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Schuhe von Toten DRESDEN UND DIE SHOA

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SchuhevonToten

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Schuhe von TotenDRESDEN UND DIE SHOA

Herausgegeben von Gorch Piekenund Matthias Rogg

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Inhalt

6Helma OroszGrußwort

8Matthias Rogg Vorwort

12Gorch Pieken Einleitung

Essays

24Ralph GiordanoVon der Unteilbarkeit der Humanitas

32Jens WehnerDie Operation »Bagration«Der Beginn des Kriegsendes

56Tomasz KranzMajdanek Das deutsche Konzentrations lager in Lublin

66Winfried NachtweiDas Deutsche Riga-Komitee Die Bedeutung Rigas im kollektiven Gedächtnis der Deutschen

78Alfred GottwaldtDresden, eine Drehscheibe der »Judendeportationen« im Zweiten Weltkrieg?

98Mike SchmeitznerTätern auf der SpurDresden und der Nationalsozialismus

108Hannes HeerDie Zerstörung der Dresdner Theater von 1933 bis 1935

130Linda von KeyserlingkVictor und Eva Klemperer in Dresden von 1933 bis 1945

146Heidrun HannuschBegegnungen

158Regina Scheer»Stille Helden« in Dresden

Biografien

170Bruno Gimpel

176 Ruth Weinberg

182 Gisela Rubin

188 Familie Weiss

192 Elka LiebeIngeborg Liebe

194 Heinz- Joachim Aris

200 Myriam Schütze

208 Familie Chotzen

216 Karel Loewensohn, Vilém Singer und Oldrich Novotný

222 Anka Bergman

226 Josef Salomonovic

232 Ruth Alton

236 Ilse Frischmann

240 Horst Weigmann

242 Ruth Jahrreiß

246 Arthur Oskar Chitz

252 Heinrich Wilhelm Conradi

256 Hannelore Hahn

262 Anneliese Staub

266 Victor Klemperer

270 Rosa Menzer

272 Familie Gellert

278 Auschwitz

Interviews, Dokumente und Projekte

286Heidrun Hannusch»So fing es an und so ging es weiter.«

290Manfred Ogrodek Einer von vielen

314Pascal Burq im Gespräch mit Gorch Pieken

321Iris Berben im Gespräch mit Christoph Amend

324Hildegard Hamm-Brücher im Gesprächmit Heidrun Hannusch

328Jan Kindler Begleitprogramm

Anhang

332Personenregister

336Literatur/Quellen

338Autoren

341Abkürzungen

342Impressum

344Bildnachweis

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Essays

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Jens Wehner

Die Operation »Bagration«DER BEGINN DES KRIEGSENDES

Erschossene in einem Dorf bei Borissow

nach der Befreiung 1944

Es gibt Schlachten der Weltgeschichte, die sich tief in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingebrannt haben. Dazu zählen zum Beispiel die Schlacht von Waterloo 1815, die Schlacht bei Verdun 1916 oder die Schlacht von Stalingrad 1942/43.

Dagegen ist vielen Deutschen eine der größten militä-rischen Niederlagen der deutschen Geschichte völlig unbekannt. Sie ereignete sich im Sommer 1944 in Weißrussland und war das Ergebnis einer sorgfältig geplanten sowjetischen Großoffensive mit dem Deck-namen »Bagration«. Pjotr Iwanowitsch Bagration (1765 – 1812) war ein aus Georgien stammender General im russischen Heer während der napoleonischen Ära gewesen. Im Zuge der Operation erlitt die Wehrmacht nicht nur ihre schwerste Niederlage, sondern es wurde auch die Befreiung zahlreicher Orte der deutschen Verbrechen möglich. Majdanek war unter diesen der bedeutendste, weil das dort befindliche Konzentrations-lager erstmals das wahre Ausmaß des Holocausts sichtbar machte. Auf einzigartige Weise verbindet sich so die schwerste militärische Niederlage der Deutschen mit dem moralischen Tiefpunkt der deutschen Ge-schichte, dem Holocaust. Ein weiteres Indiz für die längst bewiesene Tatsache, dass militärisches Geschehen und Vernichtungspolitik in engem Zusammenhang standen.

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war ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Antiparti-sanenaktionen hauptsächlich Zivilisten und nicht be-waffnete Widerstandskämpfer trafen. Die 95. Infanterie-Division und die 201. Sicherungs-Division nahmen im Frühjahr 1944 an der Aktion »Frühlingsfest« teil, in deren Verlauf Tausende getötet oder deportiert wur-den.10 Die Teilnahme von Fronteinheiten an Massen-mordaktionen im weißrussischen Hinterland war bei der Heeresgruppe »Mitte« keine Ausnahme, allein elf beteiligte Infanterie-Divisionen sind bekannt.11

Bei derartigen Mordaktionen handelten die deutschen Offiziere nicht ausschließlich auf Befehl, in manchen Fällen übernahmen sie auch selbst die Initiative. Wie der Historiker Dieter Pohl schreibt, forderte der Kom-mandeur der 339. Infanterie-Division den Völkermord an den Roma und Sinti in Weißrussland, der Komman-deur der 707. Infanterie-Division führte ihn mit seinen Einheiten aus. Ganz ohne Beteiligung der SS und sogar wesentlich radikaler, als zu diesem Zeitpunkt (Ende 1941) vom Reichsführer der SS Heinrich Himmler ge-

aufgegriffen und […] als Arbeitskräfte zugeführt. Nach dieser Zeit werden die Männer in diesen Gebieten er-schossen.«16

Die sowjetische Planung der Operation »Bagration«

Stalin und seine Marschälle und Generale planten, am östlichen Frontverlauf anzugreifen, um die dortige Heeresgruppe »Mitte« endlich zu zerschlagen. Sie vermuteten richtig, dass die Wehrmacht den Angriff eher im Süden als im bewaldeten und sumpfigen Weißrussland erwarten werde. Eine Offensive in Weiß-russland käme also, so das Kalkül, für die Deutschen überraschend.17 Sowjetische Ablenkungsmanöver im Süden der Ostfront schienen die Annahme der Wehr-macht zu bestätigen. Ihr fehlte es an Spionen sowie Luft- und Erdaufklärern. Dennoch vermutete die dafür zuständige Abteilung »Fremde Heere Ost« immerhin bereits am 13. Juni 1944, dass die Rote Armee eine Großoffensive bis Minsk beabsichtigen könne. Die Lage wurde aber von der Führung der Heeresgruppe »Mitte« anders beurteilt. So gelang es der Roten Armee, die Wehrmachtführung im Unklaren zu lassen und das Überraschungsmoment zu erzielen.18

Vorentscheidungen für den Ausgang militärischer Operationen fielen im Zweiten Weltkrieg bereits in den Fabriken. 1944 waren die Rüstungsproduktionen aller kriegführenden Mächte am höchsten. Das Deutsche Reich erreichte den Höchststand seiner Rüstung Mitte 1944, wurde von den Alliierten aber deutlich übertrof-fen. Die gefertigten Rüstungsgüter und Waffensysteme mussten in entsprechenden Mengen an die Front ge-bracht werden. Die Deutschen waren hier nicht nur hinsichtlich des ökonomischen Potentials, sondern auch organisatorisch unterlegen. So schrieb Rüstungs-minister Albert Speer am 20. Juli 1944 an Hitler, dass »Amerikaner und Russen mit organisatorisch einfachen Mitteln und daher größerem Nutzeffekt zu handeln« verstünden.19

fordert, führten Divisionen der Wehrmacht diese Mordaktionen aus.12

Gegenüber behinderten Personen zeigte die Wehr-macht ebenfalls keine Gnade. Der dritte Generalstabs-offizier der 3. Panzer-Armee (Ic/A.O.) wies die Geheime Feldpolizei im Juni 1942 an, 113 »Krüppel« zu erschie-ßen, was diese prompt »erledigte«.13

Selbst Frontverbände, die laut mancher Aussage auf-grund ihrer militärischen Bedeutung kaum Zeit gehabt hätten, sich an Mordaktionen zu beteiligen, leisteten zumindest Tatbeihilfe.

Kurz vor Beginn der Operation »Bagration« errichtete die Heeresgruppe »Mitte« Lager für zehntausende Zivilisten, die aus den Verteidigungszonen entfernt werden sollten. In diesen Lagern starben tausende von ihnen einen elenden Hungertod. Die 5. und 20. Panzer-Division beteiligten sich an diesen Aktionen, wobei sich letztere hervortat, indem sie 7000 Zivilisten mehr ver-schleppte, als die Deportationszüge überhaupt fassen konnten.14

Selbst Männer, die zu den Verschwörern des 20. Juli 1944 gehörten und in der Heeresgruppe zahlreich zu finden waren, sind nicht frei von der Beteiligung an deutschen Verbrechen. So forderte Henning von Tres-ckow als Stabschef der Heeresgruppe »Mitte« und später der 2. Armee wiederholt den Einsatz der SS-Kavallerie-Brigade (später Division). Diese vom späte-ren Schwager Hitlers, Hermann Fegelein, komman-dierte Brigade ermordete seit 1941 zehntausende Juden und Weißrussen.15

Ein anderer Verschwörer des 20. Juli, Major Georg Freiherr von Boeselager, forderte 1943 die Schaffung »toter Zonen«. In seiner Ausarbeitung forderte er: »Aus den bandenverseuchten Gebieten müssen alle Männer weggeschafft werden. Bis zu einem bestimmten Zeit-punkt werden die Männer bis 50 Jahre von der Truppe

4.7.

4.7.

17.7.

31.7.

17.7.

31.7.

31.7.

17.7.

28.6.

22.6.

22.6.29.8.

29.8.

22.6.

29.8.28.6.

Wolga

DünaDüna

Beresina

Dnepr

Dnepr

Pripjat

Pripjat

Bug

We ichsel

Memel

Lublin

Warschau

Bialystok

Königsberg

Kaunas

Wilna

Minsk

Smolensk

WitebskDünaburg

Riga

Mogiljow

Bobruisk

Orscha

Borissow

Maly Trostinjez

Lublin-Majdanek

Treblinka

Sobibor

Bronnaja Gora

3. BALTISCHEFRONT

2. BALT.FRONT

1. BALT.FRONT

3. WEISSRUSS.FRONT

2. WEISS-RUSSISCHE

FRONT

1. WEISSRUSS.FRONT

H.GR.NORD

H.GR.MITTE

H.GR.NORD

H.GR.MITTE

16. A.

3. Pz.A.

4. A.

9. A.

2. A.

4. Pz.A.

9. A.

2. A.

4. A.

16. A.

3. Pz.A.Memel

Operation Bagration

Befreiung Weißrusslands 1944

Kartografie: T. Zimmermann

Vernichtungslager, die imSommer 1944 befreit worden

0 50 100 km

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Diesen Defiziten stand die hohe Kampfkraft der Wehr-macht gegenüber. Viele Militärhistoriker sind sich einig, dass die Kampfkraft der Wehrmacht im Vergleich zu ihren Gegnern höher war, zumindest wenn man nur die Landstreitkräfte betrachtet.20

Die vier für »Bagration« vorgesehenen Fronten – Front war das sowjetische Äquivalent zur deutschen Heeres-gruppe – der Roten Armee verfügten nach offiziellen sowjetischen Angaben am 22. Juni 1944 über 1 254 300 Soldaten und Soldatinnen, 2715 Panzer, 1355 Selbst-fahrlafetten, 24 383 Geschütze und Granatwerfer und 6334 Flugzeuge. Es standen 400 000 Tonnen Munition, 300 000 Tonnen Treibstoff, 500 000 Tonnen Verpflegung und Tierfutter bereit, dazu kamen Eisenbahnschienen, Baustoffe und etliches weiteres Material, das zum Aufbau der zerstörten Infrastruktur benötigt wurde.21

Am Beispiel der 1. Weißrussischen Front lässt sich zeigen, wie die Maßnahmen im Detail aussahen. Die 1. Weißrussische Front sollte vorerst nur mit dem rechten Flügel, also etwa der Hälfte ihrer Truppen, die 9. Armee angreifen. Dennoch war der logistische Auf-wand beträchtlich. Nach Angaben ihres Logistikgenerals Antipenko verfügte die Front über rund 70 000 Kraftfahr-zeuge, von denen 8000 für logistische Aufgaben vorge-sehen waren.22 Diese 8000 Transportfahrzeuge verteilten

Die Zerschlagung der 3. Panzer-Armee

Am 22. Juni 1944, genau drei Jahre nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, begann die sowjetische Angriffsoperation der 1. Baltischen und 3. Weißrussi-schen Front am nördlichen Sektor. Nach einem starken Artillerietrommelfeuer und ständigen Angriffen sowje-tischer Schlachtflieger griffen die sowjetische 6. Gar-dearmee und die 42. Armee nördlich von Witebsk beim Frontabschnitt des deutschen IX. Armee-Korps an.

Südlich von Witebsk griffen die sowjetische 5. und die 39. Armee an, die auf Divisionen des VI. Armee-Korps trafen. Zahlenmäßig waren die Deutschen an beiden Abschnitten deutlich unterlegen. Die Folge waren tiefe Einbrüche in

die deutschen Verteidigungslinien. Erfolglos blieben Gegenangriffe der 299. Infanterie-Division und des Infan-terie-Bataillons 550 (z.b.V.) (Straf- und Bewährungsein-heit), die unter hohen Verlusten abgewehrt wurden.27

Der Oberbefehlshaber der 3. Panzer-Armee, General-oberst Georg-Hans Reinhardt, schickte seine einzige nennenswerte Reserve zur Abriegelung der sowjeti-schen Angriffe in den Kampf. Doch dabei handelte es sich lediglich um die rund 10 000 Mann starke 95. In-fanterie-Division, die zudem auf beide Abschnitte ver-teilt werden musste.

So musste nördlich von Witebsk ein einziges verstärk-tes Regiment der 95. Infanterie-Division28 den Angriff

Weißrussische Partisanen

auf dem Marsch, 1944

die Nachschubgüter, die von rund fünfzig Eisenbahnzü-gen täglich angeliefert wurden.23

Grundidee des Planes war es, an sechs Frontabschnit-ten durchzubrechen. Im Norden sollten zwei sowjeti-sche Fronten die 3. Panzer-Armee zertrümmern und durch die Lücken die 5. Gardepanzerarmee nach Minsk eilen lassen. Im Süden sollte die 1. Weißrussische Front mit ihrem rechten Flügel die 9. Armee zerschlagen und mit einigen Panzerkorps ebenfalls nach Minsk vorrü-cken. Nach dem Treffen beider Panzerzangen in Minsk wäre die mittig gelegene 4. Armee der Wehrmacht eingeschlossen, die gleichzeitig von der 2. Weißrussi-schen Front angegriffen werden sollte.24

Die Operation »Bagration« beginnt

In den Tagen vor dem Beginn der Kämpfe begannen die Deutschen langsam das Ausmaß der Angriffsvorberei-tungen zu erahnen. In der Nacht vom 19. zum 20. Juni 1944 ließen hunderttausende Partisanen in den weißrus-sischen Wäldern Sprengsätze an den Eisenbahnschienen explodieren und störten so den deutschen Nachschub empfindlich. Die führenden Generale der Heeresgruppe »Mitte« rechneten jetzt mit sowjetischen Angriffen auf Orscha, Bobruisk und Mogiljow. Ein Angriff auf Witebsk wurde als nicht wahrscheinlich angesehen, aber auch nicht ausgeschlossen. Dass die Rote Armee beabsichti-gen könne, bis nach Minsk oder gar weiter vorzustoßen, wurde nicht ernsthaft in Betracht gezogen.25

Zudem unterschätzten die Generale vor Ort die Rote Armee generell, da die Heeresgruppe »Mitte« seit 1941 sowjetische Angriffe oft – wenngleich unter schweren Verlusten – abgewiesen hatte.26

Ein Nachschubzug mit gepanzerten Fahrzeugen

der 1. Weißrussischen Front, 1944

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Heidrun Hannusch

Begegnungen

Leonard Katz kramt in seinem Schreibtisch. Es dauert lange, bis er findet, was er gesucht hat. Es wirkt, als hätte er es versteckt, nicht vor anderen, sondern vor sich. Ein Notizbuch. Er schlägt es auf, in der Mitte liegen kleine, angegilbte Schwarz-Weiß-Fotos. Auf einer der Fotografien sind am Boden liegende Uniformierte zu erkennen. Katz sagte leise: »Die haben wir wegge-macht.« Es klingt, als würde ein Kind erzählen. Die Fotos hat er aufgenommen im Konzentrationslager Buchenwald, nachdem die Befreier wieder abgefahren und die ehemaligen Häftlinge für kurze Zeit allein waren mit den letzten entwaffneten SS-Leuten. Die sie »weggemacht« haben. Der gebürtige Dresdner war 15, als er ins KZ kam, und 18, als er befreit wurde. Er war 16, da musste er lernen, wie man die Leichen aus den Gaskammern so schichtet, dass der Stapel nicht um-fällt. Er demonstriert es auf dem Wohnzimmertisch. Und legt eine Hand im rechten Winkel über die andere. Und doch scheint die Tatsache, dass er geholfen hat, die ehemaligen Bewacher zu töten, das zu sein, was er bis ins hohe Alter nicht verwinden kann.

Ich traf Leonard Katz Mitte der Neunziger in Florida. Er war einer von etwa hundert aus Dresden vertriebenen Juden, mit denen ich im Laufe von über zwanzig Jahren Interviews führte. Ich hörte Geschichten, auf die niemand gefasst sein kann. Ich lernte großzügige Menschen kennen, die bereit waren zu differenzieren, wenn es um Deutschland ging. Manchmal, nicht selten, fragte ich mich, ob ich ein Recht zu all dem habe. Wenn ihre Stimme leiser wurde, sie begannen zu stocken oder zu weinen und doch darum baten weiterzumachen. Weil sie es endlich loswerden wollten und es leichter ist einer Fremden gegenüber. Und ich gewöhnte mir diese Jour-nalistenfloskeln ab, mit denen konzentriertes Zuhören signalisiert werden soll, diese Ahas zwischendurch.

Oskar Schindler mit Arbeitern seiner

Emailwaren fabrik in Krakau, Frühjahr 1943

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Es gab absolut nichts, was zu sagen war, als Irene Hizme erzählte. Als Sechsjährige kam sie mit ihrem Zwillingsbruder René im KZ Auschwitz in den Sonder-block von Josef Mengele. Der SS-Arzt führte Experi-mente an Zwillingen durch. Er infizierte künstliche Wunden, um herauszufinden, ob die Zwillinge gleich oder unterschiedlich reagierten. Besonders berüchtigt waren Mengeles Versuche, durch Zusammennähen künstliche Siamesische Zwillinge zu erzeugen. Mengele nannte die Kinder »meine Meerschweinchen«.

Die gebürtige Dresdnerin Irene Hizme erzählte:»Ich erinnere mich nur an einen Arzt im weißen Kittel. Einmal gab er mir Bonbons. Man hatte dieses zwiespäl-tige Gefühl, er möge einen mögen. Ich dachte mir, wenn ich richtig brav bin, dann ist er mein Freund und wird mir nicht wehtun. Aber so war es nicht.

Ich erinnere mich, dass mir große Mengen Blut am Hals abgenommen wurden, was sehr schmerzhaft war. Ich habe Spritzen erhalten, von denen ich krank wurde. Aber alle Kinder waren sehr artig. Wir wussten instinktiv, dass wir es sein mussten. Man konnte bei den Blutabnahmen nicht heulen, man wagte es einfach nicht. Ich erinnere mich, dass ich mir am Anfang Sorgen um meinen Bruder René machte, er war so ein Heul baby. Und ich fürchtete, dass er heulen würde und ihm dann irgendetwas Fürch-terliches passiert. Auf irgendeine Art war es wohl besser, dass ich diejenige war, an der die Experimente durchge-führt wurden, denn ich war weitaus stoischer.

Ich hatte die ganze Zeit über Angst. Und ich war so einsam. Eine Nacht musste ich zum Waschraum und versuchte, wieder reinzukommen. Es war dunkel, ich war ganz durcheinander und wusste nicht mehr, wo mein Bett steht. Ich tappte umher, versuchte den Rück-weg zu finden, und die anderen Leute stießen mich weg. Hier gehörst du nicht hin, sagten sie, die Erwachsenen, und schoben mich weg. Ich fühlte mich so abgelehnt,

ich kann es nicht beschreiben. Schließlich meinte je-mand: Ok, du kannst über Nacht bei mir bleiben.

Manchmal fragen die Leute, ob man dadurch stärker wird. Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass Leid stark macht. Es macht mich viel trauriger. Es fehlt immer etwas, überall. Manchmal fühle ich mich wie drei Jahre alt und vermisse meine Mutter und meinen Vater und hätte so gern gewusst, wie sie waren.«

Das bekommt man nie wieder aus dem Kopf. Und nicht die Erinnerung an die zerbrechliche freundliche Frau, die schüchtern wirkte wie ein kleines Mädchen.

Und was soll man sagen, wenn ein alter Mann berichtet, wie er sich bei der Evakuierung des Konzentrations-lagers in der Latrine versteckt hat, unter dem Deckel. Man kennt die Szene aus »Schindlers Liste«. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn einem der Betroffene gegenüber sitzt in einem friedlichen, üppigen Garten in Mittelengland, in dem die einzig vorstellbare Katastro-phe eine Schneckeninvasion zu sein scheint. Als das Konzentrationslager Auschwitz vor der anrückenden Sowjetarmee geräumt wurde, versteckte sich Michael Rehfisch gemeinsam mit anderen. Zwei Mal kam die SS zurück, andere fanden sie, den 18-Jährigen und vier weitere Jungen nicht. Sie verbargen sich im verschnei-ten Wald, liefen nachts, bis sie auf sowjetische Panzer trafen. Das Dresden, an das er sich erinnerte, war jenes, wo er mit anderen jüdischen Kindern auf dem Friedhof spielte, weil der Spielplatz für sie verboten war.

Und selten ist das Schreckliche, das einer erlebt hat, der Grund, im Alter endlich von anderen wahrgenom-men zu werden. Wie jeder Junge hatte Heinz Dressler Träume, was er einmal werden wollte. Wie jeder wollte er eine Art Bedeutung, die ihn sichtbar macht. Er war gut in der Schule. Hätte gern studiert. Daraus wurde nichts. Und doch hatte er, was er später Glück nannte.

Er war einer von jenen 1100, die auf Schindlers Liste standen. Er beschrieb Oskar Schindler, wie Kinder ei-nen Märchenprinzen beschreiben würden. Der immer gut roch nach Eau de Cologne, seidene Hemden trug und zu Pferde kam. Und dann dessen 37. Geburtstag am 28. April 1945. Dressler erzählte, wie die Häftlinge Schindler gratulierten, die Mädchen einen Kuchen buken und Musiker ein Ständchen gaben.

Als Steven Spielbergs Film »Schindlers Liste« in die Kinos kam, wurde Henry Dressler zu einer Berühmt-heit. Und ja, er genoss es, warum auch nicht. Viele wollten von ihm hören, ob es wirklich so war wie im Film. Der alte Mann sagte: »Die Leute wollten mich

ständig berühren.« Und der Film habe sein Leben verändert. »Davor war ich eher schüchtern. Aber nun habe ich keine Schwierigkeiten mehr, auf Menschen zuzugehen.« Da war er Mitte Siebzig.

Einmal traf ich Leon Green in New York. Ich sah ihn von weitem auf mich zukommen auf dem Times Square. Und hatte plötzlich den Eindruck, er sieht aus wie einer, der sich fremd fühlt hier. Der eigentlich woanders sein möchte, auch wenn er schon seit fünfzig Jahren da ist. Ich war mit ihm in Dresden die Stätten seiner Kindheit abgelaufen. Er freute sich über jedes Haus, das er wiedererkannte.

Kinder als Opfer medizinischer

Experimente in Auschwitz

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Leon Green war auch im KZ Plaszow. Er kam nicht auf Schindlers Liste. Stattdessen wurde er selbst zu einem Schindler. Er rettete ein Leben.

März 1943. Das Krakauer Ghetto ist geräumt. Die SS durchkämmt die Häuser nach Versteckten. Ein Trupp jüdischer Lagerinsassen hat die Aufgabe, verwertbare Möbel einzusammeln. Einer der Männer ist Leon Green. Mit einem schmalen zugenagelten Schrank auf dem Karren passiert er die Wachen zum Instandset-zungswerk außerhalb des Ghettos. Green denkt nur eines: Hoffentlich bleibt das Kind still. Er trägt die Last in die Werkstatt im ersten Stock, bricht den Schrank auf. Das kleine Mädchen darin hat eine Wunde über dem Auge. Er hört Schritte auf der Treppe. Schnell schaut er sich nach einem Versteck für die Vierjährige

um. Nein, der Ofen ist zu klein. Bleibt nur die Lücke hinter der Tür.

Unmittelbar nach dem Krieg war Leon Green bei Freunden in Krakau zu Gast. Ein etwa siebenjähriges Mädchen, das mit den Kindern der Familie spielte, kam ihm bekannt vor. An der Narbe erkannte er sie. Es war das Kind, dessen Vater ihn 1943 gebeten hatte, es aus dem Versteck im Krakauer Ghetto zu holen. Als der SS-Mann damals den Raum betreten hatte, gab Leon vor, das Schloss der Tür zu reparieren. In der Nacht brachten Polen aus Krakau das Mädchen in Sicherheit.

Jahre später traf Leon Green in New York Oskar Schind-ler, der nun mittellos war und von Juden unterstützt wurde. Sie sprachen nicht über die Vergangenheit.

Wenn ich mit ehemaligen Dresdnern sprach, die im Konzentrationslager waren, kamen diese Erlebnisse oft erst am Ende des Gesprächs. Als müssten sie Anlauf nehmen, um diese Hürde nehmen zu können.

Chanan Sabath berichtete, dass er 18 war, als ein SS-Mann im KZ zu ihm sagte: »Jetzt schaufele dein Grab.« Er hob das Grab aus, das er für seines hielt, und kniete sich an den Rand. In Erwartung eines Schusses. Er hörte dicht hinter sich einen Knall. Aber er selbst fiel nicht. Der SS-Mann hatte über ihn hinweg geschossen. Der sagte dann: »Na, hast wohl Angst gehabt?«

Chanan Sabaths Frau Zipora wog noch 33 Kilo, als sie im Mai 1945 befreit wurde, ausgezehrt nach dem To-desmarsch von Auschwitz in das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Nur an einer kaum wahrnehmbaren Bewegung des schwachen Körpers erkannten die Be-freier, dass das junge Mädchen nicht tot war wie die anderen neben ihr auf dem Leichenberg.

Oder Henry Meyer, ein begnadeter Witzeerzähler, der bei einer Aufführung der 9. Sinfonie in Cincinnati die Begeisterungsrufe der Besucher trocken kommentierte mit: »Bei Beethoven schreien die immer.« Und dann erzählte, wie er als Mitglied des Auschwitz-Orchesters in der Gaskammer »Das ist die Berliner Luft« spielen musste. Und sicher war, dass nun auch für ihn das Ende kommt. Und Henry Meyer sagte auch: »Ich schau nicht immer nur zurück. Es war schlimm genug, als es war.«

Und ich werde mir noch lange einen Schal vorstellen, den ein Mädchen um den Kopf trug, während es ein Boot steuerte.

Ezra Jurman war zwölf, als bei einer »Aktion der über Dreißigjährigen« im KZ Strasdenhof auch seine Mutter fortgebracht wurde. Er wartete am Ufer des Sees, an dem das Lager lag. »Ich wusste sofort, dass sie tot ist«, sagte er. Denn ein Boot kam, beladen mit Kleidern,

Mänteln, Schuhen der Toten. Das Mädchen, das die Sachen ablud, trug einen Schal um den Kopf. Es war ein ganz besonderer Schal, die Mutter hatte ihn sehr geliebt. Wir liefen durch London und Ezra Jurmann wiederholte einen Satz mehrmals: »Wer bin ich denn, dass ich für die Ermordeten vergeben kann?«

Auch jene, die entschieden haben, die Art ihres Sterbens selbst zu bestimmen, bevor es die Nazis tun, gehören zu den Ermordeten. Dutzende taten es auch in Dresden.

So wie die Großmutter von Hildegard Hamm-Brücher.Anfang 1942 erhielt Else Pick den Gestellungsbefehl für den Transport nach Theresienstadt. Die Frau, die sich nur noch mühsam mit Krücken vorwärts bewegen konnte, wählte am 27. Januar den Freitod.

Ihre Enkelin Hildegard hatte nach dem Tod der Eltern vier Jahre bei ihr gewohnt. Sie berichtete, dass sie in München, wo sie studierte, die Nachricht erhalten habe, die Großmutter liege in Dresden in der Bewusstlosig-keit. Sie setzte sich sofort in den Zug. »Aber ich kam zu spät«, sagte sie. Als sie längst eine bekannte Politike-rin war, schrieb Hildegard Hamm-Brücher: »Nach ih-rem Tod fühlte ich mich nun endgültig und für immer verwaist.«

Noch zwei weitere Dresdner Verwandte der ehemaligen Politikerin wählten den gleichen Weg wie die Großmut-ter, um der Deportation zu entgehen.

»Gestern mittag gegen halb zwei […] wieder Gestapo, das vierte Mal in vierzehn Tagen. […] Die Katastrophe also entlud sich über Frau Pick, die Siebenundsiebzig-jährige. Sie ist wieder furchtbar geschlagen und gesto-ßen worden«, notierte Victor Klemperer am 11. Juni 1942 in sein Tagebuch. Am nächsten Morgen fand man Julia Pick bewusstlos, sie hatte Schlaftabletten genom-men. Aber diesmal überlebte sie noch. Die Großtante Hildegard Hamm-Brüchers wohnte seit dem 12. Feb-

Einfahrt zum jüdischen Ghetto in Krakau,

1941/43

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Biografien

Texte und Recherche Steffen Liebscher und

Gorch Pieken

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2

Schreiben der Landesstelle Dresden

der Reichskulturkammer an den

Centralverein deutscher Staatsbürger

jüdischen Glaubens zum Berufsverbot

von Bruno Gimpel

Dresden, 13. März 1935

Leihgeber: Stiftung Deutsches

Historisches Museum, Berlin

Die Reichskammer der bildenden Künste

war eine Abteilung der im September

1933 gegründeten Reichskulturkammer.

Sie diente der Gleichschaltung der

Kultur. 1935 wurde Bruno Gimpel die

Berufs ausübung als Maler und Grafiker

verboten, da er im Sinne der NS-Ideolo-

gie als »Nichtarier […] die für die Schaf-

fung deutschen Kulturgutes erforder-

liche Zuverlässigkeit und Eignung«

nicht  besitze. Entsetzt erwiderte Bruno

Gimpel: »Ja, ich fühle mich als Deut-

scher jüdi schen Glaubens«.

Bruno Gimpel1886 –1943

Bruno Gimpel wurde in eine Rostocker Kaufmanns-familie geboren. Früh entdeckte er seine Leidenschaft für die Kunst. Er wurde Dekorationsmaler, studierte an der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule und war seit 1910 Meisterschüler an der Dresdner Kunstakademie. Hier prägte ihn die Nähe zur Künstlergemeinschaft »Brücke«. Im Ersten Weltkrieg diente er als freiwilliger Lazaretthelfer und wurde in den 1920er Jahren als Maler expressionistischer Werke sowie als Grafiker und Plakatgestalter bekannt. Er war Mitbegründer der Ver-eini gung Rostocker Künstler und Leiter der Dresdner Ortsgruppe des Bundes Deutscher Gebrauchsgraphiker. Seine Ehefrau Irene war Musiklehrerin. Sie lebten in einer Wohnung in der Deutsche-Kaiser-Allee 10 (heute Mendelssohnallee) im Dresdner Stadtteil Blasewitz.

Da Bruno Gimpel Jude war, schlossen ihn beide Künst-lervereinigungen 1933 aus. Die Reichskulturkammer belegte ihn 1935 mit einem offiziellen Berufsverbot. Sein Wirken beschränkte sich nun auf den Jüdischen Kulturbund und die Dresdner Gemeinde. Auch seine Frau durfte nur noch innerhalb der Gemeinde als Mu-siklehrerin arbeiten, obgleich sie keine Jüdin war. Von da an betreute das Künstlerpaar jüdische Kinder, gab ihnen Unterricht in Zeichnen und Musizieren und schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Seit dem Novem-berpogrom 1938 wurde Bruno Gimpel mehrfach verhaf-tet, eingesperrt und musste Zwangs arbeit in Dresdner Betrieben leisten. Als die Zwangseinweisung in ein »Judenhaus« drohte, nahm er sich am 28. April 1943 in seiner Wohnung das Leben. Irene Gimpel starb 1979.

1

Der Maler und Grafiker

Bruno Gimpel

Fotografin: Anni Arnold

Dresden, um 1930

Foto im Passepartout

Leihgeber: Stiftung Deutsches

Historisches Museum, Berlin

»Ja, ich fühle mich als Deutscher jüdischen Glaubens«

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5

Betriebsausweis von Bruno Gimpel

für die Teefabrik Willy Schlüter in

Dresden

Dresden, 9. Februar 1943

Leihgeber: Stiftung Deutsches

Historisches Museum, Berlin

1943 leistete Bruno Gimpel sechs Tage

in der Woche von 14 bis 22 Uhr Zwangs-

arbeit für die Teefabrik Schlüter. Sie

hatte ihren Sitz in der Wormser Straße

30 c im Dresdner Stadtteil Striesen. Auch

die Dresdner Professoren Victor Klempe-

rer und Heinrich Wilhelm Conradi waren

hier als Zwangsarbeiter eingesetzt.

Die Tätigkeit war wie am Fließband: Tee

abfüllen, wiegen, eintüten, verpacken,

befördern. »Kennkarte« und »Betriebs-

ausweis« musste Gimpel bei Polizeikont-

rollen, bei Hausdurchsuchungen und

zum Einkaufen vorzeigen.

4

Rundschreiben über Zwangsabgaben,

adressiert an Bruno Gimpel

Dresden, 22. Dezember 1941

Leihgeber: Stiftung Deutsches

Historisches Museum, Berlin

Nach dem Wintereinbruch und dem ge-

scheiterten Angriff deutscher Truppen

auf Moskau erging am 22. Dezember 1941

eine Verordnung der Kreisleitung der

NSDAP Dresden an alle jüdischen Bürger

der Stadt, die »zum Tragen des Kennzei-

chens verpflichtet« waren (»Judenstern«).

Sie mussten ihre Pelz- und Wollbeklei-

dung sowie Felle und Decken innerhalb

eines Tages entschädigungslos abgeben.

Zu solchen Zwangsabgaben zählten im

Juni 1942 auch sämtliche Haushaltsge-

genstände, wie Heizöfen, Kochtöpfe,

Kochplatten, Staubsauger, Föhne, Platten-

spieler, Schallplatten, Schreibmaschinen,

Fahrräder, Foto- und Filmapparate.

Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde

musste auf Anweisung der Dresdner

Gestapo und NSDAP-Kreisleitung die

Betroffenen informieren.

3

Im jüdischen Kinderheim

in Porschendorf

Bruno Gimpel

Aquarell, 1938

Leihgeber: Max-Samuel-Haus,

Rostock

Mitte der 1930er Jahre konnten sich

jüdische Dresdner Kinder aus armen

Verhältnissen in einem Ferienlager in

Porschendorf bei Dresden erholen.

Dazu hatte Werner Scooler ein leerste-

hendes Wohnhaus seiner Pappenfabrik

zur Verfügung gestellt. Das Ehepaar

Gimpel kümmerte sich um die Betreuung

der Kinder. Im Juni 1938 wurde Scooler

enteignet. Kurz darauf stürmte ein Mob

mit Rufen »Juda verrecke« das Ferien-

heim und plünderte es. Die anwesenden

Kinder und Betreuer, darunter Irene

Gimpel, konnten rechtzeitig entkommen.

Scooler wurde 1942 mit seiner Frau

und seinem Sohn nach Riga deportiert.

Vermutlich wurde die Familie dort

ermordet.

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174 175

7

Jüdischer Friedhof in Dresden

Bruno Gimpel

Aquarell, 1943

Leihgeber: Sammlung Gerd Gruber,

Wittenberg

1943 drohte den Gimpels die Zwangsunter-

bringung in einem »Judenhaus«.

Viele jüdische Freunde waren zu diesem

Zeitpunkt schon deportiert. Am 26. April

1943 starb ein Freund Gimpels, Heinrich

Wilhelm Conradi, in Dresdner Gestapo-

haft. Sein Tod war vermutlich der letzte

Auslöser für Gimpels Selbsttötung. Von

den Schikanen eines ganzen Jahrzehnts

gezeichnet, nahm er sich am 28. April

1943 in seiner Wohnung das Leben. Sein

letztes Aquarell zeigt vermutlich den

Alten Jüdischen Friedhof an der Pulsnit-

zer Straße in Dresden-Neustadt. Dieser

ist einer der ältesten jüdischen Friedhöfe

in Sachsen und wurde Ende des 19. Jahr-

hunderts geschlossen. Das Ehepaar

Gimpel ist auf dem Neuen Jüdischen

Friedhof in der Fiedlerstraße in Dresden-

Johannstadt beigesetzt.

6

Dresdner Kinder

Fotograf unbekannt

Dresden, vor November 1938

Vorderseite (Reproduktion)

Original: Stiftung Deutsches

Historisches Museum, Berlin

Das Künstlerpaar Gimpel versuchte, den

Leidensdruck jüdischer Kinder durch

gemeinsames Zeichnen, Musizieren und

Handarbeiten zu lindern. Irene Gimpel

schrieb vermutlich nach dem Zweiten

Weltkrieg auf die Rückseite des Fotos:

»Die letzten Kinder jüdischer Familien in

Dresden – Sie wurden alle ›vergast‹ «.

8

Bericht von Irene Gimpel an den

Kreisvorstand Dresden der

Vereinigung der Verfolgten des

Naziregimes (VVN)

Dresden, 2. August 1948

Rückseite

Leihgeber: Stiftung Deutsches

Historisches Museum, Berlin

1946 wurden einige Werke von Bruno

Gimpel erstmals in einer Sonderausstel-

lung in der Dresdner Kunstakademie

wieder öffentlich gezeigt. Irene Gimpel

bemühte sich, den letzten Wunsch

ihres Mannes zu erfüllen. In ihrem

Bericht von 1948 zitiert sie aus Bruno

Gimpels Abschiedsbrief: »Hebe meine

Arbeiten auf, bis die Zeit kommt, da sie

wieder gezeigt werden dürfen, ist es

doch das Einzige, was ich Dir hinter-

lassen kann.«

Zahlreiche Werke von Bruno Gimpel, die

in der NS-Zeit beschlagnahmt wurden,

sind bis heute verschollen.

Rückseite

(Reproduktion)

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201

Der Antisemitismus gehörte von Anfang an zu den welt-anschaulichen Grundlagen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Die systematische Verdrängung der Deutschen jüdischen Glaubens oder mit jüdischen Vorfahren aus dem öffentlichen Leben und ihre zunehmend brutale Verfolgung begannen für alle Deut-schen sichtbar im April 1933. Anlässlich des Parteitages der NSDAP in Nürnberg 1935 verabschiedete der Reichs-tag Gesetze, die Juden offiziell zu Bürgern zweiter Klasse machten. Das »Reichsbürgergesetz« legte zugleich fest, wer aufgrund der pseudowissenschaftlichen NS-Rassen-theorie als »deutschblütig« oder als »Jude« zu gelten habe. Das »Blutschutzgesetz« stellte Eheschließungen zwischen »Juden« und »Deutschblütigen« unter Strafe.

Dora Kretzschmar war 29 Jahre, Herbert Berger 39 Jahre alt, als sie sich in Chemnitz kennenlernten und bald darauf zusammenzogen. Unmittelbar nach der Verab-schiedung des »Blutschutzgesetzes« wurden beide in »Schutzhaft« genommen, da Dora protestantischer und Herbert jüdischer Herkunft war. Nach ihrer Entlassung mussten sie sich offiziell trennen, blieben einander aber verbunden und lebten weiterhin in derselben Stadt, je-doch in getrennten Wohnungen. Über in Berlin lebende Verwandte schickten sie sich heimlich Briefe. Herbert besaß ein Trikotage-Geschäft. Dora war als Wirtschafte-rin in Privathaushalten beschäftigt.

Nach dem Pogrom im November 1938 wurde Herbert verhaftet und bis zum 1. Dezember im Konzentrations-lager Buchenwald festgehalten. Wie auch andere deut-sche Juden hatte Herbert Berger aus Überzeugung und Patriotismus als deutscher Soldat vier Jahre lang im Ersten Weltkrieg gekämpft, nun kündigte der Staat das Loyalitätsverhältnis gegenüber jüdischen Veteranen einseitig auf. Im folgenden Jahr verließen Dora Kretzsch-mar und Herbert Berger Deutschland und zogen nach Brüssel, wo sie am 25. November 1939 heirateten.

1

Herbert Berger

Fotograf unbekannt

Mitte 1930er Jahre

MHM

Nach dem deutschen Überfall auf

Belgien und Frankreich wurde Herbert

Berger im Mai 1940 im Internierungs-

lager Gurs in Südfrankreich gefangen

gehalten. Dora war schwanger und blieb

in Brüssel, wo sie am 27. Januar 1941

die gemeinsame Tochter Myriam zur

Welt brachte.

Myriam Schütze, geb. Berger*1941

3

Herbert Berger (zweiter von links)

vor einer Baracke

Fotograf unbekannt

Gurs, um 1942

MHM

2

Myriam und Dora Berger

Fotograf unbekannt

Gurs, 1943

MHM

Als Dora Berger im August 1941 von der

Gestapo gesucht wurde, um sich wegen

»Rassenschande« zu verantworten,

schloss sie sich im November mit ihrer

Tochter Myriam einer Schlepperbande

an, die sie auf den langen und gefährli-

chen Weg mit nach Südfrankreich nahm.

Am 7. Dezember ging sie mit Myriam

freiwillig zu Herbert ins Internierungs-

lager Gurs. Wie Dora ihrer Tochter später

erzählte, »war die Freude über das Zu-

sammensein größer als alle Widrigkeiten

im Lager«.

Seit dem Kriegsbeginn und nach seiner

Inhaftierung nahm Herbert insgesamt

45 Kilogramm ab. Er war gealtert,

nannte sich selbst scherzhaft den »Ur-

ahnen von Myriam«. Unter den Mitgefan-

genen genoss er Achtung und Ansehen,

weshalb er auch mit der Aufgabe des

»Barackenchefs« betraut wurde. Es folg-

ten verschiedene Verlegungen in andere

französische Lager, darunter Noé bei

Toulouse.

»Wir hoffen, dass der Krieg bald auf hört und Sie aus dem Lager befreit werden […]«

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6

Zivile Anzugjacke eines unbekannten

Gefangenen des Konzentrationslagers

Majdanek

1930er Jahre

Wolle

Leihgeber: Staatliches Museum

Majdanek, Lublin, Polen

Im Konzentrationslager Majdanek waren

nicht genügend gestreifte Anzüge für

alle Häftlinge vorhanden. Daher wurden

viele Gefangene mit Zivilkleidung verse-

hen. Nur selten durften sie ihre eigene

Kleidung weiter tragen. Sie mussten

ihre mitgebrachte Garderobe abgeben

und erhielten dafür Kleidungsstücke,

die oft schon abgetragen waren. Farbige

Markierungen auf Vorder- und Rückseite

kennzeichneten diese als Häftlingsklei-

dung.

Auch die Mützen der Häftlinge waren

mit Ölfarbe gekennzeichnet. Die meisten

Kleidungsstücke waren jüdischen Vorbe-

sitzern geraubt worden.

5

Schirmmütze eines unbekannten

Häftlings des Konzentrationslagers

Majdanek

1930er Jahre

Wolle

Leihgeber: Staatliches Museum

Majdanek, Lublin, Polen

4

Letzter Brief von Herbert Berger

an Dora und Myriam in Noé

Gurs, 23. Februar 1943

MHM

Von Noé wurde Herbert ohne

Dora und Myriam wieder nach

Gurs verlegt. Am 26. Februar

1943 kam er in das Sammellager

Drancy, von wo aus am 4. März

der Transport in das Konzentrati-

onslager Majdanek begann.

Dort wurde Herbert Berger von

SS-Angehörigen ermordet.

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204 205

7

»Schuhe von Toten«

Gedicht

Tel Aviv, 1972

Leihgeber: Landesarchiv Nordrhein-

Westfalen, Düsseldorf

Am 3. November 1943 hatte die SS

während der »Aktion Erntefest« etwa

18 000 Menschen jüdischen Glaubens

und jüdischer Herkunft im Konzentrati-

onslager Majdanek erschossen. 300 Jü-

dinnen wurden ausgewählt, die Schuhe

der Toten zu sortieren. Eine der 300 war

ein zwölfjähriges Mädchen, dessen

Name nicht überliefert ist. Sie war die

Autorin des Gedichtes. Ihre Mitgefange-

nen lernten das Gedicht auswendig.

Das Mädchen wurde im Frühjahr 1944

ermordet. Das Gedicht wurde bei einer

Zeugenbefragung 1972 erstmals zu

Papier gebracht und beim Düsseldorfer

Majdanek-Prozess 1975 bis 1981 als

Beweismittel zu den Akten gegeben.

Unter den Schuhen der Toten befanden

sich möglicherweise auch die Schuhe

von Herbert Berger.

8

Brief von Hans Graf und Fredi Laubi

an Dora und Myriam Berger

Zürich, 12. Mai 1943

MHM

Das Schweizer Rote Kreuz vermittelte

Patenschaften Schweizer Schüler

für Kinder in Internierungs lagern.

Eine Züricher vierte Schulklasse des

Lehrers Gottfried Müller entschied

sich im Sommer 1942 für Myriam.

Die Kinder sammelten Geld für sie,

schickten Pakete und viele Briefe.

Dora und Myriam Berger blieben mit

Gottfried Müller und seiner Frau

Ida bis zu beider Tod in Freundschaft

verbunden.

Schuhe von Toten

Auf leeren Plätzen,

wie mit Spinnweben gefesselt von Drahtnetzen,

wachsen Schuhhaufen, Schuhe von Toten:

kleine Schuhe, Kinderschuhe, Herrenschuhe, Mädchenschuhe.

Es leuchten mit schwarzen Augen

schlanke Reitstiefel mit Schäften,

Damenstiefel aus Safian

haben ihre geheimnisvolle Sprache.

Der Regen fließt lautlos über sie hin, wie Tränen,

die Sonne verbrennt sie.

Nervöse, zitternde Hände sortieren sie,

es wachsen die Haufen, Haufen wie Kolosse,

bis sie zur Pyramide anwachsen,

sich selbst überwachsen,

und als enorme Säule in den Himmel stoßen

mit dem Geschrei: Warum, warum, warum?

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10

Deportationsbescheid für Myriam

Dresden, 10. Februar 1945

MHM

Das Schreiben vom 10. Februar forderte

Myriams Großmutter in Freiberg auf, ihre

Enkeltochter am 15. Februar 1945 mit

einem Koffer und »Marschverpflegung

für 2 – 3 Tage« an einen Sammelpunkt

in Dresden zu bringen. Die Bombar-

dierung Dresdens am 13. bis 15. Februar

rettete jedoch Myriams Leben. Wichtige

Behördengebäude waren zerstört,

darunter auch die Anlaufstelle, von der

aus Myriam hätte deportiert werden

sollen. Myriam wurde bis Kriegsende von

den Verwandten in Freiberg versteckt.

11

Dora Berger (zweite von links mit

Myriam auf dem Schoß), ihre Mutter

und andere Verwandte

Fotograf unbekannt

Freiberg, nach 1945

MHM

Nach dem Krieg meldete Dora Berger

ihre Tochter Myriam bei der Jüdischen

Gemeinde in Dresden als Mitglied an.

Ihre Familie hatte all die Jahre über zu

ihr gehalten. Bis auf eine Schwester von

Herbert waren alle Verwandten ihres

Mannes in den deutschen Vernichtungs-

lagern ermordet worden.

Mit diesem Löffel war Myriam Berger

von ihren Eltern in Gurs gefüttert wor-

den. Er begleitete sie durch ihre ganze

Kindheit. Myriam war Studentin der

Germanistik und Theaterwissenschaften

an der Berliner Humboldt-Universität,

als sie aus politischen Gründen an Sil-

vester 1960 nach West-Berlin flüchtete.

Im folgenden August reiste ihre Mutter

Dora nach West-Berlin, um dort am

10. August 1961 ihren Geburtstag zu

feiern. Als drei Tage später der Bau der

Berliner Mauer begann, blieb sie im

Westen. Daraufhin wurde ihr gesamter

Haushalt in Freiberg zwangsweise

versteigert. Dabei war es Verwandten

untersagt, an der Versteigerung teilzu-

nehmen. Über Umwege und gute

Freunde konnten sie aber den Löffel

kaufen und Dora und Myriam schenken.

12

Myriams Löffel

1930er Jahre

MHM

9

Anklageschrift, gerichtet an

Dora Kretzschmar

Dresden, 14. September 1943

MHM

Mit einem Sammeltransport waren Dora

und Myriam Berger nach Deutschland

gebracht worden. Während Myriam bei

Verwandten in Freiberg untergebracht

werden konnte, kam Dora am 31. Juli

1943 in Dresdner Untersuchungshaft.

Die Anklageschrift wurde ihr unter ihrem

Mädchennamen zugestellt. Am 20. Okto-

ber wurde sie nach § 1 Abs. 1, § 5 Abs. 1

des »Blutschutzgesetzes« wegen Ehe mit

einem Juden zu einem Jahr und sechs

Monaten Zuchthaus verurteilt. Nachdem

sie ihre Strafe am 19. Februar 1945 im

Zuchthaus von Magdeburg verbüßt hatte,

sollte sie in das Konzen trations lager Ra-

vensbrück deportiert werden. Der Trans-

port kam nicht zustande, weil Magdeburg

bombardiert worden war.

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223

Anka Bergman, verw. Nathan1917 – 2013

26 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schrieb Anka Bergman einen Briefbericht an ihre Tochter Eva. Dieser Brief beschreibt ihre Deportation und die ihrer Familie in die deutschen Vernichtungslager. Und er beschreibt die Geburt ihrer Tochter Eva am 29. April 1945 auf einem Karren mit Leichen und Todkranken im Konzentrationslager Mauthausen. Die Mutter wog 35 kg, das Baby 1,5 kg. Am selben Tag hatte die Wachmann-schaft die Gaskammer funktionsuntüchtig gemacht, sechs Tage später wurde das Lager von amerikanischen Soldaten befreit.

Evas Mutter Anka stammte aus einem tschechischen Dorf in der Nähe von Königgrätz. Sie studierte Jura in Prag, als sie Bernd Nathan kennenlernte. Im Mai 1940 heirateten sie. Weil sie Juden waren, wurden sie Ende 1941 von Prag in das Ghetto Theresienstadt verschleppt, wo sie drei Jahre lang lebten. Als Anka schwanger war, zwang die SS das junge Paar, schriftlich zuzustimmen, dass das Kind unmittelbar nach der Geburt getötet werde. Dies geschah nicht, doch ihr Sohn Dan starb, zwei Monate nach seiner Geburt, im Februar 1944 an einer Lungenentzündung.

Über Dresden wurde Anka nach Auschwitz deportiert und von dort in einer zwei Tage dauernden Fahrt ohne Wasser nach Freiberg bei Dresden gebracht, um bei der Produktion des Marschflugkörpers V1 eingesetzt zu werden. Anfang April 1945 wurde Anka mit anderen Zwangs arbeitern in offenen Kohlewaggons auf eine dreiwöchige, scheinbar ziellose Fahrt geschickt, bis sie am 29. April das Konzentrationslager Mauthausen er-reichten. Wenige Tage vor der Befreiung des Kon zen-tra tions lagers Auschwitz war Evas Vater am 18. Januar 1945 erschossen worden. 15 Mitglieder ihrer Familie starben in Auschwitz, neben dem Vater der deutsche Großvater, der als Soldat im Ersten Weltkrieg erblindet war und das Eiserne Kreuz Erster Klasse erhalten hatte, die tschechischen Groß eltern, Onkel und Tanten.

1

Briefbericht von Anka

an ihre Tochter Eva

Cardiff, Oktober 1971

Leihgeber:

Leo Baeck Institute,

New York

Nach Bernds Deportation von Theresien-

stadt nach Auschwitz am 28. September

1944 folgte ihm seine Ehefrau Anka

freiwillig am 1. Oktober. Nach einem

Zwischenstopp in Dresden fuhr der Zug

direkt zur Rampe von Auschwitz, wo der

SS-Arzt Josef Mengele die Aussteigen-

den in zwei Gruppen einteilte: in diejeni-

gen, die sofort ermordet wurden, und

diejenigen, die kräftig genug waren, um

Zwangs arbeit zu leisten. Anka Bergman

gehörte zur zweiten Gruppe. Ihren

Mann Bernd traf sie nicht, und so konnte

Anka ihm nicht sagen, dass sie schwan-

ger war. Bis zu ihrem Weitertransport

vergingen zehn Tage, die ihr wie hundert

Jahre vorkamen.

» – like cattle being sent to the

slaughterhouse.«

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224 225

2

Anka und Bernd Nathan

Fotograf unbekannt

Prag, 1940

(Reproduktion)

Original: Eva Clarke, Cambridge,

Großbritannien

Glücklich, das Kriegende erlebt und

einer Tochter das Leben geschenkt zu

haben, die trotz der unmenschlichen

Bedingungen ihrer Geburt gesund war,

fuhr Anka zurück nach Prag. Als sie

mit dem Zug dort ankam, stand sie mit

ihrem Baby alleine auf dem Bahnsteig.

Niemand aus ihrer Familie holte

sie ab, sie waren alle tot. Ihre Tochter

Eva kennt den Vater nur vom Foto.

3

Anka und ihre Tochter Eva

Fotograf unbekannt

Cardiff, Anfang 1950er Jahre

(Reproduktion)

Original: Eva Clarke, Cambridge,

Großbritannien

Nach der kommunistischen Machtüber-

nahme in der Tschechoslowakei

wanderte Anka mit ihrem zweiten Ehe-

mann Karel Bergman und Eva 1948

nach Cardiff in Großbritannien aus.

Hier gründeten sie eine Firma und

bauten ein Haus. Anka Bergman starb

am 17. Juli 2013 mit 96 Jahren im Kreis

ihrer Familie. Sie hatte zwei Enkel und

drei Urenkel.

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S a n d S t e i n iSBn 978-3-95498-054-3

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