerzdiagnostik bei Vorlie-

gen von nozizeptiven und neuropathischen

Schmerzanteilen gestellt werden – häufig wird

der Begriff jedoch in der Praxis als Verlegen-

heitsdiagnose bei schwierig einzuordnender

klinischer Symptomatik verwendet.“ PD Dr.

med. Christoph Wiese

Tumorschmerztherapie – schrittweise

therapieren

Tumorschmerzen mit rein nozizeptiven Anteilen

werden, wie Prof. Dr. med. Hubert Bardenheuer

von der Klinik für Anästhesiologie der Universität

Heidelberg erläuterte, klassisch nach dem WHO-

Stufenschema behandelt. Man beginne dabei

mit der Stufe I, also mit den bekannten Nicht-

opioid-Analgetika, die NSARs sowie Paracetamol

und Metamizol umfassen. Bei unzureichender

Schmerzreduktion kombiniere man diese in der

Stufe II mit niederpotenten Opioiden. Führe dies

noch nicht zur akzeptablen Schmerzlinderung

beim Patienten, könne man die niederpotenten

Opioide durch hochpotente Opioide ersetzen

(Stufe III). In der modernen Schmerztherapie ver-

zichte man jedoch inzwischen mehr und mehr auf

den Einsatz von niedrigpotenten Opioiden und

wende stattdessen die heutzutage auch in sehr

niedriger Dosierung verfügbaren hochpotenten

Opioide an, so Bardenheuer. Da niedrig dosierte

hochpotente Opioide häufig verträglicher sind als

hochdosierte niedrigpotente Opoide, habe dies

vor allem im Hinblick auf die Nebenwirkungen

gewisse Vorteile. In Stufe IV des WHO-Stufen-

schemas kämen dann in der palliativen Situation

Schmerzpumpen zum Einsatz. Eine Begleitmedi-

kation mit Antiemetika und Laxanzien sei bei einer

Therapie mit Opioiden indiziert. Eine Therapie mit

Koanalgetika werde abhängig von der speziellen

Situation des Patienten eingesetzt. Hierzu zählen

laut Bardenheuer beispielsweise Antidepressi-

va und Antikonvulsiva, die bei neuropathischen

Schmerzen eingesetzt werden. Bardenheuer

betonte, dass der Patient allerdings vor dem

Einsatz von Antidepressiva und Antikonvulsiva

vom behandelnden Arzt gut über die neben der

eigentlichen Indikation vorhandene analgetische

Wirkung dieser Substanzen informiert werden

müsse, um die Compliance und das Vertrauens-

verhältnis zum Arzt nicht zu gefährden.

Anwendung von Opioiden in der

Tumorschmerztherapie

Der Basisschmerz sollte laut Bardenheuer im-

mer mit Retard-Opioiden behandelt werden. Viel

zu häufig wende man jedoch in der klinischen

Praxis in der Basistherapie Tropfen, also rasch

wirksame Opioide, zur Dauertherapie an. Das

könne langfristig zu einer psychischen Abhän-

gigkeitsproblematik führen, mahnte Bardenheuer.

Die Dosisfindung sollte immer titrierend erfolgen,

wobei die Startdosis von der Tumorerkrankung

abhängt und je nach Vorgeschichte individuell

gewählt werden sollte. Die Dosierung richte sich

nach der Schmerzintensität, die anhand der vi-

suellen Analogskala erfasst werden könne. Für

Durchbruchschmerzen stünden rasch wirksame

Opioide mit einem Wirkeintritt nach drei bis fünf

Minuten zur Verfügung, die oral, nasal, rektal,

Nürnberg Prof. Dr. med. Hubert Bardenheuer

FreisingPD Dr. med. Christoph Wiese

11

SCHMERZTHERAPIE BEI TUMORPATIENTEN

subkutan oder intravenös gegeben werden kön-

nen. Bei Therapieende müssten Opioide immer

ausgeschlichen werden, um einer Entzugssymp-

tomatik mit schwerwiegenden klinischen Folgen

insbesondere bei älteren Patienten vorzubeugen.

Die Applikation der Opioide erfolge entsprechend

der Pharmakokinetik. Bei stabilem Tumorschmerz

böten sich Pflaster an, um die Anwendung beim

Patienten zu erleichtern. Christoph Wiese merkte

in seinem Vortrag an, dass zum Erhalt der indivi-

duellen Lebensqualität bei Tumorpatienten – ins-

besondere in der Palliativsituation – neben einer

ausreichenden Wirksamkeit der Schmerztherapie

auch auf eine akzeptable Verträglichkeit zu achten

sei. Denn immerhin treten laut Wiese bei bis zu

80 Prozent der Patienten bei Therapiebeginn mit

Opioiden Nebenwirkungen auf. 71 Prozent der

Patienten litten unter einer Opioidtherapie an Obs-

tipation.50 Wiese betonte, dass es deshalb wichtig

sei, dass man die Patienten vor Therapiebeginn

über diese Nebenwirkungen informiere und darauf

hinweise, dass sich diese jedoch in den meisten

Fällen im Verlauf der Therapie reduzieren.

Therapieoptionen bei neuropathischer

Schmerzkomponente

Neuropathische Schmerzen entstehen durch eine

direkte Schädigung des Nervensystems. Ursa-

chen dafür sind eine Kompression oder Infiltration

durch Tumorgewebe oder behandlungsassoziier-

te Schädigungen durch Chemotherapeutika oder

eine Strahlentherapie. Neuropathische Schmer-

zen werden als brennend, elektrisierend und ein-

schießend beschrieben. Häufig kommt es zudem

zu sensorischen positiven Symptomen, wie Hy-

peralgesie, Allodynie und Dysästhesie, sowie zu

sensorischen negativen Symptomen, wie Anäs-

thesie oder Hypalgesie.51 Bardenheuer zufolge

treten neuropathische Schmerzen meist spontan

auf. Sie seien für den Patienten außerordentlich

belastend. Da der neuropathische Schmerz häu-

fig nicht morphinsensibel sei, spielten die Koan-

algetika hier eine besonders wichtige Rolle. Als

Standardmedikation setze man insbesondere bei

lanzierenden Schmerzen Antiepileptika ein. Bei

brennenden Schmerzen seien hingegen Antide-

pressiva vom Typ der Serotonin- und Noradrena-

lin-Wiederaufnahmehemmer indiziert.

Tapentadol zur Schmerztherapie bei Mixed

Pain

Wenn, wie beim Mixed Pain, nozizeptiver und

neuropathischer Schmerz nicht voneinander zu

trennen seien, sei es angebracht, eine Behand-

lungsstrategie zu wählen, die beide Schmerz-

komponenten berücksichtigt, erklärte Wiese. Hier

stehe mit Tapentadol eine interessante Therapie-

option zur Verfügung. Durch die Synergie von

zwei Wirkmechanismen, dem µ-Opioidrezeptor-

Agonismus (MOR) und der Noradrenalin-Wie-

deraufnahmehemmung (NRI), in einem Molekül,

könne eine breite analgetische Wirksamkeit bei

allen Schmerztypen – auch bei neuropathischen

Schmerzen – erreicht werden. Ein weiterer Vorteil

von Tapentadol sei, dass opioidspezifische Ne-

benwirkungen aufgrund des µ-sparing-Effektes

seltener, weniger ausgeprägt und auch von

kürzerer Dauer seien. So seien im Vergleich zu

Oxycodon CR unter Tapentadol retard signifikant

weniger gastrointestinale Nebenwirkungen wie

Übelkeit, Erbrechen und Obstipation aufgetreten

(Abb. 6).31 Wiese berichtete, dass deshalb nach

den bisherigen Erfahrungen weder Antiemetika

noch Laxanzien erforderlich seien. Die Dosierung

bei der Ein- beziehungsweise Umstellung auf

Tapentadol retard richte sich nach der vorherge-

gangenen Therapie. Bei Tumorschmerzen sollte

zudem eine Bedarfsmedikation zur Verfügung

stehen, die ein Fünftel bis ein Sechstel der Mor-

phinäquivalenzdosis entspreche. Patienten, die

eine Therapie mit Koanalgetika erhalten, sollten

diese während der Umstellung zunächst beibe-

halten. Nach einer stabilen Dosisfindung könne

dann versucht werden, die Dosis der Koanalge-

tika zu reduzieren. Meist könne man die Anti-

depressiva im weiteren Verlauf dann vollständig

absetzen. Antikonvulsiva können aufgrund des

unterschiedlichen Wirkmechanismus jedoch wei-

terhin hilfreich sein.

„Vom Therapieprinzip ist Tapentadol ein inte-

ressanter Ansatz zur erfolgreichen Therapie

von Mixed Pain.“ Prof. Dr. med. Hubert Bar-

denheuer

Schwerste Schmerzzustände – Schmerz­

therapie mittels Medikamentenpumpe

Bei schwersten Schmerzzuständen könne ent-

sprechend der Stufe IV des WHO-Stufenschemas

eine invasive Schmerztherapie mit einer Medika-

mentenpumpe sowohl stationär als auch ambu-

lant eingesetzt werden, erläuterte Bardenheuer.

Hierdurch ermögliche man eine kontinuierliche

Gabe oder vom Patienten individuell abrufbare

Einzelgaben. Eine Schmerzpumpe sei beispiels-

weise bei Schluckstörungen, Tumoren im HNO-

Bereich, in der Finalphase einer Tumorerkrankung

sowie bei trotz höchsten Opioidgaben nicht be-

herrschbaren Schmerzen indiziert. Zur Gabe über

eine Schmerzpumpe eigne sich, so Bardenheuer,

zum Beispiel Morphinsulfat in einer Konzentration

von 10 mg/ml oder Hydromorphon. Für schwere

neuropathische Schmerzen sei insbesondere Le-

vomethadon indiziert. Falls dies nicht ausreiche,

könne Levomethadon mit S-Ketamin kombiniert

werden. Als weitere invasive Verfahren könne

man zudem lokale Infiltrationen, periphere Ner-

venblockaden, Plexus- und Sympathikusblocka-

den sowie die Spinal- und Periduralanästhesie

anwenden, die jedoch in der Palliativsituation nur

eine untergeordnete Rolle spielen. Eine invasive

Schmerztherapie sei, so Bardenheuer, bei Vor-

handensein eines gut ausgebildeten interdiszipli-

nären Teams aus Ärzten, Apothekern und Pflege-

kräften auch ambulant sehr gut möglich.

Übelkeit*

Erbrechen*

Obstipation*

Somnolenz

Schwindel

Pruritus

Mundtrockenheit

7,420,7

36,2

2,9

6,9

3,5

6,3

1,6

2,26,8

4

0 10 20Relative Häufigkeit (%)

Placebo (n = 993) Tapentadol PR (n = 980) Oxycodon CR (n = 1001)

*p < 0,001, TAP vs. OXY TEAE = treatment emergent adverse event

Ausgewählte TEAEs ≥ 5 % der Patienten während der Behandlung

30 40

5,213,4

17,221

11,616,8

16,933

8,221

Abb. 6: Unter Tapentadol retard traten im Vergleich zu Oxycodon CR weniger opioidtypische Nebenwir-kungen auf. Modifiziert nach Lange B et al., Adv Ther 2010.

12

PSYCHOLOGISCHE SCHMERZTHERAPIE

Placebo- oder Kontextfaktoren bei der Behandlung von Schmerzen„The powerful placebo“ – mit dieser Publikation des Anästhesisten Henry K. Beecher begann

die Wissenschaft, sich erstmals mit Placeboeffekten auseinanderzusetzen. Während der Be­

griff „Placebo“ früher häufig als Synonym für Einbildung oder Wirkungslosigkeit verwendet

wurde, weisen die neuen Erkenntnisse aus der Hirnforschung darauf hin, dass der Place­

boeffekt physiologische Vorgänge im Gehirn auslöst, welche die Wirkungen einer Therapie

imitieren und verstärken oder abschwächen können. Die Placebowirkung stellt dabei keine

feste Größe dar, sondern wird von emotionalen, rituellen und situativen Kontextfaktoren be­

einflusst. Mit der Einbeziehung dieser Faktoren in das ärztliche Handeln können die Wirkun­

gen einer Schmerztherapie optimiert werden.

Die Gabe von Scheinpräparaten im Rahmen von

Schmerztherapien kann die schmerzlindernde

Wirkung erheblich verbessern (Placebo) oder

verschlechtern (Nocebo). Im engeren Sinne

werden nur positive Wirkungseffekte durch ein

Arzneimittel ohne Wirkstoff als Placeboeffekt be-

zeichnet. Es ist aber nicht das Scheinpräparat

selbst, das den Placeboeffekt erzeugt, sondern

es sind vielfältige unspezifische „Kontextfakto-

ren“. Die Kenntnis und die Verwendung solcher

Kontextfaktoren kann nach Aussage von Dr.

Andreas Kopf von der Klinik für Anästhesiologie

und operative Intensivmedizin an der Charité in

Berlin helfen, die Therapieergebnisse zu opti-

mieren.

Placebos werden gemäß einer Erhebung aus

Hannover häufig zur Schmerztherapie eingesetzt.

74 Prozent der 225 befragten Ärzte und Pfleger-

Innen gaben hierbei an, schon einmal Placebos

eingesetzt zu haben. Bei 62 Prozent der Anwen-

der führte die Placebogabe sogar zum Therapie-

erfolg.52 Auch eine Metaanalyse bestätigte den

häufigen Einsatz von Placebos in der ärztlichen

Praxis – zwölf bis 93 Prozent der Ärzte gaben an,

Placebos verwendet zu haben, dies jedoch nicht

in den Akten vermerkt zu haben. Wie der Meta-

analyse weiter zu entnehmen ist, werden häufig

auch nicht indikationsspezifische Substanzen,

sogenannte „Impure Placebos“, therapeutisch

eingesetzt.53 Man geht heute davon aus, dass für

den Placeboeffekt nicht nur die Gabe der Tablette

oder der Spritze, sondern auch weitere Verände-

rungen im Umfeld des Patienten verantwortlich

sind. Hierzu zählen beispielsweise die „soziale

Erwünschtheit“ beziehungsweise die experimen-

telle Subordination sowie die nonverbale Kom-

munikation.

Placeboeffekte induzieren physiologische

Mechanismen im Gehirn

Die Hirnforschung hat laut Kopf in den letzten

Jahren interessante Erkenntnisse zu den Mecha-

nismen des Placeboeffektes erbracht. Bei der

Placeboanalgesie handele es sich zum einen um

eine klassische Konditionierung, bei der im prä-

frontalen Kortex endogene Opiate ausgeschüttet

würden, die zu einer Schmerzhemmung führten.

Daneben könne eine positive Erwartungshaltung

über das limbische System die Wirkung eines

Medikaments verstärken. Wichtig sei auch die

Suggestibilität, die über das Oxytocinsystem ver-

mittelt werde und Patienten für eine Placebowir-

kung sensibilisieren könne. Analog zum Placebo-

effekt könnten überdies über den Hippocampus

auch Noceboreaktionen getriggert werden. Dies

würde zeigen, dass Placebo- und Noceboeffek-

te nachweislich physiologische Mechanismen im

Gehirn induzieren.

Placeboeffekte verändern sich abhängig

vom Studiendesign

In Studien wird Kopf zufolge gewöhnlich ange-

nommen, dass die Placeboreaktion in der Verum-

und der Placebogruppe immer konstant ist. Man

gehe davon aus, dass die eigentliche Wirkung

einer Substanz nach Abzug der Placebowirkung

ermittelt werden könne, erklärte Kopf. Er warnte,

dass Placeboeffekte jedoch nicht immer konstant

seien. Vielmehr seien sie durch viele unspezifi-

sche Kontextfaktoren beeinflussbar. Man spre-

che dann von der sogenannten Placebofalle, bei

der die Verumwirkung durch viele unspezifische

Kontextfaktoren maskiert und somit die eigentli-

che Wirkung über- oder unterschätzt werde. Wie

Kopf erläuterte, sind bereits kleinere Veränderun-

gen des Studiendesigns in der Lage, die Wirkung

von Kontextfaktoren zu beeinflussen. So habe

eine Studie bewiesen, dass bei einer höheren

Wahrscheinlichkeit, das Studienmedikament zu

erhalten, auch die Differenz zwischen Verum- und

Placeboeffekt größer wurde.54 Wie groß der Ein-

fluss von Kontextfaktoren auf die Wirkung einer

Analgetikagabe sein könne, habe eine Studie aus

Italien demonstriert, bei der Patienten postopera-

tiv das Analgetikum einmal offen, das heißt über

eine aktive Gabe durch den Pfleger, sowie ein-

mal verdeckt, das heißt ohne Ankündigung über

einen Perfusor, erhielten. Bei den Patienten, die

das Analgetikum offen bekommen hätten, sei

eine Schmerzlinderung früher erreicht worden als

bei den Patienten der verdeckten Gruppe.55 Das

Medikament sei folglich, so Kopf, initial praktisch

unwirksam, wenn der Patient nicht wisse, dass er

es bekomme.

Kontextfaktoren können die Wirkung einer

Schmerztherapie beeinflussen

Wie positive Patientenerwartungen die Wirkung

einer therapeutischen Maßnahme beeinflussen

können, zeigte eine Post-hoc-Analyse von vier

Akupunkturstudien. Patienten, die eine hohe Er-

wartung an die Akupunkturbehandlung hatten,

sprachen auch besser auf die Therapie an.56

Von großer Bedeutung für das Ansprechen eines

Medikaments sei aber auch der Arzt-Patienten-

Kontakt, bemerkte Kopf. Einen Einfluss auf die

Wirkung von Analgetika habe zum Beispiel,

das Geschlecht des Behandlers. So habe eine

Studie demonstrieren können, dass männliche

Probanden ihre Schmerztoleranz mehr als ver-

doppeln würden, wenn der Therapeut weib-

lich sei. Auch das Aussehen des Arztes könne

die Schmerztoleranz beeinflussen. Schmerzen

würden beispielsweise besser toleriert, wenn

der Behandler ein „professionelles Aussehen“

habe.57 Daneben spiele auch die verbale Kom-

munikation mit dem Patienten eine Rolle. Dies

demonstrierte eine Studie an Patienten, die

eine Akupunkturbehandlung erhielten. Bei jenen

Patienten, mit denen nicht gesprochen wurde,

waren die therapeutischen Effekte nur gering-

gradig höher als bei den Patienten, die gar keine

Therapie erhielten. Bei Patienten, mit denen sich

der Arzt ausführlich unterhalten hatte, erbrachte

die Behandlung die besten Resultate.58 Ähnliche

Effekte lassen sich offensichtlich auch über die

nonverbale Kommunikation erzielen. Denn wie

eine Studie herausfand, können Behandler, die

über ihre Körpersprache dem Patienten ver-

mitteln, dass eine Therapie wahrscheinlich un-

wirksam ist, die Wirkung einer Therapie negativ

beeinflussen.59

FreisingDr. med. Andreas Kopf

13

PSYCHOLOGISCHE SCHMERZTHERAPIE

„Der Placeboeffekt ist keine konstante Größe,

sondern etwas, das vom Arzt gut beeinflusst

werden kann.“ Dr. med. Andreas Kopf

Psychosoziale Kontextfaktoren verändern

das Schmerzempfinden

Auch der soziale Kontext wie zum Beispiel der

Einfluss von Angehörigen oder Arbeitskollegen

beeinflusst den Behandlungserfolg. Einen un-

gewöhnlichen situativen Kontextfaktor demons-

trierte eine Studie, in der das Zählen von Geld-

scheinen zu einer stärkeren Schmerzreduktion

als das Zählen von einfachen Papierscheinen

führte.60 Daneben scheinen auch andere situ-

ative Kontextfaktoren die Therapie zu beein-

flussen. Wie Kopf aufzeigte, sind zum Beispiel

durch helle Räumlichkeiten sowie durch Aus-

blicke auf Grünflächen bessere Erfolge einer

Schmerztherapie erzielt worden. Interessan-

terweise scheinen auch Bilder in den Behand-

lungsräumen die Therapie zu beeinflussen. In

einer Studie an postoperativen Patienten wiesen

die Patienten, die Naturbilder in den Räumen

hatten, weniger Schmerzen auf als Patienten in

Räumen mit abstrakten Gemälden oder ganz

ohne Bebilderung.61 Stark beeinflusst wird das

Schmerzempfinden zudem durch emotionale

Kontextfaktoren. Dies zeigte eine Studie an 15

verliebten jungen Männern, deren Schmerzemp-

finden beim Anblick eines Fotos der Partnerin

deutlich reduziert wurde.62 Auch ein ritueller

Kontext kann eventuell das Behandlungsergeb-

nis beeinflussen. So können laut Kopf bereits die

um einen operativen Eingriff ablaufenden Klinik-

rituale, wie beispielsweise die Aufnahme in eine

fremde Umgebung, die „Chefarztvisite“ oder

die OP-Kleidung von Patient und Ärzten, die

Wirksamkeit einer Behandlung deutlich verbes-

sern.63 Aus ethnologischer Sicht könne somit

eine Oper ation sozusagen als schamanistisches

Ritual angesehen werden, erläuterte Kopf.

Nutzung der Kontextfaktoren für eine opti­

mierte Schmerztherapie

Zwar können Placebos in der Schmerztherapie

eine Analgetikagabe nicht ersetzen, jedoch soll-

ten Kopf zufolge Kontextfaktoren in der Schmerz-

therapie auch aktiv genutzt werden. Hierzu zähle

beispielsweise, dass der Behandelnde offen mit

dem Patienten über eine Analgetikagabe spre-

che und die Gründe für die Therapiewahl in einer

für den Patienten verständlichen Sprache darle-

ge. Auch die therapeutische Umgebung müsse

optimiert werden. Hierzu zählten zum Beispiel

das Aussehen des Behandlers sowie ausrei-

chende Lichtverhältnisse im Raum. Auch das

Fragen nach den Erwartungen des Patienten

spiele eine wichtige Rolle. Hierdurch könne eine

für den Patienten und seine Umgebung akzep-

table Behandlungsoption mit den therapeutisch

indizierten Maßnahmen kombiniert werden und

dadurch gerade bei chronischen Schmerzpati-

enten der Behandlungserfolg deutlich verbes-

sert werden, so Kopf. Als Behandler sollte man

zudem selbst von der Therapie überzeugt sein,

denn eine skeptische Einstellung gegenüber

der therapeutischen Maßnahme werde immer

auch nonverbal auf den Patienten übertragen.

Es gehe darum, die „ärztliche Kunst“ wieder-

zuentdecken und nicht anzunehmen, dass eine

Leitlinienbefolgung allein ein optimales Behand-

lungsergebnis sichere.

„Die Person des Arztes als beratender Be-

gleiter sollte wieder mehr in den Vordergrund

gestellt werden.“ Dr. med. Andreas Kopf

Psychosoziale und spirituelle Bedürfnisse von Patienten mit chronischen SchmerzenDie Ursachen für chronische Schmerzen sind vielfältig. Eine erfolgreiche Schmerztherapie

sollte deshalb multimodal erfolgen. Neben den medikamentösen Maßnahmen kommt den

psychologischen Therapieansätzen, den Entspannungstherapien sowie den Lebensstil­ und

Verhaltensänderungen eine bedeutende Rolle zu. Auch die psychosozialen und spirituellen

Bedürfnisse von Patienten sollten hierbei berücksichtigt werden, da sie für die Krankheitsbe­

wältigung bedeutsam sind.

Das Ziel eines multimodalen Therapieansatzes

bestehe darin, auch die affektiven Begleiterschei-

nungen zu berücksichtigen und die Entwicklung

der „Schmerzkrankheit“ mit ihren psychosozialen

Folgen zu vermeiden, berichtete Prof. Dr. med.

Arndt Büssing vom Zentrum für Integrative Me-

dizin an der Universität Witten/Herdecke in seinem

Vortrag. Neben der Verbesserung der lebensbezo-

genen Funktionen („Physis“) solle auch die emotio-

nale und psychische Seite des Menschen einbezo-

gen werden – und eben zudem auch die Chance

bestehen, möglicherweise vorhandene spirituelle

Ressourcen des Patienten einzubeziehen. Die gän-

gigen Methoden der modernen Medizin umfasse

heute eine Vielzahl an therapeutischen Ansätzen,

mit denen mit guten Erfolgen Körper und Psyche

des Menschen behandelt werden könnten. The-

rapieansätze zur Aktivierung von spirituellen Res-

sourcen, wie zum Beispiel Achtsamkeit, Meditati-

on, Kreativität und Kunst, würden jedoch häufig zu

wenig berücksichtigt. Der Grund hierfür ist, dass

die unterschiedlichen Spiritualitäten der Patienten

im klinischen Kontext meistens ausgeblendet wer-

den, da sie nicht zum eigentlichen medizinischen

Behandlungsauftrag gehören. Oft lägen hier auch

Missverständnisse vor („irrelevanter Hokuspokus“)

– obwohl diese Büssing zufolge bei der aktiven

Krankheitsbewältigung eine wichtige Rolle spielen

können. Der Begriff Spiritualität sei ein multidimen-

sionales Konstrukt und bezeichne eine nach Sinn

und Bedeutung suchende Lebenseinstellung, die

mit einem Gefühl der Verbundenheit mit den an-

deren, der Natur und/oder dem „Göttlichen“ etc.

einhergehe. Daraus resultiere in vielen Fällen ein

günstigeres Gesundheitsverhalten. Häufig biete

erst eine schwere Erkrankung Menschen den Zu-

gang zur Reflektion über Sinn und Bedeutung des

eigenen Lebens.

Spiritualität und Religiosität – positive

Beeinflussung des Lebensstils

Spiritualität hat wahrscheinlich einen positiven

Einfluss auf die Gesundheit. So zeigte eine Meta-

analyse, dass ein Engagement im Rahmen einer

INTEGRATIVE SCHMERZTHERAPIE

Baden- Baden und NürnbergProf. Dr. med. Arndt Büssing

14

INTEGRATIVE SCHMERZTHERAPIE

Schmerz und Muskel bei geriatrischen PatientenWer Schmerzen hat, bewegt sich weniger. Weniger Bewegung führt zum Abbau von Muskula­

tur. Dieser Teufelskreis aus Schmerz, Immobilität und Muskelabbau, in dem sich häufig ältere

Patienten befinden, führt in den meisten Fällen zum Verlust der funktionellen Selbstständig­

keit. Um eine frühzeitige Pflegebedürftigkeit zu verhindern, sollten deshalb bei geriatrischen

Patienten neben einer Schmerztherapie gezielte Bewegungsprogramme zum Erhalt der Mus­

kelmasse durchgeführt werden.

Ein wichtiger Aspekt in der geriatrischen Medizin

sei es, die vorzeitige Pflegebedürftigkeit zu verhin-

dern, erläuterte Dr. med. Martin Runge, Ärztlicher

Leiter der Aerpah-Klinik in Esslingen. Eine wich-

tige Aufgabe sei es, den altersassoziierten Mus-

kelabbau zu verhindern, denn dieser sei häufig der

Beginn einer Kaskade, die von der Altersgebrech-

lichkeit (engl. Frailty) über die Pflegebedürftigkeit

bis hin zum Tod reiche. Die Bewegung könne

hier entscheidend zum Erhalt der neuromuskulä-

ren Funktionen beitragen. Denn Muskulatur und

Knochen hätten auch im hohen Alter noch die

Fähigkeit, sich durch Trainingsreize wieder zu re-

generieren, fügte Runge an. Da Schmerzen häufig

zur Immobilität führen, sei beim älteren Patienten

eine effektive Schmerzlinderung von Bedeutung.

Hier sei zu beachten, dass der Schmerz im Alter

durch Multimorbidität, Multimedikation, Depres-

sion und Demenz sowie durch altersspezifische

Veränderungen modifiziert werde. Schmerz werde

im Alter zwar weiterhin empfunden, jedoch müs-

se berücksichtigt werden, dass Schmerzen durch

Störungen der Kognition und Kommunikation

häufig nicht kommuniziert werden, so Runge. Auf-

grund des demografischen Wandels – 55 Prozent

der jetzt lebenden Frauen werden wenigstens 85

Jahre alt – müsse auch das Gesundheitssystem

in Zukunft vermehrt die speziellen Therapiebedürf-

nisse geriatrischer Menschen berücksichtigen,

betonte Runge.69

SCHMERZTHERAPIE IM ALTER

institutionalisierten Spiritualität mit einer geringe-

ren Sterblichkeit einhergehe, während dies für

intrinsische Aspekte der Spiritualität scheinbar

nicht zutrifft.64 Dieser Effekt sei jedoch nur bei Ge-

sunden und nicht bei Kranken sichtbar gewesen,

betonte Büssing. Eine weitere Metaanalyse weist

darauf hin, dass Spiritualität/Religiosität aufgrund

eines gesünderen Lebensstils das Risiko für le-

bensstilassoziierte Tumoren verringern könne.65

Es komme also auf das Verhalten im Alltagsle-

ben an, betonte Büssing. Bei Schmerzpatienten

beeinflusst ihre religiöse Haltung zwar nicht die

Schmerzempfindung, sie ist aber in vielen Fällen

mit einer positiveren Einstellung gegenüber der

Schmerzerkrankung assoziiert.66 Auf den Verlauf

von Erkrankungen haben die verschiedenen For-

men der Spiritualität wahrscheinlich keinen direk-

ten Einfluss (sie sind wohl ein Wirkfaktor in einer

Reihe verschiedener biopsychosozialer Einflüsse)

– wohl aber auf den Umgang mit der Erkrankung.

Bessere Krankheitsbewältigung durch

Spiritualität

Bei Schmerzpatienten sei das Interesse für Spi-

ritualität, im Gegensatz zu Patienten mit Tumor-

erkrankungen, eher niedrig bis moderat ausge-

prägt, berichtete Büssing. Schmerzpatienten,

die einen Rückhalt in ihrer Spiritualität fänden,

würden ihre Erkrankung jedoch häufig deutlich

positiver bewerten und könnten trotz Schmerz-

symptomatik eher Freude und Glück empfin-

den.67,68 Unser Gesundheitssystem unterstütze

die spirituellen Bedürfnisse von Patienten im

Gegensatz zu den primären Bedürfnissen jedoch

nur selten, obwohl Patienten, wie die Ergebnis-

se einer Studie ergeben hätten, eher mit ihrem

Arzt als mit ihrem Pfarrer oder Seelsorger über

diese Bedürfnisse sprechen würden.67 Spirituelle

Bedürfnisse umfassen Büssing zufolge sowohl

psychosoziale als auch emotionale, existenzielle

und religiöse Faktoren, wobei der Wunsch nach

innerem Frieden sowie nach aktiver Weitergabe

(von Lebenserfahrungen und sogar Trost) die

größte Relevanz für die Patienten haben. Das

zeigt auch eine Untersuchung an chronischen

Schmerzpatienten. Sie demonstriere, dass ein

negativer Zusammenhang zwischen der Lebens-

zufriedenheit und dem Bedürfnis nach innerem

Frieden existiere, während religiöse Bedürfnisse

eher mit der Schmerzsymptomatik assoziiert

sind. Da psychosoziale und spirituelle Bedürfnis-

se für eine Vielzahl von Patienten eine wichtige

Rolle bei der Krankheitsbewältigung spielten,

sollten sie von Ärzten wahrgenommen und wert-

geschätzt werden, forderte Büssing. Methoden,

wie diese Bedürfnisse vom Gesundheitssystem

unterstützt werden können, müssten jedoch

noch erarbeitet werden.

Mind­Body­Medizin – mit Yoga und

Meditation Schmerzen lindern

Auch mithilfe bestimmter Verfahren aus dem

Bereich der Mind-Body-Medizin sei es möglich,

Erkrankungen durch eine Förderung der Bewälti-

gungs- und Gesundheitsressourcen, der Selbst-

kompetenz und der Entspannung positiv zu

beeinflussen. Zu den Methoden der Mind-Body-

Medizin gehörten unter anderem Entspannungs-

techniken, Mediation, Yoga, Qigong, autogenes

Training, Spiritualität und andere. Eine aktuelle

Metaanalyse der Arbeitsgruppe von Büssing

zum Einfluss von Yoga, das sowohl Auswirkun-

gen auf die Körperfunktion als auch auf Psyche

und Spiritualität des Patienten haben kann, auf

Schmerz und Schmerz-assoziierte Beeinträchti-

gungen belegte moderate Effektstärken bei ge-

ringen Nebenwirkungsprofilen. Die größten Effek-

te hätten sich, so Büssing, jedoch bei Gesunden

gezeigt. Bei chronischen Schmerzpatienten seien

die Behandlungseffekte moderater ausgefallen.

Interessanterweise hätte gerade eine kürzere

Dauer der Yoga-Intervention günstigere Effekte

als eine längere Übungsdauer. Yoga beeinflusse

überdies positiv Depressivität, Ängstlichkeit sowie

Schlafstörungen und Fatigue. Auch mit bestimm-

ten Formen der Meditation lasse sich laut Büssing

die Schmerzsymptomatik, die Stimmungslage,

Coping-Fähigkeiten sowie die Lebensqualität von

chronischen Schmerzpatienten positiv beeinflus-

sen – wenn es dem Patienten gelänge, sich auf

diese Verfahren einzulassen.

„Interventionen der Mind-Body-Medizin

haben den Vorteil, dass sie vom Patienten

selbstständig durchgeführt werden können

und relativ kostengünstig sind.“ Prof. Dr. med.

Arndt Büssing

Baden-BadenDr. med. Martin Runge

15

SCHMERZTHERAPIE IM ALTER

Frauen sind häufiger von Schmerz und

Immobilität betroffen als Männer

Frauen leben zwar länger als Männer, sind je-

doch häufiger immobil und pflegebedürftig. Run-

ge verwies hierbei auf die Berliner Altersstudie.

Sie zeige, dass 42,6 Prozent der Frauen ab 85

Jahren nicht mehr in der Lage sind, selbststän-

dig eine Treppe hochzusteigen. Die Folge dieser

auch mit dem Begriff gerontologisches Paradox

bezeichneten Beobachtung sei, dass insbeson-

dere Frauen im Alter ein Muskelaufbautraining

betreiben sollten. Frauen seien auch häufiger

von Schmerzen betroffen als Männer, bemerkte

Runge. So hätten in einer Erhebung aus Bremen

78 Prozent der älteren Frauen berichtet, dass sie

stark oder mittelmäßig von Schmerzen betroffen

seien. Bei den Männern hingegen seien dies nur

62 Prozent gewesen. Eine verminderte Mobilität

ist laut Runge mit einer erhöhten Rate an Stür-

zen, Frakturen, Krankenhauseinweisungen und

Pflegeheimeinweisungen sowie mit einer erhöh-

ten Mortalität assoziiert. Dies hätten verschie-

dene Studien demonstriert, in denen schlechte

Ergebnisse bei lokomotorischen Testverfahren,

wie zum Beispiel der Handkraft, ein hochsig-

nifikanter Prädiktor für eine erhöhte Mortalität

gewesen sei.

„Frauen sind zwar langlebiger, haben aber

durchschnittlich eine schlechtere Lokomotion

im Alter als Männer.“ Dr. med. Martin Runge

Hüftfrakturen sind häufig durch altersbe­

dingte Stürze bedingt

Der Begriff der Sarkopenie sei zwar allgemein ak-

zeptiert, habe aber in der klinischen Praxis noch

nicht zu einer einheitlichen Operationalisierung

gefunden, berichtete Runge. Mithilfe von bildge-

benden Verfahren, wie der DXA-Methode oder

der peripheren quantitativen Computertomogra-

phie, lasse sich zwar die Muskelmasse quantitativ

bestimmen, inwieweit damit jedoch eine Korrela-

tion zur Lokomotion getroffen werden könne, sei

fraglich. Funktionelle einfache Tests, wie die Be-

stimmung der Handkraft, der Gehgeschwindigkeit

und der Fähigkeit schnell aus dem Sitzen ohne

Einsatz der Arme aufzustehen, sind laut Runge

besser geeignet, um eine Sarkopenie zu diagnos-

tizieren und Therapieverläufe zu dokumentieren.

Denn nach den Ergebnissen von Längsschnittun-

tersuchungen weisen Handkraft, Gehgeschwin-

digkeit und die Leistungen beim Aufstehen aus

dem Sitzen eine erstaunliche hohe Korrelation mit

der Mortalität und dem Eintritt der Pflegebedürf-

tigkeit im hohen Alter auf. Für die Prävention von

altersbedingten Stürzen sei deshalb das Erfassen

von muskulären Einschränkungen von enormer

Bedeutung. So werden 90 Prozent aller proxima-

len Femurfrakturen, wie Runge anführte, durch

einen Sturz verursacht. In vielen Studien könne

zwar ein Zusammenhang zwischen dem Vorlie-

gen einer Osteoporose und Frakturen demonst-

riert werden, jedoch hätten diese Studien nie die

Stürze in die Analyse einbezogen. Tatsächlich

wiesen nur weniger als die Hälfte der Patienten

mit einer Hüftfraktur einen DXA-T-Score von we-

niger als -2,5 auf.70 Da eine Hüftfraktur häufig den

Beginn einer Pflegebedürftigkeit einleite, komme

der Prävention von altersbedingten Stürzen und

Frakturen eine entscheidende Rolle zu.

„Die Hüftfraktur ist ein Paradigma für das

Versagen des neuro-muskulo-skelettalen

Systems im Alter.“ Dr. med. Martin Runge

Assessment des Sturzrisikos bei Verdacht

auf ein Frailty­Syndrom

Vor dem Eintritt einer Pflegebedürftigkeit weist

der ältere Patient häufig Anzeichen einer alters-

bedingten Gebrechlichkeit auf, die als Frailty-

Syndrom bezeichnet werden. Dazu gehörten

Gewichtsverlust, Erschöpfung, Kraftverlust, eine

verminderte körperliche Aktivität sowie ein Verlust

der Gehgeschwindigkeit.71 Laut einer aktuellen

Longitudinalstudie an 35.000 Teilnehmern eignet

sich zur Diagnostik der Frailty vor allem die frei ge-

wählte Gehgeschwindigkeit.72 Desweiteren eig-

nen sich zur Erfassung einer altersbedingten Ge-

brechlichkeit Runge zufolge der Aufstehtest und

das Balancemanöver sowie der Tandemstand.

Ein älterer Mensch, der nicht in der Lage ist, min-

destens zehn Sekunden in der Tandemposition

zu stehen, ist, wie Runge erklärte, erhöht sturz-

und frakturgefährdet. Ein lokomotorischer Sturz

ohne Bewusstseinsveränderung im Alltag sei im-

mer ein Hinweis für einen Rückgang der neuro-

muskulären Kompetenz. Spätestens dann sollte

ein Assessment des Sturzrisikos erfolgen (siehe

Kasten). Für den Erhalt der Lokomotion sei eine

sorgfältige medikamentöse Schmerztherapie eine

unerlässliche Basis, so Runge. Daneben kämen

vor allem nichtmedikamentöse Maßnahmen, wie

physikalische Therapien und insbesondere Be-

wegungsprogramme zur Verbesserung von Kraft,

Koordination und Beweglichkeit, zum Einsatz.

1. Aufstehtest zur Evaluierung der Hüftmuskulatur2. Tandemstand/-gang zur Evaluierung der Balance zur Seite3. Visus4. Medikation: Es besteht ein erhöhtes Sturzrisiko bei einer Multimedikation mit mehr als vier

Substanzen. Patienten unter Neuroleptika, Benzodiazepinen, Antidepressiva, Antikonvulsiva oder Opiaten sind besonders gefährdet

5. Kognition/Demenz6. Kreatinin-Clearance < 65 ml/min

Als Screeningverfahren sollten eine Sturzanamnese, eine klinische Ganganalyse sowie als Mobilitätstest ein Up-and-Go-Test (Beurteilung von Beweglichkeit und Gleichgewicht beim Aufstehen und beim Gehen) durchgeführt werden.

Sturzrisikoassessment bei älteren Patienteni

16

Palexia retard 50 mg/100 mg/150 mg/200 mg/250 mg Retardtabletten; Verschreibungspflichtig/Betäubungsmittel; Wirkstoff: Tapentadol (als Hydrochlorid). Zusammensetzung: Arzneilich wirksamer Bestandteil: Tapentadol (als Hydrochlorid). Sonstige Bestand-teile: Tablettenkern: Hypromellose, Mikrokristalline Cellulose, Hochdisperses Siliciumdioxid, Magnesiumstearat. Tablettenüberzug: Hypromellose, Lactose-Monohydrat, Talkum, Macrogol 6000, Polypropylenglycol, Titandioxid (E 171), Eisen(III)-hydroxid-oxid x H2O (E 172) [nur in Palexia retard 100 mg, 150 mg, 200 mg, 250 mg], Eisen(III)-oxid (E 172) [nur in Palexia retard 150 mg, 200 mg, 250 mg], Eisen(II,III)-oxid (E 172) [nur in Palexia retard 250 mg]. Anwendungsgebiete: Behandlung von starken, chronischen Schmerzen bei Erwachsenen, die nur mit Opioid-Schmerzmitteln ausreichend behandelt werden können. Gegenanzeigen: Überempfindlichkeit gegen Tapentadol oder einen der sonstigen Bestandteile von Palexia retard; Asthma oder eine bedrohlich langsame oder flache Atmung (Atemdepression, Hyperkapnie); Darmlähmung; akute Vergiftung durch Alkohol, Schlaftabletten, Schmerzmittel oder an-dere Psychopharmaka (Arzneimittel mit Wirkung auf Stimmungslage und Gefühlsleben). Nebenwirkungen: Sehr häufig: Übelkeit, Verstopfung, Schwindel, Schläfrigkeit, Kopfschmerz. Häufig: verminderter Appetit, Ängstlichkeit, depressive Verstimmung, Schlaf-störungen, Nervosität, Ruhelosigkeit, Aufmerksamkeitsstörung, Zittern, Muskelzucken, Erröten, Kurzatmigkeit, Erbrechen, Durchfall, Verdauungsstörungen, Juckreiz, verstärktes Schwitzen, Hautausschlag, Schwächegefühl, Müdigkeit, Empfinden von Schwankungen der Körpertemperatur, trockene Schleimhäute, Flüssigkeitsansammlung im Gewebe (Ödem). Gelegentlich: allergische Reaktionen, Gewichtsverlust, Desorientiertheit, Verwirrtheit, Erregbarkeit (Agitiertheit), Wahrnehmungsstörungen, ungewöhnliche Träume, eu-phorische Stimmung, Bewusstseinsstörungen, Beeinträchtigung des Erinnerungsvermögens, mentale Beeinträchtigung, Ohnmacht, Sedierung, Gleichgewichtsstörungen, Sprachstörungen, Taubheitsgefühl, abnorme Hautempfindungen (z. B. Kribbeln, Prickeln), Sehstörungen, beschleunigter Herzschlag, verlangsamter Herzschlag, erniedrigter Blutdruck, Bauchbeschwerden, Nesselsucht, ver-zögertes Wasserlassen, häufiges Wasserlassen, funktionelle Sexualstörung, Arzneimittelentzugssyndrom, Störungen des Allgemein-befindens, Reizbarkeit. Selten: Arzneimittelabhängigkeit, abnormes Denken, epileptischer Anfall, sich einer Ohnmacht nahe fühlen, abnorme Koordination, bedrohlich langsame oder flache Atmung (Atemdepression), gestörte Magenentleerung, Trunkenheitsgefühl, Gefühl der Entspannung. Allgemein ist die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Selbstmordgedanken und entsprechendem Verhal-ten bei Patienten erhöht, die unter chronischen Schmerzen leiden. Zusätzlich können Arzneimittel zur Behandlung von Depressionen (die eine Wirkung auf die Botenstoffe im Gehirn haben) dieses Risiko besonders zu Beginn einer Behandlung erhöhen. Obwohl Tapentadol auch Botenstoffe im Gehirn beeinflusst, geben die Daten zur Anwendung von Tapentadol beim Menschen keinen Anhalt für das Vorliegen eines solchen erhöhten Risiko. Warnhinweis: Palexia retard enthält Lactose. Packungsbeilage beachten. Stand der Information: 08/2010. Grünenthal GmbH, 52099 Aachen, Deutschland

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Redaktion

Dr. med. Ute Stefani Haaga

medizinwelten-services GbR

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LITERATUR