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Bildung und Erziehung 09.04.14 / Nr. 83 / Seite 61 / Teil 01 NZZ AG Schnelle Oberflächen, träge Bildung Überlegungen zum Gebrauch neuer Medien in der Schule. Von Roland Reichenbach Ein allgemein-pädagogischer Kommen- tar zum Einsatz digitaler Medien in Schule und Unterricht muss Umwege machen dürfen. In den Kurven verliert man viel Zeit, doch wer keine Verzöge- rungen in Kauf nehmen will, wird das Ziel nicht erreichen. Die «oberste, wich- tigste und nützlichste aller Regeln der Erziehung» heisse nicht: «Zeit gewin- nen, sondern: Zeit verlieren!», lautet eine vielzitierte Stelle aus Jean-Jacques Rousseaus «Emile». Mit dem Satz kann eine Menge pädagogischer Unfug und didaktischer Leerlauf gerechtfertigt werden. Einerseits. Andererseits kom- men damit eine Intuition, eine Einsicht und eine Erfahrung zum Ausdruck, die mehr sind als launenhafte Lust an der Paradoxie. Die Menschen leben immer länger als die Generationen vor ihnen, aber auch immer schneller, und überall entdecken sie lästige Zeitverschwen- dung, alles dauert immer mehr zu lange. Zum Beispiel diese Studenten: Zwei Stunden an einem schwierigen Text sit- zen, das schaffen sie nicht! Aber haben immer eine Meinung über alles, ohne sich mit der Materie eingehend beschäf- tigt zu haben. Eigenartig. Der normale Mensch glaubt zwar nicht, dass es im Leben vor allem darum gehe, es möglichst effizient und wir- kungsvoll hinter sich zu bringen. Doch wo er tätig ist, in der Schule, Ausbildung und in der Arbeit – mittlerweile auch in der sogenannten «Freizeit» –, scheinen genau diese Kriterien ausschlaggebend zu sein. Ja, eigenartig. Zum Glück gibt es die digitalen Medien, die helfen, Zeit zu sparen, schneller und wirkungsvoller zu lernen. Wozu wäre ihr Einsatz be- deutsam, wenn nicht dazu? Der Hund an der Tafel Vor einiger Zeit gab es noch schwarze Tafeln in den Schulzimmern, dazu weis- se und farbige Kreide. Ein paar Schüler hatten «Wandtafeldienst», sie mussten die Tafeln immer wieder putzen. Dele- ten. Der geschriebene Text oder die Kreidezeichnung wurden immer wieder gelöscht und verschwanden für immer. Welche Verschwendung! Später musste das Gleiche womöglich erneut geschrie- ben oder gezeichnet werden, um dann kurz drauf wiederum gelöscht zu wer- den. Die Wandtafel speicherte nichts. Dafür wurde abgeschrieben, abgezeich- net. Eine Schülerin fragte vielleicht, ob die Überschrift «zwei Häuschen» gross sein und ob sie in Rot geschrieben wer- den müsse. Ob man auch eine andere Farbe benützen könne. Ja, sagte der Lehrer vielleicht, aber nicht gelb, das sehe man kaum. Wunderbare Ineffi- zienz: Der Lehrer schreibt – Schön- schrift – an die Tafel, die Klasse schreibt ab. Später werden die Hefte korrigiert und zurückgegeben. Versehen mit klei- nen Kommentaren, je nach Fehler und Schriftbild. Oder die Klasse behandelt das Thema «Hund», die Lehrerin hat am Vorabend einen Hund an die Tafel gemalt, das dauerte, sie hat sich Mühe gegeben. Man erkennt, es ist ein Hund, allerdings ein mittelmässiger Hund. Am nächsten Morgen werden die Tafelflügel geöffnet, eine Art Theatervorhang, und der mittelmässige Hund erscheint. Die Kinder sind beeindruckt: Erstens ist es ein Hund, zweitens möchten sie auch so zeichnen können. Später weigern sich die beiden Knaben des Wandtafeldiens- tes mehrere Wochen lang, den Hund auszulöschen, denn er wird für immer verschwinden. In der Stunde zeichnen die Kinder den Hund in ihre Hefte, das sieht meist noch mittelmässiger aus, aber sie sind ganz bei der Sache und geben sich Mühe, wie abends zuvor die Lehrerin. Hinsehen, um etwas zu repro- duzieren, ist etwas ganz anderes, als nur zu schauen. Doch es gibt ja so gute Filme über Hunde, Hunderassen, Hun- dedressur, den vielfältige Einsatz von Hunden für den Menschen, was man will, Tausende von attraktiven Bildern; aber die Kinder wollen nicht, dass die- ser im Grunde mickrige Kreidehund ge- löscht wird. Es ist, als ob sie mehreren Umständen Anerkennung zollen wür- den: dass es diesen Hund nur einmal gibt und nur kurz, dass die Lehrerin ihn allein für sie gezeichnet und gemalt hat (nicht für andere Kinder), dass sie sich offenbar Mühe gegeben hat, dass sie Zeit «verloren» hat. Sie hätte effizienter sein können, Arbeitsblätter oder ein Film wären informativer gewesen, viel- leicht hätten die Kinder auch inhaltlich mehr gelernt. Hier aber haben sie ge- merkt: Die Lehrerin investiert viel Zeit in uns, und ganz sicher mag sie Hunde. Lehrmittel zeigen nicht nur die Sa- che, sondern geben auch Auskunft über die Beziehung zwischen der Lehrperson und den Schülern. Sie zeigen mitunter, wie «ernst» es die Lehrerin meint. Doch das tönt wie pädagogische Nostalgie, die nicht mehr sein soll! Gute und effiziente Lehrmittel erübrigen diesen – schein- baren – Fokus auf die Lehrperson, wirk- lich «gute» Lehrmittel scheinen die Lehrperson selber zu erübrigen. Sie ver- waltet im Hintergrund den Einsatz digi- taler Mittel, «professionell», wie es heisst, und doch «kindzentriert», indivi- duell angepasst und der Sache verpflich- tet . . . Das ist nur Schein, es verhält sich anders. Und nicht nur auf der Grund- stufe, vielmehr auf jeder Stufe. Lehren ist die Kunst der Vermittlung von Wissen und Können. Die Mittel die- ser Vermittlung sind die «Lehrmittel». Die Lehrmittel sollen den Lernprozess erleichtern, allenfalls zunächst einmal stimulieren. Während die Lehrmittel der Welt des Sichtbaren zugehören, ist und bleibt der Kern des Lernens un- sichtbar. Zwar können wir Verhaltens- weisen beobachten, etwa das Üben, wel- ches wir dem Lernen zuordnen, aber der Prozess des Lernens ist unsichtbar, wäh- rend das Lern-Produkt – in Grenzen – sichtbar gemacht und bewertet werden kann. Die Funktion der Lehrmittel ist das Sichtbarmachen dessen, was gelernt werden soll. «Klassisch» reden wir von

Schnelle Oberflächen, träge Bildung1221b31a-1341-468c-872b... · 2017-02-15 · F ilme über Hunde , Hunder assen, Hun-dedr essur , den vielfältige Einsatz von Hunden für den

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BÖRSEN UND MÄRKTE

Investoren wetten auf LockerungenInvestoren in den USA bringen sichzurzeit in Position, um von einer wei-teren quantitativen geldpolitischenLockerung zu profitieren.

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SchnelleOberflächen,träge BildungÜberlegungen zum Gebrauch neuer Medienin der Schule. Von Roland Reichenbach

Ein allgemein-pädagogischer Kommen-tar zum Einsatz digitaler Medien inSchule und Unterricht muss Umwegemachen dürfen. In den Kurven verliertman viel Zeit, doch wer keine Verzöge-rungen in Kauf nehmen will, wird dasZiel nicht erreichen. Die «oberste, wich-tigste und nützlichste aller Regeln derErziehung» heisse nicht: «Zeit gewin-nen, sondern: Zeit verlieren!», lauteteine vielzitierte Stelle aus Jean-JacquesRousseaus «Emile». Mit dem Satz kanneine Menge pädagogischer Unfug unddidaktischer Leerlauf gerechtfertigtwerden. Einerseits. Andererseits kom-men damit eine Intuition, eine Einsichtund eine Erfahrung zum Ausdruck, diemehr sind als launenhafte Lust an derParadoxie. Die Menschen leben immerlänger als die Generationen vor ihnen,aber auch immer schneller, und überallentdecken sie lästige Zeitverschwen-dung, alles dauert immer mehr zu lange.Zum Beispiel diese Studenten: ZweiStunden an einem schwierigen Text sit-zen, das schaffen sie nicht! Aber habenimmer eine Meinung über alles, ohnesich mit der Materie eingehend beschäf-tigt zu haben. Eigenartig.

Der normale Mensch glaubt zwarnicht, dass es im Leben vor allem darumgehe, es möglichst effizient und wir-kungsvoll hinter sich zu bringen. Dochwo er tätig ist, in der Schule, Ausbildungund in der Arbeit – mittlerweile auch inder sogenannten «Freizeit» –, scheinengenau diese Kriterien ausschlaggebendzu sein. Ja, eigenartig. Zum Glück gibtes die digitalen Medien, die helfen, Zeitzu sparen, schneller und wirkungsvollerzu lernen. Wozu wäre ihr Einsatz be-deutsam, wenn nicht dazu?

Der Hund an der TafelVor einiger Zeit gab es noch schwarzeTafeln in den Schulzimmern, dazu weis-se und farbige Kreide. Ein paar Schülerhatten «Wandtafeldienst», sie mussten

die Tafeln immer wieder putzen. Dele-ten. Der geschriebene Text oder dieKreidezeichnung wurden immer wiedergelöscht und verschwanden für immer.Welche Verschwendung! Später musstedas Gleiche womöglich erneut geschrie-ben oder gezeichnet werden, um dannkurz drauf wiederum gelöscht zu wer-den. Die Wandtafel speicherte nichts.Dafür wurde abgeschrieben, abgezeich-net. Eine Schülerin fragte vielleicht, obdie Überschrift «zwei Häuschen» grosssein und ob sie in Rot geschrieben wer-den müsse. Ob man auch eine andereFarbe benützen könne. Ja, sagte derLehrer vielleicht, aber nicht gelb, dassehe man kaum. Wunderbare Ineffi-zienz: Der Lehrer schreibt – Schön-schrift – an die Tafel, die Klasse schreibtab. Später werden die Hefte korrigiertund zurückgegeben. Versehen mit klei-nen Kommentaren, je nach Fehler undSchriftbild. Oder die Klasse behandeltdas Thema «Hund», die Lehrerin hatam Vorabend einen Hund an die Tafelgemalt, das dauerte, sie hat sich Mühegegeben. Man erkennt, es ist ein Hund,allerdings ein mittelmässiger Hund. Amnächsten Morgen werden die Tafelflügelgeöffnet, eine Art Theatervorhang, undder mittelmässige Hund erscheint. DieKinder sind beeindruckt: Erstens ist esein Hund, zweitens möchten sie auch sozeichnen können. Später weigern sichdie beiden Knaben des Wandtafeldiens-tes mehrere Wochen lang, den Hundauszulöschen, denn er wird für immerverschwinden. In der Stunde zeichnendie Kinder den Hund in ihre Hefte, dassieht meist noch mittelmässiger aus,aber sie sind ganz bei der Sache undgeben sich Mühe, wie abends zuvor dieLehrerin. Hinsehen, um etwas zu repro-duzieren, ist etwas ganz anderes, als nurzu schauen. Doch es gibt ja so guteFilme über Hunde, Hunderassen, Hun-dedressur, den vielfältige Einsatz vonHunden für den Menschen, was manwill, Tausende von attraktiven Bildern;aber die Kinder wollen nicht, dass die-

ser im Grunde mickrige Kreidehund ge-löscht wird. Es ist, als ob sie mehrerenUmständen Anerkennung zollen wür-den: dass es diesen Hund nur einmalgibt und nur kurz, dass die Lehrerin ihnallein für sie gezeichnet und gemalt hat(nicht für andere Kinder), dass sie sichoffenbar Mühe gegeben hat, dass sieZeit «verloren» hat. Sie hätte effizientersein können, Arbeitsblätter oder einFilm wären informativer gewesen, viel-leicht hätten die Kinder auch inhaltlichmehr gelernt. Hier aber haben sie ge-merkt: Die Lehrerin investiert viel Zeitin uns, und ganz sicher mag sie Hunde.

Lehrmittel zeigen nicht nur die Sa-che, sondern geben auch Auskunft überdie Beziehung zwischen der Lehrpersonund den Schülern. Sie zeigen mitunter,wie «ernst» es die Lehrerin meint. Dochdas tönt wie pädagogische Nostalgie, dienicht mehr sein soll! Gute und effizienteLehrmittel erübrigen diesen – schein-baren – Fokus auf die Lehrperson, wirk-lich «gute» Lehrmittel scheinen dieLehrperson selber zu erübrigen. Sie ver-waltet im Hintergrund den Einsatz digi-taler Mittel, «professionell», wie esheisst, und doch «kindzentriert», indivi-duell angepasst und der Sache verpflich-tet . . . Das ist nur Schein, es verhält sichanders. Und nicht nur auf der Grund-stufe, vielmehr auf jeder Stufe.

Lehren ist die Kunst der Vermittlungvon Wissen und Können. Die Mittel die-ser Vermittlung sind die «Lehrmittel».Die Lehrmittel sollen den Lernprozesserleichtern, allenfalls zunächst einmalstimulieren. Während die Lehrmittelder Welt des Sichtbaren zugehören, istund bleibt der Kern des Lernens un-sichtbar. Zwar können wir Verhaltens-weisen beobachten, etwa das Üben, wel-ches wir dem Lernen zuordnen, aber derProzess des Lernens ist unsichtbar, wäh-rend das Lern-Produkt – in Grenzen –sichtbar gemacht und bewertet werdenkann. Die Funktion der Lehrmittel istdas Sichtbarmachen dessen, was gelerntwerden soll. «Klassisch» reden wir von

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BÖRSEN UND MÄRKTE

Investoren wetten auf LockerungenInvestoren in den USA bringen sichzurzeit in Position, um von einer wei-teren quantitativen geldpolitischenLockerung zu profitieren.

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Anschauung. Etwas veranschaulichenheisst, ein Wissen «vor Augen» zu füh-ren, damit der Lerner «einsichtig» wer-den möge oder zumindest einen «Ein-blick» in die Materie erhalte.

Die zwei Grundfunktionen vonLehrmitteln sind die Vergegenwärti-gungsfunktion und die Kommunika-tionsfunktion. Vergegenwärtigen heisstAbwesendes präsent machen. In derLehre hat diese Vergegenwärtigungmeist Abbildcharakter: ein nichtpräsen-ter Teil der Welt (des Wissens) wird ab-gebildet, um einen Zugang zu ihm zu er-halten oder zu simulieren. Ein Gegen-stand ist allerdings erst dann verstan-den, wenn der Lerner sich von diesemAbbild lösen und die Bildlichkeit desWissens selber erzeugen kann. Das gehtnicht ohne Imagination und Erinne-rung. Schule dient dazu, die Vermögender Einbildung und des Erinnerns zustärken, ohne die keine Kultur denkbarist. Wer sich mit einem Text beschäftigt,sieht zunächst einfach Anreihungen vonsehr vielen Buchstaben. Es ist frustrie-rend, wenn man die Buchstaben nochnicht richtig kennt, die Wörter nichtschnell genug entziffern oder erratenkann, zumindest ist es eine Herausfor-derung. Lange Sätze und Fremdwörtersind mitunter der Feind der Studieren-den. Doch die Buchstaben und Wörterkönnen erst vor dem «geistigen Auge»Bedeutung erhalten, daher ist, um beimBeispiel zu bleiben, Lesen immer aucheine imaginative Praxis. Die meisten Er-wachsenen sind mit dieser Praxis im All-tag so vertraut, dass sie dies nicht mehrmerken. Souverän bewegen sie sich inder symbolischen Welt der geschriebe-nen und gesprochenen Worte. Ihnenhelfen digitale Medien sehr. Denn siehatten zuvor gelernt, sich einer Sachelänger widmen zu können. In der zeit-genössischen «Aufmerksamkeitsdefizit-kultur» (Christoph Türcke) mag dasanders aussehen. Medien beschleunigenund zerstreuen. Die Ruhe muss vomEinzelnen kommen, von aussen kommtsie nicht mehr. Ausser die Schule siehtihre Aufgabe auch in der Entschleuni-gung, in der Stärkung der Möglichkeit,sich auf eine Sache zu konzentrieren.

Lernt ein Kind sprechen, später nochlesen und schreiben, ist es aufgenom-men in der Kultur der Sprachsymbole,für die es lebenslänglich einstehen wirdund mit welcher es sein Welt- undSelbstverständnis immer weiter diffe-renzieren und dasselbe ausdrückenlernt. Die Arbeit am Ausdruck ist Bil-dung. Ihre Voraussetzung ist die Ein-drucksfähigkeit, und um diese zu stär-ken bzw. nicht verwelken zu lassen, sindLehrmittel in fast allen Bereichen desWissens und Könnens unabdingbar.Doch die Eindrucksfähigkeit und Bild-samkeit des Kindes muss heute auch ge-schützt werden. Die Tugend des Sehens,der konzentrierten Schau, lernte manwahrscheinlich eher noch beim müh-

samen Abzeichnen eines ausgestopftenVogels als mit Hilfe der hektischen undzahlreichen Bilder digitaler Medien, dieja auch die kindliche Lebenswelt mitt-lerweile dominieren.

Rousseau im ChatroomDie Kommunikationsfunktion dient derHerstellung der «Präsenz» und «Sicht-barkeit» von Personen – Lehrenden undLernenden. Virtuelle Lernräume er-möglichen dies zeitnah und über grosseDistanzen und teilweise in scheinbarerUnmittelbarkeit. Nun sind mit den digi-talen Medien beide Funktionen, Ver-gegenwärtigung und Kommunikation,sowohl in Effektivität und sicher auchEffizienz gesteigert und erleichtert wor-den. Das ist zu begrüssen. Und dasmedientechnologische Potenzial wirdweiter optimiert werden können. Dochunabhängig von Vergegenwärtigungund Kommunikation muss weiterhin ge-lernt – Wissen und Können angeeignet –werden, und kein noch so raffiniertesLehrmittel entlastet den Lerner von die-ser Aufgabe, aber es mag sie erleichtern.Erleichterung und Optimierung sindgutzuheissen. Kritische Nachfragen be-ziehen sich auf unintendierte Neben-effekte und die Voraussetzungen günsti-ger Nutzung von digitalen Medien.Technologiefolgen-Analysen gehörenzu einer reflexiven Moderne. So wäre esnaiv, zu glauben, der Einsatz etwa desInternets in der Schule könnte alleinpositive Effekte aufweisen. Das Internetwird für manche Aufgabestellungen inder Schule auf eine Art und Weise ein-gesetzt, dass sich einem nur die Haaresträuben. Allerdings sind Wirkungsana-lysen höchst komplex, oft unmöglich,und es darf viel behauptet werden, wasder empirischen Belegbarkeit entbehrt.

Aus einer pädagogischen und bil-dungstheoretischen Perspektive aufLehre und Unterricht scheint mir derschulisch relevante IT-Diskurs vor allemvon Neomanie geprägt. Beim schuli-schen Lernen kommt es vor allem aufdas Üben an, und Üben ist häufig einfachnur mühsam, d. h. mit Anstrengung ver-bunden. Mit oder ohne digitale Medien.Nun sagt man zu Recht, es komme ebenauf den Einsatz der digitalen Medien, aufden Umgang mit ihnen an. Das ist abernur eine oberflächliche, zwar gutgemein-te Empfehlung. Es kommt vielmehr aufdie Voraussetzungen der Lernenden an,ob sie fähig sind, Sinn und Kohärenz hin-ter den (oft zu) schnellen Oberflächenherzustellen. Dazu sind Imaginations-und Erinnerungsfähigkeiten sowie einEthos der Anstrengung vonnöten, beimkleinen Schüler ebenso wie bei den Stu-dierenden. Die digitalen Medien prägenunsere Welt. Bildung bedeutet heuteumso mehr, sich von ihrer Dominanzlösen zu können.

Verständlicherweise spricht man –bildungstheoretisch – von einer Krise

der Imagination. Schule und Ausbildungsind der Ort, dieser Krise zu begegnen.Körper und Leib spielen hier eine zen-trale Rolle. Vielleicht wird die Zeit kom-men, in der im Mathematik- und imGrammatikunterricht zwischendurchAtemübungen durchgeführt werden,Yoga- und Tai-Chi-Übungen (oder wasauch immer). Dumm wäre das nicht.Der Lerner muss zu sich kommen.Überall Ablenkung, Zerstreuung undBildbeschleunigung – da muss die Schu-le nicht auch noch einen draufsetzen,sondern überlegen, wie die Literalität,die Arbeit am Ausdruck, im Regime derZeit, welches immer mehr nur noch einZeitregime darstellt, geschützt werdenkann. Gegen digitale Medien zu reden,ist so dumm wie aussichtslos, ihr schuli-scher Einsatz ist zu begrüssen und isteindrücklich. Doch die träge Natur derLern- und Bildungsprozesse ist zu re-spektieren. Das hätte uns Rousseauauch in einem Chatroom eröffnet. Dasist nicht neu. Neu ist bloss die Idee, dassdie digitalen Medien das Lernen revolu-tionieren würden. Neu und falsch... . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .

Roland Reichenbach ist Professor für AllgemeineErziehungswissenschaft an der Universität Zürich.