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H. Schulz Physik mit Bleistift Das analytische Handwerkszeug des Naturwissenschaftlers Verlag Harri Deutsch

Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

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H. Schulz

Physikmit

BleistiftDas analytische Handwerkszeug

des Naturwissenschaftlers

VerlagHarriDeutsch

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„Physik mit Bleistift“ ist eine ungewöhnlich lebendige Einführung in das mathematische Rüstzeug, das sich jeder Studierende naturwissenschaftlicher Ausrichtung aneignen muß. Mit Analogien und Bezügen zum Alltag gelingt es hier, sonst trockenen Stoff in echtes Verstehen von Natur umzusetzen. Vorkenntnisse aus der Schule werden kompakt aufbereitet. Die behandelten Rechenmethoden werden dabei als notwendige Grundlage der Physik angesehen. Durch Unterscheiden zwi­schen grundlegenden und herleitbaren Zusammenhängen, durch Anschauung und durch den Mut zum eigenen Nachdenken wird ihre mathematische Struktur transparent. Zahlreiche Anwendungsbeispiele und Übungsaufgaben runden das Lehrbuch ab und machen es zum idealen Begleiter für die ersten Semester.

Themen:Vektoren • Kinematik • Newton • Tensoren • Funktionen • Integrale • Lösen von Bewegungsgleichungen • Felder • Integralsätze • Diffusion und Wellen • Maxwell • Fourier- Transformation • Variationsrechnung • Wahrscheinlichkeiten • Spezielle Relativitätstheorie • Quantentheorie • Übungsaufga­ben und Klausuren

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H. Schulz

Physik mit BleistiftDas analytische Handwerkszeug des Naturwissenschaftlers

VerlagHarri Deutsch

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Hermann Schulz, HochschuldozentInstitut für Theoretische Physik der Universität HannoverAppelstraße 2, D-30167 HannoverGeboren 1938 in Zittau (Sachsen), Promotion 1970 bei W. Brenig in München In Hannover seit 1973, Arbeitsgebiet: QCD bei hoher Temperatur E-mail: [email protected]

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich.

ISBN 3-8171-1661-6

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Vervielfältigung des Buches - oder von Teilen daraus - sind Vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf oh­ne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung, reprodu­ziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Der Inhalt des Werkes wurde sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autoren, Her­ausgeber und Verlag für die Richtigkeit von Angaben, Hinweisen und Ratschlägen so­wie für eventuelle Druckfehler keine Haftung.

4. Auflage 2001©Wissenschaftlicher Verlag Harri Deutsch GmbH, Frankfurt am Main, 2001 Druck: Präzis-Druck GmbH, Karlsruhe Printed in Germany

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Vorwort

Jene mutigen Leute, die ein Studium der Physik beginnen, und ein Lehrbuch für Anfangssemester haben etwas gemeinsam. Sie stehen (wenn auch auf verschiedenen Seiten) vor dem gleichen Problem: der noch nicht getroffenen Übereinkunft, wie man sich verständigen könne. Die Umgangssprache ist ungenau. Vorkenntnisse aus der Schule sind sehr verschieden. Und es gibt unglaublich falsche Vorstellungen davon, worauf es bei diesem Studium ankommt. Aber wir sind allesamt Men­schen, sind einmal im Wald spazieren gegangen, haben einen Nachthim­mel betrachtet, können manche Vorgänge bei geschlossenen Augen „se­hen“, haben die Fähigkeit zu staunen und kennen die Frage „Warum?“. Nie aufzuhören mit dieser Frage, das ist Physik.

Das Verstehen der Vorgänge der Natur findet am Schreibtisch statt. Verstehen ist Rückführen auf bereits Bekanntes. Es geschieht mit Glei­chungen, Bildern und Rechnungen. Alle jene Zeichen, die auf dem Papier erscheinen, haben Bedeutung. So, wie aus Noten, die Töne be­deuten, Musik werden kann, erwächst aus Formelbuchstaben die Kunst des Verstehens. Kunst ist Handwerk. Ihr Handwerkszeug sind die Kalküle beim „Rechnen mit Bedeutung“. Vielleicht hätte dies auf dem Einband stehen sollen. Diese Kalküle zu erklären und ihren Sinn sicht­bar zu machen, das ist jedenfalls das Anliegen dieses Buches. Es kann den Leser nur ein Stück weit begleiten, denn erst dadurch, daß er sie selbst ausprobiert und übt und übt und übt, wird der „Noten“-Leser zum „Pianisten“.

Es werden keine höheren Schulkenntnisse vorausgesetzt. Was zum Bei­spiel ein Winkel ist oder warum der Pythagoras gilt, wird erklärt. Vielleicht — das wäre schön — entwickeln Teile aus den ersten Kapiteln einen Nutzen für Lehrer und Schüler der höheren Klassen am Gymnasium. Beim Fortgang des Stoffes gewinnen dann mehr und mehr andere Aspekte die Oberhand: Rentabilität (schön ist, was kurz ist; Anschauung spart Zeit), Eleganz (hoffentlich; ggf. besser ma­chen!) und Unterscheidungsfähigkeit in Grundsätzliches, Herleitbares und spezialisiert Angewandtes (nur so läßt sich das inzwischen riesige

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Gebiet der Physik bewältigen). An den „Leser ohne Vorkenntnisse“ werden nun hohe Anforderungen gestellt: die Fähigkeit nachzudenken, Vorstellungsvermögen, Ehrlichkeit vor sich selbst und ein unbändiges Bedürfnis, alle der Formelsprache zugänglichen Gedanken selber aufzu­schreiben, auszuprobieren und zu verbessern — bis sich das Gefühl einstellt, man habe sie selbst erfunden.Die Vorlesung, die hier aufgezeichnet wurde, wird in Hannover (im ersten Studienjahr und wöchentlich zweistündig) als Rechenmethoden der Physik angeboten. Die Bezeichnung greift zu hoch. Früher hieß sie Mathematische Ergänzungs-Vorlesung. Nichts stimmte so recht an diesem Titel. Aber man verstand ihn. Beim Titel dieses Buches verhält es sich umgekehrt. Er stimmt. Aber man versteht ihn nicht so recht. Schuld daran ist, daß er ein Fremdwort enthält. Wir wollen versuchen, es zu übersetzen. Das Erstaunliche an der

Physikist, daß es sie gibt. Und es gibt sie eigentlich erst seit etwa 300 Jahren. Schon lange, seit die Menschen ihre Beobachtungen aufzeichnen und mitteilen können, wissen wir von Regelmäßigkeiten der Vorgänge in der Natur. Unter gleichen Umständen wiederholt sie das gleiche, und zwar quantitativ präzise. Sie verhält sich mathematisch. Das eigent­lich Aufregende war nun die Erkenntnis, daß es Einheit gibt in diesen Verhaltens-Mathematiken. Es ist stets nur eine Mathematik am Wer­ke. Dies mag unglaublich klingen. Zweifel sind erlaubt (das Studium wird sie ausräumen). Aber falls zutreffend, dann sind an dieser Stelle Gefühle der Ehrfurcht angezeigt. Daß es die Natur-Mathematik gibt, ist das Naturwunder Nummer eins. Eine Mathematik beruht auf Axio­men (wenigen Startvorgaben, die alles weitere festlegen). Die Axiome der Natur-Mathematik werden in der Sprache der Physiker — Eng­lisch und weltweit — First Principles genannt. Kennen wir diese obersten Prinzipien der Welt, dann können wir — im Prinzip — alle ihre Erscheinungen verstehen. Verstehen heißt nun Rückführen auf diese Axiome. Das erste oberste Prinzip (es war unzureichend und nicht ganz richtig, aber eben das erste) wurde um 1700 von Newton formuliert. Wir versuchen nun eine Definition des Wortes Physik. Sie steht in keinem Lexikon:

Physik ist die (eine) grundlegende Naturwissenschaft, die einerseits nach den (wenigen, richtigen und ausreichenden) first principles der Natur-Mathematik sucht und die andererseits die Naturerscheinun­gen dadurch verstehen will, daß sie sie als notwendige Konsequenz solcher Prinzipien (sofern bereits bekannt) nachweist.

Die Kehrseite dieses Satzes ist ein wenig boshaft. Genau dann, wenn man den Zusammenhang mit obersten Prinzipien nicht mehr im Sinn hat, hört man auf, Physik zu betreiben. Der Leser möge darüber nach- denken, wie gut unsere Definition die Physik gegenüber anderen Na­turwissenschaften abgrenzt. „Überheblich“ ist sie nicht, wohl aber sehr

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anspruchsvoll. Biologen und Chemiker dürfen zu Recht erwidern, daß wir noch nicht einmal den Grashalm verstehen oder das Wasser. Das ist zur Zeit noch zu schwer.

So sind denn Physik und Rechnen untrennbar miteinander verbunden. Mathematiker machen Mathematik, Physiker machen Natur-Mathema­tik. Die erstere kann schlimmstenfalls einen logischen Fehler enthalten. Die letztere hingegen kann auch dadurch falsch sein, daß sie mit dem wirklichen Verhalten der Natur nicht übereinstimmt. Physik hat also zwei oberste Richter, die Logik und die Wirklichkeit. Vielleicht darum gilt sie landläufig als „schwer“. Wird man doch so leicht ausgelacht ob der (fast) völlig logischen und dennoch falschen Lösung einer Übungs­aufgabe. Wie kann das sein? Das Problem hatte zum Beispiel zwei Lösungen, aber nur eine gab Sinn.

Man macht Physik. Ich sitze am Schreibtisch und habe einen bestimm­ten Naturvorgang vor Augen, den ich begreifen will. Also beginne ich zu malen. Das ist gut. Wir haben das Malen nicht unmittelbar per Dar­winscher Auslese erworben. Es ist also etwas Anstrengung nötig, das Angemessene auch wirklich zu tun. Skizzen sind hilfreich. Sie sind fast immer verbesserungsbedürftig. Also nehme ich nicht den Füllfederhalter (habe auch gar keinen), sondern mache es

mit B leistift.

Ich will radieren können. Grautöne sind möglich. Am nächsten Tag verrät die Zartheit der Buchstaben meine Unsicherheit. Die Laune ist mit dokumentiert, und das hilft mir: ich habe hier gearbeitet, und zwar kreativ! Der Bleistift kommt der typisch physikalischen Arbeitsweise und Denkweise sehr entgegen: Aufschreiben — Nachdenken — Korri­gieren. „Das Resultat dürfte einen Bruchstrich benötigen. In den Zähler dürften die und die Größen gehören. Nun muß aus Dimensionsgründen eine Masse in den Nenner. Vielleicht wird der Bruchstrich kürzer“. Ich muß radieren können! Ich muß mich frei fühlen, wenn ich male und damit ich male; — wenn ich rechne und damit der nächste Rechenschritt leichter fällt.

Ein Bleistift läßt sich spitzen (man nehme einen Fallstift mit jenen ca.2 mm dicken Minen Härte F; der zugehörige Minenspitzer leistet das Genannte). Mit einem so behandelten Schreibzeug lassen sich anstands­los vier Größenklassen von Buchstaben unterscheiden (Index an Index an Index an Buchstabe — das kommt vor!). Schließlich reagieren die gängigen Kopier-Geräte auf Bleistift besonders gut (und auf blauen Ku­gelschreiber besonders schlecht). Wichtige Vorlesungen muß man neu schreiben (eigenes Script). Ihr Kommilitone, der krank war, bedankt sich für den gestochen scharf kopierten Teil Ihrer Ausarbeitung. Das Papier, auf das Sie schreiben, ist unliniert. Der Leser kann sich selbst (und seinem alten Schullehrer) leicht klar machen, wie sehr Kästchen­papier unserer Arbeitsweise widerspricht. Die Welt ist nicht kariert, Schablonen aller Art schaden uns.

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An einer hochehrwürdigen Universität werden Ratschläge der obigen Art meist unterlassen oder nur mit schamhafter Zurückhaltung gege­ben. Jene persönliche Sphäre (in der die Genialität aufwächst) steht unter besonderem Schutz. Der Empfänger eines guten Rates hingegen wird diesen unbedingt ausprobieren, um eine eigene echte Entscheidung treffen zu können. Denk- und Verhaltensweisen variieren zu können, ist beim Physikstudium in besonderem Maße erforderlich. Vieles kann man nicht (noch nicht). Wer aber nicht tut, obwohl er kann, der lege dieses Buch zur Seite (da wächst nichts mehr) und beende das Studium mit Anstand. Der Buchtitel ist nun erklärt.

Alle Kalküle, die in den folgenden 14 Kapiteln behandelt werden, wer­den im Verlaufe des Studiums tatsächlich (und immerzu) benötigt. Und der Großteil (99 % ?) dessen, was in den Naturwissenschaften gerechnet wird, beruht auf ihnen. Am Ende eines jeden Kapitels ist Gelegenheit für Besinnung und „Weltbild“ (erst die Arbeit, dann das Vergnügen). Der Charakter eines Trainings-Programms (Vorlesung und Übungen) wurde nach Möglichkeit aufrechterhalten. So finden sich — scheinbar unmo­tiviert — mitten im Text Hinweise auf die Haus-Übungen in Teil IV, die nun bewältigt werden können und müssen. Durch diese Unterbre­chungen wird ein Wochen-Pensum abgegrenzt. Ist es unverhältnismäßig groß, dann geht das Buch über den Vorlesungsstoff hinaus.

Haus-Übungen sind kleine Forschungsaufträge. Sie sind allein und selb­ständig zu lösen. Die Stunde der Wahrheit schlägt im Teil IV. Bitte klagen Sie nie über „15 Stunden“, die ein Übungsblatt verschlungen habe. Die Antwort würde ein mildes Lächeln sein: „War das Radio an?“, oder: „Ja, Ja, mein letztes Problem brauchte 157 Stunden und eine schlaflose Nacht“, oder: „Dann hatten Sie eben (zunächst noch) 15 Stunden nötig“. Und ohne Anführungsstriche: bei Übungen ist es um keinen Zeitaufwand zu schade, sie sind das Studium.

Viel Glück !

Es ist nicht möglich, all jene aufzuzählen, denen an dieser Stelle Dank zu sagen ist. Zum einen sind sie zu viele an der Zahl, und zum ande­ren: wer weiß schon noch genau, was er einmal von wem gelernt hat. Aber Anfang und Ende lassen sich benennen. Damals, irgendwo tief in den fünfziger Jahren an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin, war es Dr. W. Tausendfreund und Prof. W. Klose gelungen, mir die Phy­sik als etwas Erstaunliches nahezubringen. Und die letzte Etappe ist nicht denkbar ohne den guten Rat und die Ermutigungen seitens Dr. E. F. Hefter oder ohne die gewissenhafte Detailpflege seitens G. Stjepa- novic und C.-D. Bachem beim Springer-Verlag.

Hannover, im September 1990 Hermann Schulz

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Zur zweiten Auflage

Die Resonanz, welche die erste Auflage bei der Leserschaft gefunden hat, war sehr erfreulich und legt wohl auch nahe, bei Änderungen zu zögern. So ist denn die neue „Physik mit Bleistift“ im wesentlichen die gleiche wie die alte. Aller­dings wird sie durch den veränderten Einband nun etwas mehr „erwachsen“, nämlich zum Bestandteil der Reihe Springer-Lehrbuch.

Im Kapitel 4 ist ein direkter Weg zur Ermittlung der Drehmatrix aus Achse und Winkel hinzugekommen. In Kapitel 7 wurde der Abschnitt „Variation der Konstanten“ neu geschrieben. Er enthält nun das, was man in praxi tatsächlich benötigt. Am Ende von Teil IV gibt es eine letzte Übungsaufgabe über perspek­tivische Darstellungen, sowie als Anhang zum SachwortVerzeichnis einen „Hohl­spiegel“ für gewisse Leser, welche es sich nicht nehmen lassen, stets vergnüglich mit der letzten Seite zu beginnen.

Besonderen Dank verdient die kritische Aufmerksamkeit der hiesigen Studenten des ersten Studienjahres 1991/92. Sie hatten eine größere Anzahl von Druckfeh­lern zusammengetragen (darunter auch ein Dutzend schlimmer Fehler, welche den Sinn von Formeln entstellten).

Hannover, im Juni 1993 H. Schulz

Zur dritten Auflage

Die Kunst, ein Problem zu lösen, besteht darin, es so lange einfacher werden zu lassen, bis die Antwort auf dem Papier steht. Auch das eine oder andere Geschick des Landes wartet, so scheint es, weniger auf Rhetorik und Taktik, denn auf den genannten analytischen Verstand. Er wird erworben beim Stu­dium der grundlegenden Naturwissenschaften. Nicht nur sieht das der Verlag Harri Deutsch ebenso, auch die Zusammenarbeit mit ihm entwickelte sich un­kompliziert, rentabel und insbesondere mit den Herren K. Horn und B. Müller überaus erfreulich.

Um vielleicht — bei all dem „Bleistift“ — der natürlichen Neugier auf Physik mehr zu entsprechen, ist in der dritten Auflage ein Teil III mit den relati­vistischen und quantenmechanischen Anfangsgründen hinzu gekommen. Die Übungsaufgaben wurden mit Lösungshilfen versehen. Einen ersten Schritt in die Funktionentheorie gibt es nun im Abschnitt 9.3. Zu allerlei Überarbeitun­gen hat besonders K. Meerbeck (Aachen) angeregt, und dank N. Poschadel (Uni Jena) hat Theorem 2 im Abschnitt 8.5 endlich einen vernünftigen Beweis.

Hannover, im August 1999 H. Schulz

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Inhaltsverzeichnis

------------------------- Teil I : Wintersemester -------------------------

1 Vektoren 3

/ 1.1 Richtung und B e trag ........................................................................... 4

/ 1.2 Skalarprodukt....................................................................................... 11

1.3 K reuzprodukt....................................................................................... 17

2 Kinematik 28

2.1 Raumkurven .......................................................................................28

2.2 Differenzieren.......................................................................................32

3 N ew ton 39

3.1 Vorhersage der Z u k u n f t .................................................................... 41

3.2 Impuls und D reh im p u ls.................................................................... 45

3.3 Energie und P o te n tia l ........................................................................47

4 Tensoren 56

4.1 D reh m atrix .......................................................................................... 56

4.2 Beispiele................................................................................................ 65

4.3 Hauptachsen-Transformation........................................................... 71

5 Funktionen 76

5.1 Skala-Ä nderungen.............................................................................. 77

5.2 Die e -F u n k tio n ....................................................................................81

5.3 P o ten zre ih en ....................................................................................... 87

5.4 Störungsrechnung.................................................................................94

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6 Integrale 99

6.1 Gewöhnliches In te g ra l ....................................................................... 99

6.2 Physik mit Integralen .......................................................................107

6.3 Integrations-Methoden.......................................................................113

6.4 Kurven-, Flächen- und Volumenintegral........................................ 116

6.5 Krummlinige K oordinaten.................................................................125

6.6 D elta-Funktion................................................................................... 128

7 Über das Lösen von Bewegungsgleichungen 136

7.1 Term inologie...................................................................................... 136

7.2 Zehn F ä lle ............................................................................................ 138

------------------------- Teil II : Sommersemester -------------------------

8 Felder 151

8.1 Gradient und N a b l a .......................................................................... 152

8.2 R otation ................................................................................................155

8.3 D ivergenz............................................................................................ 159

8.4 Nabla mal N a b la ................................................................................ 164

8.5 Drei T h eo rem e ................................................................................... 170

9 Integralsätze 176

9.1 Gauß und S to k e s ................................................................................ 176

9.2 Anwendungsbeispiele.......................................................................... 178

9.3 Wege in der komplexen E bene...........................................................183

10 Diffusion und W ellen 188

10.1 Diffusion = W ärm eleitung.................................................................188

10.2 Wellengleichung................................................................................... 192

11 M axwell 197

11.1 Erste Folgerungen ............................................................................. 198

11.2 L ich t......................................................................................................202

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12 F ou rie r-T ran sfo rm atio n 211

12.1 Fourier-Reihe....................................................................................... 211

12.2 Fourier-Transform ation.................................................................... 219

12.3 Anwendungsbeispiele...........................................................................225

13 V ariationsrechnung 241

13.1 Testfunktionen (Weg 1) .................................................................... 242

13.2 Variation gleich Null (Weg 2 ) ........................................................... 244

13.3 Das inverse Problem (Weg 3 ) ........................................................... 250

14 W ahrscheinlichkeiten 254

14.1 Wahrscheinlichkeit ist m eßbar........................................................... 254

14.2 E n trop ie ................................................................................................ 259

14.3 Maxwell-Verteilung..............................................................................262

14.4 e~@E ....................................................................................................265

------------------------- Teil III : Neuland -------------------------

15 Erste Schritte in die spezielle R e la tiv itä ts th eo rie 271

16 Erste Schritte in die Q uan ten theorie 285

------------------------- Teil IV : Übungsaufgaben -------------------------

Übungs-Blätter 1 - 2 6 .................................................................................316

Zwei Klausuren mit Lösungen.................................................................... 348

Darstellende Geometrie: Aufgabe mit L ösung ........................................ 352

L ite ra tu r .............................................................................................................353

I n d e x ................................................................................................................... 356

„Die Bosheiten“ ............................................................................ Inneneinband

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Teil I

Wintersemester

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1 Vektoren

Aller Anfang ist leicht. Wenn man den einen oder anderen Vorgang in der Natur beschreiben will (nur beschreiben: noch keine Physik), wird man sehr bald genötigt sein, Richtungen anzugeben. Richtungsangaben, das sind Wegweiser: wir brauchen Pfeile. Wie nötig wir sie brauchen, zeigt ein Stück Alltag:

Wir stehen an der Ecke eines Fußballfeldes. Ich zeige in eine bestimmte Rich­tung auf den Fußball (genauer: auf seinen Mittelpunkt). Der Kamerad neben mir sieht ihn auch, aber er starrt dabei in eine etwas andere Richtung. In eine weitere Richtung fliegt gerade der Ball. Er dreht sich dabei; seine momentane Drehachse hat eine Richtung. Ferner wird er von der Erde angezogen; er spürt eine Kraft nach unten, d.h. in Richtung auf die Erdmitte. Der Wind weht ausRichtung.........Regentropfen fallen in Richtung.......... Die gekrümmte Bahn desFußballmittelpunktes liegt in jedem Moment gerade in einer Ebene, und diese kann man (u.a.) durch eine Richtung (senkrecht zu ihr) charakterisieren. Eine Flutlichtlampe (wir sehen sie in Richtung .. .) sendet ihre Strahlen in Richtung . . . auf den Ball. Er glänzt. Von einem Fleck auf dem Ball fallen also Licht­strahlen aus einer bestimmten Richtung in mein Auge. Ein Elektron in einem Gasatom auf einem solchen Strahl spürt eine (ständig das Vorzeichen wechseln­de) Kraft senkrecht zum Lichtstrahl, nämlich in „Polarisationsrichtung“ der Licht welle. Und so weiter.

Bild 1-1: Drei alltägliche Pfeile: Ort, Geschwindigkeit und Kraft

Vielleicht ist Ihnen hierbei eine kleine menschliche Unzulänglichkeit aufgefallen. Mein Nachbar begreift nämlich nicht recht, wohin genau ich denn nun zeige. „Eine Krähe“, sagt er. Auf der Geraden durch meinen Fingernagel und seine Nase war tatsächlich ein Vogel. Ja, wenn wir doch punktförmige Wesen wären und wenn wir doch unsere Zeigefinger beliebig verlängern könnten! Immerhin, in Gedanken läßt sich dies machen. Es läßt sich auch malen auf einem großen Reißbrett.

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4 K a p it e l 1: V e k t o r e n

1.1 Richtung und Betrag

Einen Pfeil, der von einem vereinbarten Bezugspunkt, dem U rsprung , bis zu einem gerade interessanten Punkt eines physikalischen Vorgangs führt, nennen wir O rtsvektor. Als seine Abkürzung schreiben wir den Buchstaben r auf und setzen einen Pfeil darüber. Von Hand sollte man ihn als Halbpfeil stilisieren, also r schreiben. Das ist durchaus so üblich, rentabel (!) und völlig ausreichend. Ein Gewohnheitstier mit Verstand, sobald es eine winzige Verbesserung (beim Schreiben, Denken, Sprechen, Rechnen) als solche erkannt hat, übernimmt diese und behält sie zeitlebens bei.

Bild 1-2: EinVerschiebungsvektor und die zugehörigen zwei Ortsvektoren

Ein Pfeil, der einen Punkt mit einem anderen verbindet, heißt V erschiebungs­vektor: r i 2 im Bild 1-2. Der Ortsvektor ist also ein ganz besonderer Verschie­bungsvektor, weil man ihn stets am Ursprung starten läßt. Wenn man (wie im Bild 1-1) auch für die Geschwindigkeit einen Pfeil malt, dann muß natürlich vereinbart sein, wie vielen Metern pro Sekunde ein Zentimeter auf dem Papier (des Reißbrettes) entsprechen soll. Die Länge eines Pfeiles, gegebenenfalls über­setzt in z.B. Geschwindigkeits-Einheiten, nennt man B etrag und schreibt

Es ist übrigens nicht notwendig, jetzt schon über die Maßeinheiten nachzuden­ken, mit denen man eine Kraft angeben will.

Ein Pfeil hat also eine Richtung, einen Betrag und einen Anfangspunkt. Es ist nun sehr praktisch, den Anfangspunkt dadurch festzulegen, daß man dessen Ortsvektor angibt. Wir sagen dann: „Bei r hat der Ball die Geschwindigkeit v “ oder „bei r wird er von der Kraft K beschleunigt“. Wir begreifen, daß sich alles, was ein Pfeil mit Anfangspunkt zum Ausdruck bringt, ebensogut auch mit zwei Pfeilen aussagen läßt. Beide stellen uns schon ohne Anfangspunkt- Aussage zufrieden, denn es ist ja von vornherein vereinbart, wo sie beginnen. Ab sofort wollen wir uns nur noch mit diesen liebenswert bescheidenen Pfeilen befassen: nur noch Betrag und Richtung sind anzugeben. Der Sinn dieses Tricks wird noch klarer, wenn wir uns eine Meeresströmung vorstellen (Bild 1- 3). An jedem Ort r (in einem sinnvollen Raumbereich) kann man nun die Geschwindigkeit eines Einzellers angeben (wenn er dort wäre). Wir schreiben v (r ) und sagen „vau von er“ sowie „ r ist die Ortsvariable“. In einer solchen Situation spricht man von einem Feld, vom Geschwindigkeitsfeld der Strömung oder auch vom Kraftfeld der Erde.

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1.1 R ic h t u n g u n d B e t r a g 5

Bild 1-3: Geschwindigkeitsfeld und Kraftfeld

Es ist wohl an der Zeit, endlich zu erklären, was ein V ektor eigentlich sein soll.

Vorläufige D efinition

Vektoren sind Pfeile bezüglich Betrag und Richtung,die mit einer Zahl zu multiplizieren und (1.1)die zu addieren physikalisch sinnvoll ist.

Dieser Satz klingt eigenartig und allzu (?) anschaulich. Vermutlich ist er nicht präzise. Besser können wir es noch nicht! Die saubere Definition wird am Ende des Abschnitts 4.1 gegeben. Aber eines sei schon jetzt betont: Der Vektor- Begriff der Physiker ist ein anderer als jener der Mathematiker. Wir legen nämlich großen Wert darauf, Realität zu beschreiben. Ein Pfeil läßt sich aus Holz oder Draht nachbauen und mittels Gerüst an der richtigen Stelle anbrin­gen. Er ist übrigens auch dann noch da, wenn ihn kein Mensch ansieht. Amei­sen laufen auf ihm herum und Regentropfen rinnen an ihm herunter. Weil Pfeile real sind (und Vektoren Pfeile sein sollen), verlangen die Physiker etwas mehr, nämlich daß sich die Komponenten eines Vektors in bestimmter Weise verändern, wenn man zu einem gedrehten Koordinatensystem übergeht.

Bild 1 -4 : Einige Repräsentanten ein und desselben Vektors

Vorerst verstehen wir von (1.1) nur die erste Zeile. Alle Pfeile, die gleichen Betrag und gleiche Richtung haben (Bild 1-4), sind ein einziger Vektor. Oder: ein Vektor ist die Gesamtheit aller unendlich vielen Pfeile mit gleichem Betrag und gleicher Richtung. Man kann also einen Pfeil ruhig parallel verschieben. Er bleibt dabei Repräsentant desselben Vektors! Insbesondere kann man stets jenen Repräsentanten herausgreifen, der am Ursprung beginnt, etwa um die Komponenten des Vektors abzumessen.

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6 K a p it e l 1: V e k t o r e n

M ultip likation m it einer Zahl

Wie dies gemeint ist, zeigt Bild 1-5. Minus 2,7 mal ein Vektor ist also wieder ein Vektor, in entgegengesetzte Richtung zeigend und 2,7 mal so lang wie der ursprüngliche.

Bild 1-5: Multiplika­tion eines Vektors mit einer Zahl

Wenn wir einen Verschiebungsvektor (1 Meter lang) mit 1/(1 Sekunde) multi­plizieren, entsteht ein Geschwindigkeits-Vektor mit Betrag 1 m/s. Wenn wir irgendeinen Vektor mit l/(sein Betrag) multiplizieren, dann entsteht ein E in­heitsvektor:

(1.2)

Der Spruch „Vektor = (sein) Betrag mal (sein) Einheitsvektor“ ist also generell richtig. Manche allzusehr an Komponenten gewöhnte Leute muß man gelegent­lich daran erinnern (etwa bei Übungs-Aufgaben), daß man stets auch so denken kann.

Wenn man Physik macht und eine Zahl „ohne was dahinter“ (z.B. 1) hinschreibt, dann ist das meistens falsch, „eins was?? — ein Apfel? ein Meter? eine Sekun­de?“. Die meisten Größen haben eine D im ension, d.h. sie sind „eine Länge“ oder „eine Zeit“ usw. Jedoch hat ein Einheitsvektor tatsächlich den Betrag 1 (ohne was dahinter) und 1,7 mal e hat Betrag 1,7. Die bei Mathematikern verbreitete Vereinbarung, Meter in dimensionslose Zahlen zu übersetzen, die gibt es also auch. Übrigens ist der Autor unfähig, einen Einheitskreis zu ma­len. Können Sie das etwa? Stets entsteht dabei ein Kreis mit einem Radius in Zentimetern. Aber eine Übersetzungsregel dazu angeben — das geht.

A dd ition zweier V ektoren

Dies erklären wir an Bild 1-2. f i „plus“ f i 2 , das soll wieder ein Vektor sein, nämlich r 2 . Jeder Verschiebungsvektor läßt sich also in der Form r \2 = r2 —r\ durch die Ortsvektoren von Anfangs- und Endpunkt ausdrücken. Diese Defini­tion kann man sofort auf beliebige zwei Vektoren erweitern, nur müssen beide die gleiche Dimension haben (d.h. auf dem gleichen Reißbrett mit bestimmter Übersetzungsregel liegen): bringe b am a -Endpunkt an, dann ist a 4- b der Vektor vom a-Anfang zum b -Ende. Bild 1-6 macht klar, daß es hierbei auf die Reihenfolge der beiden Vektoren nicht ankommt: a + b = b + a. Führt das Addieren einiger Vektoren an den Anfangspunkt zurück, dann hat das Resultat den Betrag Null: es ist der N ullvektor herausgekommen.Wir wollen vereinbaren, daß man beim Nullvektor den Pfeil über der Null auch weglassen darf. Es ist stets klar, um „was für eine Null“ es sich handelt. Auch eine Null „ohne was dahinter“ sei künftig erlaubt (selbst wenn es sich um null Bock handelt).

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1.1 R ic h t u n g u n d B e t r a g 7

Bild 1-6: Zur Addition von Vektoren und wie sich dabei der Nullvektor ergeben kann

Wir haben nun (1.1) vollständig begriffen, wenn es sich um Verschiebungsvek- toren handelt. Lediglich der Terminus „physikalisch sinnvoll“ erscheint noch ein wenig aufgeblasen. Ganz anders, wenn wir nun fragen, ob denn auch Ge­schwindigkeiten oder Kräfte Vektoren im Sinne von (1.1) sind.

Sind Geschwindigkeiten Vektoren?

Es macht Sinn, sie mit einer Zahl zu multiplizieren. Bild 1-7 zeigt, was Ad­dieren einer Geschwindigkeit v (Ameise relativ zu Band) zu einer anderen Ge­schwindigkeit u (Förderband) heißt. Kommt nun wirklich die Gesamt geschwin- digkeit w dadurch richtig heraus, daß wir, wie oben geometrisch erklärt, u + v bilden? Die Antwort ist Ja. Dazu denken wir uns ein bestimmtes Zeitinter­vall A t. ri und r 2 seien die Orte der Ameise am Beginn und am Ende dieses Zeitabschnittes. Es ist uns anschaulich klar, daß 7*2 auch dann erreicht wird, wenn die Ameise zunächst während A t stillsitzt und dabei bis r 3 vorankommt und sodann bei ruhendem Förderband während A t läuft: r \2 = r i 3 -|- r 3 2 . Wir teilen diese Gleichung durch At und erhalten w = u + v. Es ist also tatsächlich physikalisch sinnvoll, Geschwindigkeiten geometrisch zu addieren. Sie sind Vektoren.

Sind Kräfte Vektoren?

Wir binden an eine Federwaage zwei Fäden (Bild 1-8) und ziehen mit K aneinem^und^mit F an dem anderen. Wenn wir statt dessen an nur einem Faden mit K + F ziehen, dann wird die Federwaage genauso stark ausgelenkt und in die gleiche Richtung. Wir sollten diesen Sachverhalt lieber nicht als eine Selbst­verständlichkeit ansehen. Er ist eine Aussage über die Natur. Experimenteller

Geschwindigkeitenaddieren

Bild 1-7: Wie sich

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8 K a p it e l 1: V e k t o r e n

Befund: Kräfte sind Vektoren.

Bild 1-8: Wie sich Kräfte addieren

Sind Drehungen Vektoren?

Nehmen Sie dieses vor Ihnen liegende Buch und drehen Sie es in Querlage. Sie haben es um eine Achse senkrecht auf der Tischplatte gedreht, und zwar um einen rechten Winkel. Halten Sie den Daumen der rechten Hand nach oben. Die anderen Finger (schön schlapp machen!) zeigen dann automatisch den Drehsinn an. Eine Drehung (Betrag = Winkel) läßt sich also durch einen Pfeil charakterisieren. Führen Sie nun zwei Drehungen hintereinander aus, einmal entsprechend der linken Hälfte von Bild 1-9, dann entsprechend der rechten. Die beiden Endpositionen des Buches sind verschieden. Die Betrachtung sollte eigentlich mit dem Buch ausgeführt werden, dessen Kapitel 1 sie entstammt, nämlich mit [Berkeley, 1]. Es ist im Literaturverzeichnis angegeben. Endliche Drehungen sind somit keine Vektoren. Die Definition (1.1), was sie enthält und was sie ausschließt, ist nun verstanden.

Bild 1-9: Endliche Drehungen sind keine Vektoren

Kom ponenten

Die bisherigen Zusammenhänge konnten wir begreifen und formulieren, ohne dabei auf Koordinatenachsen (die Ränder des Fußballfeldes und die Fahnen­stange) zu verweisen. Dies erfüllt uns mit Stolz, denn auch die Zusammenhänge in der Realität hängen ja nicht davon ab, ob der Beobachter gerade oder schief steht oder ein Marsmensch ist, der das irdische Fußballfeld genau über sich sieht. Dieser „Drehinvarianz“ sind wir also gerecht geworden.

Jedoch, um z.B. zwei Vektoren tatsächlich zu addieren, sind wir im Moment noch auf Reißbretter oder Gerüste angewiesen. Da der Mensch in einem natürli­chen und guten Sinne faul ist, denkt er sich etwas aus, wie er die gewünschten Operationen im Lehnstuhl, d.h. per Rechnung, ausführen kann.

Gegeben sei irgendein Vektor a. Seinen im Ursprung beginnenden Repräsen­tanten bauen wir aus Draht auf. Die Höhe seiner Spitze über der xy -Ebene (Bild 1-10) nennen wir „dritte Komponente von a “ oder kurz 0 3 . Entsprechend

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1.1 R ic h t u n g u n d B e t r a g 9

projizieren wir auf die y z - und die ,z:r-Ebene. Durch die drei Koordinatenach­sen und die Pfeilspitze ist offenbar eindeutig ein Quader festgelegt, und dessen drei Kantenlängen heißen K om ponen ten des Vektors.

Bild 1-10: Zwei Möglichkeiten, sich die Komponenten eines Vektors vorzustellen

Wir schreiben allgemein(1.3)

und im besonderen

) •

Beim Ortsvektor machen wir eine Ausnahme bei der Bezeichnung seiner Kom­ponenten:

r = { x , y , z ) .

Es versteht sich, daß alle drei Komponenten eines Vektors die gleiche Dimension haben müssen (wie sein Betrag):

(1.4)

Die eckige Klammer bedeutet, daß nur noch von der Dimension der darin ste­henden Größe die Rede ist. Wir wollen offen lassen, ob nun dabei gleich (wie kopflastig!) die Maßeinheit gemeint ist, also z.B. [v ] = m /s und [y] = m oder eine rein sprachliche Angabe

[i>3] = Länge/Zeit , [2/] = Länge , [K\] = Kraft .

Die zweite Version ist meist die bessere. Man kann damit die Dimensionsprobe einer Gleichung (die z.B. ein Magnetfeld enthält) bereits durchführen, ohne eine Ahnung von Maßsystemen zu haben („wer kennt sich schon in elektromagneti­schen Maßeinheiten aus“).

Das letzte Gleichheitszeichen in (1.4) ist eigenartig verziert. Es gibt viele Sorten Gleichheitszeichen. Wenn sie etwas Neuartiges festlegen, es definieren, dann setzen wir einen Doppelpunkt auf die Seite, auf der das bislang unbekannte Wesen auftaucht. Eine kurze Liste besonderer Zeichen findet sich übrigens ganz hinten auf der letzten Seite des Index.

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10 K a p it e l 1: V e k t o r e n

Wir wollen noch vereinbaren, daß bei Vektoren die Maßeinheit auch rechts hinter der Klammer angegeben werden darf:

Drei Fragen: Komponenten eines Vektors bekannt, wie erhält man seinen Be­trag? Wie erhält man die Komponenten eines mit einer Zahl multiplizierten Vektors? Welche Komponenten hat das Resultat einer Addition von Vektoren, zu denen man die Komponenten kannte?Die Antwort:

Um (1.5) herzuleiten, mache man sich klar, daß auch die rechte Hälfte von Bild 1-10 die Vektor-Komponenten liefert: Sonne senkrecht von oben, Schat­ten durch Holzstange ersetzen (Betrag L), nun Licht in negativer y-Richtung einstrahlen; der jetzt auf der x-Achse entstehende Schatten ist a\. Der Herr Pythagoras erzählt uns nun, daß einerseits a2 = a\ + L2 und andererseits L 2 = a\ + a2 ist. Dies gibt (1.5).

Gleichung (1.6) ist direkt anschaulich klar: bei Verdopplung des Vektors ver­doppeln sich alle Schatten1. Anschauung spart Zeit.

Gleichung (1.7) ist „schwer“. Denken Sie sich zwei zur zy-Ebene parallele Ebenen (Bild 1-11), eine durch die Spitze von a und eine durch die Spitze von a -|- b . Der Abstand dieser beiden Ebenen voneinander ist 6 3 . Sehen Sie es?! Also ist (a -h b )s = 0 3 -|- 6 3 . Verfahren Sie analog mit den zwei anderen Komponenten. Gleichung (1.7) stimmt.

(1.5)

(1.6)(1.7)

Bild 1-11: Bei der Vektoraddition addieren sich die ^-Komponenten

1Das griechische Alphabet. Die in eckigen Klammern stehenden Buchstaben werden aus einleuchtenden Gründen in der Physik nicht (als griechische Buchstaben) verwendet.

AlphaBetaGammaDeltaEpsilonZeta

EtaThetaIotaKappaLambdaMy

NyXiOmikronPiRhoSigma

TauYpsilonPhiChiPsiOmega

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1.2 S k a l a r p r o d u k t 11

Sie haben alles verstanden? Könnten Sie es Ihrem kleinen Bruder erklären? Oder ist irgendwo ein unangenehmes Gefühl entstanden? Genau wo? Beim Pythagoras! Grob geschätzt schreiben etwa 90% der Abiturienten sofort c2 = a 2 -I- b2 hin („lächerlich einfach“), aber nur 10% geben auf die Zusatzfrage, warum er denn gelte, eine vernünftige Antwort („ja, das ist eben so“). Oh Heimatland, deine Lehrer! Die Moral aus dieser Geschichte ist einfach. Man lasse nie jemals etwas in sein Gehirn hinein, was man nicht verstanden hat. Anschauung ja, aber bitte keine Autoritätsgläubigkeit! Im vorliegenden Fall hilft Bild 1-12 auf den Pfad der Tugend zurück. Es ist ein so schöner Beweis. Vielleicht hat es der alte Pythagoras damals tatsächlich so gemacht.

Bild 1-12: Pythagoras: ein geometrischer Beweis

1.2 Skalarprodukt

Wir kennen erst eine, die Addition, aber es gibt mehrere Möglichkeiten, zwei Vektoren miteinander zu verknüpfen:

Summe Skalar- Kreuz- dyadisches Vierer- (1*8)produkt produkt Produkt Skalarprodukt

Nur Skalar- und Kreuzprodukt sollen uns vorerst interessieren. Mit Definitio­nen muß man sparsam umgehen. Sie sollen nützlich sein und einen (möglichst physikalischen) Sinn haben. Es gibt stets einen Weg, auf dem sich solch ein Sinn ergibt. Um diesen Gedanken zu unterstützen, werden wir ausnahmsweise ausführlich und gelangen zur Skalarprodukt-Erfindung auf drei verschiedenen Wegen.

A Wenn zwei Vektoren a und b einen rechten Winkel miteinander bilden und addiert werden, dann kann man mit ihnen den Pythagoras folgendermaßen aufschreiben:

/

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Verändert man nun den Winkel, dann entsteht auf der rechten Seite eine Kor­rektur:

|a H- 6 | 2 — a2 - b2 = 2 * Rest . (1.9)

Für den Rest erfinden wir die Abkürzung „ a • b “. Wir können ihn sofort genauer untersuchen (Bild 1-13), indem wir den Vektor b additiv zusammensetzen aus einem zu a senkrechten Vektor b± und einem zu a parallelen Vektor 6 h.

Bild 1-13 : Zur Erfindung des Skalarproduktes beim Verallgemeinern des Pythagoras (Kosinussatz)

Die Komponente, welche der Vektor 6 in Bezug auf eine Achse durch a hat, nennen wir 6jj. Man sagt zu 6 y auch „Projektion von 6 auf a “. In Bild 1-13 ist 6 || positiv und stimmt mit | 6 y | überein. Dreht man aber 6 nach links,bis 6 und a miteinander einen stumpfen Winkel bilden, dann ist 6 || negativ geworden.

Bild 1-13 zeigt, wie sich nun mittels Pythagoras unsere a • 6 -Definition um­formen läßt:

Rest = . (1-10)

Das Skalarprodukt ist also das Produkt aus dem Betrag des einen Vektors (a) mit der Projektion (6 ||) des anderen (auf die a-Achse).

_xB Ein geladenes Teilchen (Ladung q) fliegt in einem elektrischen Feld E(Bild 1-14; K = qE). In dem skizzierten Moment krümmt nur der zur Ge­schwindigkeit v senkrechte Anteil die Bahn, und der parallele Anteil erhöht den Betrag der Geschwindigkeit. Auf solcherlei Physik kommen wir natürlich später noch genauer zu sprechen.Hier ist nur wesentlich, daß (schon wieder) eine ||-±-Zerlegung Sinn macht:-k —3k —3k _XK = ifj| +K_i . Die Projektion verknüpft offenbar den Vektor K mit dem Einheitsvektor von v. Also definieren wir den Malpunkt zwischen Vektoren durch if|| =: (v / v ) • K und lösen auf:

C Auf dem in Bild 1-15 skizzierten Eisberg gleitet reibungsfrei ein Stück Holz. Auf das Stück Holz wirken zwei Kräfte. Zum einen die Erdanziehungskraft. Zum anderen ist das Eis unter dem Holz ein ganz klein wenig eingedellt und

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1.2 S k a l a r p r o d u k t 13

Bild 1-14: Geladenes Teilchen im elektrischen Feld

schiebt zurück. Die Summe beider Kräfte gibt K\\. Darum gehts ja auch mit zunehmender Geschwindigkeit abwärts. Der Klotz möge sich um r u bewegt haben. Es gibt nun einen nützlichen Begriff, welcher Anfangs- und Endposi­tion verbindet, die A rbe it. „Arbeit ist Kraft mal Weg“. Dieser Satz ist zwar eingängig, aber derart verkürzt, daß man ihn eigentlich schon als falsch be­zeichnen möchte. Kraft in Richtung des Weges! Arbeit, die am Klotz verrichtet wird.

Bild 1-15: Arbeit gleich Weg mal Kraft in Richtung des Weges

Zu Bild 1-15 ist also die am Klotz verrichtete (und in „kinetische Energie“ umgewandelte) Arbeit

und somit per Malpunkt-Definition direkt das Skalarprodukt aus Kraftvektor und Verschiebungsvektor. Auch auf diese Physik kommen wir noch zurück, nämlich in den Abschnitten 6.2 und 6.4. Mit „Kraft mal Weg“ ist noch eine andere Gefahr verbunden. Man denke sich (anders als in Bild 1-15) das Eis ein wenig gewölbt. Dann ändert die Projektion ify ständig ihren Wert. Es bleibt uns nun nichts anderes übrig, als den Weg aus sehr vielen sehr kleinen Stücken zusammenzusetzen und die entsprechenden kleinen Arbeits-Portionen zu addieren. Für jedes Stück gilt

d (Arbeit) = K ^ - d (Verschiebungsvektor) . (1-12)

Erst dies ist allgemein richtig.

Sie sind nun stark motiviert, nämlich dreifach. Das Skalarprodukt für irgend­welche zwei Vektoren a und b definieren wir (mit dem ersten Gleichheitszei-

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chen) wie folgt.

a - b := a 6 ||= a ||6 =: ab cos(ip) . (1*13)

Das mittlere Gleichheitszeichen ist bereits eine erste Folgerung. Sie ergibt sich aus Bild 1-16. Ausnahmsweise sei es ganz dem Leser zum Seiber-Nachdenken überlassen. Beide Vektoren im Skalarprodukt sind also völlig gleichberechtigt: a • b = b -a. Das dritte Gleichheitszeichen in (1.13) legt fest, was „cos“ bedeuten soll.

Bild 1-16: Das Skalarprodukt ist kommutativ

E xkurs ü b e r W inkel

Gerade die einfachsten Zusammenhänge wollen, weil häufig benötigt, besonders gut durchdacht sein. Ein Winkel soll ein Maß sein für die „Öffnung“ zweier von einem Punkt ausgehenden Geraden (Bild 1-17). Der Radius R eines Kreises hat stets Länge. Aber auch das skizzierte Stück Kreisumfang s hat Länge. Bei Verdopplung von R verdoppelt sich s. 1,7-facher Radius hat 1,7-fachen Bogen. Man sagt dann, s sei p ropo rtiona l zu R und schreibt s ~ R.

Das Verhältnis beider ist ein gesundes Maß für die „Öffnung“. Definition:g

Winkel ip := — (eine dimensionslose Zahl) . (1-14)R

Das haben wir gut gemacht. Was soll jene willkürliche Einteilung des rechten Winkels in 90 Grad? Wieso 90? Ein Gewohnheitstier mit Verstand, sobald es eine winzige Verbesserung als solche erkannt hat, übernimmt diese. Inzwischen wollen ja auch Computer einen Winkel als Zahl mitgeteilt bekommen. Wenn Sie mit Schneiders Metermaß den halben Umfang eines Kreises ausmessen und durch seinen Radius teilen, dann erhalten Sie 3.14159... . Man muß das einmal

Bild 1-17: Winkel, Kosinus und Sinus

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1.2 S k a l a r p r o d u k t 15

wirklich gemacht haben. Da dieses Verhältnis von halbem Umfang zu Radius erstaunlich oft vorkommt, kürzt man es mit 7r ab. n /2 ist ein rechter Winkel.

Ein R aum w inkel ist ein Maß für die „Öffnung“ eines Kegels mit einem Stück Kugelfläche 5 als Abschluß. Bei Verdopplung des Kugelradius R vervierfacht sich die Kugelfläche. Also definieren wir

5Raumwinkel Q := — (ebenfalls dimensionslos) . (1-15)

R

Hierbei war es gar nicht nötig, die Form der Randkurve von 5 irgendwie festzu­legen. Sehr verschiedene „Taschenlampen“ können also durchaus den gleichen Raumwinkel ausleuchten.

Ein Winkel tp und ein Radius R legen ein rechtwinkliges Dreieck fest: rechte Hälfte von Bild 1-17. Bei Verdopplung von R verdoppeln sich dessen Kan­tenlängen. Also lassen sich „Winkel-spezifische Einheits-Kantenlängen“ (Ko­sinus und Sinus) definieren,

cos(</?) := Kantenlänge am Winkel / R (1 16)sin(</?) := entfernte andere Kantenlänge / R ,

und der Pythagoras nimmt die Gestalt cos2(ip) -I- sin2(</?) = 1 an. Legen wir einen Vektor b auf die Diagonale, dann ist offenbar öy = b cos(</?). Bei dem dritten Gleichheitszeichen in (1.13) handelt es sich also tatsächlich nur um die Kosinus-Definition und nichts weiter. — Exkurs beendet.

Die nachfolgend aufgelisteten Zusammenhänge sind allesamt entweder anschau­lich direkt verständlich oder sie wollen eine Bezeichnungsweise festlegen. Das Zeichen *-r bedeutet zum Beispiel „Genau dann, wenn“ (die linke Seite gilt, dann auch die rechte und umgekehrt).

a 2 := a - a = a2 , \a\ = a = , a ± b —r a • b = 0 ,

o || b J—r a • b — ab , | cl -f- b | ^ cl H- b ,

|a • b | ^ ab (Schwarzsche Ungleichung) (1-17)

(Aa) • b — A(a • 6 ) = a • (A 6 ) , a • (b + c) = a • b + a • c

ri2 = r2i = |n - r2| = \j( n - r2)2 = \Jr\ + rl ~ 2n ■ f 2 .

Zur vorletzten Zeile rechts lassen Sie (in Gedanken oder auf einem Schmierzet­tel) c am b -Ende und a am b -Anfang starten und legen sich dann Ebenen senkrecht zu a durch die Spitzen von b und c. Auf der a -Achse sehen Sie nun, daß ( b + c )|| = &||+C||. Zu Bild 1-11 hatten wir ebenso gedacht. Multiplikation mit a gibt die gewünschte Gleichung.

Statt a • b kann man auch einfach a b schreiben. Nun ist man frei, gelegentlich den Malpunkt doch wieder zu verwenden, nämlich wenn man sich besonders daran erinnern will, daß es sich um ein Skalarprodukt handelt. Beispiel: a • (5( b c) b -1-3c). Klammern sind manchmal erforderlich: a(b c ) / ( a i i ) c .

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16 K a p it e l 1: V e k t o r e n

Durch einen Vektor teilen kann man nicht. Es gibt ein Schulbuch, in dem dies passiert. Werfen Sie es weg. Und wenn jemand „ 1 /a “ aufschreiben sollte, dann fragen Sie ihn betont blauäugig, durch welche der drei Zahlen a\ oder a<i oder <13 denn da geteilt wird. Schreiben Sie bitte auch niemals auf einer Seite einer Gleichung einen Vektor hin und auf der anderen eine Zahl. Das könnte zu einer ähnlich blauäugigen Frage Anlaß geben. Abgesehen von solchen Peinlichkeiten: jede Gleichung, die man (z.B. inmitten einer längeren Rechnung) zu Papier gebracht hat, die sieht man sich noch einmal kurz an, ob sie denn auch Sinn hat. Neben der Dimensions-Probe ist die Frage „Vektor = Vektor ? ! ! “ eine der ganz wichtigen Kontroll-Möglichkeiten.

Wir sind wieder einmal sehr damit zufrieden, daß das Skalarprodukt eine Koor- dinaten-unabhängige Bildung ist. Wie man auch den Kopf dreht, stets kommt die gleiche Zahl heraus. Um es auszurechnen, benötigen wir jedoch

a • 6 in Kom ponenten

Hierzu ist es nützlich, eine Bezeichnung für die drei Einheitsvektoren in Rich­tung der Koordinatenachsen einzuführen und die Gleichung a = (ai, 0 2 , <1 3 ) vektoriell zu schreiben:

( 1 , 0 , 0 )

( 0 , 1 , 0 ) , a = ai ei + <12 e2 + <13 63 (1-18)( 0 , 0 , 1 ) .

Mittels (1.18) wird die folgende Rechnung möglich:

a • b y (ai ei -|- a 2 e'2 + 0 3 6 3 ) * (&i -I- 6 2 2 + & 3 ez)— a i 61 ei • ei H- cl2 bi ß2 • e \ -|- <13 61 es • e \

-|- ai 6 2 6 1 • ^ 2 + ß2 6 2 e2 • ß2 + Ö3 & 2 6 3 • 6 2+ OL\ 63 e i • ß3 + d2 63 ^2 * 63 + ß 3 63 e 3 ' e 3

mit Resultat ^a • b = ai 6 1 + a 2 6 2 + <13 6 3 • (1*19)

Das gefällt. Man sollte wohl verallgemeinerter Pythagoras zu (1.19) sagen, denn wenn man b = a wählt, kommt (1.5) wieder heraus.

Summenkonvention

Zwischen (1.18) und (1.19) gab es einige Schreiberei. Ausdrücke, die ganz ähnlich aussahen und nur in den Indizes verschieden waren, mußten wiederholt aufgeschrieben werden. „Mußten ?? “ — das hat sich Einstein auch gefragt und sich entschlossen, das Summenzeichen wegzulassen:

_ 3cl ' b ~~ d j b j —■ • d j b j . ( 1 .2 0 )

j = 1

ei = e2 = e3 =

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1.3 K r e u z p r o d u k t 17

Wenn also in irgendeinem Ausdruck zwei gleiche Indizes Vorkommen, dann er­geht automatisch die Aufforderung, über diese zu summieren. Wenn der Aus­druck aus mehreren durch + oder - getrennten Teilen (Term en) besteht, dann gilt die Konvention nur innerhalb eines Terms. Wie weit der Index läuft (hier von 1 bis 3), das weiß man stets schon vorher. Es handelt sich um eine sehr elegante Vereinbarung. Die rechte Hälfte von (1.18) wird jetzt so kurz:

a = ajej . (1 .2 1 )

Und die gesamte zu (1.19) führende Herleitung geht auf eine halbe Zeile:

cl • b — CLj&j ' b ^ C k = a j b k ö j k — d j b j . (1.22)

Dabei haben wir im vorletzten Schritt noch das sogenannte K ronecker—Sym ­bol eingeführt:

Hierin sind j und k sogenannte freie Indizes, d.h. man darf j irgendeinen Wert geben (1 oder 2 oder 3) und ganz unabhängig davon auch k (zwei dreizählige Würfel). Stets hat dabei die Gleichung zu stimmen. Vielleicht sollten wir die Summenkonvention noch ein wenig üben:

Q*jO>j — CL , C k d j d l b k S j t = fl ( c b ) , fiji&ik = $ jk 5

öjj = 3 , öjlSim^mn^nk = $jk j &jl &lj $mn nm = 9 . (1.24)

Solange diese zwei Zeilen nicht ganz klar sind, ist weitere Lektüre untersagt. In diesem Unterabschnitt gab es keine neue Erkenntnis, keinen neuen Inhalt — nur Stenografie.

1.3 Kreuzprodukt

Wir beginnen wieder rein geometrisch (natürlich!) und treten in alte Fußstap- fen: Motivation, Definition, Formeln, Komponenten.

Zwischen Nordpol und Südpol eines Magneten ist etwas. Es läßt eine Kom­paßnadel pendeln. Was da ist, hat Richtung und Stärke und wird nach außen hin schwächer: ein Feld! B ( r ), M agnetfeld . Wieso Stärke? (dumme Fragen sind nützlich) — Antwort: Wenn man die Polschuhe vertikal in viele dünne Scheiben schneidet und jede zweite Scheibe herausnimmt, dann liege (per de- finitionem) die halbe Magnetfeld-Stärke vor. Wer hier etwa (schon wieder?)

—3kSehnsucht nach einer Maßeinheit für B bekommt, wohlan, der deponiere einen Magneten in Paris und erkläre die B -Stärke in der Mitte zwischen den Polen zur Maßeinheit. Er muß lediglich der erste sein.

Ein geladenes Teilchen durchfliege mit v die Mitte zwischen den Polen von Bild 1-18. Die Bahn ist krumm. Die Kraft, die das Teilchen erfährt, steht— experimenteller Befund — senkrecht auf v und senkrecht auf E . Ihr

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18 K a p it e l 1: V e k t o r e n

Bild 1-18: Geladenes Teilchen im Magnetfeld

Betrag ist proportional zur Ladung q und zu vB± = v±B. Dabei bezieht sich das Senkrecht-Zeichen _L links auf die Richtung von v und rechts auf jene von B . Wir verlangen nun, daß das Kreuzprodukt all die genannten Eigenschaften habe und schreiben folglich für die Kraft auf das Teilchen

K = a q ( v x B ) .

a ist eine Konstante mit offenbar der Dimension [a] = Kraft mal (Zeit/Weg) durch (Ladung mal Magnetfeld) und hat einen Zahlenwert, der experimentell zu ermitteln ist. Schlimm. Das haben wir nicht gut gemacht. Es läßt sich nämlich für a = 1 sorgen, indem wir ein klein wenig anders erklären, was Magnetfeld sein soll:

K =: q(v x B ) . (1.25)

Durch (1.25) wird jetzt die Maßeinheit für qB gleich mit festgelegt (das spart Fahrgeld nach Paris). Aha, so muß man es halten mit Maßeinheiten: Phy­sik abwarten und dann dafür sorgen, daß grundlegende Gleichungen einfach bleiben!

Bild 1-18 mag an Teilchenbeschleuniger erinnern. So werden in der Tat bei DESY/Hamburg geladene Teilchen auf ringförmiger Bahn gehalten. Mit (1.25) versteht man aber auch den Dynamo am Fahrrad. Dazu ersetzen wir in Bild 1 - 18, linke Hälfte, die Ladung durch einen Draht, der senkrecht auf der Papier­ebene steht und mit v nach rechts oben bewegt wird. Rechts in Bild 1-18 zeigt er in -Richtung: die positiven Atomkerne werden also nach unten rechts gezo­gen (können sich aber nicht bewegen) und die negativen Elektronen nach oben links. Sie sind das „Wasser im Gartenschlauch“ dessen „positiver“ Teil festge­halten wird. Leiten wir das „Wasser“ durch den dünnen Draht der Glühbirne (viel Reibung), dann macht es ihn heiß, bis er leuchtet wie eine vergessene Herdplatte. Die scheinbar vielen Erscheinungen das Alltags hängen allesamt in meist einfacher Weise miteinander zusammen.

Für irgendwelche zwei Vektoren a und b definieren wir das Kreuzprodukt wie folgt.

( Fläche des von \ ^a, b aufgespannten ) • e = - b x a = eabsin(<p) . (1.26)

Parallelogramms /

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1.3 K r e u z p r o d u k t 19

In (1.26) soll e der Einheitsvektor sein, der senkrecht auf a und b steht und zusammen mit a, b ein R ech tssystem bildet (Bild 1-19). Drehen Sie in Ge­danken den Vektor a zum Vektor b . Zeigen Sie mit den schlappen Fingern der rechten Hand (es ist immer die schlappe rechte Hand!) diesen Drehsinn an. Der Daumen derselben sagt nun, wo „oben“ ist. Nach oben zeigt nämlich der dritte Vektor eines Rechtssystems. Nun versteht man das zweite Gleichheitszeichen in (1.26), bereits eine Folgerung also. Das dritte erklärt, was „sin“ ist (aber das wissen wir ja längst).

Bild 1-19: Zur geometrischen Definition des Kreuzproduktes

Die folgenden Zusammenhänge sind alle direkt anschaulich verständlich,

a x b = a x b ± = a ± x b , a x a = 0 ,

a\\ b '—r a x b = 0 , a x (b x c ) ± (a x b) x~c ,

(Aa) x b = A(a x b ) = a x (A b ) ,

|a x b | = ab± = a±b ,

a ± b ^ —r \ a x b | = ab , (1*27)

a - (a x b ) = 0a x (b + c ) = a x b -l-a x c ,

nur der letzte wehrt sich erheblich. Wir formulieren die Frage erst einmal um:

a x ( b + c )_l = a x b± + a x c± .

Bild 1-20 zeigt nun, wie beim Kreuzprodukt-Bilden mit a alle in der zu a senkrechten Ebene liegenden Partner der Vektor-Addition nur um 7r/ 2 gedreht werden. Also ist Ja die Antwort auf die umformulierte Frage. Also stimmt die bösartige letzte Gleichung. Daß man sie geometrisch verstehen kann (und können „mußte“), entstammt dem Teubner-Studienbuch von [Großmann]. In­halt und Intention dieses Buches stehen jenen des vorliegenden sehr nahe.

Bild 1-20: Das Kreuzprodukt ist distributiv

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D oppeltes K reuzproduk t

An doppelten Produkten lassen sich erstaunliche Umformungen erleben. Insbe­sondere reduziert sich „kreuz mit kreuz“ auf einen Vektor in der b -c-Ebene:

a x ( b x c) = b ( ac) - c(a b ) . (1.28)

Um sich (1.28) zu merken (!), hilft „Entwicklungssatz“ wenig, und so war denn studentischerseits alsbald von der „bac-cab-Formel“ die Rede. Warum nicht, wenn es denn hilft. Zur Herleitung von (1.28) beginnen wir mit einem Spezial­fall, für welchen (1.28) offensichtlich stimmt:

a x (ei x £2 ) = (ai ,a 2 ,a 3 ) x (0 , 0 , 1 ) = (0 2 , - a i , 0 ) = ei(e2 a) - e2 (ei a) .

Der Ausdruck ganz rechts enthält keine Komponenten mehr. Die Gleichung ist „vektoriell formuliert“. Folglich dürfen wir von irgendwo anders her auf den Zusammenhang blicken. Wir sehen dann zwei andere Einheitsvektoren / 1 , / 2 mit f i ± / 2 . Durch diese dürfen wir ei, ß2 links und rechts ersetzen. Wir dürfen sogar b := b f \ und c := c ^ d a iü r einsetzen, denn dies entspricht nur einer Multiplikation der ganzen Gleichung mit b c . Noch gilt aber 6 ± c . Erst per c -¥ c -I- A b würden b und c (a ohnehin) zu beliebigen Vektoren werden. Ob dieser Zusatz etwas ausmacht? Links, d.h. in a x ( b x[ . .. + A b ]), gibt er sofort Null. Aber auch auf der rechten Seite, d.h. in b (a [... + A b ]) — [... + A &](a b ), fallt er heraus. Der Zusatz ist erlaubt, (1.28) ist allgemein richtig.

11 -^ -Z e r le g u n g

Wir wissen schon, daß die Aufspaltung a = ay + a± zu jedem Vektor a möglich (und mitunter nötig) ist. Dazu muß das Problem natürlich noch eine andere Richtung auszeichnen, auf die sich die Zerlegung beziehen soll. Neben a ist also noch ein Einheitsvektor e bekannt. Sicherlich skizzieren Sie sich diese zwei Vektoren gleich einmal auf einem Schmierzettel. Durch diese zwei können wir natürlich sofort ay ausdrücken. Das gibt die linke Hälfte in

Sy = ( a e ) e , aj_ = e x (a x e) . (1.29)

Zur Herleitung der rechten Hälfte von (1.29) finden wir zwei verschiedene Wege— beide richtig, beide schön:A a± = a - a|| = a(e e) - e (ae) = e x (a x e), wobei im letzten Schritt (1.28) benutzt wurde.

B Der Vektor e x a steht senkrecht auf dem Papier, auf das e und a skizziert wurden. Sein Kreuzprodukt mit e weist in aj_-Richtung. Also ist a± = C ( e x a) x e = C e x (a x e ) . Nehmen wir den Betrag beider Seiten, so folgt C = 1.

a X b i n K om ponenten

Sowohl a als auch b mögen in ( , , )-Form auf dem Papier stehen. Aus irgendwelchen physikalischen Gründen soll auch a x b in dieser Form aufge­

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1.3 K r e u z p r o d u k t 21

schrieben werden. Wie dies zu geschehen hat, läßt sich überraschenderweise durch reines Nachdenken ergründen. Sowohl a als auch b denken wir uns ad­ditiv aus gewichteten Einheitsvektoren zusammengesetzt, nämlich wie in (1.18). Das Kreuzprodukt aus zwei verschiedenen Einheitsvektoren ist (plus oder mi­nus) der dritte. Gleiche geben Null. Ein ei-Anteil von a x b kann also nur auf zwei Weisen zustande kommen: aus e2 -Anteil von a mit e3 ~Anteil von b oder (nun negativ) aus e^-Anteil von a und ^-A nteil von b . Somit ist 0 2 6 3 - 0 3 6 2 die erste Komponente von a x b . Das ist es, und wir sind (so scheint es) schon fertig:

a X b = ( 0 2 6 3 - G3&2 > G3&1 - > fll&2 - G2&1 ) • (1.30)

Man ist nie fertig, wenn man ein Resultat (z.B. das einer Übungsaufgabe) soeben zu Papier gebracht hat. Nun ist es zu testen und/oder genauer zu verstehen und/oder seine Tragweite zu begreifen. Als erstes versuchen wir si­cherheitshalber, die obigen zu (1.30) führenden Gedanken in Formelsprache zu fassen. Wir haben Mut und betrachten gleich allgemein die j - te Komponente von a x b = akbi(ek x e/). Sie ergibt sich, wenn wir auf beiden Seiten das Skalarprodukt mit ~ej bilden,

(a x b )j = ak be ej ■ (e* x ee) = ejkt ak be , (1.31)

wobeiGjkl := Cj • ( e* x c/) =j=

0 , wenn zwei Indizes gleich sind1 , wenn j>‘, A;, t zyklisch (1.32)

- 1 , wenn j , k , i antizyklisch

f l für j = 1, k = 2 und t — 3 ~ \ total antisymmetrisch sonst .

Zyklisch heißt, daß die drei Zahlen (verschieden müssen sie ja sein) die „natürli­che Reihenfolge“ haben: 1,2,3 oder 2,3,1 oder 3,1,2 (im Uhrzeigersinn an einer Drei-Stunden-Uhr). e wechselt das Vorzeichen, wenn man zwei Indizes ver­tauscht. Somit hat es den Wert — 1 bei „falscher“ antizyklischer Reihenfol­ge. Ejkt heißt „total antisymmetrischer Tensor dritter Stufe“. Und antisym ­m etrisch heißt Vorzeichen umkehrend bei Indexvertauschung. Wenn wir in €jkto>kbi z.B. j — 2 wählen, dann ergibt sich zwingend die zweite Komponente von (1.30). Nun „steht“ die Behauptung (1.30). Aber wir müssen unbedingt auch ein wenig mit ihr spielen: „wenn z.B. a, b beide in der xt/-Ebene liegen, dann zeigt a x b nach oben, dürfte also keine erste und keine zweite Kompo­nente haben“ — ?? — „es ist dann 03 = 0 und 63 = 0, und (1.30) verhält sich tatsächlich richtig!“. So gehe man künftig an jede neuartige Formel heran (und an jedes Resultat einer Übungsaufgabe): man rekapituliere, wie sie herauskam, und teste sie anhand einfacher Spezial- und Grenzfälle. Wenn man schwer an ihr gerüttelt hat, und sie lebt noch, dann mag sie wohl eine Daseinsberechtigung haben. Spielen-Können ist wertvoll.

Das Aufschreiben der a x b -Komponenten mittels (1.30) geschieht im konkre­ten Falle dadurch, daß man spricht: „Ich bin jetzt bei der zweiten Komponente.

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22 K a p it e l 1: V e k t o r e n

Dort hinein gehört die dritte mal die erste minus (umgekehrt) erste mal dritte“. So rechne man ein Kreuzprodukt aus. Es treten nämlich immer wieder Leute auf den Plan, welche offenbar mit einem anderen Merkvers getrimmt worden sind (wer tut so etwas?). Er steht in (1.39), kostet vertikalen Platz und ist mit unnötiger Schreiberei verbunden. Kurz, er ist unrentabel. Ein Gewohnheitstier mit Verstand . . . .

Vektorrechnung geht über Trigonometrie

Die Weisheiten, die die Trigonometrie zu bieten hat (Sinussatz, Kosinussatz, ...), sind einfache Folgerungen aus der Vektorrechnung. So stand der Kosinus­satz

c2 = a2 + b2 — 2 a b cos(7 ) (1.33)

bereits einmal da, nämlich in (1.9). Dort ist lediglich Rest = a • b = ab cos(7r—7 ) einzusetzen. 7 ist der der Dreiecksseite c gegenüberliegende Winkel. Auch sphärische Trigonometrie folgt aus Vektorrechnung.

Wir begnügen uns hier mit einem (hoffentlich eindrucksvollen) Beispiel. An Bild 1-21 kann man sehen, daß die Beziehung

sin(a + ß) = sin(a) cos(ß) + cos(a) sin(ß) (1-34)

gilt. Die Gesamtfläche (großes Rechteck) ist einerseits gleich \a x b | und setzt sich andererseits aus den zwei kleineren Rechtecken zusammen. Das rechte hat Grundlinie a sin(a) und Höhe bcos(ß). Das linke hat die Fläche abcos(a) sin(ß). Teilen durch ab gibt die gewünschte Gleichung. Wenn wir in dieser a = tt/2 — 7 setzen und sin(7r/2 — 7 ) = cos(7 ), cos(7r/ 2 - 7 ) = sin(7 ) ausnutzen, dann bekommen wir auch noch das zweite Additionstheorem

cos( 7 - ß) = cos(7 ) cos(ß) + sin(7 ) sin(ß) (1.35)

frei Haus geliefert. Kurzum, wilde trigonometrische Rechnerei löst sich meist vektoriell in Wohlgefallen auf. Trigonometrie kommt von Vektorrechnung, diese kommt vom Pythagoras, der aus dem Sandkasten (Bild 1-12) — und dort hat alles angefangen.

Bild 1-21: Wie man das Additionstheorem der Trigonometrie „sehen“ kann

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1.3 K r e u z p r o d u k t 23

S patp roduk t

Das zweite wichtige doppelte Produkt kombiniert mal mit kreuz : a • (b x c). Dieses sogenannte Spatprodukt hat eigentümliche Eigenschaften:

a • ( b x c) =j= a|| | 6 x c|

/ Volumen des Parallelepipeds y mit a, &, c als Kanten

— (a x b) • c = ( c x a) • b .

Das erste Gleichheitszeichen ist (1.13). Was ein „Parallelepiped“ ist, zeigt Bild 1-22. Es hat |ajj| als Höhe (als Projektion kann aj| beide Vorzeichen haben). Das zweite Gleichheitszeichen versteht sich als Grundfläche mal Höhe. Das dritte und vierte gilt, weil die Kanten des Parallelepipeds gleichberechtigt sind. Beim Spat produkt darf man also den Vektor, der nicht in der Klam­mer steht, in die Klammer hinein schieben und dabei den entferntesten Vektor hinausdrängen.

Bild 1-22 : Spatprodukt als Volumen eines Parallelepipeds

Das Spatprodukt läßt sich mittels (1.30) leicht durch die Komponenten der drei Vektoren ausdrücken:

CL • ( b X c) = CI1 &2 C3 + a2&3Cl + 03^1^2 ~ 03^2^1 — (I1 &3 C2 ~ &2&1C3 • (1-37)

Es zeigt eine eigenartige Systematik in den 6 zusammenaddierten Produkten. Aus gegebenen 3 * 3 = 9 Zahlen wurde eine Zahl errechnet. Natürlich gibt es viele Möglichkeiten, 9 Zahlen eine einzige Zahl zuzuordnen. Obige spezielle Zu­ordnung nennt man D eterm inante. Um diese Zahl auszurechnen, denkt man an die ersten Zeile von (1.38) und begnügt sich beim Aufschreiben schamhaft mit der zweiten:

a • ( b x c) =pa i.

ci)

a2^ @ * & 2 bz 'C2 C3

minus b i '

Cl"f r

C2 ' (§)CL 1 CL2 3b \ 62 bz

Cl C2 C3

a\ d2 0 3 = det ( 6 1 6 2 h

ci c2 c3(1.38)

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24 K a p it e l 1: V e k t o r e n

Die schrägen Linien zeigen, welche drei Zahlen miteinander im Produkt zu nehmen sind. Verbindet eine Schräglinie nur zwei Zahlen, dann nehme man die (eingekreiste) Zahl in der entfernten Ecke hinzu. Beispielsweise haben a2 und6 3 Sehnsucht nach c\ . Dieses Schema zur Berechnung einer Determinante nennt man Sarrussche Regel. Sie läßt sich nur bei „Schachbrettern“ mit drei Zeilen und drei Spalten benutzen, oder bei 2 * 2 -Brettern. Im 2 * 2-Falle reduziertsich die Regel auf = 0 1 6 2 - a2bi • Wer gern spielt, der kann sich nun(mit Sarrus’ Regel im Hinterkopf) das Kreuzprodukt formal als Determinante schreiben:

(1.39)

Etwaiger Gebrauch dieser Version in praxi wurde ja weiter oben bereits vernich­tend kommentiert. Wenn an einem Neun-Zahlen-Schema senkrechte Striche stehen, dann ist die Determinante gemeint. Wenn es jedoch von runden Klam­mern eingerahmt wird, wie in (1.38) ganz rechts, dann nennt man es M atrix (schade um das schöne Wort Schachbrett — aber eine Matrix ist ja weiterhin eins). Es gibt natürlich auch z.B. 8 * 8 -Schachbr..., sorry, 8 * 8 -Matrizen. Die64 Zahlen darin nennt man E lem ente der Matrix. Man kann sie mit Ajk be­zeichnen und numerieren, wobei sich der Zeilenindex j von oben nach unten verändert und der Spaltenindex k nach rechts:

ai Ü2 a>3a x b = bi b2 6 3

ei 6 2 e3

IIII( A n

A 21^12^22

••• 4l8 \ • . . ^28

\^81 ^82 • • • ^88 /

(1.40)

Der einfachste Spezialfall hiervon ist

1 = (Sjk) = Das Kronecker-Symbol ist also die E inheitsm atrix .

(1.41)

Mit Matrizen werden wir uns noch gehörig herumschlagen (Kapitel 4), aber kaum noch mit Determinanten. Vielleicht wollen Sie wenigstens noch erfahren, wie denn — da Sarrus nicht allgemein — die Determinante einer N * N - Matrix definiert ist. Na gut:

det(A) = £ j 1_ j NAij1A2j2 . .. A Njn , det(AB) = det(j4) det(2?) . (1.42)

Die Beziehung rechts folgt aus der linken, aber im Moment entfremdet uns das zu sehr von den lieben Vektoren.

V ektorgleichungen

sind eine feine Sache. Aus einer Gleichung, die als unbekanntes Objekt den Ortsvektor f enthält, kann man vermutlich nicht alle seine drei Komponenten bestimmen: eine Gleichung — drei Unbekannte! Wir erwarten, daß sie viele, unendlich viele (?) Lösungen hat. Wir fragen nun, ob etwa die Endpunkte dieser vielen Ortsvektoren ein geometrisches Objekt bilden können, und suchen die Antwort anhand von Beispielen:

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1.3 K r e u z p r o d u k t 25

A r • ~ez = 0 . Dies ist ersichtlich die Bedingung dafür, daß f senkrecht auf e3 steht. Alle Ortsvektoren, die keine z-Komponente haben, erfüllen diese Gleichung. Aus allen ihren Endpunkten bildet sich die £2/-Ebene. Es ist die Gleichung der xy -Ebene.

B |r | = R. Was ist das? Moment bitte. Eine Kugel mit Radius R!

C |? - fo| = R. Und das? — Eine Kugel (R) mit Mitte bei ro .

D r • e = 0. — ? — Eine Ebene durch Ursprung senkrecht zu e .

E r x A = N x A . Das sind drei Gleichungen. N und A sollen gegebene feste Vektoren sein. Das malen wir uns einmal auf und lassen N am Ursprung und A am iV-Ende starten. Die rechte Seite ist ein Vektor senkrecht zur Papierebene (nach oben oder unten, je nachdem, wie Ihre Skizze aussieht). Damit auch dielinke Seite senkrecht auf dem Papier steht, muß r in der Papierebene liegen.

—kDamit beide Seiten den gleichen Betrag haben, muß r±A= N±Asein. Das sind nun alle Anforderungen an f . Es handelt sich folglich um die Gleichung einerGeraden durch den iV-Endpunkt und mit der Richtung von A .Nach den Beispielen A und D fallt es nicht mehr schwer, auch noch die Glei­chung einer Ebene aufzuschreiben, die nicht durch den Ursprung geht. Die Ebene soll senkrecht zu einem gegebenen Vektor N sein und den Abstand N vom Ursprung haben:

Notfalls zeigt Ihnen eine Skizze, daß dies stimmt. Zu (1.43) gibt es interessante Anwendungen. So kann man z.B. den Druck einer Schallwelle (was mag das sein? Nachdenken!) in der Form

aufschreiben. f (x) ist irgendeine „weiche“ Funktion: es muß nicht unbedingt ein Kosinus oder Sinus sein. Sehen wir uns an, an welchen Orten des Raumes zu einem bestimmten Zeitpunkt t der Druck po + /(0) vorliegt. Dazu müssen

also auf der Ebene senkrecht zu k , die vom Ursprung den Abstand u t /k hat. Wenn die Zeit t vergeht, dann wandert diese Ebene in k -Richtung, und zwar mit Geschwindigkeit uj/k. Hiermit haben wir soeben die Formulierung für eine ebene W elle entdeckt.Auch aus Beispiel C ziehen wir einen Nutzen. Es zeigt, daß man ein geome­trisches Objekt dadurch an ein anderes Zentrum bringen kann, daß man in der entsprechenden Gleichung r durch r — ro ersetzt. Mehr noch, irgendeine Physik läßt sich dadurch woanders hintransportieren, daß man alle ihre z.B. 79 Ortsvektor-Variablen in der gleichen genannten Weise behandelt. Das vorneh­me Wort für diesen Transport-Vorgang ist T ranslation. Beispielsweise erkennt

(1.43)

(1.44)

wir k r = ujt setzen. Gleicher Druck (mit dem vorgegebenen Wert) herrscht

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26 K a p it e l 1: V e k t o r e n

man rechts im Bild 1-3 das Resultat einer Translation. Sie wissen vermutlich, daß die Erdanziehungskraft weit draußen mit „eins durch Abstand-Quadrat“ abnimmt. Inzwischen können wir diesen experimentellen Befund sauber formu­lieren:

i? = 7= £ (- 2 ) ■ Ü .«)

Dabei ist M die Masse der Erde und m die Masse z.B. eines Satelliten (wir kom­men in Kapitel 3 darauf zurück, was Masse eigentlich ist). 7 ist eine Konstante (müßte man nicht 7 = 1 setzen? — vgl. Text über und unter (1.25) — Oh, sündige Menschheit!). Mittels Translation können wir jetzt das Erdanziehungs- Kraftfeld für einen Marsmenschen aufschreiben, der die Erdmitte bei ?o sieht und den Satelliten bei r:

(1.46) gilt für eine punktförmige „Erde“ ebenso wie für eine echte mit Radius R. Es muß nur | f - ro| > R sein, und die Masse muß kugelsymmetrisch verteilt sein. Warum dies so ist, lernen wir in Kapitel 6 .

L inear kom bination

Zum Ende dieses Kapitels sollten wir noch ein paar Vokabeln nachtragen. Es folgt also eigentlich nichts Neues. Wenn irgendein Ausdruck oder eine Gleichung ein Objekt (z.B. a) nur „hoch eins“ enthält (z.B. b (ca) , aber nicht a(co)) , dann sagen wir, der Ausdruck sei linear in diesem Objekt, a b ist linear in a und linear in b ; 8 - 3x = 2 ist eine lineare Gleichung (linear in x); (1.46)ist linear in m und M, aber nicht in r; (1.25) ist linear in B . Wenn mehrere Objekte mit Konstanten multipliziert und aneinander addiert sind, dann heißt das Resultat L inearkom bination oder kurz LK. Also ist c\ a + c2 b +C3 c eine LK aus drei verschiedenen Vektoren. Derartiges hatten wir schon mehrfach. In a = a,j~ej wird der Vektor a aus den drei Einheitsvektoren ~ej linear kombiniert. Man sagt auch, wir entwickeln a nach den e ’s. Den Umstand, daß sich ein beliebiger Vektor a nach e ’s entwickeln läßt, nennt man Entw icklungssatz. Wenn wir aus einem Vektor a seinen Einheitsvektor machen, d.h. a/a bilden, dann norm ieren wir ihn. Alle Einheitsvektoren sind also bereits normiert. Die drei Einheitsvektoren ei, e2i e$ bilden ein vollständiges O rth o n o rm al- System oder kurz VONS; vollständig, weil es ausreichend viele sind, so daß sich jeder Vektor nach ihnen entwickeln läßt; ortho, weil sie senkrecht (ortho­gonal) aufeinander stehen; normal, weil sie normiert sind (auf eins, weil dabei für Betrag 1 gesorgt wurde). Man kann sich leicht ein anderes VONS ausden­ken, indem man zu einem schief liegenden Einheitsvektor f x zwei weitere zu ihm orthogonale Einheitsvektoren konstruiert. Ohne weiteren Kommentar ist nun die folgende Aussage klar:

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1.3 K r e u z p r o d u k t 27

Die f j bilden ein VONS *-t f j • f k = Sjk (j, k = 1 ,2,3)

undüberdies ein Rechtssystem ^

auch noch , ^

f i * ( / 2 x f 3) = det | ’f '2 1 — + 1 •~ / 3-

(1.47)

Wenn man einen gegebenen Vektor a nach den Elementen eines VONS ent­wickeln will, welche Rechnung liefert dann eigentlich die Koeffizienten a'-, d.h. die Konstanten in der LK? Es handelt sich um die Projektionen von a auf die /^-Richtungen. Drei Skalarprodukte sind also zu bilden. Dieser einfa­che Gedanke wird sich irgendwann später (in der Quantenmechanik) als sehr wesentlich heraussteilen:

a = a'j f j , a'- = ? Multipliziere beide Seiten mit f k

fk * a =: aj fk * f j = ajöjk — ak » aj = f j ' a •

r \

(1.48)

Das Zeichen rx steht für „daraus folgt, daß . . . “. Die folgenden letzten zwei Sprachregelungen möge der Leser selbst (indem er malt) mit Sinn erfüllen:

a, b heißen 1linear unabhängig /

die Gleichung c\ a -f C2 b = 0 N ull-Koeffizienten

, Ci = C2 = 0 erzwingt .(1.49)

Drei linear unabhängige Vektoren (a ■ ( b x c ) ^ 0) spannen den dreidimen­sionalen V ektorraum auf. Sie sind Basis dieses Raumes.

Dies war ein recht langes Kapitel, bestehend aus vielen scheinbar unzusam­menhängenden Stücken. Es wird besser werden. Aller Anfang ist leicht, läng­lich, bringt neue Vokabeln und braucht viel Vertrauen auf einen Gesamt-Zu­sammenhang, der sich schon noch zeigen wird.

Sie haben es kaum bemerkt: wir haben bereits ein „Weltbild“. Ein sehr dürfti­ges, sehr enges, noch falsches Weltbild, voller unbegreiflicher Geschehnisse . . . , aber wenigstens überhaupt eines. In einem riesengroßen Koordinatensystem „sieht“ man die Ellipsenbahn der Erde um die Sonne und die vielen Sonnen un­serer Galaxie. Unendlich viele Ortsvektoren zeigen an alle Stellen des Raumes. An jeder Stelle sind einige weitere Vektoren angebracht. Felder „hängen“ im Raum. Unsere Welt sieht aus wie eine große dreidimensionale Fotografie. Man kann in ihr herumklettern und Fähnchen mit Bezeichungen anbringen. Was brauchen wir als nächstes? Fotos aus verschiedenen Zeiten, bewegte Bilder: KINO.

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2 Kinematik

Ein Punkt bewegt sich auf einer Kurve durch den Raum (Bild 1 - 1 ). Sein Orts­vektor verändert sich mit der Zeit. Wir schreiben f (£) und sagen „er von te“. Man hat natürlich sofort einen Gummifaden vor seinem geistigen Auge, der den Punkt mit dem Ursprung verbindet. Auch die Schatten von r(£), d.h. seine Projektionen auf die Koordinatenachsen, d.h. seine Komponenten, verändern sich mit der Zeit. Ebenso sieht es beim Geschwindigkeitsvektor (usw.) aus, wenn wir seinen am Ursprung beginnenden Repräsentanten betrachten. Allge­mein schreiben wir

a(t) = (ai(t) , a 2(i) , a 3(t)) (2 .1 )und sprechen von einer V ektorfunktion. Sie besteht also aus drei Funktionen einer Variablen (der Zeit t in diesem Falle). Den Funktionen ist Kapitel 5 gewidmet. Hier werden wir nur Potenzen sowie Sinus und Kosinus verwenden— jedenfalls ganz einfache, harmlose und glatte „Höhenprofile“ über einer Zeit- Achse. Man kann erstaunlich viel damit anfangen. Die folgenden drei Beispiele mögen es zeigen.

2.1 Raumkurven

A Geradlinige Bewegung mit zeitlich konstanter Geschwindigkeit v. Gegeben

Bild 2-1: Geradlinige Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit

ist (neben v) auch der Ort r(0) = : fo des Punktes zur Zeit Null. Zur Zeit t hat sich offenbar (Bild 2-1) der Verschiebungsvektor v f e , e := v/v , zu ro addiert:

r(t) j ro + vt- ( x 0 + vi t , y0 + v2 1 , z0 + v3 1 ) . (2 .2 )

Dies ist die P aram ete rdarste llung einer Geraden (im Unterschied zur Vek­torgleichung). Parameter ist hier die Zeit t. Wenn er alle Werte eines Intervalls (hier: — oo < t < oo) durchläuft, werden alle Punkte des geometrischen Objek­tes erreicht.

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2.1 R a u m k u r v e n 29

B Kreis-Bewegung in der rr^-Ebene um den Ursprung, im „mathematisch positiven“ Sinn (d.h. entgegengesetzt zum Uhrzeiger) und mit konstanter Ge­schwindigkeit v. Leider ist es üblich, das Wort Geschwindigkeit auch dann zu verwenden, wenn nur ihr Betrag v gemeint ist. Meist bereinigt der Text die entsprechende Unklarheit. Obiger Text bedarf auch noch der folgenden genaue­ren Angabe: f (0) = (ß, 0,0). Der Radius des Kreises ist also R. Jetzt trifft Bild 1-17 zu. Wenn wir nun Text und Bild in Formelsprache übersetzen, dann besteht der erste Schritt aus s(t) = vt. Im zweiten Schritt schreiben wir den Winkel zwischen Ortsvektor und x-Achse auf: (p(t) = s(t)/R = v t /R = : ut. Dabei haben wir die Abkürzung lü eingeführt. Sie heißt K reisfrequenz und hat Dimension 1/Zeit. Im dritten Schritt erledigen wir unsere Aufgabe:

r(t) = R ( cos(tot) , sin(u;£) , 0 ) . (2.3)

Die Zeit T, die vergeht, bis der Ausgangspunkt wieder erreicht ist, nennt man Periode. Obige Kreisbewegung hat die Periode T =

Bild 2—2: Kreisbewegung mit konstanter Geschwindigkeit. Zu jeder Zeit bilden Ort, Geschwindigkeit und Winkelgeschwindigkeit ein orthogonales Dreibein

Um auch die Geschwindigkeit als Vektor aufzuschreiben, benötigen wir (da Betrag gegeben) nur noch einen zeitabhängigen Einheitsvektor. Ein Blick auf Bild 2-2 legt nahe, ihn als Kreuzprodukt mit r (t) zu suchen:

e(t) = ( 0 , 0 , l ) x ( c , * , 0 )

- ( - 5 , c , 0) =£= R u ( — sin(u;f) , cos(ut) , 0 ) .

?;(<) 7 = ve( t )

(2.4)

Die eigenwillige Anordnung dieser winzigen Rechnung geschah mit Absicht. Man denkt, malt, beginnt zu schreiben, hat rechts Platz, dann links, und dabei erscheint zum Beispiel Obiges auf Ihrem unlinierten Papier. Man sieht jetzt, wie zweckmäßig das Verbinden von Gleichheitszeichen ist. Es vermeidet Miß­verständnisse. Bei längerer Rechnung geht die vertikale Verbindung über Seiten (und kann dann ein Kennzeichen bekommen, mit dem sie eine Seite verläßt und in die nächste eintritt). Machen Sie auch bitte hemmungslos von Abkürzungen Gebrauch. Das ist rentabel (vor allem in Nebenrechnungen). Ihnen jedenfalls ist klar, daß c für cos(u;£) steht und s für sin(cü ). Bei Hausübungen empfiehlt sich Erklärung solcher Abkürzungen, denn manche Korrektoren „wollen nicht verstehen“. Betrachten wir nun das Resultat obiger Rechnung. Man sieht (falls

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30 K a p it e l 2: K inem atik

man differenzieren kann, siehe unten), daß jede v -Komponente die Ableitung der entsprechenden r-Komponente nach der Zeit ist. In Beispiel A war es ebenso.

C Schraubenlinie. Dies ist ein sehr schöner Typ Übungsaufgabe (für Erfinder). Sie sollen einem Teilchen, einem Segelflieger oder einem Fräser ein f (£) mittei- len, derart, daß die Bahnkurve qualitativ eine Schraubenlinie wird. Von oben gesehen, nimmt man die Höhenzunahme nicht wahr (sondern nur Kreisbahn). Als Projektion auf der z-Achse erscheint wiederum nur die Höhenzunahme. Damit sind wir bereits fertig:

r(t) = ( Rcos(cüt) , Ä sin (^ ) , v3t ) . (2.5)

Zur Resultat-Diskussion können wir z.B. die Ganghöhe angeben:

_,/27r\ 27r vs _r ( — ) - r (0) = vs — = — 27tR .

\ Lü / Lü Vj_

Falls die Schraubenlinie einen Anfang und ein Ende haben soll, geben wir ein­fach die Startzeit (z.B. t\ = 0) und den Ankunftstermin an (z.B. fe = 20 T, T = 27r/a;, entsprechend 20 Windungen). Sie hatten mehr an eine Holzschraube ge­dacht? Kein Problem. Der Radius nimmt dann im Laufe der Zeit ab. Also ersetzen wir in obiger Formel R durch z.B. R(t) — R • (1 - t/tz).

Wir haben soeben gelernt, daß man generell eine Raumkurve in der Form f (£) angeben kann. Ein Kurven-Stück erfordert — in der Regel — die zusätzliche Angabe eines Zeitintervalls (ti, ^)- Sofern es nur auf die Kurve ankommt, kann natürlich auch irgendein anderer Parameter (statt der Zeit t) sein Intervall durchlaufen. Wenn man im r (£) der Schraubenlinie überall t durch t2/ uj ersetzt und r laufen läßt, dann entsteht wieder eine Schraubenlinie. Allerdings liegt sie nun ganz oberhalb der xt/-Ebene. Man versteht jetzt obige Einschränkung „in der Regel“. Um mit einem normalen und einfachen Beispiel abzuschließen, sehen wir uns

f (r) = ( acos(r) , 6 sin(r) , 0 ) mit — 7r < r < 0 (2 .6 )

an. Es handelt sich um die untere Hälfte einer Ellipse mit Zentrum im Ur­sprung. Für einen Violinschlüssel ein r(t) zu erfinden (es geht!), das bleibe eine Herausforderung für den Leser.

W inkelgeschw indigkeit

Beispiel B enthält noch mehr. Einer Kreisbewegung können wir eine feste Richtung zuordnen, den Drehsinn (rechte Schlapp-Hand). Im Beispiel B zeigt

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2.1 R a u m k u r v e n 31

er nach oben. Als Betrag geben wir diesem „Drehsinn-Vektor“ den pro Zeit zurückgelegten Winkel. Das ist genau die Kreisfrequenz u. Das Resultat ist u = u e und heißt W inkelgeschwindigkeit (sehr wörtlich zu nehmen, nicht wahr?). Auch hier wird mit dem Wort für den Vektor häufig nur der Betrag ge­meint: Winkelgeschwindigkeit der Erde? Antwort: 27r/(l Tag). Im Laufe sehr großer Zeiten dürfte sie ein wenig abnehmen. Es ändert sich auch allmählich die Richtung der Erdachse. Unter solchen Umständen müssen wir den Winkel­unterschied auf einen hinreichend kurzen Zeitunterschied beziehen:

Von „Kreisfrequenz“ kann man nun nicht mehr reden, höchstens noch im Sinne einer Näherung. Sie ist der engere Begriff. Auf intuitive Weise haben wir soeben etwas Wichtiges über einen s ta rren K örper gelernt: er hat stets eine m om entane Drehachse.

Mit einem starren Körper sei eine Achse fest verbunden. Hier denkt der Leser an Bratspieß und Lagerfeuer (trockener Text braucht Appetitanregung). Die Achse gehe durch den Ursprung, sei außerhalb des Körpers gelagert und werde mit gegebener Winkelgeschwindigkeit u gedreht. Ein Punkt des starren Körpers (irgendein bestimmter) bei r(t) hat dann die Geschwindigkeit

Die Richtung von v wird durch (2.8) richtig angegeben (Skizze!). Der Betrag von (2.8) ist v = ur±, und r±_ ist der Abstand von der Achse. Wegen u = v/Abstand gibt (2.8) also auch den richtigen Betrag. Somit stimmt (2.8). Die kleine Rechnung, die bei Beispiel B von r auf v führte, ist nun auf beliebige Achsenrichtung verallgemeinert.

(2.8) ist ein vektoriell formulierter Zusammenhang und somit unabhängig von Koordinatenachsenrichtungen. Er respektiert die Drehinvarianz der Realität. Bisher waren — soweit Physik betreffend — die Gleichungen (1.25) und (1.46) von dieser edlen Sorte. Vielleicht ist nun der rechte Zeitpunkt gekommen, eine Verschwörung ins Leben zu rufen, deren erklärtes Ziel es ist, die Harmonien der Welt zu suchen, zu formulieren und ihnen in unserem Verständnis der Dinge einen zentralen Platz einzuräumen. Inwieweit die Verschwörung nun Politiker und Verbände tangieren mag, sei dahingestellt (die Gedanken sind frei). In der Physik wird (statt von „Harmonie“) von Symmetrien und Invarianzen ge­sprochen. Bei unserem momentanen Kenntnisstand lautet das entsprechende Prinzip folgendermaßen:

Wenigstens die grundlegenden Zusammenhängemüssen vektoriell formuliert werden.

Vielleicht erinnern Sie sich später wieder hieran, wenn Newtons Bewegungs­gleichung oder die Maxwell-Gleichungen zu Papier gekommen sind. Selbst­verständlich wird dieses Prinzip eingehalten bis zum heutigen Tag und bis hin­ein in die moderne Theorie der Elementarteilchen. Allerdings wird es unterwegs

<3(t) = df t c(t) . (2.7)

v(t) = u>(t) x f ( ( ) . (2.8)

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32 K a p it e l 2: K inem atik

zum Bestandteil eines anderen höheren Prinzips, das noch mehr Harmonie her­zustellen vermag, dem sogenannten Relativitätsprinzip.

Ist lj ein Vektor? Wer sich jetzt etwa an den Anfang des ersten Kapitels erinnert („Drehungen sind keine Vektoren“), dem fährt der Schrecken tief ins Gebein. Ruhe bewahren. Die Verneinung von damals beruhte auf der Ungültigkeit der Vektoraddition. Versuchen wir also, zwei Winkelgeschwindigkeiten zu addieren. Was das heißt, zeigt Bild 2-3: ein Karussell (ü5i), auf das ein Motor geschraubt ist, der mit relativ zu Karussell eine zweite Achse dreht. An dieser ist mit Draht ein „Punkt“ angelötet. Die beiden Achsen schneiden sich im Ursprung.

Bild 2-3: Wie sich Winkelgeschwindigkeiten addieren

Ohne Karusselldrehung würde sich der Punkt nach (2.8) mit v = ÖJ2 x r bewe­gen. Ohne diese Eigenbewegung (aber mit Karusselldrehung) käme er mit u = ö3i x r voran (so als wäre die r -Umgebung ein Förderband). Geschwindigkeiten dürfen wir addieren. Die Gesamtgeschwindigkeit ist w = u + v = (ö5i -fö^) x r , gültig sogar für alle Punkte r , die mit der zweiten Achse verlötet sind. Es gibt also eine Ersatzachse, zu drehen mit öj = uii -fö^. Winkelgeschwindigkeiten sind Vektoren. Man hat das Gefühl, hier sei ein wenig gezaubert worden. Vielleicht ist es hilfreich, wenn wir die obigen Gleichungen noch mit dt multiplizieren. Dann stehen infinitesimal kleine Verschiebungsvektoren dr an Stelle der Ge­schwindigkeiten. Tatsächlich wurden nur solche efr’s addiert. Das Addieren fand in einem so kleinen Raumbereich (um r) statt, daß von der späteren Dre­hung noch nichts bemerkt werden konnte. Infinitesimale Drehungen uj dt sind Vektoren — endliche Drehungen sind es nicht. Das war anstrengend.

2.2 Differenzieren

f ( x ) gegeben; malen; Tangente bei x an die Kurve legen. Die Tangente ist eine Gerade: y = ax 4- b. a heißt A nstieg (der Tangente und der Kurve) bei x. Wir erklären nun ein weiteres Wort:

A bleitung von f (x) bei x := Anstieg der Kurve bei x . (2.9)

D ifferenzieren ist wiederum nur ein anders Wort für „Ableitung bilden“. Al­lerdings meint es, die Ableitung per Rechnung zu finden und sogar für alle x auf einmal (abgesehen von Stellen, die die Funktion übel nimmt oder an denen sie

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2 .2 D i f f e r e n z i e r e n 33

gar nicht erklärt ist). Selbst wenn der Leser längst differenzieren kann (häufig kann er und weiß nicht, was er tut), müssen wir uns auf eine Bezeichnungsweise verständigen:

f { x + e ) ~ f { x ) = £ = : / ' = /'(*) = dxf { x) . (2.10)

Ganz links steht, was man beim Differenzieren tatsächlich zu tun hat. Anhand einer Skizze rufen Sie sich leicht in Erinnerung, daß dies genau der oben in Worten gegebenen Definition entspricht, „lim“ ist die Abkürzung für Limes oder G renzw ert. Der erste Ausdruck von (2.10) heißt D ifferentialquotient. Wenn man den Bruch im konkreten Fall aufschreibt, dann versucht man sich vorzustellen, was wohl, wenn s immer kleiner wird, am Ende aus ihm werden mag. Der zweite Ausdruck in (2.10) sagt dasselbe mit anderen Worten: die sich bei kleiner x-Änderung ergebende Funktions-Änderung, geteilt durch erstere. Physikalische Betrachtungen führen häufig auf diese Version. Der dritte Aus­druck ist die Stenografie des vierten. Besonders gut ist die ganz rechts stehende Formulierung. Wir kommentieren sie im Anschluß an die Beispiele.

Vermutlich muß vorweg ein weit verbreitetes Mißverständnis erneut (?) be­kämpft werden. Es genügt nicht, fertige Regeln und Rezepte zu kennen. Man muß verstehen, warum sie gelten, damit man mit dem Limesprozeß (2.10) auch noch in exotischen Situationen fertig wird. Dies und noch einiges mehr lernen wir anhand von acht Beispielen:

AQ 3 1. ( z + s ) 3 - # 3 .. X 3 + 3x2£ + 3X£2 + £ 3 - X 3 2 / o 1 1 \ dx x 6 = lim -----------------= lim ------------------------------------= 3ar . (2.11)£ -> •0 £ e-K) £

Es ist lästig, stets den Limes vor die zu untersuchenden Ausdrücke zu setzen. Also vereinbaren wir (wenigstens für den Hausgebrauch), ihn wegzulassen. Wir merken uns £ -> 0. Im Zähler gab es Terme, auf die es gar nicht ankam. Wichtig war nur, daß sie bei £ —> 0 wie const • £2 klein wurden. Es gibt eine praktische Notation für Ausdrücke, für die man sich (aus irgendwelchen Gründen) nicht genauer interessiert oder die man nicht genauer kennt. Man schreibt 0 ( . ..), sagt „groß-0 von . . . “ und meint damit einen Ausdruck, der proportional zu .. . klein wird, wenn .. . gegen Null geht. Mit einem ganz sauberen Gleichheits­zeichen können wird jetzt aufschreiben, daß (x -I- e ) 3 = x3 4- 3x2£ + 0(£2). Bei Beispiel A hat sich im Zähler der 0(1)-Term kompensiert, auf den 0(e)-Term kam es an, und der 0 (e2)-Term spielte keine Rolle mehr. So geht es übrigens im Zähler des Differentialquotienten immer zu, es sei denn, man erweitert den Bruch (wie in den folgenden beiden Beispielen).

B ___ ___ ___y/x + £ ~ yfx (yjx + £ - y/x')(y/x + £ + y/F)

dx y/x =£ £ { y / X -+- £ - f \ / X )

1 1(2.12)

y/x + £' + \fx 2 yfx

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3 4 K a p it e l 2: K inem atik

Cdx - = - ( - i - - - ) = * } (2-13)

X £ \ X + £ x ) £ ( X - \ - £ ) X X Z

D Beliebige Potenz. Zunächst betrachten wir nur / = xn/m mit natürlichen Zahlen n und m und schreiben (2.10) in der folgenden Form auf:

(x + £)n/m = f + f 'e + 0 (e2) , oder (x + e)n = ( f + f 'e + .. .)m ,

oder

+ nxn~le = J ^ + + 0 (e2)o . / ' = — x n- 1f 1~m = — x <n / m ) - 1 . (2.14)

m m

Wenn wir nun n = -1 , -2 , -3 , . . . betrachten, führt eine ganz ähnliche Rech­nung (multipliziere die Gleichung (x 4 - £)n = ... mit (x 4 - e)lnl) zum gleichen Resultat. Da man jede reelle Zahl A beliebig genau durch n /m approximieren kann, erhalten wir, daß allgemein dxx x = Xxx_1 gilt.

r" dx cos(x) =j= [cos(x 4 - £) - cos(ar)] /£

=f= [cos(ar) cos(£) — sin(x) sin(£) — cos(:r)] /£== [cos(:r)(l - 0 (£2)) - sin(:r)(£ - 0 (£3)) - cos(#)] /e=L — sin(x) (2.15)

iDie vorletzte Zeile soll sich der Leser anhand großer Skizzen selbst klarma­chen (!). Analog erhält man da;Sin(a;) = cos(x). Daß schließlich dtcos(ojt) = —üj sin(ojt) gilt, folgt direkt aus dem Differentialquotienten, wenn man dort u>£ als „neues eu einführt.

F Produktregel: dx f (x)g(x) j [ f (x + e ) g ( x + e ) - f ( x ) g(x) ] /e

- [ f (x + s)g(x + e ) ~ f (x) g(x + e) + f (x) g(x + e) - f (x) g(x) ] f e

n i f g ) ' = f ' 9 + f g ' (2-16)

In der Mitte der zweiten Zeile war lediglich eine „kluge Null“ addiert worden. Gleich, nämlich bei Beispiel H, passiert dies noch einmal.

G Kettenregel: dx f (g(x))j [ / (g (x + e)) - f (g(x))] / s

- [ f ( g + 9 ' s ) - f ( g ) ] /e = [ f ( g ) + ( eg' ) } ' (g) - f ( g )] h

dx f(g(x)) = g'f '(g) (2.17)

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2 .2 D if f e r e n z ie r e n 35

H Funktion mehrerer anderer Funktionen : dx f [g(x) , h(x)]y

- { f [9 + 9'e, h + ti e] - f [g,h + tie] + / [g,h + tie] - f [g,h] j/edx f(g ,h ) = g'd9f + t idhf (2.18)

Ableitungen nach der Zeit t kommen besonders häufig vor. Man setzt einen Punkt über die Funktion, wenn es sich speziell um Differentiation nach der Zeit handelt:

dt x(t) =: x(t) =: x .

Zu (2.18), also zur Differentiation von einer Funktion mehrerer anderer Funktio­nen, gibt es eine besonders wichtige Anwendung. Ein „punktförmiger“ Maikäfer fliegt durch die Abendluft. Er erlebt dabei verschiedene Luft-Temperaturen: T(r) . Welche Temperatur-Änderung pro Zeit hat er dabei auszuhalten? Ant­wort:

dt T ( r ( t ) ) = d t T(x( t ) , y(t) , z(t) ) = x d xT + ydyT + z d zT . (2.19)

Dies erinnert stark an (1.19), d.h. an das Skalarprodukt in Komponenten. Wir können dafür sorgen, daß es eines ist, wenn wir definieren:

( dxT , dyT , dzT ) =: grad T rx dt T(r(t)) = r • grad T . (2.20)

Mit dieser Bildung, die G rad ien t heißt und ein Vektor ist, werden wir noch einiges Vergnügen haben, siehe z.B. (3.18) und (8 .2 ).Wenn Sie bis hierher den Eindruck haben, daß beim Differenzieren eigentlich nichts Schlimmes passieren kann, dann haben Sie recht. Grobe Erfahrungs- Regel: Differenzieren geht immer. Beim Integrieren liegen die Dinge ganz an­ders — das geht fast nie.

Es ist noch das Versprechen einzulösen, die Bezeichnungsweise dx zu würdigen. Diese gibt es in der Tat in der physikalischen Literatur. Jedoch trifft man sie nur selten in Lehrbüchern und an Tafeln. dx ist ein O perator. Ein Operator ist eine Maschinerie, die sich nach rechts bewegt und dann in Aktion tritt, wenn sie dabei einen Patienten antrifft. Das Resultat der Operation ist ein neuar­tiges Objekt, meist aus dem Raum des ursprünglichen Objektes (also wieder ein Patient, wartend auf die nächste Operation). Mitfühlendes Verständnis ist angezeigt, wenn man einen Operator anwendet.

Ein Operator A heißt linear, wenn er bei Anwendung auf eine Linearkombina­tion aus zwei Objekten auf diese auch einzeln angewendet werden kann:

A { a f l + ß f2 ) = a A f l + ß A f 2 . (2.21)

Zum Beispiel ist der Operator, der aus f (x) die neue Funktion 1 / f ( x ) macht, nicht linear. dx, jedoch, ist ein linearer Operator. Auch (a x .. .) ist ein linearer Operator, diesmal wirkend im Raum der Vektoren. Bald werden wir

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36 K a p it e l 2: K inem atik

mehr lineare Operatoren kennenlernen. In der Quantenmechanik srpielen sie eine zentrale Rolle. Es ist also Absicht, von vornherein das Operatordenken zu pflegen:

A2 := AA , A 3 := AAA , . . . , also d \ f = dxdxf = f" . (2.22)

Gemäß (2.21) kann man einem linearen Operator bequem eine Dimension zu­ordnen. Bei dx denkt man an den Differentialquotienten:

[Af ] =: [A] [f ] , also [fc] = . (2.23)

Es ist richtig, daß statt dx auch ddx geschrieben werden kann. Nur letzteres

dauert länger und sprengt (ob man es sieht?) den vertikalen Platz. Wir beste­hen darauf: dx ist besser! Nun treten an dieser Stelle ältere Herren in Erschei­nung und reden seltsame Dinge. Es sei doch das geschwungene d für die „par­tielle Differentiation“ Vorbehalten. Wir fragen dann außerordentlich blauäugig zurück, ob man nicht auch dabei schlicht und ergreifend differenzieren würde und ob man etwa nicht stets genau wisse, wonach zu differenzieren sei und wo­nach nicht. Die sogenannte totale Ableitung ist lediglich eine Erinnerungshilfe für Leute, die vorher zu faul waren, alle Abhängigkeiten von der Variablen ex­plizit aufzuschreiben. Starke Worte? — ,Wir kommen im Text um (10.24) und (13.22) kurz darauf zurück.

Differenzieren einer Vektorfunktion

Wie dies definiert werden sollte, ist fast eine Selbstverständlichkeit. Die Ge­schwindigkeit (als Vektor) ist ja ein kleiner Verschiebungsvektor, geteilt durch die Zeit, in der er zurückgelegt wird, v = d s /d t = [r(t 4 - s) — r(t) \ /s , und natürlich soll dtr(t) = r automatisch die Geschwindigkeit sein. Also schrei­ben wir allgemein:

dt a(t) := lim + = ( , ä2 , ä3 ) . (2.24)£ —► 0 £

Wir erinnern uns der r (£)-Beispiele A und B. Stets ist also r = v.

r = v = dv/dt — ( x , y , z ) (2.25)

nennt man Beschleunigung. Um Fehler von vornherein zu vermeiden: \r\ unddt \r | sind ganz verschiedene Größen! \r\ = v = y/x2 + y2 + i 2' ist der Betrag des Geschwindigkeitsvektors, während es sich bei dt\r\ — r um die zeitliche Änderung des Abstands vom Ursprung handelt: r = dty/x2 + y2 + z2' . Bei zum Beispiel einer geradlinigen Bewegung mit v = const bleibt \r\ zeitlich konstant, während sich r ständig ändert (etwa gemäß (2.29), siehe unten).

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2 .2 D i f f e r e n z i e r e n 37

Um allgemein r zu bilden, erinnern wir uns des Maikäfers von (2.19). Nun übernimmt lediglich y/x2 + y2 4 - z2' die Rolle der Abendlufttemperatur:

r = x + y + z - j = ; = 7 ^ - = v || . (2.26)

Die folgenden Rechenregeln sind leicht zu verstehen:

(2.27)dt (a + b) = a + b , dt a b = a b + a b

dt (Xa) = Xa + Xa , dt (a x b) = a x b -fa x b .

Man denkt dazu am besten komponentenweise. Z.B. ist die zweite Gleichung im wesentlichen die Produktregel: dtajbj = äjbj -f ajbj. Wir fügen zwanglos zwei Beispiele an, die insbesondere bezüglich r ^ v für sich selbst sprechen:A Noch einmal Kreisbewegung := cos(ut), s := sin(u;£)^ :

r = R ( c , s , 0) , r = R , r — 0 r = R üj ( - s , c , 0) , v = Rlj , v ^ O (2.28)r = Rüj2 ( —c , - s , 0) , | r | = Ruß

B Geradlinige Bewegung nach oben: r (t) = ( a , 0 , vot)

r = v = { 0 , 0 , v0 ) , r = y/a2 + v%t2'r = 0 , v = vq , r =

(2.29)y/a2+VQt2'

K rüm m ungsrad ius

Zu einer gegebenen Raumkurve, deren r(t) also bekannt ist, kann man sich verschiedene Charakterisierungen ausdenken. Die folgenden beziehen sich auf einen bestimmten Punkt auf der Kurve: es sind lokale Charakteristika:

-*> v r 7* t x r r x rt : = — “T“ > b : = 77“ — ~ 7 77" j

v |r | | t x r | |r x r |

ü := • (2.30)t)2 |fx | |fx |

t heißt T angenteneinheitsvektor, b heißt B inorm ale und steht senkrecht auf der Fläche, in der der Punkt sich gerade bewegt. Die Hauptnormale n liegt in dieser Fläche und gibt die Richtung der Kraft an, die der „Gondel“

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3 8 K a p it e l 2: K inem atik

die Bahn krümmt. Auf diese Fläche kann man einen Kreis malen, der genauso krümm ist wie die Bahn an dieser Stelle. Der nach innen zeigende Anteil der Beschleunigung muß also der gleiche sein wie auf dem entsprechenden Kreis.Dessen Radius g hängt bekanntlich (Beispiel A) gemäß |r | = v2/gj/mit der Beschleunigung zusammen. Also ist der Krümmungsradius der Bahn durch

v2 v2 Irl3g = -5-° „ l ■— = i r V (2.31)

|rx| 11 x (r x t)| | r x r |

gegeben. Die Gleichungen (2.30), (2.31) sind in praxi nicht besonders wichtig. Aber sie bieten eine wunderbare Gelegenheit, Denken zu trainieren.

Dieses Kapitel hat Bewegung in unser „Weltbild“ gebracht. Statt zu klettern, sitzen wir in Gondeln, die mit Affenzahn in die Kurve gehen. Beschleunigung macht sich unangenehm bemerkbar. Der Rücken tut weh, Blutgefäße werden gequetscht. Beschleunigung muß etwas mit Kraft zu tun haben.

Bisher haben wir unseren Ortsvektoren diktiert, wie sie sich mit der Zeit zu verändern haben. Aber die Natur draußen im Park tut es von alleine. Erst wenn wir auch das können, nämlich ihre Zukunft*Vorhersagen, erst dann treiben wir Physik, nämlich die (wirkliche) Kunst des Wahrsagens. Wir sind rechnerisch bestens vorbereitet. Im nächsten Kapitel gibt es nur Physik.

C. F. von Weizäcker [Die Geschichte der Natur, Vorlesungen in Göttingen 1946(Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1979)] :

„Vergleichen Sie die unbewußten Leistungen der Lebewesen mit denen der unbelebten Natur! Die Pflanze wächst, der Vogel fliegt, die Biene baut ihre Waben, ohne es bewußt gelernt zu haben; sie können es, ohne zu wissen, was sie tun. Verfolgen Sie aber mit ausgeruhtem Auge die Flugbahn der Planeten am Himmel, so werden Sie dasselbe Wunder erleben. Auch diese Dinge der unbelebten Natur können das Ihre, ohne es zu wissen. Wir wissen, daß ihre Bewegung Differentialgleichungen genügt, die wir nur in wenigen einfachen Fällen integrieren können. Sie aber integrieren diese Gleichungen, von denen sie nichts wissen, ohne Zögern und fehlerlos durch ihr bloßes Sein. Die Natur ist nicht subjektiv geistig; sie denkt nicht mathematisch. Aber sie ist objektiv geistig; sie kann mathematisch gedacht werden. Dies ist vielleicht das Tiefste, was wir über sie wissen.“

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3 Newton

Kraft gleich Masse mal Beschleunigung. Worte sind ungenau. Inzwischen können wir es sehr viel besser:

m r = K . (3.1)

(3.1) ist oberstes Prinzip. Unser erstes. Man kennt es seit 1687 (I. Newton „Das System der Welt“). Wenn Physik (heutzutage) die Disziplin ist, die Ein­heit des Verstehens durch Rückführung auf first principles herstellt, dann ist sie 300 Jahre jung. Sie kennen vielleicht das Spielchen, bei dem man seinem Gegenüber die Frage „Warum?“ stellt — Erklärung — „warum?“ zu ei­nem Detail der Erklärung — usw. Wenn man es durchhält, kommt man an (oder müßte ankommen) bei obersten Prinzipien. Diese dann kann man nicht mehr verstehen. (3.1) kann man nicht herleiten und nicht verstehen. Was man statt dessen kann, ist (nach Ausarbeitung von mehr und mehr Folgerungen), die Tragweite eines Natur-Prinzips zu ermessen. Wieviel aufopfernde Arbeit und Selbstzweifel lagen doch historisch vor der Erkenntnis, daß der bescheidene Zusammenhang (3.1) „ganz oben hin“ gehört. (3.1) ist Axiom der Mathematik, die von der Natur ständig und von selber ausgeführt wird.

(3.1) ist unvollständig. Es ist nur ein oberstes Prinzip. Es wird um weitere zu ergänzen sein. Das läßt sich genauer sagen. Auf der Kraft-Seite von (3.1) werden wir Anleihen machen müssen bei anderen Physiken. Wenn die Kraft (oder das Kraftfeld, in dem sich m bewegt) bekannt oder gegeben ist, dann genau ist (3.1) in der Lage, die Zukunft r(t) vorherzusagen. Die „halbe Theo­rie“, welche (zu gegebenen Kräften) r(£)’s vorhersagt, nennt man M echanik. Es gab seltsame Kontroversen darüber, ob die Mechanik eine Tautologie sei (etwas, was sich in den Schwanz beißt). Obige Bemerkungen antworten darauf bereits erschöpfend. Sobald zu (3.1) die first principles einer Theorie der Kräfte hinzukommen (und erst dann), wird eine vollständige Theorie auf dem Papier stehen. Es kann sich dann ruhig um zunächst nur eine Sorte Kräfte handeln, zum Beispiel um elektromagnetische. In diesem Falle nimmt übrigens (3.1) die Form

m r = q (^E + v x B^j (3 .2 )

an. Die rechte Seite von (3.2) nennt man L oren tz-K raft [vgl. (1.25)]. Esfehlen uns also noch Gleichungen für E und B (die Maxwell-Gleichungen, Kapitel 11) als „zweite Hälfte Theorie“.

(3.1) ist falsch. Spätestens in den zwanziger Jahren (Erfindung der Quantenme­chanik) war klar, daß (3.1) nicht aufrechterhalten werden kann. „Richtig-falsch“ und „gut-miserabel“ sind recht verschiedene Kategorien. (3.1) ist exzellent gut

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40 K a p it e l 3: N e w t o n

in Bezug auf die meisten Vorgänge, die wir mit bloßem Auge verfolgen können. Vor allem ist (3.1) vergleichsweise einfach. Die Natur erst einmal in einer Grob­struktur, über eine Karikatur der Wirklichkeit, zu begreifen, das klingt nach einer vernünftigen Vorgehens weise.

(3.1) unterstellt, daß es M assenpunkte gibt. Wir denken uns einen sehr klei­nen Körper, den wir mit bloßem Auge nur noch als Punkt sehen können und folglich nur noch mit einem r (£) zu beschreiben brauchen. Wir sagen am besten Teilchen zu einem solchen Objekt. „Da ein Teilchen ein Punkt ist, kann es sich nicht drehen“ — ein ganz und gar unverständlicher Satz! Dennoch benutzt ihn die Mechanik. Sie hat dabei Glück, denn in der Quantenmechanik wird die Erklärung dafür nachgeliefert, warum es tatsächlich so ist (bzw. warum Eigendrehungen der Teilchen mechanisch nicht „angeregt“ oder verändert wer­den). Sie sehen, mit was für einem Magengrimmen die Physiker über 200 Jahre haben leben müssen. Ein wenig hatte man das „Warum“ wohl auch verdrängt. Natürlich gibt es auch in der heutigen modernen Physik „dumme Fragen“, die weh tun.

(3.1) erklärt, was M asse ist. Es ist meist so, daß Grundgleichungen nicht nur die Antwort auf eine Standard-Fragestellung geben (hier: r(t) = ?), sondern auch die in ihr enthaltenen Objekte definieren. Wir binden ein Teilchen an eine Federwaage und lenken sie um eine Kraft-Einheit aus (willkürlich einmal festgelegt mittels einer „Ur-Feder in Paris“). Nun beobachten wir r(t) eine kurze Zeit lang, differenzieren zweimal nach der Zeit und erhalten aus (3.1) die Größe m. Die Masse ist der Proportionalitätsfaktor in Newtons Bewegungs­gleichung. Man kann zur Masse auch K opplungskonstante sagen (koppelt Teilchenverhalten an Feld). Masse ist eine Eigenschaft des Teilchens. Ver­schiedene Teilchen können verschiedene Massen haben. Wir nehmen nun zwei Teilchen gleicher Masse, kleben sie aneinander und wiederholen obiges Experi­ment. Resultat: doppelte Masse. Masse ist eine additive Materialeigenschaft. Die Ladung q in (3.2) ist ebenfalls eine Kopplungskonstante und ebenfalls eine additive Materialeigenschaffc.

Kann man m — 1 setzen? Gewiß. Ein bestimmtes Teilchen wäre dann zum Ur-Teilchen zu erklären und in Paris zu deponieren. (3.1) würde dann die Maßeinheit der Kraft festlegen. Alle anderen Massen wären dann dimensions­lose Zahlen — als Teilcheneigenschaft sehr sinnvoll. Nur hat man bis heute kein geeignetes Ur-Teilchen gefunden, und in der Theorie der Elementarteilchen sieht es ausgerechnet bei der Erklärung von Massenverhältnissen noch böse aus. Also machen wir aus der Not eine Tugend, kleben wahllos eine gehörige Men­ge Teilchen aneinander und erklären, daß dieser Klumpen (Zweipfundbrot) die Masse von einem „Kilogramm“ habe. Uber dieses Ur-Kilo in Paris gibt nun(3.1) die Maßeinheit der Kraft, nämlich

1 Newton := 1 Kilogramm • 1 M eter/(1 Sekunde) 2 .

Mittels (3.1) kann man Kraftfelder vermessen. Wir nehmen dazu ein Teil­chen (am besten ein geladenes), schaffen es an alle interessierenden Stellen r des Raumes, schießen es dort mit allen möglichen Geschwindigkeiten v in

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3 .1 V o r h e r s a g e d e r Z u k u n f t 41

die Gegend und messen r(t) (innerhalb genügend kurzer Zeit, damit sich KimiA

nicht nennenswert dabei verändert). (3.1) liefert nun K , und zwar mit allen Abhängigkeiten, die die Kraft in dem untersuchten Raumbereich haben kann:nmiX 9 •K ( r , r , t ) . Wie die Abhängigkeit von r aussehen kann, zeigt (3 .2 ). Mittels

_k _x(3.2) kann man nun (unabhängig voneinander) E und B experimentell alsFunktionen von r und t aufnehmen. E , B sind durch (3.2) definiert. Wir sind schon hinausgewachsen über die reichlich naive Frage, ob (3.1) die Kraft definie­re oder (zu gegebener Kraft) eine Gleichung zur r (t)-Bestimmung sei. Beides!! Jedoch ist die zweite Aussage die bei weitem wichtigere. Sie interessiert uns als nächstes — und bei vielen Übungsaufgaben.

3.1 Vorhersage der Zukunft

Newtons Bewegungsgleichung (3.1) enthält die gesuchte Vektorfunktion r (t) in zweimal abgeleiteter Form. Man kann (3.1) auch komponentenweise lesen. Es handelt sich dann um drei Gleichungen für die drei unbekannten Funktionen x(t), y(t) und z(t). Mathematiker nennen dies ein System gekoppelter, gewöhn­licher Differentialgleichungen (Dgln) zweiter Ordnung (Ordnung = höchste vor­kommende d-Potenz, vgl. Kapitel 7). Das hört sich schlimm an und ist schlimm. Um so aufregender ist folglich jeder einzelne Spezialfall, in dem un­sere Wahrsage-Kunst trotzdem zum Erfolg führt. Daß (3.1) die Zukunft r(t) festlegt, machen wir uns klar, als wären wir ein gewöhnlicher home Computer. Zu einer bestimmten Zeit t seien der Ort r (t) und die Geschwindigkeit v (t) des Teilchens (Masse m) bekannt. Eine infinitesimal kurze Zeit dt später ist das Teilchen bei r( t + dt). Wir erhalten diesen neuen Ort, indem wir auf der linkenSeite von r = v den Differentialquotienten aufschreiben und die Gleichung mit dt multiplizieren. Ganz analog verfahren wir dann mit (3.1), um v(t + dt) zu erhalten:

r(t + dt) = r ( t )+ d tv ( t )_ _ 1 \ (3.3)v(t + dt) = v ( t ) + d t — K ( r (£), v ( t ) , t ) .m \ /

Nun verschaffen wir uns r, v zur Zeit t -f 2 • dt und so weiter. Bei jedem Zeitschritt stehen auf der rechten Seite der entsprechenden zwei Gleichungen Größen, die gerade vom vorigen Schritt her bekannt sind. Die Zukunft liegt also fest, wenn man zu einem Zeitpunkt (meist kann man t = 0 wählen) Ortsvek­tor und Geschwindigkeitsvektor des Teilchens kennt. Wir nennen diese Start- Information A nfangsbedingungen oder Anfangs-Daten. 6 Zahlen aus der Gegenwart legen also die Zukunft eines Teilchens fest. Bei eindimensionaler [ID] Bewegung genügen zwei Zahlen, bei zweidimensionaler [2D] sind es vier. Auf diese Regel werden wir uns im folgenden blind verlassen (so gut ist sie! Bitte schielen Sie jetzt noch nicht nach Kapitel 7, wo mit viel bösem Willen eine Ausnahme konstruiert wird.)

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42 K a p it e l 3: N e w t o n

Zwei Dreizeiler für Computerfreaks (zu ergänzen durch Grafik):

x = 0 : v = 1 : t — 0 : dt = .05 x — x + d t * v : v — v -{-dt * (-x ) t = t + dt : GOTO 1 (exakt: x = sin(t); Schwingung)

2 = 500 : v = 0 : t = 0 : dt = .02 1 z = z + d t * v \ v = v + d t * (—10)

t = t + dt : IF z > 0 THEN 1 (exakt: z = 500 - 5 * t * t \ Freier Fall)

Hier wurde (3.3) in der ID Version benutzt. Wie man Physik dimensionslos macht, wird in Kapitel 5 erklärt. Man erkennt in der zweiten Zeile, daß es sich um eine rücktreibende Kraft (proportional zu —x) bzw. um eine negativ konstante Kraft handelt.

Freier Fall

Kein juristischer oder moralischer Fall ist hier gemeint, sondern das (näherungs­weise luftreibungsfreie) Herunterfallen eines Steines (Masse m), den ein in Höhe h befindliches Mitglied der IG Bau zur Zeit t — 0 (Feierabend) einfach losläßt— bei vollem Lohnausgleich. Wir begreifen, daß hiermit eine Übungsaufgabe gestellt ist.

Auf den Stein wirkt die Erdanziehung (1.46). Der Text verrät, daß das Ko­ordinatensystem auf der Erdoberfläche aufsitzt, ro ist also ein Ortsvektor mit Richtung nach unten und mit Betrag |ro| = 6370 km =: R.

Klt\ = 7 w M f (x,y,z + R ) \

1 ’ J x2 + j,2 + (* + Ä)2 j x2+y2 + (z + R)r J

" ™ f ( ‘ + < ) ) ( ° ( s ) . ° ( : § ) . - ‘ + ° ( s ) )L ( 0 , 0 , - m g ) , g := « 10 ^ . (3.4)

Die Konstante g heißt E rdbeschleunigung (Dimensionsprobe?!). Unsere höchsten Berge sind 8 km hoch. Für Fußgänger ist also obige Näherung sehr gut. Die Idee von Bild 3-1 nützt den Supermärkten herzlich wenig.

Bild 3—1: Wie man mit einer Balkenwaage betrügen kann

Newtons Bewegungsgleichung lautet jetzt m r = (0,0, —mg). Wir lesen sie kom­ponentenweise: 3 Gleichungen. Die erste besagt lediglich, daß x(t) —v\ = const ist. Spätestens jetzt bemerken wir, daß die Problemstellung ungenau war. Tex­te und Übungsaufgaben sind wie Alltag: wir haben Ordnung hineinzubringen!

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3.1 V o r h e r sa g e d e r Zu k u n f t 43

Wir wählen die nächstliegende und einfachste Spezifizierung der Anfangsdaten:r (0) = (0,0, h) , r (0) = (0,0,0). Damit kennen wir zwei der drei gesuchten Lösungen sofort: x(t) = 0, y(t) = 0. Das Zeichen = heißt „identisch gleich“ und meint hier: gleich für alle interessierenden Zeiten t .Übrig geblieben ist das folgende Problem:

(3.5)

Die Einrahmung soll bedeuten, daß die darin befindliche Information (nach un­serer Regel) das Problem eindeutig macht, daß es also nur eine einzige Lösung gibt. Zu wissen, daß es nur eine Lösung gibt, ist ein besonders glücklicher Um­stand. Nun ist es nämlich erlaubt, zu probieren, zu spielen und zu raten. Sie lesen richtig: Raten ist erlaubt, sinnvoll und macht Spaß. Wenn wir etwas Un­geeignetes geraten haben, dann sind mit Sicherheit nicht alle der eingerahmten Bedingungen erfüllt. Ob erfüllt oder ob nicht, muß man natürlich zu erkennen in der Lage sein: insbesondere muß die Bewegungsgleichung für alle t erfüllt sein. Meist läuft dies auf einen Koeffizienten-Vergleich hinaus. Das Raten zum eingerahmten Problem besteht darin, daß wir einen A nsatz machen. Dabei stellen wir uns mit Absicht ein wenig dumm: „Da schwingt doch nichts, was soll also der Sinus im Ansatz?“ — „Mal sehen, was die eingerahmten Bedin­gungen dazu sagen“:

Ansatz : z = A + B t + Ct2 4- Dt 3 -I- E sin(u)t) rx(3-6)z — B 4 - 2Ct 4- 3Dt2 4- E u cos(ut) , z = 2C 4- 6Dt - E u 2 sin(ut) .

Dies setzen wir zuerst in die Bewegungsgleichung ein und schließen, daß sie iden­tisch in t nur zu 2C = — g, D = 0, E = 0 erfüllt wird. Der Ansatz reduziert sich damit auf z = A-\- Bt — gt2/ 2 . Dies setzen wir in die zwei Anfangsbedingungen ein und schließen, daß A = h und B — 0 sein muß. Es ist gut gegangen (hurra!). Hätten wir den A-Term vergessen, dann hätten wir es bemerkt: 2(0) = h wäre nicht erfüllbar gewesen. Ein Ansatz darf also mangelhaft sein. Selbst dann noch hilft er dabei, das Problem besser zu begreifen. Spielen! — jetzt müssen Sie. Die Lösung zum „Freien Fall“ ist also

z{t) = h - \ g t 2 . (3.7)

Wäre dem Stein eine Anfangsgeschwindigkeit vo in ^-Richtung mitgegeben worden, dann wäre zusätzlich noch der Term vot entstanden. Im Endresul­tat kommt die Masse m des Steines nicht mehr vor. Warum? (die älteste Frage der Welt). Sie hat sich herausgekürzt, weil in der Gravitationskraft (1.46) — im Unterschied zu (3.2) — die gleiche Kopplungskonstante wie in (3.1) auf- tritt. Die „träge Masse“ in (3.1) erscheint dort als „schwere Masse“. Warum? An dieser Stelle hat Einstein weiter nachgedacht und die „Allgemeine Relati­vitätstheorie“ erfunden (sie stimmt).

Sich einen Ansatz auszudenken, ist kreative Tätigkeit. Daran liegt es vielleicht, daß Rezept-gewohnte Leute Ansatz-Hemmungen entwickeln. Solche Gefüh­le sind jedoch ganz unnötig. Probieren ist eine sehr natürliche menschliche

z = - g , z(0 ) = h , z(0 ) = 0

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4 4 K a p it e l 3: N e w t o n

Eigenart. Wir fassen zusammen. Wenn man weiß (oder vermutet), daß ein Problem nur eine Lösung hat, dann darf man mit Ansatz arbeiten. Häufig ist dies der direkte, rentable und physikalisch klare Weg. Ein Ansatz enthält meist einige Parameter (um so mehr, je weniger Durchblick man hat), die sich durch die Problemstellung festlegen werden. Hat ein Ansatz das Problem gelöst, dann ist das Resultat die Lösung. Ein Ansatz ist niemals „falsch“. Löst er das Problem nicht, dann wird man das bemerken. Und man lernt dabei etwas über die Eigenarten des Problems.

Eindimensionaler harmonischer Oszillator

Viele Teilchen in der Natur haben ihren Stammplatz, von welchem sie wegen dann einsetzender rücktreibender Kraft nur schwer zu vertreiben sind. Sie sind „gebunden“. An einem solchen Ort ist das Teilchen im Gleichgewicht. Wir legen den Ursprung dorthin und nehmen an, daß die Kraft der Auslenkung

■■i.iAproportional ist: K = — k t (siehe auch Kapitel 4 unter Potentialminimum). Wir begnügen uns mit der ersten Komponente von (3.1), denn die zwei anderen sehen ebenso aus und entkoppeln (die x-Dgl enthält kein y oder z usw.). Was auf der x-Achse vor sich geht, ist also völlig unabhängig davon, was in y - oder ^-Richtung passiert. Das Teilchen (m) werde zunächst bei x — a festgehalten und dann zum Zeitpunkt t = 0 losgelassen:

(3.8)

Wir finden zwanglos zwei „Puzzle-Teile“, die in die eingerahmte Struktur pas­sen könnten: cos(... t) und sin(... t). Ein konstanter Term in x(t) erscheint ungeeignet; er würde in der Bewegungsgleichung links hinweg-differenziert wer­den, aber rechts bösartig stehen bleiben. Erst recht nicht denken wir an einen C£-Term im Ansatz; er würde im Laufe der Zeit x(t) immer größer werden lassen, aber derartiges passiert hier doch gar nicht. Also versuchen wir es mit

Ansatz : x = A cos(ut) 4 - B sin(u;£) . (3.9)

Er enthält drei unbekannte Konstanten: w, A und B. Die Bewegungsgleichung ist ersichtlich genau dann für alle Zeiten t erfüllt, wenn man uß = K/m setzt. Aus der Anfangsbedingung für x folgt B = 0, und jene für x liefert A = a:

x(t) = a cos t) . (3.10)

Alles ging gut. Unser Ansatz war offenbar bereits sehr gescheit, er enthielt weder zuviel noch zuwenig. Eventuell hätte ein kluger Mensch den B -Term von vornherein weggelassen, nämlich unter Schielen auf £(0) = 0. Wenn aber der Oszillator mit einer Geschwindigkeit ^ 0 startet, dann wird auch ein Sinus- Anteil benötigt.

x — ~ ^ x , z(0 ) = a , £(0 ) = 0

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3 .2 I m puls u n d D reh im pul s 45

3.2 Impuls und Drehimpuls

Aus (3.1) lassen sich ein paar sehr allgemeine und entsprechend wichtige Folge­rungen ziehen. Wir beschränken uns weiterhin auf ein Teilchen, behandeln also (ein Stück weit) nur die Mechanik eines Massenpunktes. Die Leistungsfähigkeit der Mechanik kommt allerdings erst bei Systemen aus mehreren oder gar vielen Teilchen eindrucksvoll zur Geltung.

Jemand will mit großer Wucht einen Nagel ins Holz schlagen. Er bringt dazu möglichst viel Masse auf möglichst große Geschwindigkeit. Das vornehme Wort für Wucht ist Im puls:

p m v . (3.11)

Die Zeitableitung des Impulses stimmt offenbar mit der linken Seite von (3.1)überein: p = K. Genau dann, wenn ein Teilchen keine Kraft spürt, ist der Impuls erhalten , d.h. er bleibt zeitlich konstant. Dieser sogenannte Im puls­erhaltungssa tz ist also bei einem Teilchen keine besondere Weisheit. Bei mehreren Teilchen wird er deshalb etwas interessanter, weil für die Summe aller Teilchen-Impulse, für den Gesamtimpuls P des Systems

P = dt{Pl + P2) = ^auf 1 + -Kauf 2 (3.12)

gilt und die rechte Seite wenigstens schon dann Null gibt, wenn z.B. nur Kräfte zwischen den Teilchen wirken und sich paarweise kompensieren.

D rehim puls

Zu jeder Zeit und an jedem Ort hat ein einzelnes Teilchen eine „Dreh-Wucht“, denn es könnte gerade dort gegen eine Holzstange fliegen (und in ihr stecken bleiben), die am Ursprung fest gebunden ist (Skizze!). Die Stange würde sich danach um die Achse r x v drehen (falls vorher in Ruhe). Nur der Anteil vj_ von v sollte zur Dreh-Wucht (vornehm: D rehim puls) beitragen, und sie sollte um so größer sein, je weiter weg vom Ursprung die Stange getroffen wird. Beides macht obiges Kreuzprodukt schon automatisch richtig. Nur sollte auch noch die Teilchenmasse als Faktor im Drehimpuls erscheinen:

—x •L := m r x r = r x p . (3.13)

Wir untersuchen nun die zeitliche Änderung des Drehimpuls-Vektors:

L = m r x r + m r x r = r x K . (3.14)

Die rechte Seite von (3.14)) heißt D rehm om ent. Sowohl Drehimpuls als auch Drehmoment enthalten den Ortsvektor. Beide sind also von der Position des Ursprungs abhängig. Denken Sie sich zu Bild 1-3 einen Satelliten, der um die Erde kreist. Sein Drehimpuls steht zwar stets senkrecht auf der Papierebene, zeigt aber manchmal nach oben, manchmal nach unten. Zwischendurch, wenn

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sich L am stärksten ändert, wird der Betrag des Drehmomentes maximal: ein schönes Beispiel, um (3.14) qualitativ zu begreifen.

Ein Teilchen bewege sich in einem Kraftfeld, welches überall, wo das Teilchen hingelangt, die Richtung von r hat. Die rechte Seite von (3.14) ist dann Null.

nmiXFolglich ist der Drehimpuls erhalten: dt L = 0. L ist also ein zeitlich konstan­ter Vektor. Meist macht man von dieser Erkenntnis in der Form L(t \) = L (£2) Gebrauch, wobei t\ und t2 irgendwelche zwei Zeiten sind, z.B. eine, zu der man r und v kennt, und eine andere, zu der man obigen Zusammenhang ausnutzt.Die Zeit Unabhängigkeit der Richtung von L besagt, daß die Bewegung in ei­ner Ebene stattfindet, denn Ausscheren aus der Ebene würde L kippen. Die Zeit Unabhängigkeit des Betrages von L besagt, daß in gleichen Zeiten gleiche Flächen überstrichen werden:

1 \dr± I 2 • (in dt überstrichene Dreiecksfläche)

Jenes Keplersche „Gesetz“, das diese Aussage macht, ist also eine sehr direkte Folge von (3.14). Man kann auch sagen, (3.14) sei es bereits. Und (3.14) ist wiederum direkte Folgerung aus Newtons Bewegungsgleichung. Das Wort „Gesetz“ hat, ganz nebenbei gesagt, in Physik-Büchern nichts zu suchen. Wenn es dennoch auftaucht, handelt es sich fast ausschließlich um Zusammenhänge und Gleichungen, die man verstehen, d.h. rückführen, d.h. herleiten kann. Es sind Folgerungen. In der Physik denkt man.

Ein Kraftfeld, das überall die Eigenschaft K \\r hat, läßt sich in der FormK ( r ) = K ( r ) r / r aufschreiben. Man sagt dann, es sei eine Z entralkraft. Sie muß übrigens nicht kugelsymmetrisch sein (Beispiel: K ( r ) = 0 im linken Halbraum und 1 Newton überall im rechten). Nur wenn ihr Zentrum der Ur­sprung ist, gilt Drehimpulserhaltung. Und nur dann gilt Keplers Flächensatz. Gibt es gar keine Kräfte (geradlinige Bewegung, Skizze!), so können wir von Null-Zentralkraft sprechen: der Drehimpuls ist erhalten.

Ist der Drehimpuls schon bei einem Teilchen eine intelligente Bildung, so ent­wickelt er bei mehreren Teilchen gar wundersame Eigenarten. Setzt man ihn nämlich (wie schon den Gesamtimpuls) additiv zusammen, dann gilt für z.B. zwei Teilchen

1 “I" -2 ) ^ r\ X K\ -|- r2 x K 2 *= --aufl 5 - 2 •== - auf2

£ i ( n + -2) x {Kl + K 2) + i ( n - f 2) X (k 1 - k 2) . (3.16)

Falls K 2 = —Ki (Kräfte nur zwischen den Teilchen), dann entfällt der erste nmiXTerm. Falls überdies Ki und K 2 die Richtung der Verbindungslinie haben, ist

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3 .3 E n e r g i e u n d P o t e n t i a l 47

auch der zweite Null: Gesamtdrehimpuls erhalten. Dies war eine Abschwei­fung. Aber wenn schon: Können Sie sich einen ideal glatten Tischtennisball vorstellen, der auf der Stelle rotiert? Nun jagen wir einen Nagel nach oben durch die Tischplatte infinitesimal weit in den Ball. Bezüglich Nagelspitze gilt Drehimpulserhaltung. Warum?!.

3.3 Energie und Potential

Wenn man beide Seiten von (3.1) skalar mit der Geschwindigkeit multipliziert,

m r • r =j= r • K

9t Gm"2) - d-Ldf -» (3-i7)dann steht rechts die Arbeit pro Zeit, die das Kraftfeld am Teilchen verrich­tet, und links die zeitliche Änderung der Größe T := mv2 / 2. Man nennt sie kinetische Energie. Für die pro Zeit am Teilchen geleistete Arbeit bedankt es sich also mit Erhöhung seiner kinetischen Energie. Unter bestimmten Vor­aussetzungen läßt sich obige Rechnung noch ein Stückchen weiter treiben. Wir beschränken uns auf Kraftfelder, die nur von r abhängen. Wie man nun den Energiesatz herleitet, und unter welcher Voraussetzung er gilt, das läßt sich in einem Satz sagen:

Wenn es eine Funktion V(r) gibt, genannt Po ten tia l derart, daß die (gegebene) Kraft ihr negativer Gradient ist,

K ( r ) =: - ( dxV{r) , dvV { f ) , d„V(f) ) = -grad V , (3.18)

dann ist gemäß (2.20) dtV(r (t)) = r • gradF = - r • K und folglich mit (3.17) Öt{T + V ) = 0 .

Die Summe aus kinetischer Energie und Potential (wenn es eins gibt) ist also eine Erhaltungsgröße:

YTly v 2(£) 4- V (r ( t ) ) = E = constt . (3.19)

E heißt schlicht Energie oder Gesamtenergie. (3.19) ist der Energieerhaltungs­satz der Mechanik eines Massenpunktes. (3.18) ist die Definition des Potentials. „Wie ist V definiert?“ — „als eine Funktion, deren negativer Gradient die ge­gebene Kraft liefert“. Bei „Potentielle Energie“ handelt es sich lediglich um ein anderes Wort für V. Jedoch wird „Potential“ auch weiterreichend verwendet. Man meint damit generell eine Hilfs-Funktion, aus der durch Differentiationen physikalisch vernünftige Größen erhalten werden (Beispiele sind das Vektorpo­tential, das wir im Abschnitt 8.5 noch erleben werden, die thermodynamischen Potentiale usw.). Das Potential ist eine Funktion von r , ein Kraftfeld enthält jedoch drei solche Funktionen. Damit ist klar, daß eine Kraft nur unter beson­deren Umständen ein Potential haben kann.

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Ein Teilchen interessiert sich gemäß (3.1) nur für die Ableitungen von V ( r ), d.h. für Potential-Unterschiede von Raumpunkt zu Raumpunkt. Es kann nicht bemerken, ob jemand 97 Nm zu V hinzuaddiert hatte (die gleiche Konstante an allen Raumpunkten). Auch in (3.19) ist dann eben die Konstante E ent­sprechend größer. Eine gegebene Kraft legt also ihr Potential (falls sie eins hat) nur bis auf eine additive Konstante fest.

V ( r )-B eispiele

Wir sehen uns einige einfache Kraftfelder an und fragen zu jedem, ob es ein Potential hat. Wenn Ja, werden wir es ohne viel Mühe finden. Wenn Nein, dann werden wir dies bemerken (ebenfalls ohne viel Mühe). Integrale (wir weigern uns, derart Schreckliches jetzt schon zu kennen — siehe Kapitel 6 ) haben übrigens hierbei nichts zu suchen.

A K — (0,0, -mg) = ( - d xV, - dyV, - d zV). Das sind drei Gleichungen. Die ersten beiden besagen, daß V weder von x noch von y abhängt: V(z). Die dritte Gleichung lautet somit

V'(z) — mg r x V(z) = mgz + C : V — mgz , (3.20)

denn C = 0 zu setzen ist erlaubt. Da kommt ein Neunmalkluger des Weges und meint, es sei da doch im letzten Schritt integriert worden. Nein! Wir haben lediglich zu einer gegebenen Punktion (hier mg) eine S tam m funktion gefun­den, d.h. eine Funktion, deren Ableitung gleich der ursprünglichen ist. Das war eine lokale Fragestellung (lokal: die infinitesimale Umgebung eines Punk­tes betreffend). Wir haben nichts addiert und keine Fläche gesucht. Daß das Geschäft des Integrierens außerordentlich erleichtert wird, wenn man Stamm­funktionen finden kann, das steht auf einem anderen Blatt. Vielleicht ahnt der Obengenannte nun, was für ein horrender Unfug es gewesen wäre, Integrale zu verwenden, um dann diese doch wieder per Stammfunktion-Suche auszuwerten. Man reinige sein Gehirn.Mit obigem Potential nimmt der Energiesatz (3.19) explizit die Gestalt mv2/ 2+ mgz = E = mgh an, wobei wir soeben die Konstante E aus den Anfangsdaten z(0) = hj v(0) = 0 bestimmt haben. Zum Freien Fall wissen wir auch, wie z(t) und v(t) von der Zeit abhängen. Das ist eine willkommene Gelegenheit, (3.19) an diesem konkreten Beispiel nachzuprüfen:

m (-g t )2/2 + mg(h - gt2/2) = ? = mgh .

Man sieht, daß links alle ^-Potenzen herausfallen. Es ist also tatsächlich E(t) = JE7(0) = JE7. So wird vom Energiesatz in praxi Gebrauch gemacht. Wir lernen später im Kapitel 6 , daß bei eindimensionaler Bewegung die im Energiesatz enthaltene Information vollständig ist und wie man mit ihr die Lösung der Bewegungsgleichung erhalten kann (falls ein Potential existiert).

B Ki = —k(x — t) ist die erste Komponente der rückt reib enden Kraft einer idealen Feder (Bild 3-2), die am Ursprung befestigt ist, die entspannte Länge t

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3 .3 E n e r g i e u n d P o t e n t i a l 4 9

hat und mit ihrem anderen Ende an einer Masse bei r = (x,0,0) angebundenist. K = (ifi,0,0) ist die Kraft auf diese Masse. Man denke auch bei ID Pro­blemen vektoriell, insbesondere hilft dies bei gewissen Vorzeichen-Problemen. Von einer „idealen“ Feder wollen wir sprechen, wenn die Kraft zur (negati­ven) Auslenkung (hier: x — £) proportional ist. Natürlich ist das nur der Fall, solange die Auslenkung einigermaßen klein gegen £ bleibt. Das mittlere Bild 3-2 zeigt, wie man diesen Bereich auch dann ermitteln kann, wenn nur eine Sorte (gleicher) Federn zur Verfügung steht und Beschleunigungs-Experimente unerwünscht sind. Meist unterstellt man (ohne dies immer dazuzusagen), daß eine ideale Feder keine Masse hat. Ihre Masse möge also vernachlässigbar klein sein gegenüber der Masse des angebundenen Teilchens. Die Segmente der Feder mögen auch keine nennenswerten Eigenschwingungen gegeneinander ausführen.

Bild 3 -2 : Ausgelenkte Feder. Ob sie ideal ist, läßt sich mit identisch hergestellten Exemplaren nachprüfen

Das Potential der idealen Feder aufzuschreiben, ist weiter keine Kunst. Zur ID Situation links im Bild 3-2 ist

- k (x - £ ) = - dx V rx Kv = - j ( x - e f (3.21)

Wieder haben wir über eine additive Konstante so verfügt, daß der Ausdruck möglichst einfach wird. Es gibt hier jedoch auch einen physikalischen Grund für diese Wahl (und gegen etwaiges Ausquadrieren (x — £)2 = x2 — 2£x+£2 und z.B. Weglassen des dritten Terms). Bei Auslenkung werden die vielen Atomkerne der Feder alle ein klein wenig aus je ihrem eigenen Potentialminimum heraus­gezogen. Die potentielle Energie V ist also gleichmäßig über die gesamte Feder verteilt. Die Feder enthält keinen Überschuß an potentieller Energie, wenn x = £. Diese Feststellung erfordert unsere Konstanten-Wahl. Die Erkenntnis nV ist in der Feder“ führt uns zur allgemeinen Situation, Feder-Anfang bei 2 (Bild 3-2, rechts) und Feder-Ende (Teilchen) bei 1 :

KK = e 12 k (ri2 — £) , V = - (r1 2 - £)z .

Wenn Punkt 2 der Ursprung ist, so liegt eine spezielle Zentralkraft vor:

(3.22)

K = - k (r - £) - rK

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Es kann nichts schaden, wenn wir hieran obige Gedanken nachprüfen, indem wir* die drei ^-Differentiationen vornehmen:

— es stimmt. Die erste Zeile dieser Rechnung gilt für beliebiges Z entralpo­ten tia l mit Zentrum im Ursprung. Dies hilft uns im nächsten Beispiel.

Der letzte Schritt gelang per Kopfrechnen. Das Resultat (3.24) heißt G ravi­ta tionspo ten tia l. Die Konstanten-Wahl hat den Vorzug, daß bei unendlich weiter Entfernung des „Kometen“ das Potential Null wird.Die bisherigen F-Beispiele haben eines gemeinsam: Eine Positionsänderung des Teilchens, die Mühe machen würde, ist mit V -Vergrößerung verbunden. Mit Blick auf die Energiesatz-Herleitung begreifen wir, daß dies generell so sein muß. „Vergrößert sich V bei anstrengender Variablen-Änderung?“ ist so­mit die Kontroll-Frage an jedes eigene Potential-Resultat (z.B. beim Lösen einer Übungsaufgabe). In eine Skizze des Potential-Verlaufs (Bild 3-3) darf die Konstante E als Horizontale eingetragen werden, denn V und E haben glei­che Dimension. Wo die ^-Horizontale die F-Kurve schneidet, ist gemäß (3.19) v = 0. In ID handelt es sich dort um Umkehrpunkte der Bewegung. Die Längen der gewellten Linien in Bild 3-3 geben mv2 /2 an. Anhand solcher Diagramme kann man in ID schön den Bewegungstyp ablesen.

Bild 3—3: Drei typische Potentialverläufe, Gesamtenergie als Horizontale und Umkehrpunkte der Bewegung

Wählen Sie zum mittleren Bild in Gedanken eine Stelle x und ein Vorzeichen, z.B. v\ = +i>, dann vergrößert sich x , während v schließlich kleiner wird und am Umkehrpunkt das Vorzeichen wechselt und so weiter: eine Schwingung. Das rechte Bild 3-3 illustriert eine 3D Situation mit Zentralpotential. Es erlaubt

- lF '(r )r

(3.23)

C

(3.24)

0

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3 .3 E n e r g i e u n d P o t e n t i a l 51

(zu bekanntem E) zu jedem Abstand r den Betrag v der Geschwindigkeit ab­zulesen. Aber v wird benötigt, um sagen zu können, wie die Bewegung weiter geht. Wenn v auf das Zentrum zeigt, wird das Teilchen bald dort ankommen. Steht aber v senkrecht auf r , dann kann (unter anderem) eine Kreisbahn vor­liegen. Wie man diesen Informationsmangel beheben kann, steht im nächsten Unterabschnitt.

D K = K( —x , z — y , z — y) . Schon bei Beispiel A wurde eine Metho­de erkennbar, mit der man ein Potential stets ermitteln kann: man arbei­te die drei V-Definitions-Gleichungen der Reihe nach ab. Beginnend mit dxV(x,y ,z) = —Ki(x ,y ,z) , ist zunächst V als Stammfunktion bezüglich x aufzuschreiben. Vorsicht, dies muß so allgemein wie möglich geschehen. Was bezüglich x eine Konstante ist, braucht es ja nicht bezüglich y und 2 zu sein. Und diese Abhängigkeiten kommen im zweiten und dritten Schritt noch unter die Lupe. Im obigen Beispiel geht das so:

- K i = kx = dxV r \ V(x,y ,z) = ^ x 2 + f (y ,z )

- K 2 = n y - kz = dyV = dyf rv f (x ,y ) = ^ y 2 - n y z + g(z)

und V = - (x2 + y2) - nyz + g(z)

—K 3 = Ky — Kz = dzV = — Ky + g'(z) . Zu lösen bleibt also??

g\z) = -KZ + 2Ky , (3.25)

aber das kann nicht gut gehen (für dieses spezielle Kraftfeld), g darf nur noch von z abhängen, aber rechts steht y. Stimmt die letzte Zeile für ein y , so wird sie falsch für ein anderes. Gute Nacht! Obiges Kraftfeld hat kein Potential. Wir halten fest: ein Potential läßt sich „zu Fuß“ ermitteln, und dabei bemerkt man, ob es existiert oder nicht.

Nach einer längeren Rechnung, die mit negativem Resultat endet, fragt man sich, ob man ungeschickt vorgegangen war. Wie konnte uns das nur passieren? Der Grund liegt in einem entsetzlichen Versäumnis, dessen wir uns schuldig gemacht haben. Wir hatten ein Ausgangs-Objekt akzeptiert, ohne über dessen Bedeutung nachzudenken. Das Malen hatten wir vergessen! Bild 3-4 zeigt, daß es sich um das Kraftfeld einer Beschleunigungsanlage handelt. Es gibt solche Kräfte (z.B. im Inneren einer Spule, während das Magnetfeld zunimmt).

Bild 3-4: Ein Kraftfeld, zu welchem kein Potential existiert

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An jeder Stelle des in Bild 3-4 skizzierten Raumbereiches kann man eine Masse an einen (beliebig kurzen) Faden hängen und zusehen, wie sie immer schneller kreist. Der Energiesatz (3.19) gilt nicht. Also darf es gar kein Potential geben. Das Beispiel gibt uns eine erste — aber sehr gute — Vorstellung davon, unter welchen Umständen ein Potential existiert. Genau dann, wenn das Kraftfeld keine „Ringelrum-Anteile“ enthält, hat es ein Potential. Im Kapitel 8 wird das gezeigt.

Effektives P o ten tia l

Ein Teilchen bewegt sich in irgendeinem Zentralpotential V ( r ) . Beispiel C zeig­te, daß die im Energiesatz enthaltene Information nicht ausreicht. Andererseits wissen wir, daß die Bewegung in einer Ebene stattfindet (zeitliche Konstanz der Drehimpuls-Richtung). Eine einzige weitere Gleichung sollte also bereits alles festlegen. Wir kennen eine: die zeitliche Konstanz des Drehimpuls-Betrages L. Sie besagt, daß mv±r = L ist. Die Schwierigkeit bei der Deutung von Bild 3-3 bestand gerade darin, daß das Teilchen v -Anteile senkrecht zu r (1 zum Fahrstrahl) haben konnte. Jetzt können wir sie dadurch beseitigen, daß wir v± per v± = L /m r im Energiesatz eliminieren. Die restliche Abhängigkeit von vjl = f (auf dem Fahrstrahl) möchten wir dann gern (analog zu Bild 3-3) einer Figur entnehmen können. Das ist eine einfache Aufgabe. Wegen v = vy + v± und vj) J_ ist

v2 = v f \ + v i = + (3.26)

und dies überführt den Energiesatz (3.19) in

? " f , + £ S 5 + v w * E <3'27>H --------------- 1

- Kff(r) •

Der zweite Term in (3.27) heißt Z entrifugalbarriere. Er ist der transversale Anteil der kinetischen Energie. Er wird nun mit V (r) zum effektiven P o ten ­tia l zusammengefaßt. Es hängt wieder nur von r ab und ist bekannt. Man kann es malen. Die gewellten Linien in Bild 3-5 geben nun rar2/ 2 an. An den beiden E-Veff-Schmttpunkten wird die größte bzw. die kleinste Entfernung vom Zentrum erreicht. Links im Bild 3-5 fliegt ein Teilchen, das an einer Feder hängt, um den Ursprung. Dabei schwingt es auf dem Fahrstrahl. Auch eine nicht-kreisförmige Planetenbewegung ist eine Schwingung auf dem Fahrstrahl. Wie dazu (mit Winkel <p als „Zeit“) perfekt der harmonische Oszillator zu Pa­pier kommt, findet sich bei [.Nolting, 1 ]. Ein Komet allerdings kehrt nur bei E < 0 zur Sonne zurück. Zu 0 < E fehlt der äußere Umkehrpunkt, und der Komet entschwindet auf Nimmerwiedersehen.

Alle drei Erhaltungssätze gelten nur unter sehr einschränkenden Voraussetzun­gen. Jemand mag nun einwenden, bei der Energie sei es ja wohl anders, die könne nicht einfach ständig zunehmen. Wäre doch dann die Verschmutzung der Atmosphäre durch Kohlekraftwerke in einem allzu billigen Sinne unnötig (ganz

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Bild 3-5: Zwei typische effektive Potentiale und ihre Zentrifugalbarrieren

abgesehen vom „Erhalt der heimischen Kohle“ — für spätere Generationen nämlich). Erste Antwort: bitte keine Autoritätsgläubigkeit. Zweite Antwort: der mechanische Energiesatz gilt nicht immer. Wir wissen noch nicht, daß in ei­ner vollständigen mechanisch-elektromagnetischen Welt tatsächlich wieder ein Gesamtenergie-Satz hergeleitet werden kann — aus first principles. Es ist ähnlich bestellt um Reibungsvorgänge: bezieht man alle beteiligten Teilchen (der Luft oder der Unterlage) samt ihrer Wärmebewegung mit ein, dann gilt er wieder. Dritte Antwort: man könnte Energieerhaltung zu einem obersten Prinzip erheben. Wir haben aber gesehen, wie (allzu) schnell man dann ge­zwungen wird, eine vollständige Physik zu behandeln. Dies wäre kein guter Weg. Hierüber zu streiten ist natürlich legitim.

In diesem Kapitel fehle, so soll ein Kritiker bemängelt haben, die dritte New- tonsche Behauptung: „actio = reactio“. Nun, sie fehlt hier, weil sie (a) falsch und (b) unnötig ist. Die Kraft, welche ein Teilchen 2 auf Teilchen 1 ausübe, sei (so die Behauptung) entgegengesetzt gleich der Kraft von 1 auf 2 . So, so. Mitunter mag dies ja näherungsweise recht gut gelten. Insbesondere darf die Behauptung bei manchen Übungsaufgaben unterstellt werden, etwa bei zwei Massen, die mit einer idealen [!] Feder verbunden sind. Actio = reactio ist falsch (ausgenommen Statik), weil Kräfte ihre Zeit brauchen, um von einem zum anderen Teilchen zu gelangen.

Die Unnötigkeit von actio = reactio ist im Moment viel interessanter. Wir ha­ben in diesem Kapitel gelernt, daß es genügt, die Kraft am Ort des Teilchens zu jeder Zeit zu kennen (egal wie sie dorthin gelangt ist), wenn seine Zukunft vorherzusagen ist. Keine zusätzlichen Postulate bitte! Der alte Newton hatte keine andere Wahl, als sich auf der Kraftseite mit einem hölzernen Krückstock zu behelfen. Auch die ehrwürdige „Mechanik“ macht weidlich von ihm Ge­brauch, z.B. bei der Behandlung starrer Körper. Da wir aber nicht um 1700 sondern heute leben, werde es uns bitte mitgeteilt, wenn eine Näherung ins Spiel kommt. Nicht zu verachten wäre wohl auch eine Entschuldigung, daß die quantenmechanische Natur der chemischen Bindung leider erst im 5. Semester behandelt werde, oder daß erst im Kapitel 11 zu lesen stehe, wie elektromagne­

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tische Kräfte durch die Gegend fliegen.

Fazit: actio = reactio ist kein „Axiom“, sondern die Vorwegnahme einer hölzer­nen Näherung zum Verhalten von Kräften. Newtons Bewegungsgleichung benötigt diese Näherung nicht. Aber die rein mechanischen Erhaltungssätze beruhen auf ihr.

Auf den letzten Seiten wurde viel geredet. Es galt, einem hypothetischen Leser einige schlechte Gewohnheiten (beim Nachdenken über die Natur) von vornher­ein auszutreiben. Wenn Sie jedoch die Essenz dieses Kapitels in Formelsprache zusammenfassen (Sie sollten dies unbedingt tun!), dann dürfte dabei weniger als eine halbe DIN-A4-Seite zustande kommen. Bald genügt eine DIN-A7-Seite. Das ist typisch für Physik. Man hat hart zu arbeiten, mathematische Kalküle zu begreifen, zu üben. Aber danach — irgendwann — stellen sich die Zu­sammenhänge als ganz einfach dar. Wie konnte es nur passieren, daß derart Billiges „damals“ Schwierigkeiten bereitete. Auch den DIN-A7-Zettel werfen Sie schließlich weg: Newton für ein Teilchen kann man im Schlafe. Physik „lernt“ man nicht: Ein angehender Pianist lernt nicht Noten, sondern Spielen. Er st er es hätte — hier wie da — keinen Wert.

Am Ende der ersten beiden Kapitel haben wir uns bemüht, einem noch recht dürftigen Weltbild ein wenig FYeude abzugewinnen. Inzwischen hat sich un­sere Situation in dramatischer und beängstigender Weise verändert. Die Welt besteht aus Teilchen (irgendwelche kleinsten wird es schon geben). Zu gege­bener momentaner Anordnung dieser Teilchen dürfte jedes einzelne einer ganz bestimmten Kraft ausgesetzt sein, die alle anderen auf es ausüben — wie auch immer die noch fehlende Halb-Theorie der Kräfte aussehen mag. Sie mag gemäß (3.2) auch v-abhängige Kräfte Vorhersagen. Also sehen wir An­ordnung und Geschwindigkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt als gegeben an (natürlich benötigen wir letztere auch, damit Newton auf der linken Sei­te den nächsten Zeitschritt klar bekommt). Falls Kräfte einige Zeit brauchen, um bis zu einem bestimmten Teilchen zu gelangen (Licht!), dann ist eben auch noch Information aus der Vergangenheit erforderlich. Aber von nun an, ab die­sem bestimmten Zeitpunkt, ist die Zukunft eines jeden einzelnen Teilchens und somit aller Teilchen der Welt mathematisch perfekt festgelegt: (3.1)!

Demnach war es schon vor zwei Wochen restlos klar, daß heute ein Hagelkorn das Dachfenster durchschlägt, daß Ihnen die Milch anbrennt, daß Sie drei Rich­tige im Lotto haben und genau 17 Uhr 22 eine Beule in den linken Kotflügel fahren. Auch was morgen passieren wird, ist (dem „Laplaceschen Dämon“) ebenfalls bereits bekannt. Also ruhig zur Weinflasche greifen. Es ist ohnehin alles vorbestimmt (determiniert). In ähnlicher Weise — nur vornehmer — hat sich auch Laplace (in einem Essay 1814) geäußert. Man begreife, daß er recht hat.Dieses Weltbild wird heutzutage meist mit dem Hinweis auf die Quantentheorie

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abgetan, in welcher (3.1) nicht mehr gilt (nur noch näherungsweise bei großen Massen und schlechten Mikroskopen). Dieses alte Weltbild sei ja schließlich auch ganz absurd. Es gäbe in ihm keinen freien Willen und nichts zu ver­antworten. Wie schön, daß wir heute besser dran sind . . . . Nein, so einfach sollte man sich die Antwort nicht machen. Was, wenn nun (3.1) streng gültig geblieben wäre? Vielleicht würden wir stärker darüber nachdenken, ob der In­formationsmangel, in dem wir notgedrungen leben, in einem Zusammenhang mit „freiem Willen“ stehen könnte, was letzterer eigentlich ist und welcher Feh­ler zu obigem Fatalismus geführt hat. Ein anderes Gegenargument erwächst daraus, daß es auch in der Quantentheorie eine Bewegungsgleichung gibt (die Schrödinger-Gleichung), welche eindeutig die Zukunft festlegt. Sie gilt auch für viele Teilchen. Ein Schlupfloch gibt es dann nur noch beim sogenannten „quan­tenmechanischen Meßprozeß“, und ausgerechnet dieser ist heutzutage nicht in jeder Beziehung restlos verstanden (Betonung auf „restlos“). Was ist zu tun? Ehrlich bleiben; es tut weh; wir haben keine gute Antwort.

Gert Eilenberger „Komplexität”, Essay 1989 [Mannheimer Forum 89/90, Serie Piper, Bd. 1104] :

. Wir wissen nun, warum die Erscheinungen der Welt so kompliziert sein können, obwohl ihre Gesetze so einfach sind.Die Frage nach der Reichweite des Determinismus im Naturgeschehen hat damit für alle beob­achtbaren makroskopischen Vorgänge etwas an Brisanz verloren; als prinzipielle philosophische Frage Ist Freiheit möglich? bleibt sie aber brisant. Dies um so mehr, je weiter neurophysio- logische Forschung unsere Gehirnfunktionen als im Prinzip deterministisches Geschehen bis auf die molekulare Ebene hinab zurückverfolgen kann. Wir müssen ja davon ausgehen, daß alle geistig-seelischen Vorgänge, d.h. insbesondere das Bewußtsein, eine Entsprechung durch elektrophysiologische Vorgänge in Nervenzellen des Gehirns haben, ja, daß unser Bewußtsein die innere Wahrnehmung dieser elektrophysiologischen Vorgänge ist.Aber gerade hier ergibt die Unterscheidung von Vorhersagbarkeit und Determinismus eine neue Perspektive. Wenn nämlich wie noch am Anfang beide gleichgesetzt werden und aus einem ungefähr bekannten Ausgangszustand unserer Nervenzellen das Endresultat, nämlich unser Handeln, im wesentlichen folgen würde, so könnte man, zumindest im Prinzip, die Unmöglichkeit freier Willensentscheidung empirisch-physikalisch beweisen. Da wir aber jetzt wissen, daß typischerweise winzigste, unmeßbar kleine Unterschiede im Ausgangszustand lang­fristig zu völlig verschiedenen Endzuständen (d.h. Entscheidungen) führen können, vermag die Physik die Unmöglichkeit freien Willens empirisch nicht zu beweisen.Das Problem ist damit zwar nicht beseitigt, aber doch in die Ferne gerückt. . . .“

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4 Tensoren

Nach Ankunft beim Etappenziel Newton sollte uns eine Atempause gestattet sein. Wir blicken zurück und erkennen einige Weggabelungen, die in andere Gefilde hätten führen können. Die erste wurde bei (1.1) sichtbar [siehe Text unter (1.1)]. Der Vektorbegriff bedarf noch einer präzisen Fassung, und diese steht in untrennbarem Zusammenhang mit der Drehung von Koordinatenach­sen. Dieses Kapitel hat drei Abschnitte. Aber nur ein Gedanke durchzieht sie. Irgendein Natur Vorgang findet statt. Er kümmert sich nicht um Koordinaten­achsen. Diese sind Machwerk der Menschen. Die Achsen haben z.B. ungünstige Richtungen — wie findet man günstige?

Der erste Abschnitt behandelt das Umsteigen zu einem anderen (gedrehten) Ko­ordinatensystem generell und endet mit der genannten besseren Vektor-Defini­tion. Der zweite kümmert sich um die nächsthöhere Sorte „Vektor“ anhand von Beispielen, bei denen sich die FYage nach günstigen Achsen, nach H aup tach ­sen, besonders dringlich stellt. Der dritte beantwortet diese FYage.

4.1 Drehmatrix

Wir betrachten zwei Koordinatensysteme. Sie sind gegeneinander verdreht, ha­ben aber den gleichen Ursprung. Das „alte“ VONS hat die Basisvektoren ej,das „neue“ hat f j ( j = 1,2,3). Ein bestimmter Vektor a habe die Kompo­nenten aj im alten und die Komponenten a'- im neuen System. Bekanntlichkann man dies in der Form a = afej = a'- f j elegant zum Ausdruck brin­gen. Je nach Art der auszuführenden Rechnungen möchten wir jedoch die drei Komponenten auch in Klammern schreiben dürfen. Dabei ist es egal (je­denfalls bei rechtwinkliger Basis), ob dies zeilenweise oder vertikal geschieht. Die vertikale Version bietet im folgen­den gewisse optische Vorteile. Die ne­benstehende Notation ist sehr prak­tisch, aber auch ungemein gefährlich.Der kleine Strich an a soll lediglich daran erinnern, daß die gestrichenen Komponenten erscheinen sollen, sobald man a als Zahlentripel lesen möchte. Wir reden hier nur von einem Pfeil. Er ist aus Draht und steht draußen im Regen. Gedrehte Achsen! — nicht gedrehte Pfeile. Wir betonen dies so sehr, weil Mathematiker das blanke Gegenteil zu tun pflegen, wenn sie Abbildungen des Vektorraumes in sich betrachten. Hier aber haben wir das eingangs erklärte Anliegen zu verfolgen. In solchen Dingen soll man eisern sein.

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4.1 D r eh m a t r ix 57

Wir fragen, wie man zu gegebener Basis die neuen Komponenten erhält, und zwar möglichst direkt aus den alten:

a =j=( h~ei)ai + ( f j e 2)a>2 +

= I ( fj, el)al + ( fj, e2)a>2 +( /3 el)ßl + ( f s e2)o>2 +

(4-1)

— Drehmatrix D

Im letzten Schritt haben wir die D rehm atrix D definiert und erklärt, wie man eine Matrix auf einen Vektor anwendet: es entsteht ein neues Zahlentripel; die erste neue Komponente ist das Skalarprodukt aus dem ersten Zeilen-Vektor mit dem als Spalte geschriebenen Patienten und so weiter. Kurz: Matrix- Anwendung geschieht per „Zeile mal Spalte“. Sie erkennen natürlich sofort, daß somit eine Matrix ein linearer Operator ist, denn man kann sie (mit gleichem Resultat) auch auf die Vektoren in einer LK anwenden.

Multiplizieren Sie nun (4.1) in Gedanken mit einer Konstanten A. Man kann offenbar A dadurch im Inneren der Matrix unter bringen, daß man jedes der neun Matrixelemente mit A multipliziert. Damit haben wir guten Grund, auch allgemein die Multiplikation einer Matrix mit einer Zahl so zu definie­ren: X(Ajk) := (AAjk). Das Addieren zweier Matrizen erfolgt übrigens (analog zur Vektoraddition) elementweise: (A + B)jk •= (Ajk + Bjk).Was wir bis hierher über Koordinaten-Achsen-Drehung gelernt haben, läßt sich etwas eleganter aufschreiben:

/a' = Da , D =

hhh

(4.2)

Es stört jedoch, daß (4.2) viel vertikalen Platz verbraucht. Das ist natürlich vermeidbar: ^

o,j = Djkdk mit Djk — f j . (4*3)

Links in (4.3) wird die Matrix-auf-Vektor-Anwendung gleich noch einmal mit definiert. Es gibt gar nichts zu reden zu dieser Gleichung. Das ist gut. Rechts in (4.2) ist gemeint, daß man z.B. f x mit seinen drei Komponenten (die es bezüglich der e-Basis hat) als erste Zeile eintragen soll (diese Notation ist bei anderen Autoren nicht üblich und gefallt nur dem hiesigen ganz gut):

D-Zeilen = neue Basisvektoren, gesehen im alten System , D-Spalten = alte Basisvektoren, gesehen im neuen System . (4.4)

Daß auch der zweite Merkvers stimmt, zeigt (4.3) rechts.

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58 K a p it e l 4: T e n s o r e n

Die einfachsten Drehmatrizen D ergeben sich, wenn man um einen Winkel cp um eine der e-Achsen dreht. Wir hängen an D zwei Indizes. Der erste gibt die Drehachse an, der zweite den Drehwinkel. Natürlich empfiehlt sich wieder die Kurzschrift c := cos(<p) und s := sin(y>). Bei der i)-M atrix für Drehung um <p um die x-Achse ist vielleicht noch ein Blick auf Bild 4-1 nötig, um die f 2~ und die / 3-Komponenten abzulesen. Bei den anderen gelingt uns dies bereits im Kopf:

f l 0 0 \ ( c 0 - s \ ( c s 0 \Dx,<p = ( 0 c s I , = I 0 1 0 ) , Dz,<p = 1 — 5 c 0 1 . (4.5)

\ 0 - s c ) \ s 0 c ) \ 0 0 1 /

Zwei D rehungen h in tereinander

Gegeben seien ein neues ( f j ) und ein „ganz neues“ VONS ( Qj) und ein Vektora. Die Matrix, die die erste Drehung beschreibt, heiße D^l\ die andere (sie vermittelt vom / - zum <7 -System):

ej : a f j : a' <fj : a"a' = D ^ a a" = D ^ a f

rx a" = D W [ D W a ]oder: a'j = [ D ^ a k rx

a!j = Djkük mit Djk = , oder kurz : D = . (4.6)

Es existiert also eine Gesamt-Drehmatrix, die vom e-System gleich bis zum g - System vermittelt. Im letzten Schritt zu (4.6) durften wir die eckige Klammer weglassen, weil es egal ist, in welcher Reihenfolge man die vielen Produkte addiert. Es ergab sich wie von selber, daß man offenbar zwei Matrizen nicht nur addieren, sondern auch auf andere Weise miteinander verknüpfen kann. Wir haben die M atrix -M ultip lika tion erfunden: (A • B)jk := Aj^B/*. Daß sie stets A(BC) = (AB)C erfüllt, macht man sich leicht in Index-Sprache selber klar (jetzt sind tatsächlich Zettel und Bleistift zur Hand zu nehmen!), ebenso (anhand von einfachen Beispielen), daß es im allgemeinen auf die Reihenfolge ankommt: AB ^ BA. Wenn man schließlich obige Definition in Langschrift

Bild 4-1: Alte und neue Basisvektoren vor bzw. nach positiver Drehung um die z-Achse

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4.1 D r e h m a t r i x 59

übersetzt, dann ergibt sich das folgende Schema:

(4.7)

Die Regel „Zeile mal Spalte“ gilt also auch, wenn man Schachbretter miteinan­der multipliziert. Sehen wir uns in (4.6) noch einmal die Reihenfolge an, in der die beiden einzelnen Drehmatrizen erscheinen. Es muß tatsächlich die zweite Drehmatrix links stehen, damit sie auch als letzte wirkt und — wie es sein muß — den bereits operierten Patienten weiterbehandelt.

Wer mit Matrizen rechnet, begegnet noch zwei weiteren eigenwilligen (aber einfachen) Manipulationen. Wenn Sie kurz vor dem Matt das Schachbrett um­kippen, dann tun Sie dies bitte stets um den Winkel 7r und um die diagonale Achse von links oben nach rechts unten, um die H auptdiagonale. Sagen Sie Ihrem erstaunten Gegner, sie hätten nun die Matrix tran spon iert. Die neun Zahlen der Matrix erscheinen nach Transposition um die Hauptdiagonale ge­spiegelt: (AT)jk = A&j. Falls AT = A, nennt man A sym m etrisch. Falls AT = — A, heißt A an tisym m etrisch und kann auf der Hauptdiagonalen nur Nullen haben.Mit den drei Zahlen auf der Hauptdiagonalen hat die verbliebene zweite Mani­pulation zu tun, nämlich das Bilden der Spur einer Matrix:

Sp(A) := A n 4- A22 + Azz = Ajj . (4.8)

Wenn unter der Spur ein Matrix-Produkt steht, dann darf man vom einen Ende eine Matrix wegnehmen und am anderen Ende anfügen, ohne daß sich der Zahlenwert der Spur dabei ändert:

Sp(ABC) = AjtBtuCkj = CkjAjiBtk = Sp(CA2 ?) . (4.9)

Vermutlich meinen Sie, die Spur sei doch eine reichlich gekünstelte Definition. Jedoch schon in einer der nächsten Gleichungen kommt sie vor — und in der Physik gern an besonders prominenten Stellen.

Achse und W inkel

Verschiedene Fragen sind offen geblieben. Nicht jede Matrix ist eine Drehma­trix. Welche besonderen Eigenschaften zeichnen also letztere aus? Ein neues Koordinatensystem kann man auch dadurch erhalten, daß man eine bestimmte Achse durch den Ursprung legt und (um diese) um einen bestimmten Winkel dreht. Ein Einheitsvektor und ein Winkel, das sind 3 Zahlenangaben. Die 9 .D-Elemente sind also voneinander abhängig. D gegeben, wie errechnet man

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Achse und Winkel? Achse und Winkel gegeben, wie erhält man D l Auf alle diese FYagen antworten die nachfolgenden sieben Gleichungen. Wir schreiben sie zuerst auf und kommentieren hinterher.

Orthogonalitäts-Relationen : D D 1 = 1 (4.10)Rechts-System-Erhaltung : det(J9) = 1 (4.11)

Winkeltreue : D (a x b = Da x D b (4.12)

D -» Achse : Db = b (4.13)D -» Winkel : Sp (D) = 1 + 2 cos(y>) (4.14)

Sei / irgendein Einheitsvektor / _l _k \J_ auf e := b /6, dann : e • \ D f x f ) = sin((p) (4.15)

Achse (e) und Winkel (ip) —> D : D = cos (ip) 1 + [ 1 —cos(^j) ] e o e — sin(y>) e x (4.16)

D D t = 1 : Da die Vektoren / , die in D die Zeilen bilden, in DT als Spalten erscheinen, werden bei Matrix-Multiplikation lauter Skalarprodukte aus / ’s gebildet. Also entsteht rechts (Sjk) = 1. Es gilt auch DTD = 1 , denn die Spalten sind ja die e ’s (gesehen im neuen System). Da man zu einer gegebenen Matrix A die inverse Matrix durch AA~X = 1 definiert, können wir sagen, daß eine Drehmatrix die spezielle Eigenschaft D~l = DT habe. Wir überlegen uns jetzt, wie viele unabhängige einschränkende Bedingungen durch (4.10) an die neun J9-Elemente gestellt werden. Wir beginnen mit dem Vektor f 1. Er darf beliebig gewählt werden, wenn er danach normiert wird (1 Bedingung). f 2 muß senkrecht auf stehen und normiert sein (2 Bedingungen). / 3 liegt

nun fest (3 Bedingungen). 9 Elemente minus 6 Bedingungen gleich 3 wählbare Parameter, welche eine bestimmte Drehung festlegen: z.B. Achse und Winkel. Es paßt zusammen.

det(£>) = 1 : Die Determinante ist das Spatprodukt, siehe (1.38) und (1.47). Wenn DDT = 1 erfüllt ist, dann kann für die Determinante nur noch +1 oder —1 herauskommen. Eine — 1 ergibt sich, wenn man ein Stück dreht, dann die Richtung eines Basis-Vektors umkehrt (wobei ein Linkssystem entsteht) und (wenn man will) ein weiteres Stück dreht: D reh-Spiegelung. det(J9) = 1 ergänzt also DDT = 1 für den Fall, daß nicht gespiegelt werden soll und altes wie neues System Rechtssysteme sein sollen.

D ( a X b ) = D a X D b : Wenn man diese Gleichung als (a x b )' = a' x 6 ' liest, dann ist sie (dank geometrischer Kreuzprodukt-Definition) ei­ne Selbstverständlichkeit. Wenn wir sie aber komponentenweise aufschreiben, Dij£jkto>kh = SijmDjkdkDmibi, und nun (da beliebig) auf beiden Seiten ak und bi weglassen (Koeffizientenvergleich), dann entsteht eine interessante neue Beziehung, die die Elemente einer Drehmatrix stets erfüllen.

D b = b : Es gibt stets eine Achse derart, daß durch eine bestimmte Drehung um diese ein gegebenes neues VONS erreicht wird (in speziellen Fällen kann es

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4.1 D r eh m a t r ix 61

mehrere solche Achsen geben). Das ist anschaulich klar (läßt sich aber auch beweisen). Ein Vektor b in Achsenrichtung behält seine Komponenten: b' = b . Also ist D b = b in der Tat das richtige Kriterium. Es handelt sich um

drei Einzelgleichungen zur Bestimmung der drei b -Komponenten. Allerdings läßt sich dabei sicherlich nicht der Betrag von b bestimmen (man multipliziere D b = b mit A und erkenne, daß auch A b die Gleichung löst). Eine der drei Gleichungen liefert also keine neue Information (ist „abhängig“). Wir begreifen dies am besten anhand eines Beispiels:

1 / 1 1 _ / r \gegeben D = - 1 1 -x /2 1 , gesucht b =: I s . (4.17)

2 \ - V 2 ' v T o / \ t j

Zuerst prüfen wir anhand von (4.10), (4.11) nach, ob es sich bei D wirklich um eine Drehmatrix handelt. Im Kopf: es ist eine. Nun schreiben wir die drei Gleichungen D b = b auf, streichen ersatzlos die erste, lösen,

- r + s + x/21* = 0 / 1 \r — s - x/211 = 0 rx £ = 0 , r = s , b = r l 1 J (4.18)

- r + s - t = 0 \ 0 /

und wenden D zur Probe auf den erhaltenen b -Vektor an (stimmt es?!). Glei­chung D b = b ist unsere erste Begegnung mit einer Struktur, die in der Natur-Mathematik (insbesondere Quantenmechanik) eine sehr zentrale Rolle spielt, mit dem Eigenwert-Problem

H i ) = E i ) . (4.19)

Der Operator H ist gegeben (z.B. als Matrix), und gesucht werden speziel­le Objekte (Eigenvektoren), die bei Operation ihre Richtung behalten und somit nur einen Vorfaktor (Eigenwert) bekommen (der jedoch auch negativ sein darf). Man sucht also in der Regel beides, Eigenvektoren und zugehörige Eigenwerte. Wir können nun D b = b in vornehme Worte kleiden. Eine Dreh­matrix hat stets den Eigenwert -l-l, und der zu +1 gehörige Eigenvektor gibt die Drehachse an.Sp(£>) = 1 + 2 cos((p) : Der Beweis wird ganz einfach, wenn man zuvor begreift (Bild 4-2), daß sich jede Drehmatrix in der Form D = DqDz^Dq zu­sammensetzen läßt. Dabei ist Do die Matrix der Drehung, welche die 2 - Achse in b -Richtung überführt. Nun läßt sich (4.14) schlicht durch Ausrechnen der

Bild 4-2: Zur Zusammensetzung einer Drehmatrix D aus drei einfacheren Drehmatrizen. Die Drehung D hat hier Achse b = (1,1,4) und Winkel 7r/3 .

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Spur bestätigen:

Sp(D) = Sp(Z>o Dz^ D 0) = Sp(DZy(pD0D^) = Sp (Dz^ ) = 2 c + 1 qed.

(qed = q.e.d. = quod erat demonstrandum = was zu zeigen war).

e - ( D f X f ) = sin (tp) : Zur Bestimmung des Winkels reicht die Spurrela­tion nicht ganz aus, denn im Intervall 0 < <p < 27r hat die cos(<p)-Kurve zwei Schnittpunkte mit der Horizontalen bei (Sp(D) —1 ) / 2 (malen!). Aber mit einer Formel für sin((^) wird die Antwort eindeutig. (4.15) ist koordinatenunabhängig formuliert. Zum Beweis genügt somit ein Spezialfall:

^ 3 • (DZy(pei x ei) = e3 • [( c , - s , 0 ) x ( 1 , 0 , 0 )] = s = sin(^) qed.

D = c + ( l - c ) e o e - s e x : Hieroglyphen? Im letzten Term scheint jemand den zweiten Kreuzproduktpartner vergessen zu haben. Aber eine Matrix wartet ja tatsächlich darauf, daß ein Vektor daher kommt, aus dem sie einen neuen Vektor machen kann: e x wartet auf a, um e x a entstehen zu lassen. Wenn zu einem Operator erklärt ist, wie er auf jedes Element seines Raumes wirkt, dann ist er definiert. Meist kann man ihn daraufhin in jeder gewünschten Sprache explizit machen. Wenn wir e =: (tt, v, w) schreiben (mit u2 + v2 + w2 = 1 natürlich), dann ist ersichtlich

(v a 3 - w a 2\ / 0 —w v \ / ai \wa\ — ua3 1 = I w 0 — u 1 I a2 I . (4.20)

u a 2 - v a \ ) \ - v u 0 / \ a 3)

Also ist e x eine Matrix, nämlich die rechts stehende in obiger Gleichung.Der Ausdruck eoe , dyadisches Produkt genannt, soll per definitionem einen Vektor a in e(e • a) überführen. Also ist auch das dyadische Produkt eine Matrix: (e o e)jk := — allgemein: ( c o d )jk •= Cjdk . Wer auch ex in Indexsprache ausdrücken können möchte, der blicke voraus auf (4.37).Die Behauptung (4.16) ist noch zu beweisen oder herzuleiten. Sie ist durch­weg vektoriell formuliert. Zum Beweis genügt somit ein Spezialfall. Aber auch eine Herleitung ist möglich — und besser. Dabei folgen wir einer schönen Philosophie: Spezialfall behandeln; Resultat rein vektoriell schreiben; spezielle zu allgemeinen Vektoren werden lassen, e ist (zur Erinnerung) der Einheits­vektor in Achsenrichtung. Bei Drehung um die z-Achse ist e3 dieser Vektor. Die zugehörige Drehmatrix ist Dz^ . Mit Blick auf (4.5) können wir schrei­ben: Dz^ — —s~e3 x +c + (1 — c) e3 o ~e3. Die Verallgemeinerung auf beliebige Achsenrichtung ist nun trivial: e3 -» e. (4.16) stimmt.Natürlich kann das Resultat (4.16) mittels e = (u,v,w) vollständig als Matrix aufgeschrieben werden:

(c + ( l — c)u2 ( 1 — c)uv + sw ( 1 — c)uw — s v \(1 — c)uv — sw c + ( l — c)v2 (1 — c)vw + su I . (4.21) (1 - c)uw + sv (1 - c)vw - su c + (1 - c)w2 )

An diese Matrix lassen sich nun naheliegende Fragen richten. Ob sie bitte sehr DDt = 1 erfülle, Determinante 1 habe und Spur 1 + 2 cos(<p), und ob sie

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4 .1 D r eh m a t r ix 63

schließlich e als Eigenvektor habe, und zwar zu Eigenwert 1. Man bekommt leicht selbst heraus, daß alledem so ist.

Wie im täglichen Leben kommt mitunter etwas Gutes zur falschen Zeit. Hier kommt etwas zu früh. Die offensichtlich schönste Version der Drehmatrix zu gegebenen Achse und Winkel ist

(4.22)

Sobald der Leser mit der Reihe (5.17) der e-Funktion vertraut ist, sollte er sich an (4.22) noch einmal heranwagen (Übungsaufgabe?!). Potenzen der Matrix(e x ) sind dann zu bilden: x (e x )J = e o e - l usw. Resultat: (4.22)ist (4.16) im Abendkleid.

D = e~(pex .

Definition des Physiker-Vektors

Endlich sind wir in der Lage, der vorläufigen Festlegung (1 .1 ) den nötigen Schliff zu geben.

Zahlen-Tripel( <Zi , CZ2 , <Z3 )sind Vektoren.

{es physikalisch sinnvoll ist, sie unter Achsen-Drehung in a' = Da . *

übergehen zu lassen (und zu addieren ' ' und mit Zahl zu multiplizieren).Offenbar ist gegenüber (1 .1 ) die Forderung nach einem bestimmten Transforma­

tionsverhalten hinzugekommen. Und dafür ist das blumige Wort „Pfeile“ entfal­len. Sind wir nun glücklich? Vielleicht ist die folgende Formulierung besser. Wir lassen (1 .1 ) unverändert stehen und ergänzen nur: . . . und Pfeile sind Tripel mit der Eigenschaft a ' = Da. Hierüber ist nachzudenken. Wenn ein Tripel obige Transformations-Eigenschaft hat, dann verhält es sich wie das Komponenten­Tripei eines Pfeiles. Egal, ob es nun ursprünglich einem Pfeil entsprach oder nicht, wir können es als Pfeil denken. In der Thermodynamik wird gern das Tripel der Daten T (Temperatur), V (Volumen) und N (Teilchen-Anzahl in V) betrachtet, etwa für ein Gas. Mit (4.23) ist klar, daß diese Daten keinen Vektor bilden. Es macht keinen Sinn, sie als Pfeil zu denken. Das Gas bekommt nicht dadurch eine andere Temperatur, daß man den Kopf schief hält.

Bisher haben wir sittsam nur Rechtssysteme zugelassen. Wenn man jedochSpiegelungen hinzunimmt, dann wird eine Unterscheidung in „gute“ ( r , v, K ,E , . . . ) und „böse“ Vektoren (ü), L , £ , . . . ) möglich. Bei Anwendung der

f - i o o\Matrix S i = o l o bekommt die erste Komponente des Resultat-Vektors

V o o 1Jdas entgegengesetzte Vorzeichen: / 1 = —~e\. Ist f ein Ortsvektor, dann gibt

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r 1 = S\ r seine Komponenten in einem an der yz-Ebene gespiegelten System an. Wenn man jedoch das Spiegelbild einer Winkelgeschwindigkeit cj ansieht, dann hat es auch umgekehrten Drehsinn: uj' = — Siu). Wenn bei einem Vektor dieses Transformationsverhalten vorliegt (physikalisch sinnvoll ist), dann nennen wir ihn Pseudovektor. Die Tabelle

zeigt, wie man Drehspiegelungen zusammensetzen kann. Die einfachste Dreh­spiegelung ist So = S\DX>7r = —1 . Jedes Kreuzprodukt aus zwei normalenVektoren (wie z.B. der Drehimpuls L) ist ein Pseudovektor, denn r' x v' = (Sor) x (Sqv) = r x v = —So(r x v ) . Das Kreuzprodukt von einem Pseudo- mit einem normalen Vektor ist wieder ein normaler, vgl. (2.8). Es versteht sich, daß die beiden Seiten einer Gleichung nur beide normal oder beide „pseudo“ sein dürfen. Und weil die Lorentz-Kraft (3.2) ein normaler Vektor ist, mußes sich beim Magnetfeld B um einen Pseudovektor handeln. Wir werden mit solchen Feinheiten nichts weiter zu tun bekommen. Wer weiß, vielleicht führen Ihre Studien einmal bis in die Welt der Teilchen-Physik. Dort macht sich dann Spiegel-Symmetrie recht interessant.

Tensor—D efinition

Ein Tripel hat einen freien Index, eine Matrix hat zwei freie Indizes. Betrachten wir doch gleich allgemein Objekte mit n freien Indizes: Hjx Wir nennen H einen Tensor n-ter Stufe genau dann, wenn in Verallgemeinerung zu (4.23) das folgende Transfer mationsverhalten vor liegt:

Wie zähmt man Formeln, die wild aussehen? — indem man Spezialfälle an­sieht. Ein Tensor nullter Stufe hat keinen Index. Kein Index — kein D, also lautet (4.25) einfach H r = H. Tensoren nullter Stufe nennt man Skalare. Die Temperatur, der Luftdruck und die Ladung sind Skalare. Auch das Skalarpro­dukt zweier Vektoren ist ein Skalar (daher der Name). Daß a' • b f = a • b ist, ist klar dank geometrischer Definition. Dies per Rechnung zu bestätigen, ist jedoch eine unwiderstehliche kleine Übung:

a' b 1 = (Da)(D b ) = DjkdkDjibt = akD^Djibt — akSkibi = a b . (4.26)

Wir merken uns b •Aa = (A a ) • b = a • AT b als Nebenprodukt dieser Rech­nung.Ein Tensor erster Stufe hat einen Index. (4.25) lautet Hj = DjkHk, und das ist die Vektortransformation (4.3). Vektoren und Tensoren erster Stufe sind also dasselbe.Ein Tensor zweiter Stufe hat zwei Indizes. Er ist also eine Matrix mit speziellen Transformations-Eigenschaften. Einen besonderen Namen hat er nicht. Ab

Normaler Vektor : n' = Dn , n' — S in Pseudovektor : p' = Dp , p' = - S i p

(4.24)

■■■ jn — Dj1klDj2lC2 Djnk„Hk!k2... k„ (4.25)

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4 .2 B eispiele 65

zweiter Stufe sagt man einfach Tensor. (4.25) lautet dann

Hjij2 = DjlklDj2k2Hk1k2 = ^j ik iHk1k2^ >k2j2 > ^-h. H = DHDt . (4.27)

Die Erinnerung an Matrixmultiplikation hat die schöne, indexfreie, rechte Ver­sion ermöglicht.

Eine Matrix hat „Elemente“, ein Tensor hat „Komponenten“. Komponenten sind also Elemente mit besonderer (letztlich geometrischer) Bedeutung. Sie bilden sozusagen die Elite unter den Elementen.

4.2 Beispiele

Beispiele für Tensoren erster Stufe (Vektoren) fanden wir zwanglos im täglichenLeben ( r , v, ü;, L , £?, ...). Beispiele für Tensoren zweiter Stufe finden wir ebenso und ebenda. Sie sind lediglich weniger bekannt. Wir treffen eine enge Auswahl von vier Beispielen. Diesen Beispielen (und vielleicht überhaupt allen) ist etwas gemeinsam, nämlich ihre Ursache-Antwort-Struktur. Wir wollen diese Struktur vorweg formulieren.

Wenn zwei Vektoren u (Ursache) und a (Antwort) in einem linearen Zusam­menhang stehen,

a — H u + c , (4.28)

dann definiert dieser Zusammenhang einen Tensor zweiter Stufe, denn wegen

a' = Da =j= DH u + D~c = DHDTDu + D~c

(D H D t )u ' + c ' = H 'u ' + c' (4.29)

muß sich die Matrix H gemäß (4.27) transformieren. Das war ein wichtiger Zweizeiler (Buch zuklappen und noch einmal selber durchführen!). Der letzte Gedanke war, daß man sich den Ursachen-Vektor u ; beliebig vorgeben darf und daß darum H ' = D H D T gelten müsse. Durften wir denn beidseitig den Vektor u ' weglassen ? Ja, denn wenn eine Matrix — hier die Differenz (H1—D H D T)— bei Anwendung auf alle Vektoren den Nullvektor gibt, dann kann sie nur selbst aus lauter Nullen bestehen.

(4.28) ist der allgemeinst-mögliche lineare Zusammenhang zwischen a und u. Jede a-Komponente ist nämlich in (4.28) als allgemeine LK der w-Komponen- ten geschrieben. Allgemeiner, sofern linear, geht es nicht. Das ist eine wichtige Erkenntnis, weil man sie auf Funktionen verallgemeinern kann [wir kommen noch darauf zurück, wie man Vektoren zu Funktionen werden läßt: Abschnitt 12.3, Bild 12-4 und Gleichung (12.68)]. Den konstanten Vektor c haben wir in (4.28) nur angefügt, weil ihn das Wort „linear“ erlaubt. Er ist meist Null, jedenfalls bei den nachfolgenden Beispielen.Wenn u ein Ursache-Vektor ist (denken Sie an das elektrische Feld im Inneren eines dicken Drahtes — dem Dünnen ist alles dick) und a ein Antwort-Vektor (denken Sie an eine mittlere Geschwindigkeit der Elektronen im Draht) > dann

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ist der Tensor H eine die Antwort vermittelnde Matrix, die Antwort-Matrix oder response matrix (weil nun einmal Englisch die Weltsprache der Physiker ist). Üblicher ist der Ausdruck response function. H ist der Matrix-Spezialfall derselben.

Leitfahigkeits—Tensor

Der oben erwähnte dicke Draht besteht aus Atomkernen und Elektronen. Die Gleichgewichts-Positionen der Kerne bilden ein Gitter. Wir stellen uns dieses Gitter perfekt regelmäßig vor (was sich in der Realität allerdings nur sehr schwer verwirklichen läßt). Was Bild 4-2 zeigt, können wir mit bloßem Auge nicht

—vsehen. Statt dessen legen wir ein elektrisches Feld E an und staunen, daß die Elektronen im Mittel eine etwas andere Richtung bevorzugen. Das Medium ist anisotrop. Der Begriff isotrop hätte Gleichberechtigung aller Richtungen signalisiert.

Bild 4-2: Mittlere Geschwindigkeit v der Elektronen eines anisotropen Mediums

Sei e der Betrag der Elektron-Ladung, dann schreiben wir

v = H ( - e ) E (4.30)

auf und hoffen, daß (oder untersuchen experimentell, ob) dieser lineare Ansatz—v

eine gute Näherung darstellt (bei sehr starken E -Feldern wird er bestimmt falsch). In einem Volumen V des Drahtes möge es N frei bewegliche Elektronen geben. Wir multiplizieren nun obige Gleichung mit —eN/V. Auf der linken Seite entsteht dann die Bildung

(_ c)g 5 = • ß ) =: j =: Stromdichte . (4.31)v JV Zeit-Fläche \ v J J v '

Über das erste Gleichheitszeichen müssen wir nachdenken. Im Zähler des Bru­ches ist nämlich genau die Ladung gemeint, die in der im Nenner stehenden kurzen Zeit At durch eine kleine Fläche F fließt, welche ebenfalls im Nenner steht und senkrecht zu v orientiert sein soll. Stellen wir uns also in Gedanken mit einer Stoppuhr neben F auf und zählen Teilchen. In At legt ein Elektron den Weg vAt zurück. Alle Teilchen in einem Volumen FvAt wandern während At durch F. Das sind (N /V ) v M F Teilchen. Ihre Ladung ist das (-e)-fache dieser Anzahl. Nun teilen wir durch AtF und erhalten tatsächlich die linke Seite von (4.31).

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4 .2 B eispiele 67

Auf der rechten Seite von v = H (—e)E fassen wir (nach der genannten Mul­tiplikation) alle Konstanten mit H zu einem neuen Tensor He2N / V = : a zusammen und erhalten

7 = <7 E , (4.32)

d.h. S trom dichte gleich Leitfähigkeits-Tensor, angewandt auf elektrisches Feld. (4.32) ist ein lokaler Zusammenhang, näherungsweise gültig bei nicht zustarkem Feld E.

(4.32) ist eine phänomenologische Gleichung, d.h. eine, die mit einigem Warum- Verzicht behaftet ist: warum haben die Matrix-Elemente von a bei dem und dem Material die und die Werte? Und warum _ist der lineare Term wesent­lich und nicht sofort alle höheren Potenzen in E l Antworten sind möglich, erfordern aber komplizierte quanten-statistische Rechnungen. (4.32) gilt [bis auf 0 (£ '2)], wenn die Konzeption eines ortsunabhängigen Stromflusses zutrifft. Das Medium wird als hom ogen angesehen: gleiche Physik an jedem Raum­punkt des Mediums. Natürlich wird diese Annahme prompt falsch, wenn man mit Angström-Auflösung ( 1 Angström := 10- lo m) in das Material hinein­sieht. Konzeptionelle Schwierigkeiten sind also ein weiterer Makel, mit dem phänomenologische Gleichungen meist behaftet sind. So also ergeht es jedem, der vom Pfad der Tugend abweicht, die first principles zu umgehen sucht und damit aufhört, die Vorgänge mikroskopisch verstehen zu wollen.

Wenn das Material keine Vorzugs-Richtungen (Hauptachsen) hat, dann fließenseine Ladungen in E -Richtung. Ursache E und Antwort J sind dann parallel, und a ist proportional zur Einheitsmatrix. Wir können dann den elektrischen S trom (= Ladung pro Zeit) aus (4.32) einfach durch Multiplikation mit F erhalten:

' - [ F z ] - L E - l ■ <4'33»Dabei haben wir noch mit der Länge L eines Stückes Draht erweitert. Das Reziproke der eckigen Klammer heißt Widerstand R (des Stückes Draht), und LE heißt Spannung U (zwischen den um L entfernten Enden des Drahtstücks). a war ein materialspezifischer Proportionalitätsfaktor, aber R hängt darüber hinaus von den Abmessungen (L, F) des Materials ab. Es regt uns nicht weiter auf, wenn man sogar einem solchen Faktor einen Namen gibt. Es mag auch angehen, daß obige Ohmsche Regel (Ohm 1789-1854) recht häufig angewandt wird (möglichst bitte unter Verlesen des obigen Sündenregisters). Wem aber— nach alledem — noch die Bezeichnung „Ohmsches Gesetz“ über die Lippen kommt, der höre unverzüglich auf, Physik zu studieren.

A nisotropes Poten tia lm in im um

Ein Teilchen habe eine Gleichgewichtslage. Es ist z.B. an mehrere Federn an­gebunden. Bild 4-3 zeigt, daß in 2D mindestens zwei Federn erforderlich sind (in nD mindestens n Federn). Wenn man das Teilchen ein Stückchen aus dieser Gleichgewichtslage herauszieht, dann gibt es im allgemeinen besondere Richtun­gen, in denen dies am meisten oder am wenigsten Mühe kostet. Eine Situation

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68 K a p it e l 4: T e n so r e n

heißt anisotrop, wenn nicht jede Richtung gleichberechtigt ist. Wir legen den Ursprung in den Gleichgewichts-Punkt. Als Ursache betrachten wir eine Aus­lenkung r des Teilchens. Antwort ist die dort spürbare rücktreibende Kraft K. Wenn wir nicht zufällig eine Vorzugsrichtung (Hauptachse) treffen, dann sind K und r nicht parallel. Es ist also

K = - H r + 0 ( r2) . (4.34)

Die quadratischen Terme können wir (mit beliebiger gewünschter Genauigkeit) weglassen, wenn wir uns auf hinreichend kleine Auslenkungen beschränken. Fazit: die Verhältnisse in unmittelbarer Umgebung einer Gleichgewichtslage werden durch einen Tensor charakterisiert.

Bild 4-3: Zur Herstellung eines zweidimensionalen anisotropen Potentialminimums genügen zwei Federn

Da es Mühe macht, sich von der Gleichgewichts-Position zu entfernen (egal in welcher Richtung), assoziiert man leicht, daß am Ursprung ein Potential- Minimum vorliegt. Aber Vorsicht! Hat obige Kraft ein Potential? Wir kennen ein Verfahren, das Potential einer Kraft zu errechnen, nämlich jenes in (3.25). Hier bietet sich eine schöne Gelegenheit, es anzuwenden. Der Leser möge es selbst durchführen (beginnend mit — K\ = H\\x + H u y + H\3z = dxV , usw.). Wir notieren das Resultat. Genau dann, wenn H symmetrisch ist, hat obige Kraft ein Potential V:

K = - H r , H = H t rx V = \ t H r . (4.35)dt

Jede Matrix kann man gemäß H = (H + H T) /2 + (H - H T) /2 additiv aus einem symmetrischen und einem antisymmetrischen Anteil zusammensetzen. Der symmetrische Kraft-Anteil hat ein Potential, der antisymmetrische müßte also eine „Ringelrum-Kraft“ sein. Es ist tatsächlich so (siehe Kapitel 8 ). Zu speziell

/ 0 k 0 \fT = [ - « 0 0 ) rx K = - H r = « (-y , s, 0) (4.36)

\ 0 0 0 /

sollten Sie nun das Kraftfeld K unbedingt skizzieren. Wenn andererseits die Gleichgewichtslage nur durch Federn (rein mechanisch) zustande kommt, dann

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4 .2 B e is p ie l e 69

gilt Energieerhaltung. Also gibt es ein Potential. In diesem Falle muß folglich H symmetrisch sein.In welche Richtungen muß man denn nun auslenken (zu gegebenem symmetri­schen H ), damit die rücktreibende Kraft genau auf den Ursprung zeigt? Ant­wort: in Richtung der Hauptachsen, die im dritten Abschnitt bestimmt werden— nämlich als Eigenvektoren von H.

Winkelgeschwindigkeit als Matrix

Wenn ein starrer Körper um eine feste Achse gedreht wird, könnte man die Orte r seiner Massenpunkte als Ursache dafür ansehen, daß sie die Geschwin­digkeiten (2 .8 ) haben:

v = u j x r = U r , £jki u>k n = ^jl H ^

( 0 -ws u 2 \ / x \ u>3 0 - u i ) I y 1 . (4.37)

-UJ2 U)1 0 / \ z )

Diesmal ist die response matrix ein antisymmetrischer Tensor: QT = — Q.Wir sind unverhofft in der Lage, die ü;-Komponenten in einem gedrehten System auf zwei verschiedenen Wegen auszurechnen, nämlich mittels (4.2), ö5; = Du, oder mittels (4.27), Q' = DQDT. Wehe, es kommt nicht beide Male dasselbe heraus! Der folgende Einzeiler zeigt, daß es so ist:

u' x r' = Q!r' = DQr = D(uj x r) — (Du)) x (D r ) = (Duo) x r' . (4.38)

Hierbei wurde der (4.27)-Weg beschritten [und (4.37) und (4.12) verwendet]. Aus Vergleich von Anfang und Ende der Zeile folgt nun ü? = Du. Wenn man sich per S\QSf = Q' die ü;-Komponenten in einem an der yz-Ebene gespie­gelten System verschafft, dann ergibt sich neben umgekehrtem u i -Vorzeichen auch umgekehrter Drehsinn, wie es sich ja für einen Pseudovektor gehört. Sehr puristische Leute sagen übrigens, daß die Komponenten von Pseudovektoren grundsätzlich in antisymmetrische Tensoren gehören.Im Zusammenhang mit unserer zentralen Fragestellung ist (4.37) im übrigen ziemlich langweilig, denn zu einem antisymmetrischen Antwort-Tensor lassen sich die Komponenten der Vorzugsrichtung u direkt aus (4.37) ablesen.

Trägheit st ensor

Wir betrachten einen starren Körper mit nur einer Punktmasse m und mit fester Achse u durch den Ursprung. Diese eine Masse wird durch mehrere masselose Drähte ein Stückchen von der Achse weggehalten. In dem Moment, in dem Bild 4-4 fotografiert wurde, zeigt der Drehimpuls L in die skizzierte Richtung (klar?!).

—vWir sehen L als Antwort auf die Ursache ü5 an,

L = r x m(ü; x r ) = m ( r2u — r ( r u ) J =: I u (4.39)

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70 K a p it e l 4: T e n so r e n

Bild 4-4: Winkelgeschwindigkeit eines starren Körpers und Drehimpuls von einer seiner Massen

(4.40)

und entdecken dabei einen symmetrischen Tensor. Die Verallgemeinerung auf N Massen m a gelingt uns mühelos:

(4.41)

(4.42)

(4.42) heißt T rägheitstensor des betrachteten starren Körpers. Definiert ister durch L = iu;. Mit (4.42) rechnet man ihn nur aus. Große Achsen­abstände führen auf große entsprechende Diagonalelemente („Drehträgheit“). Die Komponenten von I hängen im allgemeinen von der momentanen Position des Körpers ab. Entsprechend ändert sich I mit der Zeit (auch Bild 4-4 zeigtes). Nach (3.14), d.h. dt L = r x K, gibt es folglich Drehmomente. Diese wer­den von den Achsenlagern aufgebracht, und das tut ihnen nicht gut. Der Körper ist nicht ausgewuchtet, und zwar auch dann nicht, wenn die Achse durch den Schwerpunkt geht. Apropos Schwerpunkt: sein Ortsvektor ist definiert durch

R1 N

:= m mita = l

N

M =a—1

(4.43)

Durch unsere „Draht-Kartoffel“ können wir Achsen lü in verschiedene Rich­tungen stecken und anlöten. Zu einer momentanen Position des Körpers sei I bekannt. Wir möchten gern ü5’s finden, derart, daß L || ü; wird. Wir verlangen nicht zu viel, denn mindestens das Gerüst von Bild 4-4 hat solche Hauptachsen: durch m und senkrecht dazu. Die Frage lautet:

L = I uj = const • lü (4.44)

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4 .3 H a u p t a c h s e n - T r a n s f o r m a t io n 71

Also suchen wir nach Eigenvektoren von I. Wenn wir einen finden und die Achse durch ihn legen, dann behält L die Richtung von ü;, ändert sich nicht mit der Zeit, und die Achsenlager bleiben gesund.

4.3 Hauptachsen-Transformation

Ein symmetrischer Tensor H sei gegeben. Er kann als Antwort-Matrix gedeu­tet werden, anzuwenden z.B. auf ein elektrisches Feld oder eine Auslenkung. Welche Vereinfachung jedes dieser Probleme in einem geeignet gedrehten Koor­dinatensystem erfährt, zeigt ein Blick auf die nachfolgende Behauptung (4.45). Wie man so ein geeignetes System findet, erzählt der anschließende Beweis oder (als Kurz-Antwort) (4.47).

B ehauptung: Zu H mit H = H T existiert mindestens eine Drehmatrix D derart, daß

/ Ai 0 0 \H' = DHD t = 0 A2 0 . (4.45)

\ 0 0 \ z )

Wenn (4.45) stimmt (und sich D stets finden läßt), dann liegen im neuen System angenehm einfache Verhältnisse vor. So entkoppeln z.B. die drei Gleichungen K = —H r in K[ = —Aiz', K'2 — —\ 2y' und K's = —Asz'. Lenkt man in x'~

—vRichtung aus, dann sind und K'z Null und es ist — K'Wr'. Die neuen Basis- Vektoren sind also die Vorzugsrichtungen oder Hauptachsen. Offenbar, so sagt(4.45), gibt es stets drei davon, und sie stehen aufeinander senkrecht. Ist (4.45) ein Leitfähigkeitstensor, dann ist Ai die Leitfähigkeit in / X-Richtung (usw.). Da sich alle a-Komponenten experimentell ermitteln lassen, kann man also auf höchst makroskopische Weise etwas über die mikroskopische Kristallstruktur erfahren.

Beweis: Wir führen ihn per Konstruktion von D (Konstruktions-Beweise sind die schönsten, weil direkt lehrreich). In (4.45) deuten wir die Multiplikation von H mit DT als Matrix-Anwendung auf die Spaltenvektoren von DT. Die Frage (4.45) lautet also

Ai 0 0 \0 A2 0 , (4.46)0 0 A 3 /

H f x H f 2 H f s

( f \ H f \ f \ H f 2 f \ H / 3

\ f s H h . . .

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72 K a p it e l 4: T e n so r e n

und wir sehen, daß sie genau dann zu bejahen ist, wenn die drei Gleichungen H' f i = Ai f i , H f 2 = A2 / 2 und H / 3 = A3 / 3 erfüllt sind, oder (mit anderen Worten) wenn das Eigenwertproblem

H f = \ f (4.47)

von drei aufeinander senkrechten normierten Eigenvektoren / gelöst wird. Das ist nun in der Tat der Fall, dennA der Betrag eines Lösungs-Vektors / wird durch (4.48) nicht festgelegt. Also kann / normiert werden.

B zwei zu verschiedenen Eigenwerten gehörige Lösungs-Vektoren sind auto­matisch orthogonal:

H f 1 = \ 1 f 1 , H f 2 = \ 2 f 2 rx 0 =j= f 2( H f l - X 1 f l )

( H T f 2) f x - Ax f 2 h i (A2 - Ai) f 2 h • (4 -48)

C die Eigenwerte A gewinnt man (vorweg) aus einer kubischen Gleichung, und folglich gibt es drei Eigenwerte. Um dies einzusehen, schreiben wir zunächst (4.47) etwas anders auf: (H — X • 1 ) / = 0 . Das ist ein hom ogenes Gleichungs- System (weil rechts eine Null steht. Stünde rechts ein bekannter Vektor, dann wäre es inhom ogen). Seine triviale Lösung / = 0 interessiert hier nicht. Seien a, b , c die Zeilen der Matrix (H - A • 1 ). Dann muß offenbar / die drei Gleichungen a • / = 0 , b • / = 0, c • / = 0 erfüllen. Das geht nur, wenn a , b , c in einer Ebene liegen (malen! / ^ 0 steht senkrecht auf dieser Ebene), d.h. wenn ihr Spatprodukt verschwindet, d.h. wenn die Determinante der Matrix H — X verschwindet, d.h. wenn

det (H - X • 1) =H n - X Hu H1S

H21 H22 — X H23H3I #32 #33 — ^

= -A 3 + . . . = 0 . (4.49)

Dies ist die genannte kubische Gleichung. Bild 4-5 zeigt, daß zwei A’s gleich sein können. Sogar alle drei können zusammenfallen. Man sagt dazu, sie seien e n ta r te t (2-fach bzw. 3-fach). Ganz rechts in Bild 4-5 sind zwei A’s kom plex geworden, d.h. sie enthalten die Kunst-Zahl i mit der Eigenschaft i-i = —1 (siehe Abschnitt 5.3). Daß derart Grausiges gerade nicht passiert, zeigt der folgende Punkt D.

D alle drei Eigenwerte A sind reell (enthalten kein i), denn

f * H f = A / * / = ( i f T / » ) / = ( H f ) * f = A * / * / a A = A* . (4.50)

„Das Grauen hat uns eingeholt“, mag nun der Leser sagen. Obige Zeile stellt sich jedoch alsbald als harmlos heraus. Wir lassen vorübergehend zu, daß in A sowie in allen /-Komponenten die Kunstzahl i vor kommt, etwa in der Form

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4 .3 H a u p t a c h s e n - T r a n s f o r m a t i o n 73

Bild 4-5: Die vier denkbaren Fälle bei der graphischen Lösung einer kubischen Gleichung

A = a + i&. Der Stern bedeutet, daß überall, wo i steht, dieses durch —i zu ersetzen ist. Man sagt, man habe das konjugiert Komplexe (Abkürzung c.c.) genommen. Das erste Gleichheitszeichen ist (4.47) nach Skalarprodukt- Bilden mit /* . Zuletzt haben wir durch / * • / geteilt, was wegen / ^ 0 erlaubt war. Das Resultat A = A* besagt a + ib = a - ib. Also muß 6 = 0 sein. A ist also „i-frei“, d.h. reell, und das wollten wir ja zeigen. Wir brauchten das i-Gespenst, um nach drei A’s suchen zu dürfen. Ergebnis: sie saßen alle drei daheim, wo es reell und warm ist und nicht spukt.

E im Falle von n-facher Entartung gibt es zu dem entsprechenden Eigenwert einen n-dimensionalen Unter raum von Eigenvektoren. In diesem Unter raum wähle man irgendeine orthonormierte Basis.

Die Behauptung E ist von großer Wichtigkeit für höhere Physiken. Es gibt einen idealen Weg, sie zu verstehen. Wir stellen uns vor, daß die if-Komponenten von einem Parameter £ abhängen. Zunächst liege die Situation von Bild 4-5 ganz links vor: drei verschiedene reelle Eigenwerte, drei zugehörige orthonormierte / ’s. Mit £ —> 0 möge nun der daneben skizzierte Fall eintreten. Die zwei / ’s, welche zu den beiden zusammenfallenden A’s gehören, stehen noch immer schön senkrecht aufeinander. Aber nun, bei £ = 0, ist auch eine LK dieser beiden ein Eigenvektor. Sie spannen eine Ebene auf. Vektoren in dieser Ebene bilden den genannten Unterraum. E ist nun verstanden.

Die Behauptung (4.45) ist nun bewiesen. Es bleibt die Neugier, wie wohl alle die gewonnenen Erkenntnisse und Bilder in konkreten üf-Beispielen funktionieren mögen. Dieses Vergnügen wollen wir dem Leser nicht wegnehmen. Aber beim Ringen mit Übungs-Aufgaben wird vielleicht ein kurzes Schema mit Hinweisen begrüßt, was im konkreten Falle jeweils zu bedenken ist und wie die Reise weitergeht — sozusagen ein

„Fahrplan“

1. Ist H = H t erfüllt? (Falls H komplex: ist H = H* := H*T?)2. Löse det (H — X • 1) = 0 (dabei wird klar, ob zwei oder drei

A’s zusammenfallen; Sortierung Ai < A2 < A3 oft sinnvoll

3. Probe: Ai + A2 + A3 = Sp(H) (Auch A1A2A3 = det(H) gilt)

4. Zu jedem Eigenwert A löse (H - X • 1) / = 0 (dabei kann

eine nicht verschw. /-Komponente frei gewählt werden)

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74 K a p it e l 4: T e n s o r e n

5. Probe auf Orthogonalität der drei Eigenvektoren(bei Entartung: orthogonal wählen!) (4-51)

6 . Normiere die Eigenvektoren; Rechtssystem? (Skizze!

gib ggf. einem / das entgegengesetzte Vorzeichen)7. Notiere das Resultat in der Form

/A i 0 0 \H' = 0 A2 0 , D = - f 2 - .

V ° 0 V 1 - / 3 - /

Bei manchen Problemstellungen interessieren nur die Eigenwerte, und dann ist man nach Punkt 3. schon fertig. Die Gleichung bei 3. folgt aus (4.9): Ai + A2 + A3 = Sp(DHDt ) = Sp(üTDT.D) = Sp(H). Die Determinantenbeziehung (als Probe weniger bequem) beruht auf det(AB) = det(A) det(JB) und det(D) = 1. Wer sie sich anschaulich erklären will, beginne damit, daß das Spatprodukt eine Koordinatensystem-unabhängige Zahl ist. Zu Punkt 6 . (zweite Hälfte) ist meist Anschauung der schnellste Weg (malen!); aber Sie können auch den dritten Basis-Vektor als Kreuzprodukt der beiden ersten erhalten oder das Vorzeichen des dritten aus (4.11) bestimmen. Oft geht nach Erhalt von D die Arbeit erst so richtig los: gesamtes Problem in das Hauptachsen-System übertragen, dort lösen und ggf. die Resultate in das Start-System zurücktransformieren.

M aßellipsoid

Die Vektorgleichung r H r = const beschreibt eine Fläche. Ein etwaiger anti­symmetrischer Anteil von H entfallt übrigens in dieser Gleichung automatisch. Ein Blick auf (4.35) zeigt, daß die Fläche aus Punkten gleichen Potentials be­steht: man kann sie als Aqui—P oten tia l—Fläche auffassen. Im Hauptachsen- System wird sie besonders einfach:

r ' H ' r ' = Ai x '2 + A2 y '2 + A3 z '2 = const . (4.52)

Wenn alle drei A’s positiv sind, handelt es sich um ein Ellipsoid. Die Hauptach­sen sind die Symmetrie-Geraden der Fläche. Wenn also z.B. mittels Computer die Fläche r H r = const räumlich grafisch dargestellt wird, dann kann man die Hauptachsen sehen. In 2D zu verschiedenen symmetrischen 2 * 2-Matrizen die zugehörigen Kurven (statt Flächen) auf den Bildschirm zu bringen, das macht Ihr Home Computer mit der linken Wand.

Eine Rast wollten wir einlegen und „nur“ ein wenig tiefer über das Vektor- Kalkül nachdenken. Dieses lange Kapitel ist dabei entstanden. Und die wun­derschöne Struktur des Eigenwertproblems ist dabei zum Vorschein gekommen. Jedoch, Hand aufs Herz, im wesentlichen hatten wir es nur mit Schemata von

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4 .3 H a u p t a c h s e n - T r a n s f o r m a t io n 75

Zahlen zu tun. Selbst bei scheinbar harmloser Materie finden sich die Schätze in der Tiefe. So ist es oft.

Unser mechani(sti)sches Weltbild hat sich nicht nennenswert verändert. Aber unser analytisches Repertoire ist gewachsen und damit unser Vertrauen in die Fähigkeit, das Einfache der Vorgänge sichtbar zu machen. Im übrigen findet die Natur die Struktur des Eigenwertproblems so schön, daß sie weitaus mehr davon Gebrauch macht als hier erkennbar wurde. Seit den zwanziger Jahren bemüht sich die Natur, uns beizubringen, daß zwischen Frage (Operator) und Antwort (Eigenwert) ein Unterschied zu machen ist. Im Kapitel 16 steht, wie weit ihr das gelungen ist.

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5 Funktionen

Funktionen sind das A und O der Naturwissenschaften. Die Physik ist ihre Heimat. Wir sollen freundlich, unbürokratisch und stets einfühlsam und an­schaulich mit ihnen umgehen. Sie sind schöne, weiche Kurven mit variierender Höhe f (x) (oder kurz / oder y) entlang einer x-Achse, auf der wir Spazierenge­hen und nach oben oder unten blicken. Ein mildes Lächeln sollte diese Worte nicht begleiten. Sie waren nämlich ernst gemeint. In aller Regel gilt, daß die Funktionen der Natur-Mathematik weich sind. An jener Funktionen-Bürokra- tie, wie sie mancherorts betrieben wird, besteht also kein Bedarf.Der Stoff dieses Kapitels ist überwiegend harmlos. Wir regeln zunächst Sprach­gebrauch und Umgangsformen und unterteilen dann in vier Abschnitte. Wir studieren elementare Umformungen (1. Abschnitt), äußern Wünsche, verfolgen diese am Beispiel der e-Funktion (2. Abschnitt), nennen Verfahrensweisen bei Reihen-Entwicklung (3. Abschnitt) und erkennen schließlich den Wert der so­genannten Störungsrechnung (4. Abschnitt) anhand zweier Beispiele aus der Mechanik.

Bild 5-1: Ein Funktionsverlauf mit Asymptotik und einigen pathologischen Stellen

Einige typische Vokabeln sind in Bild 5-1 erklärt. Einen Pol hat die Funktion f (x) an der Stelle x = a, wenn sie additiv (oder auch als Faktor) den Term const/(z — a) enthält. Mit A sym ptotik meint man das Verhalten der Funkti­on, wenn die Variable x (oder t oder ...) gegen +oo oder —oo marschiert (oo ist die Abkürzung für unendlich). Oft läßt sich als Asymptotik eine x-Potenz angeben. Aber wir wollen lieber frei bleiben und sagen dürfen, die Funktion / verhalte sich bei x —» oo wie die und die einfachere Funktion g. Gemeint ist dann, daß in f = g + Rest der Rest bei x -> oo gegenüber g immer kleiner

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5.1 S k a l a - Ä n d e r u n g e n 77

wird. S ättigung ist eine spezielle Asymptotik, nämlich das Anschmiegen an eine Horizontale. Die umgangssprachlichen Wörter „Sprung“ und „Knick“ sind schlicht etwas kürzer als „Unstetigkeit“ bzw. „unstetige Ableitung“. Kürzer ist besser. Lautes Protest-Geheul pflegt sich bei dem Wort „mehrdeutig“ zu erheben: in diesem Intervall handle es sich doch (so hört man dann) nicht um eine Funktion, sondern um eine „Relation“. Wirklich? Ihr Bürokraten! Es handelt sich doch nur um Wörter. Wörter sind freie Erfindungen der Menschen (diese, allerdings, sind eigenartige Subjekte). Die Funktion in Bild 5-1 habe zunächst den punktierten Verlauf. Sie hänge von einem Parameter so ab, daß mit dessen Veränderung die skizzierten Ausbuchtungen entstehen. Während dieser Veränderung werden wir doch nicht etwa den Namen des Objektes wech­seln! Wir sagen lieber entspannt, daß / vorübergehend mehrere Werte zu jedem x des Intervalls habe. Hat sie dies nicht, nennen wir sie einwertig.

• •5.1 Skala-Änderungen

In Bild 5-1 gibt es einzelne scheinbar pathologische Stellen x , an denen f (x) gar nicht „schön weich“ aussieht. / habe physikalische Bedeutung. Also ist es höchstwahrscheinlich sinnvoll, sich das Bild in Gedanken stark zu vergrößern (die Skala zu ändern). In der Umgebung dieser Stellen könnte dann f (x) z.B. folgendermaßen aussehen:

a ( x - a ) h x - b r------7 2. 7(x-a)2 + £2 ’ 2 n/( i -_6)5 + £2' ’ V iI C> +S ’ (x-d)2+e> ' (5.1)

am Pol am Sprung am Knick an Singularität

Natürlich muß man den Kurvenverlauf der Ausdrücke (5.1) sofort einmal skiz­zieren. a, ß , 7 , e sind Konstante, e ist winzig klein. Darum war also in Bild 5-1 nicht mehr erkennbar, daß in Wirklichkeit doch eine schöne, weiche Funktion vorlag. Unvermeidlich führt uns dies zu der Frage, ob denn nun immer Ab­rundungen hinzuzudenken sind, wenn reale physikalische Größen über Ort oder Zeit aufgetragen werden. Mit weichen Knien: Ja. Das Wort „immer“ ist et­was zu total. Im Sinne einer guten Regel dürfen wir es aber sagen: die Natur macht keine Sprünge (schon gar nicht „Quantensprünge“; dabei geht es nämlich hübsch weich zu über einer Zeitachse). Beim Anblick einer pathologischen Stelle einer physikalischen Funktion denken wir also grundsätzlich erst einmal darüber nach, auf welcher Skala welche Sorte Abrundung ins Spiel kommen dürfte (z.B. weil dann Elektronen nicht mehr als Punkte gesehen werden dürfen, oder weil dann die Abmessungen des Festkörpers eine Rolle spielen usw. usw.). Selbst wenn dies nicht gelingt, muß wenigstens dazu gesagt werden, wie die fragli­che Stelle physikalisch gemeint ist. Generell: um sie zu verstehen, muß man pathologische Probleme einbetten in physikalisch gesunde.Es steht auf einem anderen Blatt, daß man einige Funktionen, die pathologische Stellen haben, besonders gern benutzt (z.B. die Stufenfunktion, s. Abschnitt 6 .6 ). Sie ersparen Schreibarbeit. Man merkt sich, daß sie wie (5.1) gemeint sind. Es ist rentabel, sie in praxi zu verwenden. Und natürlich werden wir das tun.

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78 K a p it e l 5: F u n k t io n e n

Ein Kurven-Bild läßt sich spiegeln, verschieben, vergrößern und drehen. Der Kürven-Verlauf von f (x) erscheint bei der Funktion

f ( —x) an der y- Achse gespiegelt,—f{x) an der z-Achse gespiegelt ,

- f ( - x ) am Ursprung gespiegelt ,f ( x — a) um a nach rechts verschoben , (5.2)b + f (x) um b nach oben verschoben ,d - f (x) mit d-facher Vergrößerung der /-W erte ,

und bei f(cx) mit 1 /c-facher Vergrößerung der x-Abstände .

Um das Kurvenbild von f (x) um den Winkel ip zu drehen, denken wir an die Drehmatrix um die z-Achse und schreiben

( x \ = ( cos{ifi) - s in ( ^ ) \ / r \\ g ) Vsin(^) c°s(<P)J V / M /

Dabei ist g := g(x) die Funktion mit dem gedrehten Kurvenbild. Um sie als Funktion von x zu erhalten, ist die erste Zeile nach r aufzulösen und in die zweite einzusetzen. Es versteht sich, daß man obige Skala-Änderungen miteinander kombinieren kann. Der Leser skizziere den Verlauf von f (x) = 1/(1 + x 2) und sodann jenen von g(x) = b + d • f(c[x — a])!

Wenn f ( —x) = f ( x ), dann heißt / gerade (man kann auch „symmetrisch“ sagen). Wenn f { - x ) = - f ( x ), dann heißt / ungerade. Jede Funktion läßt sich eindeutig aus einer geraden und einer ungeraden Funktion zusammensetzen: f ( x ) = | [ / ( x) + f ( ~ x )] + ~ f (~x)]• ^tets gilt übrigens:

gerade x ungerade = ungerade Funktion , ( *ungerade x ungerade = gerade Funktion . '

Beispiel für eine sehr schöne, gerade Funktion ist \ / ( \ + x 2) . Sie heißt L oren tz- Kurve. b + d/(l + c2( x - a ) 2) ist eine verschobene und skalierte Lorentz-Kurve. Beispiel für eine wichtige ungerade Funktion ist der Tangens (Bild 5-2):

, , sin(x) taa(x) := • (5-4)

Er ist ungerade, periodisch und hat Pol-Singularitäten bei ungeraden Vielfa­chen von 7r/ 2 und diene uns auch als Beispiel für eine einfache Funktion mit pathologischen Stellen.

Physikalische m athem atische Funktion

Nor malerweise hat eine Funktion eine Dimension und hängt von einer dimen­sionsbehafteten Variablen ab: z(t) . Aber keineswegs muß z eine Länge sein und t keine Zeit. Stets ist der Übergang zu dimensionsloser Funktion / von dimensionsloser Variabler r möglich. Man zieht dazu einfach eine Konstante

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5.1 S k a l a - Ä n d e r u n g e n 79

Bild 5-2: Der Tangens hat viele Pole

zo mit z-Dimension nach vorn und verfährt mit der Variablen t ebenso (t = to mal neue Variable) :

z(t) =: z0 f ( r ) (5.5)

Speziell zum Freien Fall, z = h - gt2/2, wird wohl h eine gescheite konstante Länge sein (die einzige, die das Problem hat). Bereits der Blick auf das Zwi­schenresultat z(t) = h [ l — gt2/(2h)] zeigt, welche Zeitkonstante to geeignet ist: to •= y /h /g ' . Aber auch über „g = Länge/Zeit2 und h = Länge“ wird man auf to geführt. Aus (5.5) wird jedenfalls z(t) = hf ( t / to) mit f ( r) = 1 - r 2 / 2 .Bis hierher erscheint der Übergang als harmlos und unnötig, gäbe es da nicht auch die Möglichkeit, dem gesamten Problem noch vor seiner Lösung eine di­mensionslose Gestalt zu geben. Zum Freien Fall haben wir also (3.5) herzu­nehmen und die Operatoridentität dt = (l/to)dT zu bedienen. Sie gilt, weil dt f (r) = (dTf ) dtr = (l/to)drf für alle / zutrifft. Das gibt

z = - g , z(0 ) = h , i ( 0 ) = 0 ->

und sieht rechts hübsch einfach aus.

/ " = -1 , / ( o) = 1 , /'(O) = 0 (5.6)

Vor allem bei schwierigeren Problemen geht man gern vorweg zur dimensions­losen Version über. Man greift dann nach jedem Strohhalm, der eine Ver­einfachung bringt. Bei einfachen Problemen sticht hingegen der Vorteil, mit ständigen Dimensionsproben die Rechnung kontrollieren zu können.

Umkehrfunktion

Wenn man den Verlauf einer Funktion f (x) an der Diagonalen y = x spie­gelt, dann entsteht die Kurve der Umkehrfunktion f u(x) (es gibt leider keine Standard-Bezeichnung). Da bei der Spiegelung z-Achse und y-Achse mitein­ander vertauscht werden, gilt zu y = f (x) auch x = f u(y), und wir erhalten die Identitäten

/ (/u (y)) = y , /u (/(*)) = x , / ' (x) = ■ (5-7)

Die dritte Gleichung in (5.7) folgt aus der zweiten durch Ableiten nach x. Mit ihr erhält man die Ableitung der Umkehrfunktion aus der Kenntnis der Ableitung der ursprünglichen Funktion. Dazu sehen wir uns drei Beispiele an [das erste, um (5.7) zu testen].

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A / = x 1 (malen und an der Diagonalen spiegeln!), f u{x) = i-v/51 • Die Umkehrfunktion ist mehrdeutig. Sie hat einen oberen und einen unteren Ast (mit yfx meint man automatisch den oberen). Wegen f — 2x liefert (5.7) fu(x ) = V(2/u(z)) = ± l / ( 2 x/F). Es stimmt — und zwar für beide Äste.

B / = tan(z), / u = arctan(z) (Arcus Tangens von x). Wenn man Bild 5-2 um die Diagonale gespiegelt skizziert, wird klar, daß / u unendlich viele Äste hat. Jener, dessen Werte zwischen - 7r/ 2 und 7r/ 2 liegen, heißt H aup tw ert des Arcus Tangens. Wegen dxtdxi(x) = 1 + ta n 2 (x) sagt (5.7), daß

arctan(2) = i w ( L t ^ ) ) = r h • (5-8)

Also ist arctan(x) die Stammfunktion der Lorentz-Kurve. Das sollte man sich merken. In der amerikanischen Literatur wird für arctan (z) die Bezeichung tan- 1 (x) gepflegt. Das ist sehr ungeschickt, denn „hoch minus eins“ brauchen wir für l/tan(x).

C / = sin(x), / u = arcsin(x) (malen!). Auch hier sagt man Hauptwert zu dem Kurvenstück zwischen —7r/ 2 und 7r / 2 . Er hat nur im Intervall —l ^ x ^ l Werte, und bei x —> ± 1 wird die Ableitung oo. Mal sehen, ob das (5.7) auch so empfindet:

dx axcsin(x) co s^ cs iu ^ )) ^ /l - sin2( ...) ' \ / l - x 2' ' 5'9^

Manchmal ist es nicht möglich, die Zuordnung von y-Werten zu x-Werten in der Form y = f (x) aufzuschreiben. Dann greift man auf die Parameterdarstellung f = 2/(i), x = x(t), d.h. auf die Kurvendarstellung f (£) = (z(£), y(t)) von Kapitel 2 zurück. Die Ableitung von / nach x ist der Anstieg, d.h. zweite durch erste Geschwindigkeits-Komponente:

w - § - 5 1 • (»«)Hätten wir auch gleich den rechtsstehenden Ausdruck aufschreiben, also sozu­sagen dy/dx mit dt erweitern dürfen? Ja !! — nicht nur weil sich dabei das richtige Resultat ergibt, sondern weil man dabei durchaus richtig denkt.

Im Laufe der Zeit lernt man mehr und mehr spezielle Funktionen kennen. Wir wollen darauf vorbereitet sein, ein Wahrnehmungs-Raster haben. Wann im­mer uns eine neue Funktion unter die Nase kommt (oder wir selbst eine in die Welt setzen), dann stellen wir einige Anforderungen (wie Wertungsrichter

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5 .2 D ie e —F u n k t i o n 81

beim Eiskunstlauf). Für die Funktion soll ein Bedarf vorhanden sein, etwa ein Problem, das durch sie gelöst wird. Es soll eine präzise, aber auch praktische Definition geben. Wir wollen ihr Kurvenbild qualitativ skizzieren können. Es soll eine (oder mehrere) Differentialgleichung(en), Dgl(n), geben, die sie löst. Wir wollen im Bilde sein über ihre Ableitung, Stammfunktion, Umkehrfunktion und über ihr asymptotisches Verhalten weit rechts und links. Ein paar sonstige Beziehungen (functional relations) sollte es geben und auch Zusammenhänge mit anderen verwandten Funktionen. Es muß ein Verfahren geben, ihre Funkti­onswerte wirklich zu errechnen. Schließlich wollen wir ihre Reihe (n) zu Gesicht bekommen.

Dieser Forderungs-Katalog ist keineswegs frei erfunden. Es gibt da ein hoch­karätiges Nachschlagewerk, [Abramovitz/Stegun] „Pocketbook of Mathematical Functions“, und unser Katalog besteht im wesentlichen aus den dortigen Ab­schnitts-Überschriften. Wie dieser Wunschzettel gemeint ist, sehen wir uns vorweg an einem Billig-Beispiel an:

NameBezeichnung

BedarfDefinition

Bild

Dgl Ableitung

Stammfunktion Umkehrfunktion

Asymptotik functional relations

Verwandte Funktionen Werte-Berechnung

Reihe

Sinussin(x) =: sID harmonischer OszillatorHöhe =: Rsin(<p) (am Kreis mit Radius R)

sn = - s (s. a. Bedarf) s' = c ( c := cos(x) )—carcsin(x) (s. (5.9)) periodisch (Periode 2n) und ungerade sin(a + ß) = .. . (s. (1.34)) c = sin(x + 7r/2) , tan(x) = s/c— ? — mittels Reihe !

s = x + . (s. Abschnitt 5.3)

5.2 Die e-Funktion

Bezeichnung exp(x) (vorläufig)

B edarf

A In einer Bakterien-Kultur sei die zeitliche Zunahme proportional zur Anzahl N(t) der Bakterien: dtN = aN, N (0) = Nq. Wir gehen mittels N(t) = N0f(at)

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zur mathematischen Version des Problems über und erhalten /'(x ) = f{x), /(0) = 1 . So ähnlich verhält sich übrigens das Geld auf der Bank.

B Ein um a ausgelenkter (und zu t = 0 losgelassener) harmonischer Oszilla­tor sei einer sehr starken v-proportionalen Reibungskraft —Rv ausgesetzt (in Sirup). In der Bewegungsgleichung ist dann der "-Term unwichtig gegenüber den beiden anderen:

m\i = - n i - K V t V ” ~ l t V , y = , a f ( = £ ) rv / '(* ) = /(* ) (5.11) 2/(0 ) = a 2/(0 ) = a \ R J / ( 0 ) = 1 .

C Ein Kahn wird angeschoben und bei Startgeschwindigkeit v(0) = vq los­gelassen. Zu v-proportionaler Reibung ist somit mv = — Rv zu v(0) = vq zu lösen.

D Der Luftdruck p(z) nimmt nach oben ab. Wir denken uns eine vertikale Luftsäule mit Querschnitt F und in dieser eine dünne horizontale Schicht von Höhe 2 bis z+dz. Es gebe nur eine Sorte Teilchen (Masse m) in der Luft. Druck ist Kraft pro Fläche. Die Luftschicht bewegt sich nicht, also ist nach Newton, (3.1), die Summe aller Kräfte Null:

F p ( z ) - F p ( z + d z ) - ( d N m ) g = 0 , „pV « N k T “ , d.h.dN vF

p • (Fdz) = dN kT rx —Fp'iz) = - r - mg = — mgdz kT

rv p'M = -^TP(z) , P(0) =Po • (5.12)

Dabei haben wir Höhenunabhängigkeit der Temperatur T unterstellt sowie einen landläufig bekannten p-V -Zusammenhang (k ist eine Konstante, welche T in Energie umrechnet, die Boltzmannkonstante). Diese p^-Formel ist manch­mal eine ganz gute Näherung. Strenggenommen ist sie jedoch stets falsch (sie widerspricht nämlich dem sogenannten Pauli-Prinzip der Quantentheorie, und diese wiederum ist richtig, siehe auch Ende von Abschnitt 14.3).

D efinition

exp(x) := die Lösung von f ' (x) = f ( x ) , /(0) = 1 (5.13)

Bild

Allein aufgrund von (5.13) können wir bereits die exp-Funktion malen. (5.13) besagt Anstieg = Höhe. Also können wir an einer beliebigen Stelle der xy- Ebene ein Strichlein mit dem richtigen Anstieg anbringen: je höher, um so steiler (Bild 5-3). Die ganze Ebene sei mit diesen Strichen angefüllt. Nun beginnen wir bei x = 0 und / = 1 und folgen diesen Wegweisern. Wenn Sie dies tun (oder es den Computer tun lassen), dann erhalten Sie exp(l) « 2.72.

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5.2 D ie e —F u n k t i o n 83

Bild 5-3: Zur graphischen Konstruktion der Exponentialfunktion aus ihrer Differentialgleichung

Bei negativen x wird die Funktion nie Null (denn wäre sie es an einer Stelle, dann wäre dort auch / ' = 0, woraus / = 0 folgen würde: Widerspruch!).

functional relation

Es ist jetzt vorteilhaft, den Katalog vom Ende des vorigen Abschnitts ein wenig umzustellen. Wir wählen auf der x-Achse eine feste Stelle y aus und definieren eine neue Funktion: g(x) := f ( x + y)/ f (y)- Sie enthält y nur als Parameter. Nun gilt offenbar ^(0) = 1 und g'(x) = f ' (x + y)/}{y), und mittels (5.13) folgt g'(x) = f ( x + y)/ f {y) = g{x). Donnerwetter! Auch g(x) erfüllt also die exp-Definition: g ist / . exp(x) hat somit die folgende angenehme Eigenschaft:

ist. Daß (5.15) auch für negative x gilt, folgt aus (5.14)) zu speziell y = - x : exp(-x) = l/exp(x). Ab sofort dürfen wir statt „exp von x “ auch „e hoch x u sagen.

exp(x + y) = exp(x) exp(y) .

Unter Mehrfach-Verwendung von (5.14),

(5.14)

sieht man ein, daß

exp(x) = ex mit e := exp(l) (5.15)

A bleitung dx ex = ex

Stam m funktion ex(schöner geht’s nicht) (5.16)

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Differentialgleichung

In (5.13) steht die einfachste Dgl, die die e-Funktion erfüllt. Aber wir können leicht auch andere Dgln aufstellen: (ex)" = ex , (e~x)n = e~x . Man beachte die Ähnlichkeit mit cn = —c und s” = —s. Zur Lösung der Bewegungsgleichung x = lü2x (Schwingungs-Gleichung mit „falschem“ Vorzeichen) empfiehlt sich also der Ansatz Aeut + Be~ut.

Reihe

Das, was Reihe heißt, erfindet man zwangsläufig selber, wenn man versucht, (5.13) mit „falschen“ Ansätzen zu lösen. Setzt man I+C1X + C2X2 in (5.13) ein, dann entsteht

7 2 Cl + 2c2X = 1 + C\X + C2X .Geht nicht! Warum nicht? Damit auch links ein x 2 erscheint, wird in / ein x 3 gebraucht. Nun haben wir aber rechts ein x 3 zuviel usw. usw. Das bringt uns auf die Idee,

f ( x ) = Y l Cnxnn =0

in (5.13) einzusetzen. Dann ergibt sich cq = 1 und die Rekursions-Formel Cn = Cn-i/n (n = 1,2,3, ...). Aus dieser gewinnen wir Ci = 1, c2 = 1 / 2 , C3 = 1/(2 • 3), ... rx Cn = 1/n! (n! := 1 • 2 • . . . • n; 0! := 1). Es ging, und wir sind fertig:

00 1eX = £ ^ ” - (5-17)

n=0

(5.17) folgt aus (5.13). Und (5.13) folgt aus (5.17). Wer Lust hat, kann also ab sofort (5.17) als Definition der e-Funktion ansehen.

Werte

(5.17) versetzt uns in die Lage, ex per Rechnung zu erhalten. Wir beginnen mit

e : = e 1 = l + l + + 2?3 + 2^4 + 23T5 + ■ • •

Die Faktoren, die von Term zu Term im Nenner hinzukommen, sind bald größer als 10. Der bis dahin erreichte Wert der Summe ändert sich also danach nur noch in höherer und höherer Kommastelle. Also kommt ein endlicher Zahlenwert heraus: e « 2,72. Man sagt, die Reihe konvergiert. Zu Konvergenz-Kriterien gibt es einige Mathematik. Hier jedoch, quer durch dieses Buch, möge das gesunde Gefühl des Lesers im Vordergrund stehen (im konkreten Fall bereitet diese Frage meist keine Probleme). Die Reihe (5.17) konvergiert übrigens sehr gut, nämlich für beliebig große Werte von x. Sei a eine natürliche Zahl (beliebig groß: a = 10 oder a = 1297), dann zeigt die Abschätzung

ea = l + a + ||- + . . . + (10^)1 [ 1 + IÖhT + (10a+l)(10a+2) + • • • ] ’ £5 Jgj

[ 1 + 10a+l + .. • ] < 1 + -jjj + Y5Ö+ . . . = 1.111... ,

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5.2 D ie e —F u n k t i o n 8 5

daß zwar die Reihe eine sehr große Zahl geben kann, aber eben nichts Diver­gentes. Diese Zahl ist ea, denn wenn konvergent, läßt die Herleitung von (5.17) keine andere Wahl.

A sym ptotik

ex wird bei wachsendem x rasch größer. Gibt es eine Potenz n derart, daß ex stets unterhalb xn bleibt? Nein, denn schon der (n + l)-te Term in (5.17) wird schließlich größer (und alle anderen sind positiv). Es ist also

QXlim — = oo rv lim x n e~x = 0 . (5.19)x—too xn x-+oo

Fazit: e~x „erschlägt“ jede Potenz.

Es gibt eine eigenwillige Beziehung, welche die e-Funktion selbst als das Resul­tat einer Asymptotik ausweist:

ex = lim • (5.20)N->oo \ N J V '

Wie mag man darauf kommen? Der Computer kommt darauf, wenn man ihm unsere Definition (5.13) vorwirft, auf daß er eta-Schritt für efo-Schritt / erhalte, und zwar an einer bestimmten endlichen Stelle x. Wie schon zu (3.3) (bei Newton) erklärt, hat er als erstes f{dx) = /(0) + dx f ( 0) = 1 + dx zu bilden, dann f (2dx) = f{dx) + dx f (dx) = ( 1 + dx)2 und so weiter:

f ( N d x =: x) = (1 + dx)N = ( i + Qe(l- > (5.21)

denn je kleiner ihm dx = x / N vorgegeben wird, um so genauer macht er es, der Kasten. Manchmal (beim Hintereinanderausführen infinitesimaler Transforma­tionen) wird direkt (5.20) benötigt. Aber als Definition sitzt (5.13) näher an der Physik.

U m kehr funkt ion

Die Umkehrfunktion / u zu / = ex nennt man Logarithm us: / u = ln(x). Mitunter ist auch „natürlicher Logarithmus“ zu hören. Er ist in Bild 5-4 skizziert. Er hat wunderschöne Eigenschaften, die wir allesamt aufgrund von(5.7) direkt verstehen können:

etaW = * , l n ( e - ) = x l ^ M * ) = p ^ = iln(xt/) = ln(elnM +ln(!/*) = ln(x) + ln(y)

ln(*°) = ln(eoln(l)) = aln(a:) (522)

dxax = dx exln<°> = ln(o) elln(o) = ax ln(a)

I n f — ) = - ln (a : ) , lim [a:ln(a:)] = 0 .\ X ) x->0

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Es handelt sich um eine bösartige (weil verwirrende) Unsitte, wenn noch von anderen Logarithmen („zur Basis . . . “) geredet wird. Man benötigt sie nie, diese „unnatürlichen“ Logarithmen. Wer das nicht glauben mag, befrage (5.22). Die Computer haben das übrigens schon begriffen und meinen mit „LOG“ den natürlichen.

Bild 5-4: Der Logarithmus hat bei seiner Nullstelle den Anstieg 1

V erw andte Funktionen

Wir zerlegen die e-Funktion in ihren geraden und ihren ungeraden Anteil

e* = \ ( f + e - ) + ± ( f - e“*) . (5.23)i --------------1 i --------------1

— ch(x) — sh(x)

Die beiden Anteile heißen hyperbolischer Kosinus bzw. Sinus (bitte bei­de skizzieren!!). Sie gehören zusammen mit z.B. dem hyperbolischen Tangens sh(x)/ch(x) zu den H yperbelfunktionen. Heute ist es leider üblich, sie mit sinh(x), cosh(x), tanh(x) zu bezeichnen. Warum? Unsere „alte“ Bezeichnung ist doch kürzer! Manchmal ist es Ehrensache, altmodisch zu sein. Die Eigen­schaften

ch2 (x) = 1 + sh2 (x), ch'(a;) = sh(x), sh^x) = ch(x) (5.24)

kann man leicht nachrechnen. Ihre Ähnlichkeit mit entsprechenden trigonome­trischen Beziehungen ist umwerfend. Der tiefere Grund hierfür enthüllt sich im nächsten Abschnitt.Die Umkehrfunktion von sh(x) heißt A rea sinus hyperbolicus (im folgenden kurz g) und läßt sich durch den Logarithmus ausdrücken:

x — sh(g(x)) = ^(e9 - e~9) , (e5 ) 2 - 2x(e9) - 1 = 0 , eg = x + y/l + x2'

rx g(x) = ln + \A + ®2') = : Arsh(z) . (5.25)

An dieser Stelle, so sei berichtet, pflegt ein vollbesetzter Hörsaal in ein ganz unakademisches Gelächter auszubrechen. Aber in einschlägigen älteren Büchern steht es wirklich so da. Endlich erahnen wir nun den tieferen Grund für die oben kritisierte Bezeichnungs-Änderung. Ob sich Götz von Berlichingen mit Arsinh begnügt hätte, bleibt dahingestellt.

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5 .3 P o t e n z r e i h e n 8 7

Unsere Wunschliste ist abgearbeitet. Wir sind zufrieden. Zum Stichwort „Be­darf11 hatten wir eingangs vier Probleme nur aufgeworfen, aber nicht gelöst. Dies zu tun, bereitet inzwischen keine Schwierigkeiten mehr:

A Bakterienwachstum B Extrem aperiodischer Fall C Geschwindigkeitsabnahme

bei v-Reibung D Barometrische Höhenformel

(ß := 1 /kT)

N(t) = N0eat y(t) = a e ~ ^ R^

v(t) = vo

p(z) = po e~m^ kT = po e~ßvW

(5.26)

5.3 Potenzreihen

Mitten im vorigen Abschnitt nahm etwas seinen Anfang, was sich für die Physik als außerordentlich wertvoll erwiesen hat. Wie da auf wenigen Zeilen die e- Reihe (5.17) zu Papier kam, sollte uns eigentlich ein wenig faszinieren. Es bringt uns auf die Idee, auch andere Funktionen könnten eine Potenzreihen- Darstellung haben. Wir versuchen zuerst, die Idee zu formulieren:

Von einer Funktion f (x) sei bekannt, daß sie durch be­stimmte Gleichungen eindeutig festgelegt ist. Wenn man den Ansatz f (x) = Y ^ - o 0 ^ *n diese Gleichungen einfüllt, dann , .ist zu erwarten, daß sich die Koeffizienten Cn der Reihe ' * 'bestimmen lassen. Wenn die Reihe (in einem x-Intervall) konvergiert, dann stellt sie dort — vermutlich — f (x) dar.

Die Sätze (5.27) lassen erahnen, wie die Potenzreihen in der Physik benötigt werden. Ein bestimmtes Problem lasse sich nicht lösen. Aber ein paar Terme der Reihe müßten sich doch — um des Himmels willen — wenigstens er­rechnen lassen. Oft sind diese sehr aufschlußreich und manchmal sogar völlig ausreichend.

Die Idee (5.27) ist nicht leer. Die Sorge, (5.27) könnte (5.17) als einziges Bei­spiel haben, läßt sich z.B. dadurch zerstreuen, daß wir unverzüglich ein zweites finden. Zu der Funktion / = 1/(1 - x) (Bild 5-5) soll nach einer Reihendar­stellung gesucht werden. Was tun? Es liegt nahe, für sie eine Dgl aufzustellen. Z.B. gilt (1 — x ) f = / , und zusammen mit /(0) = 1 liegt f (x) fest (der Le­ser verfolge diesen Weg weiter). Es geht jedoch viel einfacher. Wir nehmen (1 - x ) f = 1 (oder noch besser: / = 1 + x f ) und werfen den Reihenansatz hinein. Das ist eine Gleichung für / (sozusagen eine Dgl nullter Ordnung mit

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88 K a p it e l 5: F u n k t io n e n

null Anfangsbedingungen). Nach Rezept (5.27) erhalten wiroo oo oo , _

n —0 n = 0 n ~ 1

Also sind alle Koeffizienten 1, und wir erhalten die geom etrische R eihe

1 ooTJ - = E ^ •1 - X n=0

(5.28)

(5.28) stimmt nur, wenn die Reihe konvergiert. Zu x > 1 wachsen die Summan­den an, die Summe ist oo. Aber zu |x| < 1 ist hinreichend plausibel, daß die Summe konvergiert. (5.27) hat funktioniert. Der Konvergenz-Bereich erstreckt sich bis zur Pol-Singularität bei x = 1. Es ist übrigens generell so, daß ein Konvergenz-Bereich nicht über eine Singularität hinausreichen kann (er kann allerdings kleiner sein). Es wäre also sinnlos gewesen, etwa 1/x um Null zu entwickeln: der Konvergenzbereich ist Null.

Bild 5-5 : Zur geometrischen Reihe und zur Wurzelentwicklung. Man kontrolliere, ob je die ersten drei Reihenterme für kleine x qualitativ mit dem tatsächlichen Verlauf übereinstimmen

Das Verfahren (5.27) sorgt dafür, daß die Reihe einer geraden (ungeraden) Funk­tion nur gerade (ungerade) x-Potenzen bekommt. Welche Reihe hat 1/(1+ x 2)?— die geometrische! Man hat in (5.28) lediglich x durch — x 1 zu ersetzen. Wer hierzu erneut die Koeffizienten Cn bestimmt hätte, dem wären „zwei linke Hände“ nachgesagt worden. Handwerkliches Geschick ist gefragt, wenn eine Reihe erhalten werden soll. Im folgenden wird die Trick-Kiste ausgepackt, und zwar anhand von Beispielen (je beginnend mit einer „mathematischen“ Funkti­on). Auf diese Weise lernen wir die allerwichtigsten Reihen kennen. Trick 1 be­darf vorweg eines Kommentars. Stellen sie sich eine sehr komplizierte Funktion vor (7 Integrale über Parameter enthaltend). Man ist dann vielleicht schon froh, wenigstens den Wert /(0) ausrechnen zu können. Angenommen, dies sei gelun­gen. Dann kann man/ (x) = f(Q)+xg(x) schreiben, d.h. g(x) = [ f { x ) - f ( 0)]/x, und nach dem Wert von ^(0) suchen und so weiter. Bei dieser Vorgehens weise gibt es keine „ . . . “ und man behält Kontrolle über das Restglied. Um die­sen Vorteil sichtbar zu machen, produzieren wir noch einmal die geometrische Reihe.

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5 .3 P o t e n z r e i h e n 8 9

1. Abspalten:

11 - x

= 1 + x 1—x - 1X

= 1 + X1 - X 1 - x J

rx = i + £ + £2 + ... + z ^ + a;w+i

1 - x1 — X

2. Algebraische Umformungen:

x/T+aT = co + cix + c2x 2 + ...

1 + x y (co + cix + c2x2 + .. ^j(co + cix + c2x2 + ..

i Cq + 2coCix + ^2cqc2 + c\j x2 + . . . rx

(5.29)

. , ?! 1 1Co = ±1 = + 1 , Cl = - , c2 =

/;------■ ® x2s/l + x = 1 + 2 g" +

also :

3. Reihe der Stammfunktion:1 /-------1 x 3x2

7 r + 7 = 1 = 1 “ 2 + x "

(5.30)

(5.31)

n := m + 1 :

4. Aus Reihe der Ableitung („Integration“ einer Reihe):- OO OO -

dx ln(l + x) j = Y 2 ( - x ) m = d x ' £ - ± - ( - l Y1 + x z—' ' m + 1m =0 m =0

oo 1^ S . £ ( - l ) n+1- * B, 9, ( l n - = 0

n=1ln - ^ = C ; i = 0 a 0 - 0 = C ; also:

v""' (—x)n x2 x3 x*ln(l + x) = - ^—r ~ = X ~ T + T ~ T + ■■■ (5-32)

\mxm+l

rx

n=lAm besten merken (!) kann man sich die Logarithmus-Reihe in der Version, in welcher alle Vorzeichen gleich sind:

2 00 n- l n ( l - , ) = , + | + ^ + ... = E ^ (5-33)

n = 1

5. Addition von Reihen:l2ch(x) =j= h(ex + e x) = e-Reihe ohne ungerade Potenzen

x2 x 4 x6~ 1 + 2! + 4 f + 6 ! + -"

x 3 x ssh(a;) = dx ch(x) = x + — + — + ...

(5.34)

(5.35)

*n = + a:) ~ ln(l - *) = 2(X + ~3 + T + ' " ' ) (5-36)

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6. Aus Dgl: / = cos(a:), / " = - / , /(0) = 1, /'(0 ) = 0

rv co = 1 , ci = 0 , Cn = - C n- 2

n(n — 1 )(n = 2,3,4, ...)

„v „a( v Ju du Ju Ju

X) = 1 " ¥ + ¥ " 6 ! + 8! - -3 m7• / \ n / \ X X Xsin(x) = - d x cos(x) = + — - —

(5.37)

(5.38)

(5 38) !7. Division von Reihen : tan(x) = k 3 7 = c\x + C3 X3 + ...

* " T + § ö + - " T ( x - T + l i + " ' ) (Cia: + Csx3 + + • • •)

i C1 Z + [c3 - | ] x3 + [c5 - | + g ] X5 + . . .

X 2x hCl = 1 , c3 = - - - , . . . , also : tan(s) = x + y + — + ... (5.39)

8 . Aus Reihe der Umkehrfunktion: arctan(x) = c\x + C3 X3 + ...

x = tan(arctan(x)) = [c\x + C3X3 + . . . ] + ^ [c\x + . . . ] 3 + . . . rvo

r.3(5.40)ci = 1 , C3 = - - q , . . . , also : arctan(x) = x — — +

9. Aus funktionalen Beziehungen: f ( x + y) = f (x) • f ( y ), / = ? Man erhält die Reihe von ecx, wobei c beliebig ist und z.B. mit Zusatzforderung / ;(0) = 1 auf c = 1 festgelegt werden kann.

10. i • i := - 1 :

== 1 + ix + ^j(ia:)2 + ^ ( ix)3 "*■ l i ( ix)4 "*■•••, 1 2 1 4 ’ • / 1 31 - 2!X + 4!a: +• • • + 1 ( * " ä * + - "

elx = cos(x) + i sin(x) .

rv

(5.41)

Manche Gleichungen möchte man fünfmal rot einrahmen. Gleichung (5.41) ist wie Weihnachten: die Kunst zahl i schafft Einheit. Sie stellt den inneren Zu­sammenhang zwischen den trigonometrischen Funktionen und der e-Funktion her. (5.41) ist die Eulersche Formel. Wir werden sie noch öfter benötigen. Man kann (5.41) leicht nach cos(x) und sin(x) auflösen:

= cos(x) + isin(x) = cos(x) - isin(x) }rv

cos(x) = y (e lx + e lx) sin(s) = j r ( e ix - e - ix)

(5.42)

Kosinus und i-mal-Sinus sind also der gerade bzw. der ungerade Anteil von elx. Analoges gilt für ihre Reihen: so kann man sich (5.37) und (5.38) merken. Deren

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5 .3 P o t e n z r e ih e n 91

Konvergenzbereich ist die gesamt reelle Achse. Ihr home Computer sollte einmal sin(10) mittels Reihe ausrechnen. Ein Blick auf die Reihen der Hyperbolischen Funktionen (siehe Trick 5) zeigt, daß

ch(ix) = cos(:c) , sh(i:c) = isin(:c) . (5.43)

11. T aylor-R eihe : f (x) = cq + c\x + c2x 2 + c$x3 + .. .

/(0) = Cö, /'(O) = c i , /"(0) = 2 . c2 , / ,,7(0) = 3 • 2 • c3 , . . . ,oo 1

f W( 0) = n'.Cn rx f (x) = Y ± f W { 0 ) x n . (5.44)i S n!

Mit (5.44) haben wir eine fertige Formel zur Berechnung der Koeffizienten Cn an der Hand. „Aha“, mag nun der Leser womöglich sagen, „mir genügt die Taylor- Reihe. Trick 1 bis 10 kann ich vergessen.“ Die folgenden drei Argumente stehen gegen diese (weit verbreitete?) Sicht der Dinge:

i) (5.44) führt oft in unrentable Rechnerei.ii) Wenn man ein Problem, das man gerade bearbeitet, möglichst gut durch­

schauen und verstehen will, dann vermeide man tunlichst jeden Schema­tismus [siehe auch Text vor (5.29)].

iii) (5.44) hilft nicht, wenn etwa eine Dgl die gesuchte Funktion festlegt.

Kurz, alle 11 Etüden gehören zum Repertoire. Hingegen hat man mittels (5.44) beispielsweise schnell

(1 + x)x = 1 + Xx + ^A(A — l )x 2 + . . . (5.45)

auf dem Papier, gültig für beliebige reelle Potenz, siehe z.B. (5.29) bis (5.31). Man merke sich diesen Reihenanfang, er wird häufig benötigt.(5.44) zeigt recht gut, was wir eigentlich tun, wenn wir eine Reihe nach einigen Termen abbrechen. Mit einem solchen Abbruch geht man zu einer Näherung für die Funktion über, welche um so besser ist, je kleiner x ist. Der erste Reihen-Term ist eine Horizontale. Zusammen mit dem zweiten wird die Funk­tion bei kleinen x durch eine Gerade approximiert. Die beste Parabel entsteht bei Einbeziehung des dritten Terms und so weiter.

Man sagt zu (5.44), nf (x) wurde um x = 0 entwickelt“. Natürlich kann man auch „um x = a entwickeln“, d.h. dort die genannten Approximationen vor­nehmen: immer besser bis unendlich gut. Dann übernimmt die n-te Ableitung von / an der Stelle a die Rolle von f^n\ 0). Ohne zu rechnen, können wir also(5.44) verallgemeinern zu

oo oo i

/ ( a + z) = £ ^ / < " ) ( a ) z " = ] r ^ ( z 0 o)n /(a) = e*e“/(a ) . (5.46)71=0 ’ n=0

Rechts steht ein hübscher Merkvers — nicht wahr, er stimmt. Man darf in(5.46) auch die Rollen von x und a vertauschen: f ( x + a) = eadxf ( x) . Erst viel später, in (10.16), ziehen wir Nutzen aus dieser Darstellung.

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Der große Vorteil von (5.46) liegt darin, daß man manche allgemeine Betrach­tung «in Stück weitertreiben kann, ohne f (x) zu kennen oder ohne / schon spezifizieren zu wollen. Um hierfür ein Beispiel zu geben, interessieren wir uns für die Kreisfrequenz uj der lD-Schwingung eines Teilchens (m) mit kleiner Amplitude um das Minimum eines gegebenen Potentials V(x). Das Minimum liege bei x = a. Die Frequenz u läßt sich angeben, ohne daß V spezifiziert werden müßte:

V(x) = V(a) + V'(a)(x - a) + \v"{a)(x - a)2 , V'(a) = 0 , rv

m x = - d xV(x) = -V"(a)(x - a) ; also ist u = J ^ ' . (5.47)V 771

Hübsch, nicht wahr?

Bild 5-6: Schwingung einer Masse in einer anharmonischen Potentialmulde

Wenn man jedoch u in der konkreten Situation von Bild 5-6 auszurechnen hat, dann ist es wohl natürlicher, den folgenden Weg zu wählen:

V(x) = ^ ( V h 2 + x 2~ - l)2 ; V » = 0 rv a = y/P - ft2' ; z

x = a + e : y/h2 + x2 =j= y/i2 + 2 ae + e2 = i J 1 + + O (e2)t 2

i t + e - + 0 ( e 2) , V K d 2 2w £

m x = m e = - d xV = —d£V =na

e , d.h. uj = 1 - ^ ) .(5.48)

Wie diese Rechnung zeigt, wird der Rückgriff auf bekannte „mathematische“ Reihen stets dadurch möglich, daß man zuvor klarstellt, welche dimensionslose Größe klein gegen eins ist.Man kann stets in eine Reihe entwickeln, nur nicht ausgerechnet um einen pathologischen Punkt. „Pathologisch“ (wir meinen es umgangssprachlich) ist eine Singularität oder die Stelle x = 0 bei der Funktion |a;| oder der Ursprung bei / = e_1/x . Diese Funktion sieht völlig harmlos aus (malen!), nämlich wie eine negative nach oben verschobene Lorentz-Kurve. Jedoch sind wegen /(0) = 0, / ' ( 0 ) = [2//a;3]x_ o = • • • alle Koeffizienten Null rx Reihe / Funktion. Der Grund: / ist am Ursprung „wesentlich singulär“. Dieses Beispiel diene uns zur Warnung. Wir verstehen nun das einschränkende Wort „vermutlich“ in (5.27).

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5 .3 P o t e n z r e ih e n 93

K om plexe Zahlen

Eine komplexe Zahl 2 ist eine LK aus 1 und i : z = a+ib. Man kann auch sagen, sie sei eigentlich ein Zahlen-Paar. a heißt Realteil und b heißt Imaginärteil von z. Alles über komplexe Zahlen folgt aus der bekannten Eigenschaft i • i = -1 . Zum Beispiel ist es meist ohne weiteres möglich, einen in i nichtlinearen Ausdruck in Real- und Imaginärteil aufzuspalten. Beispiel:

1 r — is r (~s) . i ^—~r~ — 7 — . w-----r r — ~ö~—o 1 "T~]— 2 ’ (5.49)r + is (r + is)(r — is) r z + sz r z + sz

Ein Stern an 2 (oder an irgendeinem Ausdruck, der i enthält) bedeutet, daß (in ihm) i durch - i zu ersetzen ist. Man spricht dann vom konjugiert K om ple­xen des ursprünglichen Ausdrucks (Abkürzung: c.c.). Beispiel:

1 1 ( 1 + c.c. = —— +r + is r + is \ r + is

1 + - V = - 2 T - 2 = 2Re ( — h ~ ) • (5 -5°)r + is r — is r 2 + s2 \ r + is

Natürlich gilt A + c.c. = 2Re A ganz allgemein. Man deutet z = a + ib gern als Punkt in der „z-Ebene“, indem man a nach rechts (reelle Achse) und b nach oben (imaginäre Achse) aufträgt. Der Abstand zum Ursprung heißt B etrag von z : \z\ = \ /a 2 + b2' =: r . Bild 5-7 zeigt, daß a = rcos((p) und b = r sin((p) ist. Jetzt läßt sich Eulers Formel (5.41) verwenden:

2: = |2;| cos((^) + i|2;| sin((^) = r e ^ . (5.51)

Jede komplexe Zahl läßt sich also als Betrag mal Phasenfak to r schreiben.

“ } Bild 5-7: Komplexe Ebene, Einheitskreis undI Zahl z mit Betrag r und Phase ip

Um einzusehen, wie nützlich diese Darstellung ist, rechnen wir ein wenig damit herum:

cos(3a) = Re(el3a) = Re(c + is ) 3 = c3 - 3cs2 = 4cos3 (a) — 3cos(a) ,

cos(a + ß) + isin(a + ß Y j eia exß = [cos(a) + isin(a)][cos(/3) + isin(/?)]

=^cos(a) cos(ß) — sin(a) sin(ß) + i[sin(o:) cos(/3) + cos(a) sin(/3)]

V ^T = (ei7r + n 2 7 r i ) 1 / 2 = e i 7 r / 2 + ni7r = i ( - l ) n (n = 0,l) . -(5.52)

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Die letzte Zeile zeigt, daß die Zahl —1 zwei Wurzeln hat, nämlich i und —i. Manche Bücher behaupten, i sei durch i = y/—T definiert. Wenn Sie diesen Verstoß gegen die Sittlichkeit einmal entdecken sollten, dann fügen Sie bitte von Hand (und mit Tinte) die folgende Zeile hinzu:

- i = i . i = v c r y = r = v / ( - i ) ( - i ) ' = v T = i .

Das erfreut den nächsten Bibliotheks-Benutzer, er beginnt nachzudenken, und das neutralisiert den Schaden. Genau wo ist der Fehler in diesem offenbar unsinnigen Einzeiler? Man streicht am besten bereits das zweite Gleichheits­zeichen, denn rechts von ihm steht ein unbestimmtes Objekt. Wenn wir das Objekt „V=T y/=T “ mit Worten festlegen, nämlich daß es sich bei beiden Wurzeln um die obere handle (d.h. um die auf der oberen Hälfte des Einheits­kreises gelegene), dann ist das dritte Gleichheitszeichen falsch, weil rechts von ihm (stillschweigend oder vereinbart) die positive Wurzel gemeint ist. Darf nun nirgends mehr i = y / - l ' auf dem Papier stehen? Es darf. Wir lesen es als i =: y/—\ \ d.h. die Gleichung legt fest, welche der zwei Wurzeln gemeint ist.

5.4 Störungsrechnung

Nur auf wenige physikalische Fragestellungen haben wir eine exakte Antwort. Dennoch führen Wege in das Niemandsland zwischen den exakt lösbaren Mo­dellen. Ein solcher Weg bietet sich immer dann an, wenn etwas klein ist bei einem Problem, d.h. wenn es einen kleinen Parameter hat, d.h. wenn man nicht allzu weit in das Niemandsland hinein will (oder braucht). Störungsrechnung ist Ausnutzen der Reihenentwicklung in diesem Sinne.

Eine Funktion f ( x ; a ) sei durch Gleichungen festgelegt, in denen auch der Pa­rameter ol vor kommt. Aus guten Gründen, weil zum Beispiel die Lösung der Gleichungen nicht gelingen will, interessiert man sich nur für die ersten Terme der Reihe nach Potenzen des Parameters a :

f ( x; a ) =f c q ( x ) + c i ( x ) o l + C 2 ( x ) a 2 + ...

— f ^ ( x ) + f ^ H x ) + f ^ 2\ x ) + .. . . (5.53)

Mit der Bezeichnungsweise in der zweiten Zeile wird der Buchstabe c eingespart. / ( n) ist also genau d e r Beitrag zur Funktion / , welcher a in n-ter Potenz enthält. Der ein wenig anstrengende obere Index vermeidet hier Konflikte mit anderen Indizes. Aber in der Quantenmechanik dürfen Sie dann ruhig wieder ijj = + ^ ; 2 + .. . schreiben. Stets mit „hier ist a klein“ im Hinterkopf,heißt /(°) die nullte N äherung (oder: der führende Term). Entsprechend ist die erste Näherung (oder: die führende Korrektur). Interessiert man sich nur für / und f M , so treibt man „Störungsrechnung erster Ordnung“. Wird auch einbezogen, so ist sie zweiter Ordnung, und so fort. Zum Dank für die Genügsamkeit, mit wenigen Termen zufrieden zu sein, vereinfacht sich das Problem in der Regel ganz erheblich.

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5.4 S t ö r u n g s r e c h n u n g 95

A Einer, der die e-Funktion nicht kennt, hat Schwierigkeiten beim Freien Fall mit Reibungskraft - m a v . Also versucht er es mit Störungsrechnung erster Ordnung bezüglich schwacher Reibung: a ist der kleine Parameter. Er setzt also v(t) = (t) + vW (t) + ... an und in seinen Eindeutigkeitsrahmen

v(t) = - g - av(t) , v(0) = vq (5.54)

ein. Das gibt v^°\t) + v ^ ( t ) + .. . = - g — a (y^ ( t ) + .. . ) zur Anfangs­bedingung (0) (0) + . . . = v q . In der Klammer wurde der Term i / 1) (t ) in den drei Punkten versteckt, weil er ja zusammen mit Vorfaktor a bereits einen a 2-Term geben würde. Ihn hinzuzunehmen, wäre inkonsistent gewesen. Für zwischenzeitliche Inkonsistenzen wird man jedoch nicht gleich verprügelt. Ohnehin folgt nämlich ein Koeffizienten vergleich: a°-Terme müssen einander gleich sein, a 1-Terme ebenfalls. Damit zerfällt (5.54) in die zwei Kästen

v ^ ( t ) = —g , f/0)(0)=uo , v ^ ( t ) = - a u ^ ( t ) , 1/ ^ ( 0 ) = 0 . (5.55)

Der rechte Kasten enthält (t). Er ist also darauf angewiesen, daß zuvor das linke Problem gelöst wird. Mit i/°)(£) = v q — gt folgt sodann v ^ ( t ) = -avo t + f gt2 und insgesamt

v(t) = v q - gt — avQt + -ag t2 + O (a2) (5.56)

Da wir klüger sind als der eingangs Genannte, sehen wir nun natürlich nach, ob (5.56) auch aus der exakten Lösung v = - g / a + (vo + g/o^eT*1 folgt, und achten dabei auf Konsistenz:

v(t) = “ + Vq ^1 - Ott + ... ^ ^1 - at + + - • • ^ = (5.56)

Die Frage, wie klein wohl a zu sein habe (klein wogegen?!), damit der Abbruch nach a-hoch-eins eine gute Näherung darstellt, hat beim Gang der Dinge keine Rolle gespielt. (5.56) zeigt nachträglich, daß at <C 1 zu antworten gewesen wäre. Aber auch von vornherein hätten wir auf Dimensionen verweisen können: [a] = 1/Zeit. Also sollte a klein sein gegen eine typische reziproke Zeit des Problems — nun, eben die Zeit der Landung des Fallschirmspringers.

B Angenommen, wir Menschen hätten nie durch die obere Atmosphäre blicken können und es gäbe eine irdische Kontroverse über die Abnahme der Erdan­ziehungskraft nach „oben“. Die Anhänger von - y m M / r 2 schlagen vertikale Wurfexperimente vor (bis zu 1 km Höhe und mit Präzisionsmessung der Lauf­zeit). Natürlich rechnen sie vorher aus, in welcher Kommastelle welche erste Korrektur nachgewiesen werden müßte. Das Problem lautet:

m z =7 m M

CR + z )2£(0) = Vq , 2(0) = 0 (5.57)

Um der Wahrheit willen sei zugegeben, daß auch (5.57) exakt lösbar ist (gerade noch nämlich, siehe Kapitel 6). Jedoch ist das exakte Resultat so unangenehm

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implizit, daß man es zu obiger Fragestellung am Ende doch wieder mit Reihen­entwicklung traktieren würde.Das Problem hat einen großen Parameter, den Erdradius R . Groß wogegen ?!— gegen eine typische andere Länge des Problems, die Steighöhe « /2g (aus Energiesatz). Wie im Fall A brauchen wir uns aber mit solchen Details nicht zu belasten. Der kleine Parameter ist 1/R. Störungsentwicklung von z(t) nach l / R heißt, z(t) = z<°)(t) + z (1>(t) + . . . in (5.57) einzusetzen. Die Anfangs­bedingungen werden ersichtlich zu i^ ( 0 ) = vo, 2:(0)(0 ) = 0 und i^^(0) = 0, zW (0) = 0. Aber die Dgl sieht zunächst bedrohlich aus. Sie will auch auf der rechten Seite artig nach l / R entwickelt werden,

y(°) + -(1) + - ________ IM ._______(fl + z(°) + z(1) + . . . ) 2

7 M ' ’ n2R 2 \ i + * £ + . . .

,(0)

- - » ( 1 “ X + • • • ) " = ~ 9+ Ä 2<0) + ••• ’ (5-58)

auf daß Koeffizientenvergleich möglich werde. In nullter Näherung ist z (t ) = —g zu den genannten Anfangsbedingungen zu lösen: z^°\t) = vot — %t2 . Erst, hiermit spezifiziert sich das Problem erster Ordnung:

i-(i)(t) = |* ( 0 ) W = , i (1) ( 0 ) = 0 , ^ ) ( 0 ) = 0

zW(t) = , Z(1)W = g • (5-59)

Wir wollen noch die Rückkunftszeit T bestimmen, indem wir z = 0 setzen,0 = v0T - gT2/ 2 + (g/3R)(v0T 3 - gT*/4) sowie T = T<°) + T (1), und erneut Terme gleicher Ordnung kompensieren. Man erhält

T (0) = 2^0 und r(1) = 4 ^ 609 3 g2R

AZu v = 100m/s, g « 10m/s wird die Steighöhe h « 500m erreicht, und mit R « 6500 km ergibt sich als 1/jR-Effekt die Zeitverzögerung T^1) = 0.002 s. Diesen Unterschied nachzuweisen, ist ein Leichtes für die heutigen supergenau­en Atomuhren. Wir haben jedoch die Luftreibung außer acht gelassen. Um sie auszuschließen, könnte man ein sehr langes Rohr vertikal aufstellen und „leer“pumpen — oder wohl besser in obige Rechnung die Luftreibung einbe­ziehen. Jedenfalls haben unsere hypothetischen „Menschen ohne Himmel“ noch einiges zu tun.

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5.4 S t ö r u n g s r e c h n u n g 97

Wir fassen den Nutzen der Potenzreihen in ein paar Stichworten zusammen,

Dgln lösen (sowie Integrale und Integralgleichungen)Störungsrechnungpraktische Näherungs-Formelnsich vereinfachende Physik in GrenzsituationenGrenzwerte ,

e£X - 1und ergänzen das letzte um ein Beispiel: lim -------- = ?£—►() £Es scheint Bürger unseres Landes zu geben, die hier sagen: „Null durch Null, dann wende ich die 1’HospitaPsche Regel an (Ableitung oben durch Ableitung unten) und erhalte x als Resultat.“ — Aber genau solcherlei Mißhandlung haben die Funktionen nicht verdient, daß man ohne Sinn und Verstand (?), so­zusagen, mit der Mistgabel, auf sie losgeht. Statt dessen fragen wir, wie es denn dazu kommt, daß bei £->0 Null/Null entstehen würde. Vielleicht ist der Bruch nur nicht gut aufgeschrieben (etwas kürzen?). Sind die beteiligten Funktionen wohldefiniert? Gibt es physikalische Gründe dafür, daß man vielleicht £ von po­sitiven Werten her nach Null schicken sollte (e —> +0) oder von negativen her (£ —> -0)? Was passiert dabei wirklich? Sehen wir uns das an. Im Zähler wird für physikalisch relevante rr-Werte auch £x immer kleiner, so daß die e-Reihe schließlich abgebrochen werden kann:

eex i \lim — -— = - ( 1 + £x + - ^ 2x 2 + ... - 1J = x + O(e) —► x . (5.61)

So machen wir das.

Die Jahre sind ins Land gegangen. Hunderte von Reihen oder Reihen-Anfängen haben Sie produziert. Immer war dies machbar, und fast immer mit den hier erarbeiteten Mitteln. Warum? Weil 99% aller Funktionen (vielleicht sind es auch 99,999%), mit denen die Naturwissenschaftler zu tun haben, aus ex und x-Polynomen zusammen-kombiniert sind, nämlich per /, Funktion vonFunktion, Umkehrfunktion, dx und i. Selbst sehr exotische Funktionen haben in der Regel noch eine Integral-Darstellung (d.h. sie sind additiv zusammenge­setzt aus vielen einfachen Funktionen mit variierendem Parameter). Warum? Jetzt erst wird die Frage schwierig. Vielleicht greifen die Menschen allzu gern nach den einfachen Werkzeugen, oder sie sind noch in einem niederen Ent­wicklungsstadium. Vielleicht aber liegt es mehr daran, daß die first principles (welche meist einfach und meist Differentialgleichungen sind) dafür sorgen, daß sich die Natur aus einfachen, weichen Funktionen aufbaut.

Der entscheidende „philosophische“ Aspekt zum Newton-Kapitel 3 lag wohl in der Erkenntnis, daß wir das Naturgeschehen in einfachen Situationen überhaupt Vorhersagen können und daß es im Prinzip quantitativ vorhersagbar ist. Inzwi­schen stellen wir erheblich höhere Ansprüche. Alles Vorhersagbare wollen wir

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auch per Rechnung machen können. Wenn nicht exakt, dann näherungsweise— wie grob zu guter Letzt auch immer. Ist das arrogant? Ja: ein wenig und gegenwärtig, aber vielleicht nicht grundsätzlich. Schließlich werden unter dem Aspekt der Machbarkeit auch unsere Unzulänglichkeiten sichtbar. Anbei wird versuchsweise das Bild skizziert (es ist verständlicherweise nicht numeriert), das man durch die „Brille der Machbarkeit“ zu sehen bekommt.

derzeit mathematisch nicht verstandene first principlesnoch zu schwer Folge-Mechanismen noch nicht bekannt nie ?

exakte Lösungen I ReihenentwicklungenM mnnt#. und andere Näherungsverfahrenfirst principles

Ob sich der mit „nie?“ beschriftete rechte Vorhang jemals ganz auftut, wissen wir nicht. Etwas nicht zu wissen, ist keine Schande (eine Antwort aus der Luft zu greifen, wäre eine). Aber wir dürfen nachdenken über Konsequenzen der einen oder der anderen Antwort. Die Frage ist äquivalent zu jener, ob es eine „Weltformel“ gibt. Wenn Nein, dann wären die bisherigen Erfolge der Theoretißchen Physik nur Schritte auf einem unendlich langen Wege. Es wäre ein wenig trostlos und nicht weit weg von Resignation. Wenn Ja, dann wäre es nur eine Frage der Zeit, bis wir sie gefunden haben.

Stellen wir uns vor, die Weltformel sei gefunden. Dann wäre keineswegs die Physik zu Ende, ebensowenig wie jene ihrer Teilgebiete, deren first principles schon heute bestens bekannt sind. Es wäre sehr schön. Allmählich würden dann wohl die Physiker endlich Zeit finden, die Unmenge ihrer (aus der Weltformel dann herleitbaren) Erkenntnisse zu sortieren, ihr Gebiet einheitlich darzustellen, sich um ein bestimmtes Schulfach zu kümmern und um ein sinnvolles Gewicht in der Öffentlichkeit.

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6 Integrale

Das Erstaunliche an Integralen ist, daß sie so häufig in der Physik Vorkommen (bis hinein in die Formulierung oberster Prinzipien). Begrifflich ist das Integral eine einfache Angelegenheit; es steht als Kurzwort für eine Fläche, die von einer Kurve (und ansonsten von geraden Linien) begrenzt wird. Daß es nur selten gelingt, eine solche Fläche per Rechnung zu erhalten, ist wohl eine weitere Ma­rotte des Integrals. Um so wichtiger ist es, mit allen Kniffen und Werkzeugen vertraut zu sein, um wenigstens dann, wenn es überhaupt möglich ist, ein Inte­gral „schlachten“ können. Eine etwaige Neigung zu Schematismus ist hier — einmal mehr — besonders fehl am Platze.Wir beginnen wie immer „bei Null“ und sortieren erst einmal den Schulstoff in gut und böse (erster Abschnitt). Der Blick auf typische Anwendungen des gewöhnlichen Integrals (zweiter Abschnitt) läßt dann die Richtung erken­nen, in der sich unsere Fähigkeiten ganz beträchtlich erweitern werden. Aus dem Waffenarsenal der Integrierer (dritter Abschnitt) sehen wir uns nur zwei Gerätschaften genauer an. Kernstück der Bemühungen (vierter Abschnitt) wird das Integrieren über Kurven, krumme Flächen und Volumina sein und die Rückführung jeder dieser Verallgemeinerungen auf gewöhnliche Integrale. Dabei bieten „krumme Koordinaten“ (fünfter Abschnitt) besondere Vorteile. Schließlich läßt sich dank Integral die Delta-Funktion ins Leben rufen (sechster Abschnitt) — ein besonders angenehmes und friedliches Tierchen (wenn man es im Hause hält).

6.1 Gewöhnliches Integral

Eine Funktion f (x) sei gegeben sowie zwei Stellen a und b auf der rr-Achse. Die f (x)~Kurve, die rr-Achse und die zwei Vertikalen durch a und durch b schließen eine Fläche ein (Bild 6-1). Flächenstücke unter der rr-Achse zählen wir negativ (weil dadurch Vorzeichenumkehr von / zu Vorzeichenumkehr der Fläche führt und letztlich das Integral ein linearer Operator wird). Das Integral über x In teg ra tions-V ariab le von a bis b In teg ra tions-G renzen von (oder „über“) f (x) In teg rand ist diese Fläche.

Wir können sie grafisch erhalten, indem wir sie z.B. in viele vertikale Streifen (zwischen x und x + dx) schneiden und zunächst deren rechteckige Anteile dx f (x) addieren. Die winzigen oberen „Dreiecke“ fehlen noch. Mit anderen Worten: die obere Begrenzung dieser Gesamtfläche ist noch rauh. Wählen wir also dx immer kleiner, bis die Rauhigkeit nicht mehr zu sehen ist:

dx —> 0 rv Rauhigkeit —>>0 rv ^j^dx f (x) —► die gesuchte Fläche . - (6.1)

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100 K a p i t e l 6: In t e g r a l e

Aus jüngeren Jahren ist dem Autor ein entsetzliches Theater um diese Banalität in Erinnerung. Nur Mut! Es müssen nicht erst viele runde Kuchen gebacken, zerschnitten und begradigt werden, um sich diesen Mut anzufuttern (Erklärung: flacher Butterkuchen mit rundem Rand; je dünner die Streifen, um so weniger geht uns bei der Randbegradigung verloren).

( Flache »unter f \ [ dx f (x) l zwischen a und ft / ' / J{ > ’

(6.2)ra rb r roo

dx f := - dx f , dx f := / dx f .Jb J a J J —oo

Auf dem Wege zu (6.2) ist das Zeichen f ein Summenzeichen geblieben. Daß man nicht mehr ^ schreibt, soll lediglich daran erinnern, daß sehr viele sehr kleine Summanden addiert werden. Bei einem physikalischen Problem hat man z.B. kleine Beiträge präpariert, als infinitesimale Größen geschrieben und will sie nun alle addieren: Integralzeichen davor und fertig! Da das Zeichen f nur ein stilisiertes Summenzeichen ist, trägt es keine Dimension:

i t :dx f (x) = [dx] [ / ] , [dx] = [x] = [o] = [6] . (6.3)

Wer gegen die letzten zwei Gleichheitszeichen verstößt (und z.B. über eine Zeit bis 5 Meter integriert), wird bald darauf von weiß gekleideten Herren abgeholt.Die dritte Gleichung in (6.2) bedarf besonderer Betonung. Wir vereinbaren, daß bei fehlender Angabe von Grenzen über alle x zu integrieren ist. Ist die Variable ein Winkel (p (etwa zwischen rr-Achse und dem Ortsvektor in der Ebene), dann wird eben über alle (p integriert:

J * P M := J dtp f((p) . (6.4)

Diese schöne Festlegung ist in der physikalischen Literatur weitgehend üblich geworden. Es ist klar, daß nun ein Integral ohne Grenzen nicht mehr mit anderer Bedeutung auf das Papier darf (wir sorgen bald dafür, nämlich noch in diesem Abschnitt, unter Bild 6-2).Es ist wohl an der Zeit, eine Gelegenheit zum Seiber-Nachdenken zu bieten:

OO -ooy V £n = e / dn e~en + 0(e) = 1 + 0(e) . (6.5)

Jo

oo£

n= 0

Bild 6-1: Integral als Fläche unter f ( x) und als Summe von Streifenflächen

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6.1 G e w ö h nl ic h e s In t e g r a l 101

Klar? — Noch nicht? Sie arbeiten mit Bleistift und unliniertem Papier, weil man sich dann leichter tut zu malen. Dabei sollte sich das erste Gleichheitszei­chen aufklären, während das zweite auf (6.9) vorgreift. Man kann die Summe links in (6.5) auch exakt auswerten: geometrische Reihe aus Potenzen von e~£— eine schöne Übungsaufgabe (tun!). Wir merken uns, daß man eine Summe stets dann durch das entsprechende Integral ersetzen darf, wenn es im Grenzfall schwacher Variation des Summanden nur auf den führenden Term ankommt.Aus (6.2) lassen sich zwanglos — nämlich anschaulich — einige Folgerungen ziehen, deren Wert nicht unterschätzt werden sollte. Man bedenke die Pein­lichkeit, wenn jemand stundenlang substituiert und und und — bei einem Integral, welches aus geometrischem Grunde Null ist. Hier ohne Kommentar eine Liste solcher Eigenschaften:

ra rb/ dx f = 0 , dx const = const • (b - a)

J a J a

/(- *) = * / ( * ) rv f _ d x f ( x ) = ^ 2 J “dxf{x)

j ' d x ( a f + ßg) = a j ' d x f + ß j ' d x g ( , ) (6.6)rb rc rb / auch \ rb r- aI = I + I I wenn 1 , I dx f(x) = I dx f ( —x)

J a J a J e \b < c J J & J —b

rb rb+xo rb fb/X/ dx f(x) = / dx f(x - xo) , / dx f(x) = A / dx /(Az) .

J a J a-\-x o J a Ja /X

Um die drittletzte Beziehung zu begreifen, male man f(x) auf halb durchsich­tiges Papier und blicke dann von hinten darauf: x-Achsen-Umkehr. Sie ist Spezialfall der letzten Gleichung zu A = -1 . Ist speziell a = —b (symmetrisches Intervall), dann ändert sich nichts in den Grenzen, und man darf schlicht im Integranden das x -Vorzeichen wechseln. Die letzten zwei Umformungsmöglich­keiten kommen unglaublich oft vor — jedenfalls, wenn man sie sich gemerkt hat und sie Vorkommen lassen will Wir geben ihnen darum Namen und re­den vom „Verschiebetrick“ und vom „A-Trick“. Sie sind zwar Spezialfälle der Substitution (Abschnitt 6.3). Aber die letztere ist ein wenig kopflastig. Zum A-Trick reden wir so: „wenn x, folglich auch dx, einen Faktor A abgibt, dann ist das in den Grenzen reziprok zu korrigieren“. Zur Anwendung kommt er beispielsweise, wenn man ein physikalisches Integral dimensionslos macht:

rb rb / X \ f b/ x °/ dx z(x) = / dx z0f [ — ) = z 0 X0 / dx f(x) . (6.7)

Ja Ja \ X0 j Ja/xo

Ein Beispiel für Verschiebetrick (und anschließende Achsen-Umkehr) findet sich weiter unten in (6.11).

dx gehört an /

und nicht etwa rechts hinter den Integranden, denn

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102 K a p it e l 6: In t e g r a l e

1. ein Integral soll als Operator gesehen werden können — mit der Funktion, auf die er wirkt, rechts vor sich. Man kann, wie wir später sehen werden (Ab­schnitt 12.3) eine Matrix-Anwendung auf Integralform bringen (und zurück): dabei sollen Vektor bzw. Funktion stets rechts bleiben dürfen.

2. man will gleich wissen, welcher Variablen die am Integral stehenden Gren­zen zugeordnet sind, d.h. worüber von ... bis ... integriert wird. Auch bei einer Summe gibt man ja sofort an, welcher Index von ... bis ... läuft. In- tegranden können leicht mehrere Zeilen lang sein (auch seitenlang). Warten Sie also besser nicht erst ab (betreffs dz-Stellung), bis Ihnen 100m Integrale über den Tisch gekrochen sind. Will Ihnen jemand beibiegen, Integral und dx müßten eine Klammer bilden, dann antworten Sie am besten: „Das Integral ist ein Summenzeichen, so gehe ich mit ihm um. Wer mir das ausredet, will mich davon abbringen, stets seinen Sinn im Auge zu behalten, pfui!“. Besteht der In- tegrand additiv aus mehreren Termen, so ist ohnehin eine Klammer erforderlich (nämlich wie bei Summen).

3. Mehrfach-Integrale (Abschnitt 6.4) werden dadurch überschaubar (er). Sie mögen es doch nicht etwa, daß dx , dy, dz bei einem kartesischen Volumenin­tegral über eine Seite verstreut sind: welches „Klammer-Ende“ gehört nun zu welchem „Klammer-Anfang?“. Auch holt man sich häufig Faktoren an eines der Teilintegrale heran, um es vorweg auszuführen.

4. dadurch ist der Formel-Buchstabe d von jenem in dx besser unterschie­den. Zugegeben, dies ist kein sehr wesentliches Argument und darf mit einem scherzhaften Kompromiß enden:

5. eher oder später setzt es sich ohnehin durch. In der Originalliteratur dürften zur Zeit die beiden dz-Stellungen noch etwa gleich häufig Vorkommen (Montag, den 25.4.1988: in den letzten 5 Heften von The Physical Review Letters, Vol.60, No. 12-16 gibt es 142 Artikel. 38 davon enthalten Integrale. 23 dieser Autoren schreiben das Differential nach links und 15 nach rechts). Diesbezüglich erfreuen können auch Bücher wie etwa [Fließbach] und [Lang/Pucker].Es war einmal ein Häuflein Studenten, welche die obigen Argumente verstanden hatten (ebenso den bekannten Satz vom Gewohnheitstier) und welche nun vom dicken Rotstift eines Korrektors (Mathematik-Übungen) arg bedrückt wurden. Ein Uni-interner Briefwechsel war die Folge, welcher glücklicherweise friedlich endete. Er brachte auch Einblick in die DIN-Normen. Oh! — Normen oder Denken? — zeigen Sie Zivilcourage! Vielleicht hilft es weiter, wenn Sie gegebenenfalls eine Kopie dieser Buchseite vorweisen.

„Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung“

Ein Integral ist eine Funktion der oberen und der unteren Grenze (und hängt oft auch noch von Parametern im Integranden ab). Vergrößern wir die obe-

L

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6.1 G e w ö h nl ic h e s In t e g r a l 103

re Grenze b um e, dann kommt ein Vertikal-Streifen mit der Fläche e • f(b) hinzu. Bei Verschieben der unteren Grenze addiert sich —e • f(a). Folglich (Differentialquotient!) gilt

db f d x f ( x ) = f(b) , da f dx f (x) = — f (a) . (6.8)Ja Ja

Somit ist das Integral, aufgefaßt als Funktion der oberen Grenze, eine Stamm­funktion des Integranden. Wenn es also auf irgendeinem anderen Wege gelingt, zu f (x) eine Stammfunktion F(x) zu finden, dann können sich Stammfunktion F(b) und Integral nur noch um eine Konstante unterscheiden:

b

dx f (x) — F(b) -f* C , b —y cl : 0 = F(ol) -f* C rx

b

dx f ( x ) = F( b) - F( a ) . (6.9)

(6.9) ist der genannte „Hauptsatz“. Wir verstehen ihn anschaulich ganz gut. Angenommen, / ist konstant, d.h. eine Horizontale: / = h. Die Stammfunktion muß nun nach (6.9) zwischen a und b um genau h(b — a) anwachsen, damit die Rechteckfläche herauskommt. Das ist der Fall, denn F = hx + C. Man begreift, daß der Gedanke richtig bleibt, wenn sich / mit x verändert:

f bdx fix ) = [ bdx — = Summe über = gesamte . (6.10)Ja Ja d x alle d F ’s F-Änderung

Im zweiten Ausdruck wurden die beiden dx gekürzt. War das erlaubt? — selbstverständlich: das Integralzeichen ist nur eine Summe, und Summanden darf man vereinfachen. Weil es auf die F-Differenz ankommt, enthält (6.9) auf der rechten Seite zwei Terme. Etwa den zweiten Term zu vergessen, das gelingt Ihnen ab sofort nie mehr, nicht wahr?!Die Beziehung (6.9) ist deshalb eine feine Sache, weil sie zwei verschiedene Fra­gestellungen miteinander verknüpft, die (oft schwierige) Frage nach der Fläche mit der (mitunter einfachen) Frage nach der Stammfunktion. Letzere verlangt ja „nur noch“, die lineare Dgl F'(x) = f (x) zu lösen. Hierbei darf man raten und kann mit Ansätzen spielen und dabei die Bösartigkeit oder Gutmütigkeit des Integrals immer besser kennenlernen.Solange man sich nur an einfache Integranden heranwagt, so führt (6.9) oft zum Erfolg, aber eben nicht immer. Wenn z.B. über sin(x)/(l + x2) von — ir bis 7r integriert werden soll, dann kann man nach einer Stammfunktion suchen bis morgen früh — es gibt keine — oder aber sehen, daß die Fläche Null ist (ungerader Integrand, s. (6.6)). Wenn statt dessen von — n bis 7r — 1/10 integriert werden soll, dann schreiben wir

(6.11)

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104 K a p i t e l 6: I n t e g r a l e

und überlassen den dritten Ausdruck dem Computer oder sind eventuell mitder rechtsstehenden Näherung zufrieden.

Ein guter Rat

Sie sind zu irgendeiner Physik bei einem Integral angekommen. Meist ist es nun möglich (und sinnvoll), diesem Integral erst einmal eine angenehmere Gestalt zu geben: Integranden umformen, dimensionslos aufschreiben, (6.6) ausnutzen, Substitution, Partialbruchzerlegung usw. (Abschnitt 6.3). Wenn das Integral endlich Ihr Wohlgefallen findet, dann skizzieren Sie grob den Integranden und (als vertikale Linien) die Grenzen. Dies macht klar, welche Fläche gemeint ist, ob sie positiv ist, ob vielleicht pathologische Stellen im Spiel sind und ob das Integral in Bezug auf die ursprüngliche Physik Sinn macht. Schließlich schreiben Sie folgendes auf das Papier:

Bei der Klammer rechts wurde der Bleistift ganz zart, weil sie eventuell wieder wegradiert wird. Obige Zeile regt nun zum Nachdenken an, was für eine Funk­tion wohl in die runde Klammer gehören könnte. Bitte greifen Sie nicht gleich zur Integraltafel: das meiste, was dort steht, kann man leicht selbst erraten— und letzteres macht mehr Spaß. Wenn Sie eine Stammfunktion gefunden haben, dann vervollständigen Sie obige Zeile zu

Bei dieser Arbeitsweise kann man nachträglich — etwa, wenn man nach einem Fehler sucht — noch jedes Gleichheitszeichen kontrollieren. Beispiel:

Fläche positiv und ein wenig kleiner als 7r/4 — 7t/6 « 1/4. Die zweite Bemühung war Nachdenken: „Wie mag wohl beim Differenzieren ein Kosinus in den Nenner gelangen? Dazu fallen mir nur Wurzel und Logarithmus ein. Mal sehen, was beim Differenzieren von ln [cos(x)] passiert ... “. Auch die Erkenntnis, daß der Zähler die (negative) Ableitung des Nenners ist, hätte via / ' / / = dx ln(f) zum Ziel geführt. Schließlich wäre auch Substitution u := cos(x) eine gute Idee gewesen (Abschnitt 6.3). Viele Wege führen nach Rom.

Wenn nach einigen erfolglosen Versuchen keine Stammfunktion zu finden war (obwohl man sie fast „riechen“ konnte), dann wird die Frage interessant, ob andere Leute auch keine finden konnten, und man nimmt eine Integraltafel zur

[ bdx ... = f d x dx llß llll = f llllllll 16 = IIIIIIH -////////J a J a l J a x = b x —a

Die erste Bemühung hierzu bestand darin, zu malen. Wie Bild 6-2 zeigt, ist die

• (6-12)

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6.1 G e w ö h n l ic h e s I n t e g r a l 105

Bild 6- 2 : Die Beiträge zum Integral über Tangens von - 7r/6 bis 7r/4 (siehe Beispiel im Text)

Hand. Jene im [.Bronstein] ist schon recht ordentlich. Gewaltigen Umfang hat [Gradstein/Ryshik]. Sie erwarten natürlich, dort eine Sammlung von Formeln der Form ^

------ ö = &x arctan (x)1 + x 2vorzufinden, oder eventuell eine Tabelle, in welcher links / ’s und rechts zu­gehörige F ’s stehen. Statt dessen ist es

” / T T x * dx = arctan(x) 4< > M

was man diesbezüglich in einer Integraltafel aufzufinden pflegt. „Die linke Seite von (*) ist doch eine Zahl (nämlich 7r)“, sagen wir und wundern uns.

Das Ende des „unbestimmten Integrals“

Zuallererst (und um den Schaden gering zu halten) sei betont, daß wir die Zeile (*) leicht als Tabelle lesen können: J , dx und = wegdenken! Die ungünstige rfx-Stellung in (*) gibt uns einen Hinweis darauf, warum denn nun — in drei Teufels Namen — die Integraltafeln eine so exotische Tabellen-Form wählen: die DIN-Normen und die Beharrlichkeit historisch entstandener Nomenklatu­ren. (*) ist grauenhaft:1. Das Gleichheitszeichen ist keines, weil es nur bis auf eine Konstante gilt. Darum wird die linke Seite von (*) „unbestimmtes Integral“ genannt. Da ist nun in der gesamten (sonstigen) mathematischen und physikalischen Literatur das Gleichheitszeichen ein verläßliches Symbol: linke und rechte Seite sind gleich— ob nun als Identität oder Definition oder Bestimmungsgleichung, aber eben gleich. Nur in (*) soll plötzlich eine Ausnahme erlaubt werden? Das muß einmal jemand ändern!

2 . (*) verleitet dazu, auf der linken Seite Grenzen anzubringen und dann zu vergessen, daß nach (6.9) rechts zwei Terme hingehören bzw. daß die genannte Konstante noch zu bestimmen ist.

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1 0 6 K a p i t e l 6: I n t e g r a l e

3. Der Anblick diverser Fehler dieser Art hatte vor einem Dutzend Jahren den Autor dazu veranlaßt, versuchsweise (es saß tief) auf das unbestimmte Integral zu verzichten. Es ging. Es ging mühelos. Wir haben es nämlich in der Physik niemals nötig, etwas Unbestimmtes aufzuschreiben.

4. Viele Lehrbücher enthalten unbestimmte Integrale. Man muß sich das ein­mal ansehen: wären durchweg Grenzen angebracht, bzw. wäre ihr Fehlen eindeutig im Sinne (6.2) zu deuten, es wäre jedenfalls hilfreich für den Leser.

Fazit: Das sogenannte „Unbestimmte Integral“ gehört in die Müllverbrennungs­anlage der Geschichte. Die entsprechenden Tabellen kann man schlicht mit „Stammfunktionen“ überschreiben. Das erste Wort bei „Bestimmte Integra­le“ kann entfallen. Diese nämlich sind wieder gesund (es sind wohldefinierte Flächen), und Gleichheitszeichen gelten im üblichen präzisen Sinne.

Wenn in einer Integraltafel eine Stammfunktion gefunden wurde, dann ist diese zur Kontrolle zu differenzieren (!). Die Tafel könnte Fehler enthalten. Autorität gilt nicht. Differenzieren ist einfach. Jenes Sicherheitsgefühl, das jede eigene Rechnung begleitet, darf nicht in unnötiger Weise belastet werden. Liebe Leute, eine Übungs-Bearbeitung muß die genannte Probe enthalten. Zu gewissenhaf­ter Arbeit gehört auch, daß man zitiert. Mit einem winzigen „(Br.57)“ ist für alle Zeiten aufbewahrt, daß und wo so ein Integral im [Bronstein] zu finden gewesen war.

U neigentliche In tegrale

sind Flächen, die sich bis ins Unendliche erstrecken, entweder nach rechts/links (unendliche Grenze) oder nach oben/unten ( / hat Singularität). Wir wissen von den Reihen, daß hierbei sowohl eine endliche als auch eine unendlich große Fläche herauskommen kann. Man sagt dann, das Integral ex istiert (oder auch: es konvergiert) bzw. es existiert nicht (oder: es divergiert). Um nachzusehen, was im konkreten Falle passiert, braucht man nur ganz gemütlich hinaus- bzw. an die Gefahrenstelle heranzuspazieren:

/•oo rb rb rb

/ dx f := lim I dx f , / dx f := lim dx f (6.13)Ja b~ °° Ja Jo a~*° Ja

falls / bei x = 0 singulär ist

Beispiele :

roo rb

f dx e KX =r= lim f dx dx ( — & **1 = hm ( — e Kb + -%' ° (0 < « ) h-+ °°J o \ K ) b - + o o \ K K

r dX dx e_KI) = (e_0° ~ e°) = K ’ (6‘14)

J d x x ~ x = J T Ä ( ° ° 1_A “ 0 = Ä ^ T ( 1 < A ) ’ (6-15)

f 4* x-> = ^ (1 - ( * » - > ) = J L ^ ( A < 1) . (6.16)

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6 .2 P h y s ik m it I n t e g r a l e n 1 0 7

Existiert J dx ln (1 + ex) - x j ? Ja, denn zu

x —y oo wird ln(l + ex) - x = ln( l + e-x ) asymptotisch e~x . (6.17)

In (6.14) zeigt die zweite Zeile, wie man die Limes-Betrachtung in Gedanken kurzschließen kann. Das Zeichen oo steht hier für eine sehr große positive Zahl und erinnert dabei an den auszuführenden Limes. In (6.14) bis (6.16) wird diese Stenografie geübt. Um nicht schon wieder die DIN-Menschen zu quälen, beschränken wir diese Notation auf den Hausgebrauch.

6.2 Physik mit Integralen

Es wird Zeit, den Nutzen der Integrale beim Nachvollziehen der Natur-Mathe­matik sichtbar zu machen, also einige seiner Anwendungsbereiche zu nennen. Die typischen Anwendungen ergeben sich, wenn tatsächlich viele kleine Beiträge zu addieren sind — siehe auch Text unter (6.2). Daneben dienen Integrale auch als Hilfsmittel zur Formulierung allgemeiner Zusammenhänge (wobei meist das Integral eine Stammfunktion repräsentiert — eine bestimmte natürlich). Eine dritte Sorte Integrale kommt im folgenden noch nicht vor (zuerst in Kapitel 12). Sie ist sehr verwandt mit der ersten, und es handelt sich dabei um jene Sum­me, mit der beim Skalarprodukt die Komponenten-Produkte addiert werden (nämlich in jenem Grenzfall, in dem Vektoren in Funktionen übergehen).

M itte lung

Wenn Sie die mittlere Körpergröße Ihrer Familie angeben wollen, dann addieren Sie die einzelnen Größen und teilen das Resultat durch die Anzahl der erfaß­ten Familienmitglieder. Die mittlere Augenzahl eines Würfels ist 3,5. Dieses sogenannte a rithm etische M itte l läßt sich zwanglos auf Funktionen verall­gemeinern, indem wir viele äquidistante Stützstellen anbringen (Abstand dx ; malen!). Zwischen a und b ist also der mittlere Funktionswert gegeben durch

T=Ä ^ ^ = d b fda:/(x) * T = bh[dx/2(x) ■ (6-18)f + 9 = f + 9 , a f = a f , 1 = 1 . (6.19)

Rechts in (6.18) steht der mittlere quadratische Funktionswert. Nun ist auch klar, wie das arithmetische Mittel irgendeiner Potenz von / , eines Polynoms aus / ’s, eine Potenzreihe oder einer Funktion von / definiert ist. Die Wurzel aus der mittleren quadratischen Abweichung (vom Mittelwert) heißt Schwankung

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1 0 8 K a p i t e l 6: I n t e g r a l e

— hier: der Funktionswerte:

A/ := y / ( f - 7 ? = \ j Y - 2 J T + ( 7 ) 2' = \ J ~ F - ( 7 ) 2 •(6.20)

Wenn Meßwerte schwanken, dann wird der mittlere quadratische Fehler ebenso ermittelt (s.a. Abschnitte 12.3 und 14.1), und (fast) wie (6.20) ist auch die „Unschärfe“ in der Quantenmechanik definiert. Wir wollten Physik machen, einverstanden. Wenn ein ID harmonischer Oszillator schwingt — x(t) = Acos(cjt) , Amplitude A, Periode T = 2n/uj und m u 2 = k — dann ist das Zeitmittel über eine Periode sinnvoll. Für mittleren Ort, mittleres Potential, mittlere kinetische Energie und Schwankung ergibt sich

1 f Tx = — d tA cos(u t )= 0 , (6 .21)T Jo

^ = ? Io d t ^ x2 = f ^ A2Io dt C 0 S = i 'A2 ’ 6’22^

T = i dt y i 2 = i j A 2oj2 dt sin2(wt) = r - A 2 = ’V , (6.23)

Ax = V x2 = ( i J dt A2 cos2 (ut)

Daß T und V im Mittel gleich sind, ist eine Spezialität des harmonischen Os­zillators. Die Null in (6.21) ist geometrisch klar (malen!): ebensoviel positive wie negative Fläche. Bei den Integralen in (6.22) bis (6.24) werden Sie doch nicht etwa zur Tafel gegriffen haben? Oh bitte nein. Auch diese erledigen sich rein geometrisch (malen!): ebensoviel Fläche oberhalb wie unterhalb der Hori­zontalen bei 1/2. Das wollen wir uns merken: wenn über eine (halbe) Periode gemittelt wird — oder auch über sehr, sehr viele Perioden, so daß es auf einen kleinen Rest nicht mehr ankommt — dann dürfen wir einen cos2(ut) oder einen quadrierten Sinus als 1/2 vor das Integral ziehen.

L ineare M assenverteilung

Ein dünner Stab aus Metall liege auf der x-Achse zwischen 0 und L (Bild 6-3). Links und in der Mitte sind viele schwerere Fremdatome eingelagert und am rechten Ende sind viele Fehlstellen (winzige Hohlräume) eingeschlossen. Nichts ist perfekt in der Realität. Wir wanderen von links nach rechts über den Stab und nennen die jeweils hinter uns liegende Masse m(x). Dies ist eine leicht wellige, monoton ansteigende Funktion. Bitte werden Sie jetzt nicht übermäßig genau: auf atomarer Skala bekommt m(x) viele winzige Stufen, die man weder messen kann noch will. Ein wenig räumliche Mittelung ist also sinnvoll. Die Bildung cr(x) := m!(x) = dm/dx heißt (lineare) M assendichte: Masse pro Länge. Offenbar gibt nun dx • a(x) die Masse eines Scheibchens an, das von x bis x + dx reicht.Die Herstellerfirma ist anständig und hat den Labor-Bericht beigelegt: <r(x) ist bekannt. Diese Information genügt uns, um per Rechnung die Gesamtmasse

1/2

(6.24)

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6 .2 P h y s ik m it In t e g r a l e n 1 0 9

B ild 6 - 3 : Masse und lineare Massendichte eines inhomogenen Stabes als Funktionen von x

M des Stabes auszurechnen sowie die erste Komponente R\ des Schwerpunkt­vektors (s. (4.43)) und auch noch z.B. das Trägheitsmoment J3 3 des Stabes (s. (4.42)), das die Dreh-Trägheit bei Drehung um eine vertikal am Ursprung angelötete Achse angibt:

Ri = — YM ^ TflaX a

M = I dx a(x)Jo

1 f LRi = — dx<j(x)x

M J 0

J3 3 = dx cr(x) x 2 . Jo

(6.25)

In der zweiten Zeile sieht man schön, wie die rechtsstehende Gleichung zu lesen ist, nämlich als Summe über viele kleine Massen dx a(x) J , die mit ihrem Ortx multipliziert sind, dx und <r(x) gehören zusammen: die eckige Klammer denke man sich in (6.25) hinzu. Der Leser möge nun in der dritten Zeile die rechte Gleichung zudecken und die integrale Version von I33 selbst finden (der y2-Term entfallt erst dann, wenn wir uns den Stab 0 0 dünn denken). Ein Trägheitsmoment bezieht man gern auf eine Achse durch den Schwerpunkt. Wie dieses (nennen wir es lf3) mit jenem in (6.25) zusammenhängt, zeigt die folgende kurze Rechnung

I 33 T J dx cr(x) [ ( x - R i)2 + 2Ri(x - R i) + Ä ? ]

i [ Ld x a (x ) (x - R i)2+ M R l = I^ + M R l .

Jo(6.26)

Dieser „Satz von S te iner“ ist ungemein anschaulich — woraufhin man ihn sich merken kann.

Superposition

heißt Überlagerung, nämlich von z.B. zwei Kraftfeldern, die sich dabei vektoriell addieren. Weil der Gradient ein linearer Operator ist, kann man auch die Potentiale (sofern existierend) der beiden Felder addieren. Entleeren Sie nun (in Gedanken) das Weltall und lassen Sie nur Ihre Raumkapsel (Masse m, Ort

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110 K a p it e l 6: In t e g r a l e

f ) übrig sowie N Sterne mit Massen M0, die alle auf einer Geraden (z-Achse) bei ra = (za,0,0) fest angebracht seien. Also ist nach (3.24) und (1.46)

das Gravitations-Potential dieser Anordnung. Und das des stabförmigen „Him­melkörpers“ von Bild 6-3 ist

Die Bildung (6.28) ist das wichtigste Beispiel in diesem Abschnitt: Integral zum Aufsammeln der infinitesimalen Fern-Wirkungen kontinuierlich verteilter Ursachen. Beachte: x ' numeriert Stab-Scheibchen und ist Integrationsvariable. Hingegen ist x die x-Komponente von r und ist äußere Variable zusammen mit y, z. An den Stellen r fragt man nach V und K , und fragen kann man wo man will.Schade, daß am Abendhimmel keine solchen Stäbe auszumachen sind. So müssen wir uns hier, um ein Beispiel vor Augen zu haben, mit einer Hoch­sprunglatte begnügen. In ihrer Umgebung erfüllt (6.28) tatsächlich den Raum. Jedoch, wenn Sie sich vergebens an 1,80 versucht haben, dann führen Sie dies bitte nicht auf Anziehung durch den Stab zurück, sondern sehen Sie sich lieber zuvor den Zahlenwert von 7 an: 7 = 6,7 x 10- 1 1 m3 kg- 1 s-2 . Die Form (6.28) hat übrigens auch das Potential der Kraft auf eine Ladung in der Nähe eines katzenfellgeriebenen Glasstabes. Dann ist a(x) die Ladung pro Länge, und der Vorfaktor ist viel größer. Die Struktur (6.28) verlangt flehend nach Verallge­meinerung auf andere Massenverteilungen und somit nach den Integralen im Abschnitt 6.4.

N ew ton m it zeitabhängiger K raft

Ein bestimmter Mißbrauch von Integralen ist leider weit verbreitet. Er liegt dann vor, wenn ein Lösungsweg durch sie nur behindert oder kompliziert und mit möglichen Fehlerquellen belastet wird. Ein Beispiel zeigt uns zuerst (A) den sinnvollen Gebrauch und danach (B) den unsinnigen. Aus Newtons Bewegungs­gleichung in ID mit einer Kraft, die nur von t abhängt, K(t ) = (K ( t ), 0,0), soll zu v(to) =: vo die Geschwindigkeit als Funkton der Zeit ermittelt werden:A Stellen wir uns vor, die Kraft K(t) sei grafisch gegeben (z.B. experimentell ermittelt), oder sie sei eine so komplizierte Funktion, daß wir die Suche nach ihrer Stammfunktion als hoffnungslos ansehen, oder wir wollen sie noch nicht spezifizieren und möglichst dennoch die Lösung zu Papier bringen. Solcherlei Fragen beantworten wir uns mittels

(6.27)

(6.28)

v(t) = ±-K{t) m

(6.29)

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6 .2 P hysik m it In t e g r a l e n 111

Die somit erhaltene formale Lösung läßt sich aufheben, weiteren Manipulatio­nen zuführen oder spezifizieren und ggf. dem Computer vorwerfen. Übrigens haben wir aufgepaßt, rechts und links die gleichen Grenzen angebracht, äußere und Integrations-Variable verschieden bezeichnet und keinen Term von (6.9) vergessen.

B Die Funktion K(t) sei explizit bekannt (z.B. K(t) = o,os(ut)) und ih­re Stammfunktion P(t) lasse sich finden (oder soll gefunden werden). Dann schreiben wir

mv = K(t) = dtP(t) = dtysinfat) in die erste Zeile undmv = C + P(t) = C 4- 7 sin(u;£) (6.30)

direkt darunter, bestimmen die Konstante C aus v(to) = vq und sind fertig! Wer aber ein rechter Umstandskasten ist, der integriert erst einmal über beide Seiten, weil man dabei überhaupt gar keine Fehler nicht machen kann. Dann schwelgt er in der Erhabenheit seiner allgemeinen Problem-Formulierung, bis ihm endlich einfällt, was eigentlich zu tun war: „und nun will ich das Integral auswerten, oh, also suche ich nach einer Stammfunktion“ — „Guten Abend, warum haben Sie das nicht gleich getan ?!“. Solche Schildbürger kommen übrigens in den besten Familien vor.

Newton (ID ) mit »-abhängiger Kraft

Auch dieses Problem läßt sich formal allgemein lösen, d.h. ohne die Kraft K\(x) =: K(x) zu spezifizieren. Dies ist wieder eine A-Typ-Fragestellung. In ID existiert stets ein Potential V(x ) (ob man es als negative Stammfunktion von K(x) explizit hinschreiben kann, ist eine andere Frage):

m x — K(x) = - dxV(x ) • x rv x2 — — (^E ~ V (x)^ ,

“ I m T , " ■ (6J2)

In (6.32) ist die gesuchte Lösung x(t) implizit enthalten: man hat „nur noch“ ein Integral auszuführen und nach der oberen Grenze aufzulösen. Von den eingekreisten Vorzeichen kann man offenbar beide wählen. Nehmen wir z.B. das Minuszeichen (überall in jedem der drei Kreise), dann startet das Teilchen bei xq mit negativer Geschwindigkeit, x entfernt sich im Laufe der Zeit von xo nach links, und in (6.32) hilft das Minuzeichen die verkehrten Grenzen zu vertauschen. Nun geht mit (6.32) genau so lange alles gut, bis der linke Um­kehrpunkt (falls es einen gibt) erreicht ist, d.h. bis die Wurzel im Nenner Null wird. Ab diesem Zeitpunkt trifft dann das positive Vorzeichen zu.Das Gehirn hat eine eigenartige Soziologie. Da gibt es Sicherheitsdienst, Ideo­logie-Abteilung. Warenkontrolle usw. und so etwas wie einen freien Journalis­mus. Ja, wenn wir den nicht hätten! An der Stelle, an der wir gerade sind, wird

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112 K a p i t e l 6: I n t e g r a l e

nun prompt publik gemacht, daß doch bei Annäherung an den Umkehrpunkt das Integral (6.32) divergieren könnte. Ja? Ja! (malen!). Während sich also in einem solchen Falle das Teilchen dem Umkehrpunkt immer mehr nähert, wird t immer größer und größer. Und wenn wir gestorben sind, nähert es sich immer noch.

Bei der Herleitung von (6.32) hatten wir in (6.31) die Umkehrfunktion t(x) der Lösung eingeführt. Meist wird aber ein wenig anders vorgegangen. Wenn man die Gleichung x = ... durch ihre rechte Seite teilt, dann auf beiden Seiten mit dt multipliziert, Integralzeichen davor setzt und nun einander entsprechende Grenzen anbringt, dann steht (6.32) erneut da:

© [ X(t)dx = f d t ' . (6.33)Jx o yjE — V (x) Jto

Man nennt diese Manipulation T rennung der Variablen. Sie wird in Kapitel 7 noch ein wenig verallgemeinert.

A rbe it

ist Kraft mal Weg. Ändert sich die Kraft längs des Weges, dann sind kleine Wegstückchen zu addieren. Das hatte uns in (1.12) und Bild 1-15 schon einmal beschäftigt. Inzwischen können wir diese kleinen Produkte aufaddieren:

A := f bdx K ^ x ) = - f 1 dx V'(x) = V(a) - V(b) . (6.34)Ja Ja

Die Arbeit A ist positiv, wenn a < b und wenn die Kraft nach rechts zeigt. Das Teilchen wird dann nach rechts hin schneller. Es kommt dabei in Regionen mit tieferem Potential. Also ist (6.34) die Arbeit, die das Kraftfeld am Teilchen verrichtet. Bei x = b könnte man sie nämlich in andere Energiearten um wandeln (Beispiel: ein Meteorit fällt auf die Erde und verglüht in der Atmosphäre).

Man mag an dieser Stelle fragen, ob denn für den Begriff „Arbeit“ überhaupt eine Notwendigkeit bestehe (ohne dies bunt-alternativ zu meinen). (6.34) er­weckt den Eindruck, als genüge es von Potential-Differenz zu reden. Die Frage ist berechtigt. Allerdings hält dagegen, daß ein Potential nicht immer exi­stiert. Solange wir nur auf einer x-Achse Spazierengehen, hängt die Kraft-a;- Komponente nur von x ab, und in dieser ID Situation gibt es stets ein Potential. Bald aber lassen wir ein Teilchen auf gekrümmter Bahn durch ein Kraftfeld flie­gen (und erfinden im Abschnitt 6.4 das Kurven-Integral). Auch wenn nun das Feld kein Potential hat (wie etwa zu Bild 3-4), bleibt die Arbeit, die das Feld am Teilchen verrichtet, eine ganz natürliche Angelegenheit. Sie hängt dann lediglich von der Kurvenform ab.

Wer mittels Integral (jenem, das links in (6.34) steht) das Potential einer gegebe­nen Kraft explizit ausrechnen will, der wird alsbald in die Solidargemeinschaft der Schildbürger aufgenommen. In aller Regel ist dies nämlich ein B-Typ- Problem. Wir konnten es schon lange vor der Erfindung des Integrals lösen.

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6.3 I n t e g r a t i o n s - M e t h o d e n 113

6.3 Integrations-Methoden

Die Überschrift trifft genaugenommen nur auf Näherungs verfahren zu (grafi­sche, numerische, Reihenentwicklungen des Integranden und deren Abbruch). Gäbe es auch nur eine Methode, ein Integral in Strenge auszuwerten, wozu dann obiger Plural? Wir wären mit dieser einen schon hoch zufrieden. Statt dessen handelt es sich bei den nachfolgend katalogartig genannten „Methoden“ um Möglichkeiten, ein Integral in ein anderes umzuformen. Wenn man sie (mit Methode) im konkreten Fall ausprobiert, dann erhöht sich die Chance, eine Stammfunktion zu raten. So schlimm sieht es aus.

Partialbruchzerlegung

Manche Integranden, insbesondere Produkte von Brüchen, lassen sich additiv in Terme zerlegen, die bezüglich Integration angenehmer sind. Beispiel:

x (1 4- x 2)1x

x1 + x2

dx ln(cc) - ^ ln (l + x2) (6.35)

Eine Systematik zu dieser Verfahrensweise findet sich u.a. in [Bronstein].

Partielle Integration

Man erkenne, daß/ob es sinnvoll ist, einen Integranden als Produkt aufzufassen, zu dessen einem Faktor leicht eine Stammfunktion (=:u) zu finden ist:

J dx u v = J dx £ (uv)' — uv' j = [uv j - J dx uv* . (6.36)

Beispiel:

f dx \n(x) — f dx 1 ln(a;) = [a;ln(a:)l - f dx = bln(b) - b . (6.37) Jo Jo I___| I * I L Jo Jo

— u' — V u — x v' — 1/x

Solche Verslein unter Integral wollen unbedingt zu Papier — schon aus Grün­den nachträglicher Kontrolle. Übrigens hätten Schematismus-Gegner zu obi­gem Integral etwas anders gedacht: „Wovon könnte ln (sc) die Ableitung sein? Immerhin fällt uns dazu ein, daß beim Ableiten von scln(sc) wenigstens ein Term das richtige liefert. Der andere ist 1 und hat Stammfunktion x. Aha, es ist also \n(x) = dx[xln(x) - cc].“ (Zu sagen, wofür er statt dessen ist, würde so manchem Gegner heutzutage gut anstehen.)

Substitution

Mai\ erkenne, daß/ob es sinnvoll ist, auf dem Wege von a nach b die Geschwin­digkeit zu verändern: x(t). Hat man sich eine solche Funktion ausgedacht, dann

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114 K a p it e l 6: In t e g r a l e

folgt dx = dtx(t) und somit

/ dx f(x) — dt x(t) f(x(t)) .rh rW)

(6.38)Ja

Man darf sich dabei ruhig auch einmal ein Stück rückwärts bewegen, wenn man nur im Laufe der „Zeit“ bei b ankommt. Aber in praxi genügt es, sich auf monotonen Zusammenhang von x mit dem Parameter t zu beschränken. Die Grenzen des t-Integrals sind jene Werte der neuen Variablen t , zu denen x(t) die Werte a bzw. b annimmt. Substitution verleitet zu Fehlern. Sie will ganz ausführlich und mit Gemüt ausgeführt werden. Alle 4 Schritte — 1 . x - t - Zusammenhang, 2. daraus den Zusammenhang von dx mit dt, 3. bei welchem £-Wert wird x = a ? und 4. bei welchem £-Wert wird x = b ? — wollen als Nebenrechnung zu Papier gebracht werden. Man schreibt sie am besten unter das auszuwertende Integral. Beispiel Kreisfläche:

bei </? = 0 wird x = 0 , bei tp = 7r/ 2 wird x = R .

Irgend etwas an diesem Beispiel hat starkes Unbehagen ausgelöst. Kartesische Koordinaten zerstören die Harmonie eines Kreises! Um diese Harmonie zu

— Rauhigkeit gegen Null. So ist es schön. Aber um die schönste Kreisflächen- Berechnung handelt es sich noch nicht. Das letzte Integral war trivial, weil es auf eine Rechteck-Fläche hinauslief. Also müßte sich doch aus den dünnen Dreiecken ein Rechteck bauen lassen. Natürlich: wir legen sie so übereinander, daß abwechselnd die Spitze nach rechts und nach links zeigt. Dann entsteht ein Rechteck mit Grundlinie R und mit halbem Umfang als Höhe: Kreisfläche = Radius mal halber Umfang, R • nR = nR2. Es gibt mehrere Stufen des Verstehens, zur Kreisfläche vielleicht beispielsweise fünf. Wir haben Stufe drei erreicht. Gibt es eine Stufe vier? Wir wissen es nicht. Wir wissen nie genau, ob es eine nächste Stufe gibt. Sie zu vermuten, ist sicherlich gut.

Differenzieren nach Parameter

Man erkenne, daß/ob ein Integrand aus einer einfacheren Funktion durch Ab­leiten nach einem Parameter hervorgeht. Beispiel:

erhalten, gehen wir besser auf dem Umfang (statt auf der x-Achse) spazieren und addieren unendlich viele unendlich dünne Dreiecksflächen:

(6.40)

'OO

dx xe~ax'OO

dx xn e~ax (6.41)

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6.3 In t e g r a t io n s - M e t h o d e n 115

P aram eter-A bhäng igkeit p räparieren

Mitunter — und gar nicht so selten — kann einem armseligen Menschlein, das sich an einem Integral plagt, dadurch geholfen werden, daß man es fragt, was es an diesem Integral denn eigentlich lernen will. Siehe da, es möchte nur die Abhängigkeit von einem Parameter kennenlernen, z.B. von welcher Potenz des Parameters das Integral abhängt. Beispiel:

Ob man nun Substitution oder A-Trick hierzu sagt, wir haben jedenfalls her­ausgefunden — ohne wirklich zu integrieren — daß das Integral die Form const-T2 hat. Die Konstante hat mit Sicherheit die Größenordnung eins und ihr Zahlenwert interessiert das genannte Menschlein gar nicht mehr. Obiges Inte­gral ergibt sich, wenn man die Energie der Elektronen eines Metalls als Funktion der Temperatur ausrechnet. Um den zugehörigen physikalischen Mechanismus zu verstehen, ist der Wert von „const“ in der Tat recht bedeutungslos. Aber nun kommt einer daher und behauptet, es sei const = 7r2 / 1 2 . Woher weiß der das?? — von der nächsten und übernächsten „Methode“.

Reihenentw icklung des In tegranden

Wer sagt denn, daß x die Größe sei, nach welcher entwickelt werde. Keines­wegs. Um das Integral (6.43) weiter zu bearbeiten, wird zweckmäßigerweise nach Potenzen von e~x entwickelt und die geometrische Reihe benutzt:

Im Schritt von der oberen zur unteren Zeile kam zuerst der A-Trick zu Ehren („x gibt ein £ ab“), und daß f£°dx xe~x = 1 ist, steht in (6.41). Die Erklärung für das letzte Gleichheitszeichen in (6.43) müssen wir im Moment noch schuldig bleiben. Zum einen sind solche Summen Nebenprodukte der Fourier-Reihen (Kapitel 12), zum anderen kann man sie per Kontur-Integration auswerten. Dabei handelt es sich um einen Begriff aus der Funktionentheorie. Dieses faszinierende Teilgebiet der Mathematik behandelt Funktionen von komplexen Zahlen. Bei uns gab es bisher zwar komplexe Funktionswerte, aber die Variable blieb reell. Erste Schritte in dieses Gebiet werden im Abschnitt 9.3 unternom­men.

In tegra l—T ransform ation des In teg randen

(6.42)

n —1

Auch diese Umformungsmöglichkeit braucht Verweis auf die Zukunft. Für die Integraltransformation einer Funktion (hier: des Integranden), die „Entwick­

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116 K a p it e l 6: In t e g r a l e

lung nach einem vollständigen Funktionen-System“, wird die Fourier-Transfor­mation im Kapitel 1 2 ein erstes Beispiel sein.

6.4 Kurven-, Flächen- und Volumenintegral

Wer geht schon täglich auf einer schnurgeraden x-Achse zur Arbeit. Und wes­halb sollten jene infinitesimalen Anteile, die man beim Integrieren aufzusam­meln hat, stets Skalare sein. Der Scheibenwischer am Auto überstreicht Fläche. Meine täglichen Kalorien werden als etwas pro Volumen aufgesammelt. Wenn wir so denken, dann ergeben sich die folgenden allgemeineren Integrale wie von selbst. Sie lassen sich allesamt dadurch ausrechnen, daß man sie auf gewöhnli­che Integrale zurückführt.

Vek t or—In t egr and

Das Integralzeichen addiert. Vektoren addiert man komponentenweise. Also wissen wir bereits, was mit einem Integral über eine Vektor-Funktion gemeint ist:

f dx f (x ) = ( f dx fi(x) , f dx fi(x) , f dx f3(x) \ . (6.44)Ja \ Ja Ja Ja J

Anwendungsbeispiele zu (6.44) ergeben sich, wenn wir das Beispiel A aus Ab­schnitt 6.2 auf drei Dimensionen verallgemeinern,

J dt1 m v (t ') = m ^ J dt* i}\(t' ) ^ = J dt1 K (t ')

^ v(t) = v(to) + ^ J * d t ' K(t') , (6.45)

-Xoder wenn wir den Schwerpunktvektor R eines horizontal angebrachten Stabes ausrechnen,

R = J dx cr(x) ( x , 0 , h) = J dx a(x) x , 0 , h ^ , (6.46)

oder das Gravitations-Kraftfeld eines Stabes:rL . _

r f ' i r r ( n .. ■'I3

K ( r ) = - 7 m f dx' <r{x')Jo \r - r 'p

(6.47)^=(«',0,0)

Dies ergab sich direkt aus (1.46) per Ersetzung M -)• dx1 er(x*) und anschlie­ßender Addition: Superposition von Vektorfeldern. Natürlich kann diese Kraft (im Kopf!) auch aus ihrem Potential (6.28) erhalten werden.

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6 .4 K u r v en - , F l ä c h e n - u n d V o l u m e n in t e g r a l 1 1 7

Kurvenintegral

Den Stab oder Draht von Bild 6-3 kann man verbiegen. Die Fragen nach Masse, Schwerpunktvektor und Gravitationspotential bleiben dabei sinnvoll. Auch die Arbeit (6.34), die eine Kraft an einem Teilchen verrichtet, bleibt bei gekrümmter Wegstrecke eine gesunde Größe. Die cc-Achse des gewöhnlichen Integrals zu einer Raumkurve werden zu lassen, sollte — rein gefühlsmäßig— keine größeren Probleme bereiten.

Bild 6 - 4 : Kurvenintegral als Summe über infinitesimale Beiträge

Um ein Stück Raumkurve C zu beschreiben, lassen wir bekanntlich (Kapitel 2 ) die „Zeit“ t vergehen und geben die Schar der auf C zeigenden Ortsvekto­ren r(t) an sowie die Anfangs- und End-,, Zeiten“ t\ und fe • C zu kennen heißt r(t), t\, t2 zu kennen. Das Kurvenstück unterteilen wir in sehr viele sehr kleine Stücke (Bild 6-4) und bezeichnen ihre Länge mit ds. Den Verschie­bungsvektor auf einem solchen Stück nennen wir dir. Es ist also ds = \dr |. Ein Integralzeichen mit C als Index ist eine Summe über diese Kurvenstücke. Die aufzuaddierenden Beiträge sind klein, weil der Summand entweder ds oder dr enthält. Nach diesen Zeichenerklärungen können wir die eingangs erwähnten Größen aufschreiben:

Länge von C L =f f - L *

(6.48)

Masse des Drahtes M = 1 ds (r(r) J c

(6.49)

Gravitationspotential des Drahtes V (r) [ J / a (r')= — 7 m 1 ds '

Je | r — r '|(6.50)

Arbeit längs C A = j "dr ■ K ( r ) . (6.51)

Rechts in (6.48) steht eine andere mögliche Bezeichnung für das Kurvenintegral. Zu dieser merkt man sich, daß auch der Verlauf der Kurve von Punkt 1 nach2 zu spezifizieren ist. In (6.49) und (6.51) zeigt f nur auf Punkte der Kurve(ebenso r ; in (6.50)), weil nur dort a definiert ist bzw. K abgefragt wird. Der Leser ergänze obige Formeln um solche für Schwerpunkt und Trägheitstensor des gebogenen Drahtes. (6.51) verallgemeinert (6.34).

Integrale aufzuschreiben ist eine Sache, sie auszurechnen eine andere. Aber warum sollte sich nicht letztere auch einmal als umwerfend einfach heraussteilen. r(£) ist bekannt. Also können wir r — v — dr /dt bilden und dr = dtv- bzw.

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1 1 8 K a p it e l 6: In t e g r a l e

ds = dt v in z.B. (6.51) einsetzen:

A — J d r ' K ( r ) = J ^ dt v(t) • K (r (£)) . (6.52)

Damit ist die Rückführung auf ein gewöhnliches Integral gelungen. Beispiele folgen in den Übungen. Aber vielleicht hilft der einen oder dem anderen ein „Spickzettel“ mit Angaben, was im konkreten Fall der Reihe nach zu bedenken ist:

„Fahrplan“

1 . Formulierung

2 . Kurve C spezifizieren3. t\ und £ 2 angeben (ggf. aus f ( t \ )

= n und v fa ) = r*2 berechnen)4. f = v bilden,

ggf. auch v = |ü;|,

und ^-Integral aufschreiben

5. r(£) in Integrand einsetzen

6 . ggf. Skalarprodukt ausführen7. gewöhnliches Integral auswerten

Beispiel Kreisumfang

U = j d s

r(t) = cos ( t ) , s i n ( t ) , 0 )

* 1 = 0 , *2 = 27T

v = R - sin(£), cos(£), 0^ v = R

/•27T

U = dt R Jo

entfallt hier

entfällt hier U = 2nR .

(6.53)

Es gibt mehrere Sorten Kurvenintegrale: wie viele? Wenn wir als Integrand nur Tensoren nullter Stufe, 0, und erster Stufe, A , zulassen, dann gibt es genau die folgenden fünf:

J^ds 4>(r) , J d s A ( r ) , J d r • A ( r ) , J d r x A ( f ) , J d r <j>(j) ^

Skalar Vektor Skalar Vektor Vektor

Beispiele für den ersten Typ sind (6.48) und (6.50), für den zweiten die Gra­vitationskraft eines Drahtes (d.h. der Gradient von (6.50)) sowie sein Schwer­punktvektor, und vom dritten Typ ist (6.52). Auch die restlichen zwei Typen kommen vor, z.B. bei elektromagnetischen Studien.

Mit (6.52) haben wir eine Möglichkeit (die immer geht) in der Hand, ein Kur­venintegral auszuwerten. Sie wird nur selten benutzt. Wie kann das sein? Das Zauberwort heißt Symmetrie. Sehen wir uns zum Beispiel das elektrische Feld E = a ( —y , x , 0) an. Die Pfeile zeigen um die 2 -Achse herum, liegen also tangential an Kreisen um die 2 -Achse. Wählen wir nun als Kurve C einen geschlossenen Kreis (R) um die z -Achse, dann ist

(6.55)

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6 .4 K u r v e n - , F l ä c h e n - u n d V o l u m e n in t e g r a l 1 1 9

weil nur Null-Beiträge addiert werden, beziehungsweise weil man d r - E = dsE setzen und die Konstante E vor das Integral ziehen kann. Der Heiligenschein im Integralzeichen gibt an, daß sich die Kurve in den Schwanz beißt, d.h. geschos­sen ist. Obiges E'-Feld herrscht übrigens im Inneren einer zeitlich-anwachsend stromdurchflossenen Spule, und das Integral ist die Spannung an den Enden einer kreisrunden Draht-Schleife. Wir verstehen dies in Kapitel 1 1 .

Ebenes Flächenintegral

Eine ebene Wiese wird gemäht. Das Gras wächst unterschiedlich hoch. Wieviel Heu pro Fläche geerntet werden kann, ist also eine Funktion von x und y : <l>(x,y) . Diese Funktion sei gegeben. Es interessiert, wieviel Heu H insgesamt eingefahren werden kann. Was „wieviel Heu“ dimensionsmäßig ist, lassen wir offen. Im folgenden ist es nämlich unerheblich, ob H in kg oder in Säcken gezählt oder ob die Anzahl der Chlorophyll-Moleküle angegeben wird. <j> ist Heu pro Fläche.

Bild 6—6 : Wie man eine Fläche in einfach zusammenhängende Teilflächen zerschneidet, und wie man ebenso für

Bild 6—5: Zur Auswertung eines ebenen einwertige Randkurvenfunktionen sorgenFlächenintegrals in kartesischen Koordinaten kann

Die gesamte Fläche F sei einfach zusammenhängend (Bild 6-5). Ist sie es nicht, dann zerlegen wir sie in zusammenhängende Flächen (Bild 6 - 6 ). F hat einen am weitesten links liegenden Punkt (rci) und einen am weitesten rechts liegenden (£2 ). Dort enden obere (2/2 (2 )) und untere Randkurve (yi(x)). Diese beiden Funktionen seien einwertig (wenn nicht: zerlegen! — Bild 6 - 6 ). Im Streifen zwischen x und x + dx bringt ein dünner Rasenmäher, der in ^/-Richtung fährt,

rv 2(x)dx I dy <j>(x, y) Heu zusammen. Rechts von dx steht eine nur noch

Jv^x) von x abhängende Funktion: Heu pro x-Intervall.Nun ist klar, daß wir nur noch die Ausbeute aller dieser Streifen zu addieren haben, um H zu erhalten:

r rX2 rV2{x)

H = / d2r <p(x, y) = dx dy <j>{x,y) . (6.56)J F J x i Jyi(x)

(6.56) zeigt, wie man ein ebenes Flächenintegral in kartesischen Koordinaten

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120 K a p it e l 6: In t e g r a l e

auswerten kann. Mehrfachintegrale sind harmlos. Man führe zuerst das rechte Integral aus und danach das linke. Mit dem linken Integral in (6.56) wird eine Bezeichnungsweise empfohlen, die noch nicht auf kartesische Rasenmäher ver­weist: etwas pro Fläche wird mit dem Flächenelem ent d2r multipliziert, und Addition aller dieser kleinen Produkte gibt das gesamte „etwas“ auf der Fläche. Die Zwei in d2r soll daran erinnern, daß es sich um etwas Zweidimensional- Kleines handelt. Wir sind nun in der Lage, z.B. das Gravitationspotential eines flächenhaften Himmelskörpers aufzuschreiben, dessen Masse pro Fläche eine bekannte Funktion von x, y ist.Um (6.56) zu illustrieren, rechnen wir das Volumen V einer Kugel (Radius R) aus, indem wir das rechts-hinten-obere Achtel der Kugel in dünne Säulen mit Grundfläche dxdy und Höhe y/R2 — x 2 - y2' zerlegen. Fläche F ist das rechts-hintere Viertel eines Kreises mit Radius R :

_____________ |dy y /R2 — x 2 — y2' , Substitution

y = y/R2 - x2' sin( ?)

- - h - * , ( « ■ - * ■ ) - ? * ■ • <«■">Das Resultat stimmt mit jenem in Nachschlagewerken überein. Aber die Rech­nung ist — wieder einmal — von bedrückender Disharmonie. Wie konnten wir nur der schönen Kugelsymmetrie kartesisch zu Leibe rücken! Einem guten Instinkt soll man folgen. Wir machen es zunächst im nachfolgenden Beispiel A etwas besser und schließlich recht gut im Abschnitt 6.5.

Po lar koord inaten

Ein Punkt der Ebene kann (statt durch x , y) ebensogut durch Angabe von Abstand r zum Ursprung und Winkel </? seines Fahrstrahls zur rc-Achse festge­legt werden. Bild 6-7 zeigt die Spur, die ein im Kreis fahrender infinitesimaler Rasenmäher der Breite dr hinterläßt. Ist er um d(p vorangekommen, dann hat er eine Fläche mit Grundlinie r dp und Höhe dr abgemäht.

Bild 6-7: Ein Flächenelement in Polarkoordinaten

Die Ebene läßt sich also mit Flächenelementen bedecken, die sich durch kleine Unterschiede der Polar koordinaten wie folgt ausdrücken:

Definition Umkehrung Flächenelement

x = r cos(</?) r = yjx2 + y2' d2r = drrdip . (6.58)y — r sin(</?) </> = arctan ( “ ) + ggf-

Vr =j= 8 f dx f Jo Jo

1 q r R^ 71

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6 .4 K u r v e n - , F l ä c h e n - u n d V o l u m e n in t e g r a l 121

Man beachte den zusätzlichen Faktor r im Flächenelement. Er ist ja bereits aus Dimensionsgründen erforderlich. Polarkoordinaten sind unser erstes Beispiel für „krumme Koordinaten“. Können Sie „krumm“ denken?! Eine Fläche hat einen kleinsten und einen größten Winkel, <p\ und <p2, und eine innere und äußere Randkurve, r\(<p) bzw. r<i(<p). Also kann man das Flächenintegral (6.56) links auch ohne weiteres in Polarkoordinaten formulieren, d.h. als Zweifachintegral über <p und r aufschreiben. Dabei muß für d2r wirklich (6.58) eingesetzt werden— nicht etwa nur drd<p\ Das erste der folgenden zwei Beispiele zeigt den entscheidenden Vorteil der Polarkoordinaten: bei kreisförmiger Fläche werden die Randkurven-Funktionen konstant.

A Kugelvolumen als ebenes Flächenintegral in Polarkoordinaten:

pn/2 pR ------------ (Vr j 8 / dtp / dr r \JR2 - r 2

== 4tTJ * d r ( - 1 ) dr ( ä 2 - r 2 ) 3 / 2 = y Ä3 . (6.59)

2 / 2B Eine Galaxie sei als flächenhaft idealisiert, und Q = Qo e~r ' a sei ihre Masse pro Fläche. Um die Gesamtmasse M zu erhalten, ist über die gesamte unendlich ausgedehnte Ebene zu integrieren. Das Integral (6.56) bekommt diese Bedeu­tung, wenn wir den Index F weglassen:

M j j d 2r qo e-r2/a2 = qqü2 j d 2r e~r2 = Qoa2 j dtp J

i= Qoa22n I dr ^ dr e~r2 = Qoa2 ir .

Genz nebenbei lesen wir ab, daß

7r = J d x j d y e- (x2+y2) = dx e_a;2 JMan benötigt dieses bestimmte Integral ziemlich oft.

dr r e '

(6.60)

dx e x2 = - z(6.61)

O berflächen—Integra l

Heuernte in Oberbayern. Die Fläche, auf der es etwas aufzusammeln gibt, sei irgendwie gewölbt. Wir nennen sie S. Die Flächenelemente auf S unterscheiden sich voneinander durch ihre Neigung, die wir am besten als Einheitsvektor n angeben, der auf S senkrecht steht. Während man über S spaziert, ändert dieser N orm alenvektor seine Richtung. Er ist also eine Vektorfunktion des Ortes. Es versteht sich, daß nur an einer Stelle auf S festzulegen ist, wo „außen“ sein

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122 K a p i t e l 6: I n t e g r a l e

Bild 6 -8 : Normalenvektor nach „außen“ auf einer gewölbten Fläche und zugehörige gerichtete Randkurve

soll (n zeige nach außen). Dann ist überall auf S klar, wo „außen“ ist. Notfalls (Möbiussches Band) zerschneidet man S in harmlose Stücke. S werde von einer Randkurve C begrenzt.Die Richtung der Randkurve wird (wie denn sonst) nach schlapper rechter Hand festgelegt (Daumen nach außen, Bild 6 - 8 ). Ein Flächenelement (bei r auf S) habe die Größe df — die Bezeichnung d2r bleibe für Elemente einer ebenen Fläche reserviert — und die Neigung n. Es wird also durch den infinitesima­len Vektor df — d fn charakterisiert. Jenes „etwas pro Fläche“, das wir mit df oder df multiplizieren und dann aufaddieren wollen, kann skalar sein oder auch ein Tensor höherer Stufe. Wenn wir uns wie in (6.54) auf Skalar und Vektor be­schränken, dann ist klar, daß es wieder fünf Sorten solcher Oberflächenintegrale gibt. Wir schreiben zwei davon auf:

J t V t f r ) , J d f - A ( r ) • (6-62)

Das erste liefert z.B. die Masse eines Hutes, dessen Filz-Masse pro Fläche be­kannt ist. Ein schönes Beispiel für den zweiten Typ ist der elektrische Strom I durch eine gegebene Fläche S. Wir lassen kontinuierlich Ladung fließen (pro Zeit und pro Fläche), etwa durch die Erde, die Atmosphäre oder in einer Ga­sentladungsröhre. Es sei also die Stromdichte j ( r ) bekannt (vgl. Abschnitt 4.2). Nur die zu n parallele ~j -Komponente gibt die pro Zeit und Fläche durch S gehende Ladung. Also ist

Ladung j durchjS) = ^ = , = r - ^ } ^Zeit Js

ganz allgemein der Zusammenhang zwischen Stromdichte und Strom. J (r) enthält die volle lokale Information, und I ist mehr eine pauschale Größe — J ist gut und I ist dumm. Wohl weil die Erdenmenschen Strom gern durch dünne Metalldrähte schicken, geben sich so viele von ihnen mit I zufrieden. Nichtsdestotrotz gilt (6.63) auch in pathologischen Grenzsituationen.Bis hierher wurde das Wichtige zum Oberflächenintegral gesagt: man muß wis­sen, was es ist. Kann man es auch ausrechnen? Gewiß. In einfachen Fällen wird man versuchen, Symmetrie auszunutzen, wobei oft die Fläche noch geeig­net gewählt werden kann. Stets möglich ist die Rückführung auf ein ebenes

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6 .4 K u r v e n - , F l ä c h e n - u n d V o l u m e n i n t e g r a l 123

Flächenintegral. Und dies läßt sich wunderbar analog zum Kurvenintegral er­klären.

Eine Kurve C ließ sich per r (£) angeben, eine Fläche S braucht zwei Parameter: r (s, t) . Kennt man r (s, t) , so weiß man auch, von wo bis wohin die Parameter s und t laufen. In der s£-Ebene ist also eine Fläche F bekannt sowie ihre Randkurve. Insbesondere kann es sich bei F um die Schattenfläche in Bild 6 - 8 handeln, falls speziell s — x und t = y gewählt wurde. Aber das muß nicht sein. Im Beispiel (6 .6 6 ) haben s — g und t = sogar verschiedene Dimension.Statt v(t) = r(t) beim Kurvenintegral gibt es jetzt zwei „Geschwindigkeiten“:ds r = : r ' und dt r =: r . Die gerichtete kleine Fläche df ist ein Kreuzprodukt,

dr~\ = ds v f(s t) -j. •• ’ , df = dr\ x dr2 = dsdt r'(s,t) x r ( s , t ) , (6.64)

dr2 = dt r(s,t)

und wir kommen an bei

J df •A ( r ) = J dsdt ^ r '(s , £) x r(s,t)^J • A(r(s , t ) ) . (6.65)

Natürlich muß r ' x r überall auf S nach „außen“ zeigen. Zur Not kann man noch in (6.65) die Partner des Kreuzproduktes vertauschen. Vielleicht findet es der Leser jetzt vergnüglich, sich den Fahrplan (6.53) für den Fall eines Oberflächen­integrals zu formulieren. Punkt 7 lautet: „ebenes Flächenintegral auswerten“.

Um ein Beispiel zu geben, rechnen wir (disharmonisch) die Kugeloberfläche aus: Sr = 2 f s d f . Hierbei verweise der Index S auf die obere Hälfte der Kugeloberfläche. R sei ihr Radius. In Polarkoordinaten (Kugelkoordinaten sind leider noch unbekannt, siehe unten) können wir schreiben r(p, <p) —^g cos(<p), £sin(<^), y/R2 — g2 ^ . Der Parameter g läuft von 0 bis Ä, undder Winkel <p läuft einmal herum:

? ' = ( c , s , - ß /y T -1) , r = ( - 0 s , e c , O )

a ( e2c e2 s \ -i, qRr x r = 0 . | r ' x r |

y T ’ y T J ’

s* T 2 L d l = 2 C d l lU v 7 ^ V = A ' R S " ‘“ 7 ^ 7

== 4ttr J^ dg de [ - a / R 2 - Qr \ = 4?r R 2 • (6 .6 6 )

V olum enintegral

Masse eines Sterns, Energie der Erdatmosphäre, Dioxingehalt der Nordsee: et­was pro Volumen sei als skalare Funktion <j>{r) des Ortes bekannt. Ein gege­benes Volumen V sei dicht aus Volumenelementen d3r zusammengesetzt. Ad­dition aller Produkte d3r<j> gibt das in V enthaltene „etwas“: f v d3r (j>(r) . Zu

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124 K a p i t e l 6: I n t e g r a l e

bekannter Ladungsdichte g kann man also die gesamte in V enthaltene Ladung Q wie folgt ausdrücken:

Ladung (in V) = Q — f d3r g(r) . (6.67)Jv

Strom (6.63) und Ladung (6.67) hängen eng miteinander zusammen (s. Kapi­tel 9), denn wenn Q abnimmt, muß die Ladung durch die Oberfläche von V entweichen. Es muß also Strom durch dieselbe fließen.Ein Volumenintegral kann man z.B. in kartesischen Koordinaten ausrechnen. Dabei denken wir wie beim Flächenintegral und schneiden die „Kartoffel“ V in Scheiben parallel zur y z -Ebene. V hat einen am weitesten links liegenden Punkt x\ und einen am weitesten rechts: x<i- Sonnenlicht senkrecht von oben gibt eine Schattenfläche mit vorderer und hinterer Randkurve: yi(x) bzw. 3/2 (2 ) (ma­len!). Der dunkle bzw. der helle Teil der F-Oberfläche hat Höhenprofil z\ (x, y) bzw. z\ (x, y) . V zu kennen heißt, daß alle diese Funktionen bekannt sind. Da­mit ist das Volumenintegral auf drei gewöhnliche Integrationen zurückgeführt:

r rx2 ry2{x) rz2{x,y)/ d r 0 ( r) = dx dy dz 0( r ) . (6.68)

Jv Jx 1 Jyi{x) Jzi(x,y)

Das ^-Integral erfaßt eine Säule bei x, y , und das y-Integral addiert solche Säulen zu einer Scheibe bei x. Wenn man 0 = 1 setzt, liefert (6 .6 8 ) das Volumen V. Man sieht auch schön, wie (6 .6 8 ) dann in die Rechnung (6.57) einmündet, wenn V überdies ein Kugelvolumen ist.Vielleicht klingt Ihnen noch das Wehklagen unter (6.28) im Ohr ob der Be­schränkung auf „stabförmige Himmelskörper“. Inzwischen sind wir nun in der glücklichen Lage, alle diese Größen (Masse, Schwerpunkt, Trägheitstensor, Gra­vitationspotential) für einen beliebig geformten räumlich ausgedehnten Stern mit allgemeiner Massendichte-Funktion g(r) anzugeben

M = J d3r ß(r) (6.69)

M R = J d 3r g(r) r (6.70)

Ijk = / d3r g(f) (r 3jk XjXk') (6.71)

V{r) = — 7 m f d3r' ■ff(r') Ir — r' |

(6.72)

An allen vier Integralen (6.69) bis (6.72) könnte nun jemand den Index V vermissen. Der Herr Jemand hat durchaus recht. Aber ohne den Index V sind diese Gleichungen ebenfalls richtig. Da außerhalb des Sterns die Masssendichte Null ist, darf man ruhig die Integrationsgrenzen in den leeren Raum hinein verlagern: „plus Null“ — auch wenn man die Grenzen bis nach Undendlich schiebt. Wenn dabei ein Planet des Sterns erfaßt wird, dann muß natürlich seine Dichte ignoriert werden — es sei denn, er soll berücksichtigt werden. Will man also z.B. die Masse der rechten Hälfte des Sterns ausrechnen, dann

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6 .5 K r u m m l in ig e K o o r d i n a t e n 12 5

muß man entweder den Index V wieder anbringen oder man muß künstlich seine Dichte g in der linken Hälfte Null setzen.Die Gleichungen (6.69) bis (6.72) sind wunderbar allgemeingültig. Sie müssen geübt werden. Es bleiben noch zwei restliche Fragen, eine technische und eine philosophische. Sie führen uns in die folgenden beiden Abschnitte.

6.5 Krummlinige Koordinaten

Ein Punkt der Ebene wird durch seine kartesischen Koordinaten x, y oder durch Polarkoordinaten r, ip oder ... festgelegt, jedenfalls durch Angabe von zwei Zahlen. Im Raum sind drei Parameter erforderlich. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, einen Raumpunkt dreiparametrig dingfest zu machen. Aber nur drei davon (kartesische, Zylinder- und Kugelkoordinaten) werden immerzu benötigt. Eine größere Auswahl bieten [Margenau/Murphy ] in ihrem Kapitel 5.

Zy linder koordinaten

Der Schatten des Raumpunktes auf der xy-Ebene wird in Polarkoordinaten angegeben, und bei seiner Höhe über dieser Ebene bleibt man kartesisch:

x = g cos(<£?)y = g sin(< ) , d3r = dg g d<p dz . (6.73)z = z

Das Volumenelement (6.73) ist offensichtlich die triviale Verallgemeinerung der Polarkoordinaten (6.58). Aber wir müssen ihn auch sehen (vor unserem gei­stigen Auge), diesen kleinen gdip breiten Balkon in Höhe z an einem runden Haus! g ist sein Abstand von der 2 -Achse — während r weiterhin seinen Abstand vom Ursprung bezeichnen möge. Es versteht sich, daß man irgendein Volumen mit solchen Baikonen auspflastern und somit ein Volumenintegral in Zylinderkoordinaten ausrechnen kann.

*

Kugelkoordinaten

Einer der drei Positions-Parameter eines Punktes soll der Abstand r zum Ur­sprung sein. Nun denken wir uns eine Erdkugel mit diesem Radius hinzu und ergänzen r um „Breitengrad und Längengrad“. Der Winkel des Ortsvektors zur 2 -Achse heiße # (0 ^ ^ 7r), und (j> sei die Zylinderkoordinate des Punk­tes ( - 7r < ip < 7r). Als Volumenelement bietet sich ein kleines quaderförmiges Haus auf der,,Erde“ an, dessen vier Wände genau in die vier Himmelsrichtungen zeigen. Es hat Höhe dr, Nord-Süd-Abmessung rdfi und ansonsten rsin(#)cfy? in Ost-West-Richtung, denn r sin($) ist sein Abstand von der Erdachse. Wir sind fertig und schieben nur noch die nicht-differentiellen Faktoren an geeignete Stellen:

x = rsin(tf) cos(y?)y — r sin($) sin((p) , dzr — dr r 2 dü sin($) d<p = dr r2 dfl . (6-74) z — r cos($)

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126 K a p i t e l 6: I n t e g r a l e

Der mit dQ bezeichnete Anteil in (6.74) ist dimensionslos und heißt Raum w in- ke leie m ent. Diese Bezeichnung ist goldrichtig. Bekanntlich, s. (1.15), ist der Raumwinkel als Fläche/(Abstand ) 2 definiert. Die Grundfläche unseres Hauses ist rd'd • rs in ($ )dtp, und folglich nimmt es den Raumwinkel ch?sin($)cfy? = dQ ein. Wenn man alle Raumwinkelelemente addiert, ergibt sich

/ /»7r /*27rdQ = d'd sin(i?) I d<p = An . (6.75)

Jo Jo

Da ein Raumwinkel nicht klein zu sein braucht, muß es sich bei (6.75) wohl oder übel um die durch R 2 geteilte Kugeloberfläche handeln. Es ist so. Wir rechnen sie (erneut) aus. Ihr Flächenelement ist R 2dQ, und somit haben wir

SR = [ df = R 2 f dQ = An R 2 . (6.76)J s R J

Der große Vorteil der Kugelkoordinaten erweist sich bei kugelsymmetrischen Rändern und/oder kugelsymmetrischem Integranden. Man erkennt ihn gut, wenn wir noch einmal (zum dritten Mal) das Volumen V r einer Kugel ausrech- nen

Vr = J d3r = dr r 2 J dQ = y Ä 3 . (6.77)

Was passiert bei dieser Rechnung? Geht es noch besser? Nun ja, wir können drr2 fdQ = dr Anr2 als Volumen einer infinitesimal dünnen Kugelschicht deu­ten (Höhe dr mal Grundfläche: die Krümmung dieser infinitesimal dünnen Schicht spielt keine Rolle) und V r als Summe aller Schicht-Volumina verste­hen. Aber wir können (6.77) auch lesen als V r = JdQR? /3 = J d fR /3 und nun df R/3 als das Volumen einer Pyramide deuten. Das Volumen jeder Pyramide ist Grundfläche mal Höhe durch 3 (der Leser begründe dies!). Jetzt wird’s ganz hübsch. Die Kugel sehen wir nun aus lauter dünnen Eistüten bestehen, wie ein Facettenauge. Darum ist ihr Volumen 1/3 mal Höhe (= R) mal „Grundfläche“, nämlich mal der Oberfläche (= 4 7 xR2) der Kugel.

Es ist unausweichlich, daß Sie einmal das Gravitationspotential (6.72) einer kugelrunden Erde (g « const) ausrechnen, und zwar innen und außen. Sie tun dies natürlich in Kugelkoordinaten, d.h. mit (6.74), legen sich die Achse des Integrationsvariablen-Raumes (d.h. die z*-Achse) in Richtung des äußeren Parameter-Vektors r (so daß r • r 1 = rrf cos($)) und probieren nun aus, in welcher Reihenfolge sich die drei Integrale am besten ausführen lassen. Im Außenraum (R < r) erhalten Sie V = —y.mM/r und bestätigen so seine R - Unabhängigkeit. Den Innenraum füllt ein Oszillatorpotential V ~ r2. Eine sehr ähnliche Rechnung findet sich übrigens in (6.107) am Ende des nächsten Abschnitts.

J acob i-D eterm inan te

Wir lösen uns nun aus der Enge obiger Spezialfälle, betrachten allgemeine krum­me Koordinaten u, v in 2D (was genügt, da Verallgemeinerung auf 3D trivial)

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6 .5 K r um m l in ig e K o o r d in a t e n 127

und suchen nach einem Ausdruck für das Flächenelement d2r . Die Bedeutung der Koordinaten tt, v legen wir durch ihren Zusammenhang mit x, y fest, d.h. durch zwei Funktionen:

x =: x(u,v) , y =: y(u,v) , oder kurz : r =: r(u,v) (6.78)

Hält man v fest und läßt u laufen, dann liegt die Parameterdarstellung einer bestimmten Kurve vor (die durch den Wert von v charakterisiert ist). Bei Wert v + dv entsteht eine nahe benachbarte Kurve. Bild 6-9 zeigt ein Netz solcher Kurven. d2r ist die Fläche einer Masche dieses Netzes.

Bild 6-9: Ein Flächenelement in krummlinigen Koordinaten

Die Ableitung dur zeigt in Richtung der v = const-Kurve, und entsprechend liegt dvr tangential an u — const. Die infinitesimalen Vektoren dr\ := du du r und drz := dvdvr bilden die Ränder der Masche. Alles läuft wie beim Ober­flächenintegral, nur ist jetzt die Normale der ebenen Fläche stets e3. Also haben wir

(6.79)

und folglichdux duydyX d^y

Zu J sagt man Jaco b i-D e term in an te oder auch Funktionaldeterm inante .Sehen wir nach, ob (6.80) bei Polarkoordinaten richtig funktioniert, d.h. ob \J\ = r herauskommt. Hierzu ist u = r und v = <p, ferner x = rcos(<p) und y — r sin(< ) und folglich

( dux duy ° \d2r = (dr\ x dr 2 ) • e3\ = dudv det I dvx dvy

0\ 0 0 1 /

d2r = dudv \J\ J = (6.80)

J = cos(<£>) sin(<£>) -rsin(<^) rcos(<p) = rcos2 (<p) + r s in 2 (<p) = r (6.81)

Es stimmt. Zu u — <p und v = r hätte sich J — —r ergeben. Aber in (6.80) wird ja der Betrag von J genommen. In 3D ist J natürlich die Determinante einer 3 * 3-Matrix. Man rechne sich diese zu Kugelkoordinaten aus und vergleiche mit (6.74). Die „Jacobi-Determinante in ID“ steht in (6.38).

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128 K a p i t e l 6: In t e g r a l e

6.6 Delta-Funktion

Wer über die Gleichungen (6.69) bis (6.72) nachdenkt und sich über ihre Allgemeinheit freut, der möchte sie wohl auch dann noch aufrechterhalten, wenn die Masse auf eine Fläche oder auf eine Kurve zusammenge­quetscht wird. Er möchte z.B. die Stab- Gleichungen (6.25), (6.28) und die Draht- Gleichungen (6.48) bis (6.51) als Spezialfälle erhalten können. Anschaulich ist klar, daß das möglich sein muß — man kann quet­schen. Aber wie mag es per Rechnung zu be­werkstelligen sein?

Wir gehen das Rätsel schrittweise an und quetschen erst einmal einen Stab auf der x-Achse auf einen Punkt zusammen: kein mathematischer Punkt natürlich — aber wir möchten so rechnen lernen, als wäre es einer geworden. Bild 6-10 zeigt a ( x ) / M . Bei dieser Prozedur wird jedenfalls schließ­lich der Durchmesser des Klümpchens klein gegen sonstige Längen der beteiligten Physik (Abstand zu einer Raumsonde, Auflösungs­vermögen des Auges, Licht-Wellenlänge,... ).

Nichts ist ungewöhnlich daran, daß ein. Pro­blem zwei typische Längen hat und daß man die kleinere als näherungsweise Null idealisie­ren möchte. Grenzfälle machen einfach. Bild 6-10: Eine Delta-Punktion

Erste Definition

ö(x) ist eine Funktion mit positiver Fläche,welche bei x = 0 auf s-Bereich konzentriert ist (6.82)und den Wert f d x ö(x) = 1 hat.

Diese drei Zeilen (6.82) sind alles, was zur Erklärung des Wortes „Delta- Funktion“ seitens der Physiker zu sagen ist — eine einfache Angelegenheit. Für den Hausgebrauch genügt „dünn, hoch und Fläche eins“. Aus (6.82) wird sich ergeben, wie man mit der J-Funktion rechnen kann. Auf den genauen Verlauf von 5(x) kommt es nicht an. Die Formulierung „konzentriert ist“ war absichtsvoll ein wenig ungenau. Die Fläche 1 kann restlos zwischen — e und e liegen. Aber sie darf auch Schwänze haben wie in Bild 6-10, so daß nur ein gewünschter hoher Flächenanteil (z.B. 0.99999) im ^-Intervall liegt.

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6 .6 D e l t a - F u n k t i o n 129

Gesunder Menschenverstand ist gefragt. Zur Warnung: in diesem Abschnitt wird ein eigenwilliger Standpunkt vertreten. Allzuoft bekommen (ansonsten ganz normale) Leute beim Thema J-Funktion plötzlich einen eigenartigen Ge- sichtsausdruck und reden wirr. Als 1981 zwei Autoren unabhängig vonein­ander die exakte Lösung des gleichen Vielteilchenmodells (Kondo-Problem) publizierten, unterschieden sich die Resultate. Der Unterschied ließ sich bis zur «^-Definition rückverfolgen. Gewiß, es gibt eine saubere Mathematik die­ses Kalküls. Sie läuft unter dem Namen „Distributionen-Theorie“ (siehe z.B. [Walter]). Der Punkt ist, daß wir mit (6.82) weit weniger Aufwand benöti­gen und sehr gelassen bleiben dürfen, wenn wir nur darauf bestehen, daß ö(x) die Idealisierung einer physikalischen Realität ist — darum die langatmige Einleitung dieses Abschnitts. In (6.82) führen wir den Grenzübergang e 0 nicht aus! Wir denken uns lediglich e so klein (klein gegen sonstige typische z-Intervalle des Problems), daß sich die Breite der Delta-Zacke erst in der z.B. 37-ten Kommastelle einer zu berechnenden physikalischen Größe bemerkbar macht. In diesem Sinne bleibt ö(x) eine normale Funktion. So und als solche benötigen wir sie in der Physik.

Letzten Endes kommt die Delta-Funktion nur unter Integralen vor. Wenn man dennoch gern separat mit ihr hantiert, dann warten alle solchen „nackten“ Glei­chungen darauf, irgendwann später eben doch noch überintegriert zu werden. Die folgende Weisheit (6.83) ist darum das Wichtigste, was es zum Umgang mit ö(x) zu lernen gibt. Wir sehen sogleich, daß man aber (6.83) auch deuten kann als

Zweite Definition

„Definierende Eigenschaft der Delta-Funktion“:

J d x ö(x - so) f (x) = f { x 0) (6.83)

für alle gesunden, einwertigen Funktionen f ( x ) .

Aus (6.82) folgt (6.83). Die Delta-Zacke sitzt in (6.83) bei zo- Ihre Breite e ist so klein, daß f (x) im Intervall (xq — e , xq + e) nicht mehr nennenswert variiert. / darf also keinen Sprung haben, muß „gesund“ sein. Im genannten kleinen Intervall kann also f(x) durch f ( x o) ersetzt werden. Außerhalb des Intervalls entsteht kein Beitrag zum Integral. Also kann überhaupt f (x) durch f ( x o) ersetzt werden. Die Konstante f ( x o) wandert vor das Integral und der Rest ist 1. Fazit: ö unter Integral ermöglicht sofortige Auswertung desselben!

Folgt auch (6.82) aus (6.83)? Es scheint so. Wie kann schon ö(x) aussehen, damit sich f ( x o) herausziehen läßt? Wenn nur (6.83) zu erfüllen ist, dann könnte S(x) außerhalb des ^-Intervalls so enge Oszillationen haben, daß netto bei Integration kein Beitrag erwächst. Bild 6-10 trifft nun nicht mehr zu. Aber in (6.82) ist nur von „bei Null konzentrierter Fläche“ die Rede. Festlegung (6.82), so weitherzig verstanden, folgt aus (6.83). Auch (6.83) definiert 5(x).

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130 K a p i t e l 6: I n t e g r a l e

(5—D arstellungen

Eine explizit angegebene Funktion mit der Eigenschaft (6.82) oder auch (6.83) nennt man eine D arstellung der Delta-Funktion. Typische Beispiele sind

J(x) = für - e < x < e und 0 sonst (6.84)

1ö(x) = (6.85)£y/7T

*(*> = d* T V P ^ = - d x ^ i h l (6,86)

5{x) = i sin2 (?) (6'87)1 /T \ 1 /*V i

J(x) = — sin ( — ) = —— / dk cos(kx) — — / dke (6 .8 8 )7TX \£ / 27T J — \fe 27T J — l/e

ä(l) - ; = ^ / - “ «“ * • ( « » )

Wozu mögen diese Gleichungen gut sein, darf man fragen, wo es doch auf den genauen Verlauf gar nicht ankommt? Diese Frage verdient zwei Antworten.

i) Eben weil es auf den genauen ö-Verlauf nicht ankommt, kann man sich nach Lust und Laune eine Darstellung aussuchen, um gewisse Formeln zu überprüfen, z.B. jene der Formelsammlung (6.92)ff. Beispielsweise folgt aus jeder der obigen Darstellungen die

Dimension von ö [*(*)] =■ 1 ' T— = —X _ £ .

(6.90)

Auch bereits aus den Definitionen (6.82) oder (6.83) folgt dies natürlich.

ii) Bei irgendeiner wilden Rechnung könnte uns einer der Ausdrücke (6.84) bis (6.89) unter die Finger geraten, z.B. als Faktor in einem Integranden. Falls wir dies erkennen, dann wissen wir sofort, daß der Ausdruck bei e -> 0 zu einer Delta-Funktion wird und daß sich folglich das Integral über ihn in diesem Grenzfall leicht auswerten laßt. Insbesondere von (6.89) werden wir in dieser Weise noch fleißig Gebrauch machen im Kapitel 12.

In (6.89) wird der geklammerte Faktor, der konvergenz—erzeugende Faktor, gern weggelassen: man merkt ihn sich. Es ist übrigens unerheblich, wie man bei großen k abschneidet, d.h. für Konvergenz des Integrals sorgt. Beispiel hierfür ist (6 .8 8 ).

Beim Nachprüfen der Darstellungen wird dem Leser eine gewisse Fleißarbeit aufgebürdet. Er integriere jeden der Ausdrücke (6.84) bis (6.89) über alle x — und wehe, es kommt nicht stets 1 heraus. Ansonsten ist nur noch nachzusehen (malen!), ob sich je mit e -> 0 die Fläche bei Null konzentriert. Die Liste der Darstellungen läßt sich um beliebig viele Beispiele erweitern. Aus jeder

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6 .6 D e l t a - F u n k t i o n 131

gesunden Funktion g(x), deren über-alle-x-Integral existiert und nicht Null ist, läßt sich nämlich eine Darstellung gewinnen:

J d x g(x) =: J , 8{x) = j j g ( Z ) . (6.91)

Mit (6.91) ist sozusagen die „allgemeine Darstellung“ zu Papier gebracht. Der Anblick von (6.84) bis (6.89) mag einen anderweitig ^-geübten Leser stark be­unruhigen. Er vermißt überall den vorangestellten Limes e -> 0. Er fehlt mit Absicht! Das gerade ist ja unser Eigensinn, daß wir e -> 0 nicht voll ausführen. Beziehung (6.83) gilt als Näherung: je kleiner e, um so besser.

Form elsam m lung

Jeder der folgenden Zusammenhänge läßt sich anschaulich verstehen und/oder rückführen auf (6.83) und/oder herleiten mittels einer der Darstellungen.

S(-x) = 5(x) , S(ax) = y-\S(x) (6.92)|a|

8(x2 - a2) = ( £(z - a) + 8(x + a) ^ (6.93)

w - X ' E j T i b i <*«>

°° ikx-ek 1 - 1dk Qikx-ek = ------- = -------- = _ i7rS^ (6 g5 )0 x + ie x2 + e2 x v 1 v '

dx f ( x )S ,(x) — - / '(0 ) , —xö'^x) — S(x) (6.96)

dx S(x — a) 5(x — b) = S(a - b) . (6.97)

u //

Der Buchstabe V in (6.95) verlangt, daß bei Integration über 1/x die dabei negativ- bzw. positiv-unendlich werdenden Flächen-Anteile gegeneinander zu kompensieren sind:

F d x V - := lim ( f £d x - + f d x - ) =: f dx - . (6.98)J_ 2 x s ^ o \ J _ 2 x J+e x ) J_ 2 x

Man sagt, man habe den H auptw ert (principal value) des Integrals genommen. Nur wenn die beiden s ’s in der runden Klammer gleich sind, tritt Flächen­kompensation ein. In (6.98) ist die handelsübliche Vorschrift für Hauptwert­integration angegeben. Wenn wir statt dessen V(l/x) durch x / (x2 + e2) fest­legen (malen!), wird die Flächenkompensation ebenfalls und automatisch er­reicht. Diese „Einbettung“ des Pols ist also eine besonders kluge Hauptwert­Beschreibung.

Stufenfunktion

Die Stufenfunktion ist die Stammfunktion der Delta-Funktion. Mit (6.82) ist

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132 K a p i t e l 6: I n t e g r a l e

das erste der folgenden Gleichheitszeichen anschaulich klar,

J dx'J(x') = | ° ='■ 0(x) > dxe(x)=6(x) , (6.99)

wobei wir der Einfachheit halber im mittleren Ausdruck der ersten Gleichung e = 0 gesetzt haben. Da wir uns £(x) weich denken (Bild 6-10), hat jedoch 6(x) abgerundete Ecken und keine unendliche Steigung — „man sieht das lediglich kaum noch“. So kommt 6(x) in der Physik vor, etwa als Massendichte, ange­geben für alle x, eines Stabes auf der rechten x-Halbebene: a(x) = cro 0(x). In der Realität (Quantenmechanik) nimmt a(x) nach links hin nicht plötzlich den Wert Null an. a(x) hat keinen Sprung. Nun fragt einer von jenen Leuten (die eingangs schon eins verpaßt bekamen) blauäugig, welchen Wert denn 8(x) an der Stelle x = 0 habe. Wie würden Sie antworten? Z.B. gar nicht. Oder folgen­dermaßen: „Nehmen Sie ruhig 1/2, wenn Sie das psychisch nötig haben. Aber nun schieben Sie den Stab ein unmeßbar kleines Stück nach links, schwupp, schon hat er (fl)/cro den Wert 1. Die Frage gibt also keinen Sinn. Nirgends in der Physik taucht sie auf.“

Stufe weich und 5 weich: also darf differenziert werden, um die rechte Glei­chung (6.99) zu erhalten. Auch (6 .8 6 ) illustriert dies sehr schön. Aus jeder 6- Darstellung kann man eine Darstellung der Stufenfunktion 9 erhalten, nämlich als die Stammfunktion der ersteren, die links Null wird. Beispiel:

7T X 2 + £ 2= dx — arctan j rx 6(x) = i -f- — arctan . (6 .1 0 0 )

Physik mit ö

Die Delta-Funktion bewältigt ein Formulierungsproblem, nämlich wie man bei Objekten, die als unendlich dünn idealisiert werden, weiterhin räumlich denken kann (s. Beginn dieses Abschnitts). Die 3D Massendichte einer flachen Galaxie hat die Form g(r) = </>(x,y) • S(z). Welche Bedeutung hierbei die Funktion <t>(x,y) hat, wird sofort klar, wenn wir die Masse dM ausrechnen, die sich in einer dünnen vertikalen Säule mit Querschnitt dx dy befindet:

dM = J d3r g(r) = dxdy J dz <j>(x,y) S(z) = dxdy <j>(x,y) . (6.101)

Also ist <j> die Masse pro Fläche. In der Tat geht (6.69), d.h. M = f d 3r g (r ), direkt in das Flächenintegral (6.56) über — man sieht es. Die 3D Massendichte eines dünnen Stabes ist g(r) = a(x) S(y) S(z) . Hiermit gehen nun alle vier Gleichungen (6.69) bis (6.72) in die Stab-Gleichungen (6.25), (6.28) über, weil y- und ^-Integrationen zusammen mit den zwei ^-Funktionen 1 geben. Bei einer Punktmasse sind alle drei £’s erforderlich. Definition:

S(f ) := S(x)S(y)S(z) (6.102)

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6 .6 D e l t a - F u n k t i o n 133

Aus (6.102) folgt

J d 3r S(r) = 1 und J^d3r <S(r - r0) = j J r ° m V (6.103)

Die Massendichte einer Punktladung bei ro ist also g(r ) = M S (r - ro) . Wenn wir dies in die allgemeine Formel (6.70) für den Schwerpunkt einsetzen, dannergibt sich R = ro , wie erwartet. Sind all diese Fähigkeiten der Delta-Funktion nicht einigermaßen eindrucksvoll?

Die Elektrodynamik in Kapitel 11 läßt sich dank S sehr geschlossen formulieren. Sie kommt mit vier Feldern aus: E , B, ~g, j . Man schreibe Ladungsdichte und (Ladungs-) Stromdichte für eine Punktladung q auf, die sich in bekannter Weise bewegt: ro(t) bekannt. Wir können das:

e(r , t ) = q 6 ( r - r 0(t)). 1 (6.104)

] ( r , t ) = r0(t) qS(r - r0(t)) .

Die untere Gleichung wird mit Abschnitt 4.2 verständlich: J = gv , wenn g die Dichte der Ladungen ist, die sich mit v bewegen. Das ist hier der Fall, dennder ganze Klumpen fliegt mit v = r , und g ist weich, d.h. ein klein wenig räumlich ausgedehnt.

Spielen wir doch noch ein wenig mit (6.104) und sehen uns den Strom I , (6.63), durch die x y -Ebene für den Fall an, daß die Punktladung auf der z-Achse mit v nach oben fliegt: I = f d2r • [£ 3 vqS(r — e3v t ) \ z=Q = qvS(-vt) — qS(t) — und das gefällt. Wie krumme Koordinaten in das Argument der Delta-Funktion wandern, mögen die folgenden zwei Beispiele zeigen.

A Ladungsdichte g eines mit Q homogen geladenen kreisförmigen (R ) Drahtes in Zylinderkoordinaten: ^(f) = AS(g - r) S(z) . A ist zu bestimmen aus

/ roo r2n nd?r g(r) = J dg g J dtp j dz AS(g — R) 5(z)

= A2irR rv e = - ß - 6 ( e - R ) 6 ( z ) . (6.105)27rR

B Gravitationspotential einer Hohlkugel (M, R) in Kugelkoordinaten: g(r ) = C 6(r - R ) . C ist zu bestimmen aus

M = j d 3r ß(r) = j d ü j™ d r r2 C5{r - R) = C 4 x R 2 . (6.106)

Wir erhalten g(r) = (M / 4irR2) S(r — R) und haben dies in (6.72) einzusetzen:

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134 K a p i t e l 6: I n t e g r a l e

V ( r ) =f= —ymM

4ttR 2

noo rir/ dr1 r12 dtp' / dfl' sin(tf')

Jo Jo Jo

6{r' - R)y/r2 + r§ 2 — 2 rr1 cos($')'

wobei die r'-Kugelkoordinaten auf die r -Richtung bezogen wurden: „ich rechne den F-W ert bei r aus. Währenddessen ist r ein fester Vektor. Ich benutze ihn zur Orientierung beim Aufsammeln der d V-Elemente“.Substitution: r 2 + r / 2 — 2rr/ cos($) =: u2

j m M2txR

4 ttä 27771M

ä ”7771M

1 n r-rR J\r—(R > r)

( r > R )

r+Ä |du rx

R\

(6.107)

Im Außenraum bestätigt sich (3.24). Der Innenraum hat konstantes Potential F und ist somit frei von Kräften. Auch das Innere einer geladenen Metallkugel ist feldfrei. Überschüssige Ladungen stoßen sich ab und entfernen sich voneinander— so weit wie möglich, bis sie an der Oberfläche festgehalten werden.

Die wohl wichtigste ^-Anwendung erwähnen wir hier nur kurz. Manche linearen Ursache-Antwort-Probleme löst man dadurch, daß man die Ursachenfunktion u(pc) in „punktförmige“ Anteile zerlegt,

u(x) = J d a u(a) ö(x - a) , (6.108)

und dann zunächst das einfachere Hilfsproblem mit Ursache S(x - a) löst. Das Stichwort hierzu heißt „Greensche Funktion“ und wird zum Ende des nächsten Abschnitts aufgegriffen. (6.108) ist natürlich nichts anderes als die zweite 6- Definition, aber wir lesen (6.108) anders: die Funktion u(x) wurde entwickelt nach den Funktionen 8{x — a), welche mit dem Parameter a kontinuierlich durchnumeriert sind. Daß hier die Koeffizienten-Funktion u(a) mit der ur­sprünglichen zusammenfällt, ist eine Spezialität dieser Entwicklung. Solcherlei Worte klingen irgendwie vertraut. Wenn wir einen Vektor nach einer Basis entwickeln (u = Ck fk, oder in Komponenten: uj = Ck(fk)j) und dann fürfk die kartesischen Einheitsvektoren wählen, dann lautet die Entwicklung

Uj = Ck{ek)j = CkSjk = Cj . In diesem Falle stimmen also ebenfalls die Koeffizi­enten mit den Komponenten („Funktionswerten“) überein.Eine Funktion f (x) läßt sich also begreifen als ein „Vektor“, dessen Kompo­nenten kontinuierlich mit x numeriert sind. S(x - a) ist die x-te Kompo­nente des a-ten „Einheitsvektors“. Orthonormierungs-Relation ist (6.97), d.h. f dx 6(x — a) S(x — b) = 6(a — b). Offenbar ist die Delta-Funktion das Analogon

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6 .6 D e l t a - F u n k t i o n 135

zum Kronecker-Symbol. Die Summe beim Skalarprodukt-Bilden ist zu f dx geworden. Angenommen, ein Operator X hat die S(x — a) als Eigenfunktionen: X 5 (x — a) = a 5(x — a) , dann zeigt die folgende einzeilige Rechnung, wie er auf eine beliebige Funktion wirkt:

X u (x ) = X j da u(a) S(x - a) = J da u(a) aS(x — a) = xu(x) . (6.109)

Er multipliziert sie also mit ihrem Argument x (und somit gibt es ihn). Wir sind unversehens in die Quantenmechanik geraten; X ist der O rtsopera to r, und (6.108) ist die Entwicklung nach seinen Eigenfunktionen. Sie „spannen den Hilbertraum auf“. Der Gedanke „Funktion ist Vektor“ ist so schön und für die Physik so wertvoll, daß wir ihn in Kapitel 12 erneut aufgreifen „müssen“.

Der normale Bürger glaubt, er könne addieren. Nun, wenn er den Stoff dieses Kapitels beherrscht, dann mag er das sagen dürfen.

Bei einem so „einfachen“ Kalkül wie dem Addieren war nicht zu erwarten, daß wir in Richtung Natur-Verstehen sehr wesentlich vorankommen. Es gab jedoch ein immer wieder kehrendes Thema in der Orgelmusik der Integrale: das Gra- viationspotential, d.h. das Aufsammeln infinitesimaler Fernwirkungen räumlich verteilter Ursachen. Ist das nicht schon „Theorie der Kräfte“? — ein Zipfel davon. In Kapitel 8 werden wir nämlich in der Lage sein, aus (6.72) die „erste Maxwell-Gleichung“ herzuleiten. Auch andere Gleichungen (siehe unten) könn­te man schon als typisch elektrodynamisch ansprechen. Die Tür zur Theorie der Kräfte hat sich einen Spalt breit aufgetan.

Es war einmal, da begannen die „DIN-A7-Zettel“ zu entstehen (ab Ende von Kapitel 3). Seitdem treiben sie ihr Wesen zwischen Notizen und Briefmarken, im Taschenkalender oder wo das Geld ist. Manche vergehen, und andere kom­men hinzu. Das jüngste Exemplar mag folgendermaßen aussehen und bis in ferne elektromagnetische Zeiten leben:

V = —y m j d 3r' g(r') / |r — r 1 \

Hohlkugel : V = m M / r bzw. / R

/ = / / - 7 , Q = j v d3r e

Pktldg : q = qS(r — ro) , J = qS(r - r0)

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• •7 Uber das Lösen von

Bewegungsgleichungen

Mit dem Wort „Bewegungsgleichung“ benennt man in etwa alles, was (zu be­kannter Gegenwart) die Zukunft einer Physik regiert: „Zukunfts-Gleichung“. Man erwartet, daß die unbekannten Funktionen oder Felder in zeitabgeleite­ter Form enthalten sind. Newton ist die Bewegungsgleichung der Mechanik, Maxwell die der Elektrodynamik, Schrödinger die der Quantenmechanik und Dirac die der relativistischen Quantenmechanik. Aber auch die phänomenolo­gischen Raten-Gleichungen einer chemischen Reaktion oder eines biologischen Wachstums sind Bewegungsgleichungen. Im folgenden wird nur auf gewöhnli­che Differentialgleichungen eingegangen und auch dazu nur in Ausschnitten — lange Titel sind verdächtig.

Wer die eine oder andere Newtonsche Bewegungsgleichung mittels Ansatz be­wältigt hat, der erwartet vielleicht eine systematische Daxstellung der Lösungs- Methodik. Er wird sein Leben lang enttäuscht. Es gibt sie nicht. Die Kunst des Wahrsagens ist nur wenig entwickelt. Die entsprechende Mathematik freut sich über Klassifizierungen und Existenz-Beweise. Aber im konkreten Fall stehen wir da wie beim Integrieren: F1 = / , F = ? Was ist in einer solchen Situation zu tun? Es ist Erfahrung zu sammeln, der Dgl-Typ zu erkennen, Spürsinn für Lösbarkeit zu entwickeln, und ein Mindest-Repertoire zusammenzustellen. Das Kapitel wird kurz.

7.1 Terminologie

Funktionen y(x) werden gesucht, die eine Gleichung (Dgl) lösen, in der x - Ableitungen von y Vorkommen. Die höchste vorkommende Ableitung heißt O rdnung n der Dgl (siehe Unterabschnitt „Vorhersage der Zukunft“ in Kapi­tel 3). Die Dgl enthalte also gerade noch y^n\x ) . Die Dgl ist linear, wenn y und ihre Ableitungen nur in erster Potenz enthalten sind. Sie heißt gewöhnlich, wenn sie nur Ableitungen nach einer Variablen enthält. Die unbekannte Funk­tion in einer partie llen Dgl hängt von wenigstens zwei Variablen ab, und die Ableitungen nach diesen treten auf. Wir wollen annehmen, daß unsere gewöhn­liche Dgl in einer nach y(n) (x) aufgelösten Form vorliegt. Andernfalls heißt sie im plizit. Die allgemeine gewöhnliche lineare Dgl n-ter Ordnung lautet also

2/(n)(x) + f„ -1(x)y(n~1)(x) + .. . + f i (x )y ' (x ) + f 0(x)y(x) = f{x)n

oder mit f n(x) = 1 : f v(x) 0% y(x) = f ( x )v=0

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7.1 T e r m in o l o g ie 137

oder kurz : Ln y = f (7.1)

Die Funktionen / (mit oder ohne Index) seien bekannt. Die rechte Seite heißt Inhom ogenitä t der Dgl. Eine lineare Dgl ist hom ogen, falls / = 0. Eine n-parametrige Schar von Lösungen nennt man allgem eine Lösung der Dgl. Bei nichtlinearen Dgln kann es einzelne singuläre Lösungen geben, die nicht in der allgemeinen Lösung enthalten sind (siehe Fall (5)). Funktionen 2/1 (2 ), 2/2 (2 )) 2/3 (2 ), . . . (z.B. verschiedene Lösungen einer Dgl) heißen linear unabhängig genau dann, wenn das Null-Setzen ihrer LK Null-Koeffizienten erzwingt, wenn also Ciyi(x) + £ 2 2/2 (2 ) + .. . = 0 identisch in x nur zu C\ = C2 = • • • = 0 erfüllbar ist. Offenbar wird der Begriff genauso wie bei Vektoren verwendet (siehe Ende von Kapitel 1).

Vokabeln lernt man am besten anhand konkreter Situationen. Z.B. ist die Bewegungsgleichung x = —u 2x des ID harmonischen Oszillators vom Typ y" + a)2y = 0. Sie ist gewöhnlich, linear, zweiter Ordnung, homogen und hat Z/ 2 = d2 + u)2. Ihre allgemeine Lösung ist C\ cos(ujx) + C2 sin(a;x). Die beiden Lösungen 2/1 — cos(a)x) und 2 /2 = sin(a;x) sind linear unabhängig, aber die drei Funktionen eIWX, cos(a)x ) , sin(a;x) sind es nicht.

Drei Sätze zur gewöhnlichen linearen Dgl:

Die homogene Dgl Ln y = 0 hat genau n linear unab­hängige Lösungen. Wir bezeichnen sie mit 2/1 (2 ), . . . , yn(x)

Die allgemeine Lösung der homogenen Dgl Ln y — 0 ist Ciyi(x)+ .. . + C ny„{x) .

Die allgemeine Lösung der inhomogenen Dgl Ln y — fist y0(x) + C m (x } + . . . C„y„(x) ,wobei 2/0 (2 ) eine spezielle Lösung von Ln y = / ist .

(7.2)

(7.3)

(7.4)

Diese drei Behauptungen beziehen sich auf ein x-Intervall, in dem die bekann­ten Funktionen / , /o, . . . , f n- 1 harmlos sind und insbesondere nicht 0 0 werden (andernfalls nennt man eine solche Dgl singulär). Das Intervall enthalte den Ursprung (andernfalls führen wir mit x - a = : r eine neue Variable ein, siehe Fall ® ) . Zur homogenen Dgl Lny = 0 kann man nun auf folgende n verschie­dene Weisen bei x = 0 Startwerte (Anfangs-,,Ort“, Anfangs-,,Geschwindigkeit“ usw.) festlegen:

y(o) 2/'(0) 2/"(0)

Vy(n-1)(0)y

( \ \ / ° \0 10 > 0

w \ o )

/ 0 \

0\ 1 /

(7.5)

Also gibt es mindestens die sich hieraus entwickelnden n linear unabhängigen Lösungen der homogenen Dgl. Da Ln linear ist, erfüllt auch (7.3) diese Dgl. Der Startwerte-,, Vektor“ von (7.3) hat die Komponenten C\ bis Cn, ist also der einer beliebigen Lösung (irgendwie muß sie ja durch 0 gehen). Damit verstehen

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138 K a p it e l 7: Ü b e r das L ö se n von B e w e g u n g s g l e ic h u n g e n

wir (7.3): mindestens n, aber jede weitere ist LK. Die LK in (7.3) ist in der Tat eine n-parametrige Schar. Singuläre Lösungen (Fall ® ) gibt es (Zitat) bei linearen Dgln nicht. Um schließlich (7.4) zu verstehen, sehen wir uns den Unterschied zwischen einer beliebigen Lösung y der inhomogenen Dgl zu einer (irgendwie konstruierten oder z.B. geratenen) speziellen Lösung yo an. Er erfüllt Ln(y - yo) = / - / = 0. Der allgemeinste Unterschied ist folglich durch (7.3) gegeben. Der Satz (7.4) stimmt.

7.2 Zehn Fälle

Man unter schätze Fallstudien nicht. Sie bilden das Repertoire, das Wahr­nehmungs-Raster, das Waffen-Arsenal. Mitunter (und hier besonders) ist man mit einfachem, handlichem Werkzeug besser ausgerüstet als mit aufwendigen Apparaten. Wir sehen uns teils konkrete Beispiele, teils allgemeinere Dgl- Typen an. Manche sind linear, manche nicht (wobei dann auch obige 3 Sätze nicht mehr gelten). Aber wir beginnen (fünfmal) linear.

(T) P o tenz-A nsa tz : x2y" — 2xy1 + 2y = 0 (7.6)

Diese Dgl ist linear, homogen, hat Operator L2 = x 2d2 — 2xdx + 2 und als Besonderheit in jedem Term so viele x-Potenzen wie Ableitungen.

Ansatz: y — x x rx

xa[A(A - 1) - 2A + 2] = 0 , A2 - 3A + 2 = 0 , Ai = 1 , A2 = 2 . (7.7)

Der Satz (7.2) besagt, daß wir nicht weiter zu suchen brauchen. Und nach (7.3) ist y = C\x + C2x2 die allgemeine Lösung.

( 2 ) N eue Variable : x 2y" — 2xy' + 2y = 0 , 0 < x (7.8)

Das ist die Dgl von Fall (l), jedoch sei x jetzt positiv. Wir setzen

x = er , y(x) = y(eT) = u(r) = u(ln(x)) rx

dx = - d T = e~Tdr , =p - e - r + e~Tdrx 1L2 = e2r e- r dT e~T dT - 2dT + 2 = d2 - 3dr + 2

rv u " - 3 u ' + 2u = 0 . (7.9)

Versteht man dies? Eine neue Variable r wurde eingeführt (Substitution!) und sodann eine neue Funktion w(r), die die Werte von y(x) nur mit anderer „Ge­schwindigkeit“ durchläuft. Aus der Dgl für y muß sich nun eine Dgl für u gewinnen lassen. Also differenziert man mal die Identität in der ersten Zeile nach x : y'(x) = w;( r ) /x . Aber dies läßt sich eleganter formulieren, nämlich als Operator-Identität (zweite Zeile). Man kann sie direkt aus x = er gewinnen,

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7 .2 Zehn F ä lle 139

indem man „laut“ dazu spricht: „Ableiten nach x ist dasselbe wie Ableiten nach t mal r nach x “. Man darf auch sagen, Ableiten nach r ist dasselbe wie Ableiten nach x mal x nach r. An der überklammerten Stelle wurde die Pro­duktregel bedacht (e- r ist nur einer von zwei Faktoren). Um eine neue Variable einzuführen, kann man sich irgendeinen (monotonen) x-r-Zusammenhang aus­denken. Nur wird damit meist leider die w-Dgl komplizierter. Im vorliegenden Falle waren wir sehr schlau, denn die entstandene w-Dgl hat nur noch konstante Koeffizienten. Wie man sie löst, zeigt Fall (3).

(5 ) E xponen tia l-A nsa tz : m x = — k x — Rx (7-10)

Das ist die Bewegungsgleichung eines ID harmonischen Oszillators mit v-Rei- bung. Bild 7-1 zeigt, daß recht verschiedene Physiken durch diese Gleichung regiert werden können.Ohne Reibung würde der Oszillator mit der Kreisfrequenz u)o — y ja /m schwin­gen. Also setzen wir k =: mujQ sowie (weil ebenfalls praktisch) R =: 2 7 7 1 7 :

{ d f + 2ydt + u j20)x ( t ) = 0 . (7.11)

Ansatz: x = ewt rv u 2 + 2 7 ui + uft = 0 , u = — 7 ± <7 , a := \Ay2 — uj'q . Hiermit folgt die allgemeine Lösung

x = C\ + Ci . (7.12)

Auf dem Wege zu (7.12) haben wir uns 7 > lüq vorgestellt (aperiodischer Fall).

Bild 7-1: Drei scheinbar sehr verschiedene Schwingungsvorgänge, die der gleichen Dgl folgen

Falls nun 7 < u)o, dann sind die Lösungen der quadratischen a;-Gleichung kom­plexwertig, nämlich u = - 7 ± iy/wg - 7 2’ (bitte zur Probe einsetzen!). Obige Rechnung bleibt richtig, wenn man y/—Y = ±i setzt. Und das geht in Ordnung, weil beide Vorzeichen sinnvoll sind. Mittels Euler-Formel (5.41) folgt nun die gedämpfte Schwingung

x = C\ cos ( J ujI - 7 2 t ) + C2 sin a,g - 72 (7.13)

Da kommt ein Wanderer des Wegs und spricht: „Ich setze nun genau 7 = wo- Dann ist u — - 7 , und es gibt nur eine Lösung, ha ha ha,“ — Nein, guter Mann, dies würde Satz (7.2) widersprechen, und den hatten wir verstanden. Es gibt eine zweite Lösung. Lediglich der e-Ansatz liefert sie nicht (so nicht).

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140 K a p it e l 7: Ü b e r das L ösen v o n B e w e g u n g s g l e ic h u n g e n

Was tun? — nachdenken! Kein Experiment kann entscheiden, ob genau 7 = uq ist. Also interessiert uns nur, was aus z.B. (7.13) wird, wenn 7 gegen u)o geht. Die Wurzel wird klein, bis der Sinus (für alle physikalisch interessierenden Zeiten t) durch den ersten Reihen-Term ersetzt werden kann. Sodann kann die kleine Wurzel mit einem genügend großen C2 zu einer neuen Konstanten D zusammengefaßt werden:

x = ( C i + Dt) e-7t (o;0 = 7) . (7.14)

Gemäß (7.3) ist das die allgemeine Lösung zu 7 = wo- Der Leser zeige, daß (7.14) auch aus (7.12) folgt. Wer noch mehr Durchblick verlangt, der kann der Dgl die Gestalt [ (dt + 7 )2 4- (u)$ - 7 2) ] x = 0 geben und sich dadurch anregen lassen, zu der neuen Funktion u := e7tx überzugehen — aber das lernen wir ja erst im Fall (I).

( 4 ) N eue Funktion : y'(x) + P(x) y{x) = Q{x) (7.15)

Das ist die allgemeine lineare Dgl erster Ordnung. P und Q seien gegebene Funktionen. Wir wollen den Satz (7.4) ausnutzen und suchen darum zuerst die (es gibt nur eine) Lösung y \ (x ) der homogenen Dgl:

y' + Py = 0 , — = dx ln(y) = - P , ln(2/) = - f dx1 P(x') + C ,V Jx o

c - f* dx’ P (x ' ) , % - [* dx' P( x ' ) / - 1C\y = e ^ e J*o ' > rx y i ( x ) = e Jx» ' , (7.16)

denn nach (7.3) ist die Festlegung eines ?/i~Vörfaktors reine Definitionssache. Für xq darf man sich irgendeinen festen x-Wert im betrachteten Intervall aus­denken. Die allgemeine Lösung (letzte Zeile links) der homogenen Dgl scheint nun zwei beliebig wählbare Konstanten, C\ = ec und xo, zu enthalten, muß aber andererseits eine einpaxametrige Schar sein. „Zum Glück“ läßt sich jedoch eine Xo-Abänderung in C \ absorbieren (man schreibt ja auch nicht C \ = A B C D , um dann von vier Konstanten zu reden).

Das war nur Vorarbeit. Jetzt kehren wir zur ursprünglichen inhomogenen Dgl zurück. Wenn wir irgendeinen Zusammenhang zwischen y(x) und einer neuen Funktion u(x) herstellen, dann wird sich stets die ?/-Dgl in eine w-Dgl umrech­nen lassen. Setzen wir beispielsweise y = : 1/w, dann ist y1 = —u ' / u2 und es entsteht mit u1 — P u = - Q u2 eine kompliziertere, nämlich nichtlineare Dgl (die sogenannte Bernoullische, siehe [Eimer]). Hinter „neue Funktion“ verbirgt sich ein überaus vielseitiges Spielzeug. Die gute Idee (im vorliegenden Falle) ist der folgende «/-^-Zusammenhang:

y(x) =: u(x)yi(x) r \ u'yi + uy[ + Puyi - u'yi = Q , u' = — ,Vi

“ ■ W ) * d ~ * , w = l y s w • <7-i7)Nach (7.4) ist also y = yo + C\ y \ die allgemeine Lösung. Ausführlich und zusammenfassend:

y' + Py = Q hat die allgemeine Lösung

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7.2 Zehn F älle 141

y s s e - J Z * ' p V> ( c 1 + £ d x ' Q ( X' ) e + t i J* " P(* " ^ . (7.18)

Auch eine x \-Abänderung läßt sich in C\ absorbieren. Wenn man die Lösung einer Dgl so angeben kann, daß „nur noch“ gewöhnliche Integrale auszuführen bleiben, dann sagt man (vor lauter Freude), sie sei „gelöst“ oder man habe sie „integriert“. Der Leser versteht nun auch, weshalb dieses dringliche Kapitel so spät kommt: es hatte auf Integrale gewartet.

(jT) Variation der Konstanten :

y"(x) + a(x) y \ x ) + b(x) y(x) = f ( x ) (7.19)

Bei linearen Dgln zweiter Ordnung ohne vereinfachende Besonderheiten beginnt der Ernst des Lebens. Anders als bei (J) lassen sich die Lösungen (nun gibt es zwei) der homogenen Dgl im allgemeinen nicht mehr angeben. Wenn man aber wenigstens eine Lösung der homogenen Dgl kennt, dann führt das folgen­de Verfahren zur Lösung auch der inhomogenen Dgl. Den Namen hat es von einer Vorgehensweise bekommen, bei welcher man die Kenntnis der beiden ho­mogenen Lösungen unterstellt und sodann mit y(x) = u\ (x)y\(x) + 112(2)2/2(2) zwei neue Funktionen einführt, also sozusagen die Konstanten in (7.3) mit x variieren läßt. Es geht jedoch viel besser.

Wir benötigen die Kenntnis von nur einer der beiden homogenen Lösungen: yi(x). Wie bei (J) führen wir per y(x) =: y\(x)u(x) eine neue Funktion u ein. Nun ist u.a. d2(y\u) auszurechnen. Bei mehrfacher Ableitung eines Produktes geht es binomisch zu,

% (fg) = (dlom + d£inteT ( / f f ) , (7.20)

denn die Klammer kann man nun auspotenzieren als stünde a 4- b darin (das vordere d wirke nur auf / , das hintere nur auf g). Also ist d2y\u = y " u + 2y[ul + 2/iu " . Unsere Dgl wird damit zu y\u" + 2y^v! + y"u + ay\u' + ay[u + by\u = / . Hierin fallen nun alle w-Terme heraus, weil 2/1 die homogene Dgl löst. Wir erhalten also

u" + (a + 2 u1 = — , (7.21)\ 2/1/ VI

Natürlich setzen wir nun u' = : v und bekommen v' + P v = Q. Damit ist das Problem auf (7.18) zurückgeführt.

Nur weniges hiervon soll man sich wirklich merken. Im konkreten Falle (Bei­spiel: x + lü2x = k(t)) soll sich ein wohliges Gefühl einstellen, wenn man sieht, daß die zu lösende Dgl linear ist (wenigstens was!). Sodann soll man die homogene Dgl anblicken, ob man über diese etwas weiß (oh ja: 2i(£) = elu,t). Schließlich soll die Hand nicht anders können, als x = x \ u zu Papier zu bringen. Das genügt, denn nun läuft die Rechnung wie von selbst.

Ist die lineare Dgl von vornherein homogen (und ist 2/1 bekannt), so liefert obiges Verfahren die zweite Lösung 2/2. Ist sie n-ter Ordnung, so führt es auf eine lineare Dgl (n - l)-ter Ordnung.

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142 K a p it e l 7: Ü b e r das Lö se n von B e w e g u n g s g l e ic h u n g e n

(6 ) -Trennung der V ariablen : y'(x) — f(x) g(y) (7.22)

Die vereinfachende Besonderheit dieser Dgl ist die Produktform der rechten Seite. Da g beliebig von der unbekannten Funktion y abhängen darf, betreten wir hiermit das Land der nichtlinearen Dgln. Der Lösungsweg ist wunderbar einfach. Wir lesen y1 als dy/dx und „trennen“:

-^- = dx/ (x) rv f d j / ' - i — = f d x ' f (x ' ) . (7.23)9(y) Jy(x0) 9(y') Jx o

Nach Auswertung der beiden Integrale weiß man, wie y von x abhängt. Speziell zu / = 1 kennen wir den Trick bereits von (6.32). Bei obigem Einzeiler war das „Integrale drüber werfen“ ganz vernünftig. Im konkreten Fall jedoch ( / und g explizit gegeben) sieht man besser gleich nach, ob man die Stammfunktionen H(y) von 1 /g(y) und -F(x) von f (x) angeben kann, denkt dann wie folgt

^ = y'H'{y) = dxH(y) l f (x ) = dxF(x) rx H(y) = F(x) + C (7.24)

und ist fertig. Fall (5) war einfach und wichtig.

( 7 ) R eduk tion der O rdnung : y" = f(y , y') (7.25)

Besonderheit ist, daß die Variable x nicht vor kommt. Der Lösungs-Trick be­steht darin, vorübergehend y* als Funktion von y anzusehen:

y ' =: p(y) , y" = p'{y)y' =pp‘ , p p ' = f{y,p) • (7.26)

Dies ist nur noch eine Dgl erster Ordnung für die Funktion p(y) . Falls man sie lösen kann, erhält man y(x) aus y1 — p(y) via (5). Die allgemeine Lösung y hat wieder zwei Konstanten, weil bereits p(y) eine enthält.

Obiges Verfahren ist irgendwie interessant. Würde nämlich die Funktion / nicht von yf abhängen, dann hätten wir an m x — K(x) gedacht, mit x multipliziert (d.h. mit y’) und den Energiesatz hergeleitet. Dieser ist eine Dgl mit x und somit ebenfalls erster Ordnung. Man kann sich nun fragen, wie wohl der Ener­giesatz herauskommt, wenn wir der p(2/)-Methode folgen. p(y) entspricht v(x) . Also ist x —v — v,(x)x = vv1, und wir erhalten

m v v ' — dx ( y ^ 2) = K(x) = - d xV(x) rx ^ v 2 + V(x) = E . (7.27)

Das geht aber schön: Energiesatz-Herleitung direkt aus Newton selbst statt über Newton mal v. In 3D ist allerdings leider doch wieder Newton vorweg zu multiplizieren, nämlich mit v / v .

Den Auftrag, die Ordnung zu reduzieren, kann man auch wörtlich nehmen. So ist recht klar, was beim Anblick der Dgl yn = f ( x , y l) zu tun ist: man setze y’ = u. Wenn sich der Operator L einer linearen Dgl als Produkt schreiben läßt,

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7.2 Zehn F älle 143

dann wird man natürlich die Ordnung der Dgl per Ly = L\L^y = L\u = f mit u := L%y „reduzieren“. Man muß sie allerdings erkennen, die Produkt Struktur. Hatten Sie bei x + u 2x = k(t) im Fall (5) auch an (dt - iw)(dt 4- iu)x = k gedacht?! [Landau/Lifschitz, 1] hat.

($T) U m w andlung in D gl-System :

y {n) = / ( i / n-1)> x) (7.28)

Eine Dgl n-ter Ordnung läßt sich stets in ein System aus n Dgln erster Ordnung überführen — worüber der Computer hoch erfreut ist. In der obigen Dgl setzt man einfach

y' = ui y' = my" — U2 und überführt u[ = ui

: sie damit in u'2 = u%

: das System :

: u n- 2 = u n- 1j/f"-!) = «„_! u jj.! = f { u n - l , . . . ,111, y-, X)

(7.29)

für die n unbekannten Funktionen y ,u i , . . . , wn- i • Auch der umgekehrte Weg von Dgl-System erster Ordnung zu einer einzigen Dgl höherer Ordnung ist stets möglich. Zur Illustration überführen wir die Dgl von Fall (5) mittels y1 =•• z in ein System:

y — z = 0—*■ (7

z' + by + az = / , oder: w \x ) + Ez(x)w(x) = Q(x)

mit w — E. = (j) un< Q = ( / ) ’ ^ enn z’®' a unc* nicht von xabhängen, also auch die Matrix £ nicht, dann ist sogar (7.18) die Lösung von

(7.30) : schreibe Q ganz nach rechts. Im allgemeinen braucht aber (7.18) eine Modifikation.

(5 ) Singuläre Lösung : (y1)2 = 4y (7-31)

Da, wie die Dgl zeigt, y nicht negativ sein kann, dürfen wir die Wurzel ziehen:

^ = = rv r f T = ± x + C . (7.32)

Die allgemeine Lösung ist also y = (x + C)2. Bild 7-2 zeigt die Schar dieser Funktionen. Sie hat eine E inhüllende, nämlich die x-Achse. An jedem Punkt der Einhüllenden sind Anstieg und Funktionswert mit der Dgl verträglich. Auch die einhüllende Kurve sollte somit die Dgl lösen. Im vorliegenden Falle ist sie durch y(x) = 0 gegeben.

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144 K a p it e l 7: Ü b e r das Lö se n von B e w e g u n g s g l e ic h u n g e n

Bild 7 - 2 : Schar von Funktionen (Parabeln, allgemeine Lösung) und ihre Einhüllende (z-Achse, singuläre Lösung)

Und in der Tat erfüllt sie die Dgl, obwohl sie durch keine Konstanten-Wahl aus der allgemeinen Lösung erhalten werden kann:

Alle Lösungen = <alle jene, die in 'j ( eventuelle

der allgemeinen Lösung > 4 < singuläre enthalten sind J ( Lösungen

(7.33)

Wer ein Kriterium für das Nicht-Auftreten einer singulären Lösung sucht bzw. dafür, daß eine Lösungs-Kurve keine solche berührt, sei auf die Literatur ver­wiesen („Lipschitz-Bedingung“, siehe z.B. [Eimer] oder [Lang/Pucker]).

Wenn man anfangt, sich zu Bild 7-2 einen realen Vorgang vorzustellen, dann beginnt es weh zu tun. Jene Regel, wonach Dgl und Start-Daten (hier: 2/(0)) die Zukunft festlegen (also y zu 0 < i) , ist uns (zu recht!) vertraut geworden. Jedoch zu genau y(0) = 0 erfüllt hier sowohl y = x2 (angepaßte allgemeine Lösung) als auch y = 0 (singuläre Lösung) beide Vorgaben. Das System weiß nicht, welcher Kurve es folgen soll. Noch schlimmer, wenn es z.B. der x-Achse folgt, dann kann es spontan jederzeit doch noch in einen rechten Parabel-Ast einmünden. Eine Regel kann Ausnahmen haben. Dies ist eine.

Um diese bittere Wahrheit weiter auszukosten, übersetzen wir sie nun vollends in Realität. In der Form y1 = 2^/jj/f hat unsere Dgl die allgemeine Lösung (x + C) \x + C | (malen!) und weiterhin die singuläre Lösung y = 0. Setzen wir x = ut und v(t) := vq (1 — ut — y(ut)), dann entsteht die iHDgl

m V — —771 Vq lü [ 1 4 1 — üüt-----Vq

(7.34)

während sich 2/(0) = 0 in t>(0) = vo übersetzt. Das ist zum Beispiel die Be­wegungsgleichung einer Magnetschienenbahn (Masse m), die ab Zeit t — 0 gebremst wird und deren Bordcomputer genau die angegebene Brems-Kraft einstellt. Folgt nun die Bahn der angepaßten allgemeinen Lösung

i) v = vo(l — Lüt — (j2t2) und kommt zur Zeit t\ = (l/u;)2/(l 4 x/51) zum Stehen oder folgt sie der singulären Lösung

ii) v — vo(l - ut) mit Stillstands-Zeit t2 = 1 / uj oder folgt sie ein Stück weit (ii) und schert dann aus (zu einer Zeit £o) in

iii) v = v q ( 1 — w t — [ u t — u;*o]2) mit Stillstand zwischen t \ und t 2 ??

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7.2 Zeh n F älle 1 4 5

Alle drei Versionen erfüllen die Dgl und haben v(0) = v q . Also sind alle drei Aussagen richtig?? Es klingt wie ein übler April-Scherz, mit dem man gestande­ne Deterministen schwer verwirren will. Es folgt jetzt nicht etwa eine Auflösung des Paradoxons (Unfähigkeit des Autors ist nicht ausgeschlossen), sondern nur ein wenig Trost. Alle drei v’s sind zwar Lösungen dieses Problems. Aber man darf fragen, ob denn obige Bewegungsgleichung genau so realisiert werden kann. Sobald man die Dgl infinitesimal abändert, z.B. in y' = 2(y2 + 6 2 ) 1 / 4 , existiert die singuläre Lösung schon nicht mehr, und die angepaßte allgemeine Lösung durchläuft die vormaligen Gefahrenstellen ohne Mehrdeutigkeiten. Kurz, es be­darf schon einiger krimineller Energie, wenn man die genannte Regel ins Wanken bringen will.

® G reensche Funktion : Lny(x) = f (x) (7.35)

Man lese / als Ursache und y als Antwort und erinnere sich der Kommentare zu (6.108). Die Antwort G(x,a) auf die „elementare“ Ursache 5(x - a) nennt man Greensche Funktion. Sie hängt von der Variablen x und vom Ursachen- Parameter a ab. Wenn es gelingt, in einem rc-Intervall B (x in B , a in B) das folgende Hilfsproblem zu lösen,

Ln G(x,a) = S(x — a) , (7.36)

dann erhält man in B aus der (7-Kenntnis auch die Lösung zu allgemeiner Inhomogenität / :

I da f(a) LnG(x,a) =p I da f(a)S(x — a)B r B rLn / da f(a)G(x,a) i f (x) rx y(x) = / da f(a)G(x,a) . (7.37)

J b J b

Setzt man also die Gesamt-Ursache f (x) aus elementaren Ursachen zusammen [f(x) = f da f(a)6(x — a), siehe (6.108)], dann ist auch die Gesamt-Antwort y aus den entsprechenden elementaren Antworten G zusammengesetzt, und zwar mit gleichem Gewicht f(a): Superposition. Meist sucht man nur nach einer speziellen Lösung G von (7.36). Mit dieser ergibt sich aus (7.37) eine spezielle Lösung yo der inhomogenen Dgl Ly = / , und dann macht sich Satz (7.4) nützlich. In der Regel kann man übrigens G aus den linear unabhängigen Lösungen der homogenen Dgl Ly — 0 konstruieren.Wie und ob all dies funktioniert, sehen wir uns anhand des bereits gelösten Falles (4) zu P(x) = 7 an:

v + 7 V = k(t) = Kraft/Masse , L\ = dt + 7 , Bereich B istdie positive ^-Halbachse, (7.36) : (dt + 7 )G(t,a) = S(t — a) . (7.38)

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146 K a p it e l 7: Ü b e r das L ösen von B e w e g u n g s g l e ic h u n g e n

Rechts und links der Stelle t = a muß G die homogene Dgl lösen, d.h. die Form const -e“7* haben. Wenn t durch a geht, muß G springen; Sprunghöhe 1, damit beim Ableiten der Stufe S(t - a) entsteht. Wir sind soweit:

G(t,a) = e~llt[A + e ra6{ t - a ) \ .

Wenn wir dies in (7.37) einsetzen, ergibt sich

/ da k(a) |A + e7a0(£ — a)J = e “7*^C + J da k(a)( ,7a

(7.39)

(7.40)

Es kommt also tatsächlich (7.18) heraus.Die Greensche Funktion hat sich hier im einfachsten Gewände vorgestellt. In und um (7.36) und (7.37) wurde eigentlich gar nichts Spezielles über den Ope­rator L vorausgesetzt. Also sind Verallgemeinerungen möglich. Dank Green lassen sich die Maxwellgleichungen („zu gegebenen Quellen“) allgemein lösen (!). Und in heutiger Vielteilchen- und Feldtheorie leisten Greensche Funktionen unschätzbare Dienste.Ausblicke sind vielleicht schwer zu ertragen. Halten Sie also einfach die Hand über die folgende Tabelle. Das schlechte Gewissen meldet sich dann schon, später und ganz von selbst.

Operator L G

(6.99) dx 0{x)

(7.39) dt + 7 0( t ) e ~74

(9< + 7)2 0 ( t ) t e ~ 7i

ID harmon. Osz., ü := y /u l - 7 2‘ dt + 2-ydt + u>o 0(£)e-7ti sin(f2£)

Laplace, 2D A2 = + d l

Laplace, 3D, (8.51) A = d l + d l + d 2z- i47rr

Helmholtz A + k2- e ~ ikr

47t r

Box, (11.18), (11.28) □ = i 9? - A47t r

(7.41)

Wenn Sie eine gewöhnliche Differentialgleichung mit all Ihrer 10-Fall-Erfahrung nicht lösen können und wenn das auch nicht unter Kombination mehrerer sol­cher „Methoden“ gelingt, dann kommen noch Reihen-, Fourier- und andere Entwicklungen, allgemeinere Ansätze und Störungsrechnung in Betracht. Auch empfiehlt sich ein Blick in die Literatur, etwa in die hervorragende Sammlung gelöster Fälle in [Kamke], Wenn aber alles nichts hilft (und auch von einem

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7.2 Zehn F älle 147

Computer die gewünschte Sorte Antwort nicht zu erwarten ist), dann ist die Dgl zu schwer. Die zu behandelnde Physik muß also vorher stärker vereinfacht werden. Man lerne, das zu tun, was möglich ist. Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit (Karl Marx).

Mehr zum Umgang mit Bewegungsgleichungen zu lernen, das brannte seit dem Newton-Kapitel 3 auf der Haut. Entsprechend sind wir noch einmal sehr dem dortigen deterministischen Weltbild verfallen (s. Ende von Kapitel 3). Ein wenig mag nun klarer sein, inwiefern Physik Kunst ist, Kunst des Möglichen natürlich, und Kunst des Wahrsagens.

Erwin Schrödinger Die Besonderheit des Weltbilds der Naturwissenschaft, Aufsatz 1947 in Was ist ein Naturgesetz ? Oldenbourg 1979)] :

... das Prophezeien, das Vorhersagen von Beobachtungen ist uns bloß das Mittel, zu prüfen, ob das Bild, das wir uns machten, auch stimmt.

„Nun schön“, versetzt der Positivist, „gar so viel Unterschied ist nicht zwischen uns; vorausgesetzt, daß ihr ehrlich bleibt und unter Bild oder Gestalt bloß die gesamte Zuordnung und Gliederung wirklicher oder möglicher Beobachtungsposten versteht, ohne grundsätzlich unbeobachtbare Zutaten, Phantasiegebilde, die ihr euch zurecht macht, um die Wirklichkeit, wie ihr es nennt zu erklären. Aber ich kenne euch. Ihr neigt vielmehr dazu, nicht die Tatsa­chen selber, sondern gerade jene Hilfskonstruktionen für das zu halten und auszugeben, was ihr ,gefunden’ hättet, für die eigentliche Errungenschaft. Und da mache ich nicht mit. Son­dern was nicht direkten Bezug auf mögliche Sinneswahrnehmung hat, muß fort bleiben.“ ...

Die schärfste Formulierung der Gesetze physikalischer Abläufe geschieht durch Diffe­rentialgleichungen, gewöhnliche, wenn es sich um ein System mit endlich viel Bestimmungs­stücken, z.B. Massenpunkte, handelt, partielle im Fall von Kontinuen. In dieser klaren ma­thematischen Fassung vollzieht sich am reinlichsten die Scheidung zwischen dem, was von der theoretischen Aussage erfaßt wird, und dem, worüber etwas auszusagen man gänzlich verzich­tet. Solche Gleichungen beschreiben nämlich ihrer Natur nach ganz genau den Ablauf, der auf einen gegebenen Anfangszustand des Systems folgt, diesen selbst aber lassen sie vollständig offen; welche Anfangszustände in der Natur verwirklicht sind, darüber wird nichts behauptet, im Prinzip gilt jeder beliebige als möglich. Im einzelnen Anwendungsfall muß man vorerst einmal „in der Natur“ nachsehen, welcher vorliegt.

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Teil II

Sommersemester

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8 Felder

Aufbruch zu neuen Ufern. Auch die „zweite Hälfte der Realität“ muß ihre eigenen Prinzipien haben. Es muß Bewegungsgleichungen geben, insbesonde­re für die Felder E und B in der Lorentz-Kraft (3.2). Während wir dieses Ziel verfolgen, werden uns ungewohnte neue Strukturen begegnen. Zuerst sind die Kalküle dieser Strukturen zu erarbeiten. Und dann — so sagt unsere Erfahrung aus den ersten drei Kapiteln — werden wir beim Blick auf die first principles der Elektrodynamik (Kapitel 11) das Gefühl haben, als hätten wir sie soeben selbst erfunden. Sie sind die elegante Fassung all dessen, was experimentell über E , B bekannt ist.

An einem warmen Herbsttag liegt ein Kornfeld in der Sonne. Die Anzahl der Halme pro Fläche ist nicht überall gleich: a(x,y). Auch stehen die Ähren un­terschiedlich hoch: h(x,y). Etwas Wind kommt auf. Wir sehen wellenförmige Bewegungen: h (x, y, t). Das Wort „Feld“ entstammt also der Umgangssprache. Wir benötigen es allgemeiner und genauer:

Feld := etwas ( r , t ) .

Dieses „etwas“ ist quantitativ und hat Zahlenwerte. Zu jedem Zahlenwert muß sich sagen lassen, ob er in einem gedrehten Koordinatensystem der gleiche ist oder wie er ggf. verändert wahrgenommen wird (mit 5 Mark sind Sie dabei, und zwar unabhängig von Ihren Koordinatenachsen; also ist 5 DM ein Ska­lar). Folglich ist „etwas“ stets Komponente eines Tensors, oder besser: wir verstehen „etwas“ als Tupel zueinander gehörender Komponenten. Somit ist ein Feld stets entweder ein Skalarfeld oder ein Vektorfeld oder ein Tensor­feld höherer Stufe. Im folgenden werden die Anfänge dessen behandelt, was die Mathematiker Tensoranalysis nennen, oder bescheidener: Vektoranalysis [Boume/K endall].

Beispiele für Skalarfelder sind Temperatur T (r , t ) der Luft, Druck p(r , t ) einer Schallwelle, Gravitationspotential V ( r , t) eines sich bewegenden Sterns und je­de Dichte Q(r,t). Beispiele für Vektorfelder sind Kraftfeld K ( r , t), elektrischesFeld £ ( r ,£ ) , Magnetfeld B(jr,t), die Geschwindigkeit v (r , t ) einer Gas- oder Wasser-Strömung und jede Stromdichte J(r ,£) . Beispiel für ein Tensorfeld ist der Leitfahigkeits-Tensor, wenn jemand das Metall verbiegt, verdreht oder drückt und ihm dann im Laufe der Zeit die Arme erlahmen: a ( r , t). Wir werden nur Skalar- und Vektorfelder untersuchen und sie bei allgemeingültigen Über­legungen mit <j>(r,t) bzw. A ( r , t ) bezeichnen. Da die Abhängigkeit von der Zeit t im folgenden noch nicht interessieren wird, lassen wir sie der Einfachheit halber weg: alles gilt auch mit t.

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152 K a p i t e l 8: F e l d e r

In diesem Kapitel sind wir ausschließlich an der Frage interessiert, wie man ein gegebenes Feld lokal charakterisieren kann. Wir setzen uns an einen Raum­punkt r , betrachten nur die infinitesimale Umgebung dieses Punktes und wollen etwas über das Feld dort aussagen. Daß Aussagen über lokale Zusammenhänge etwas mit Ableitungen zu tun haben, ist sehr natürlich. Es würde uns jedoch sehr wundern, wenn hierbei auch Integrale auftauchen sollten. Und so wundern wir uns denn darüber, wie in einigen Lehrbüchern (den meisten?) die Begrif­fe der Abschnitte 8.2 und 8.3 (und mitunter sogar die Maxwell-Gleichungen) nichtlokal eingeführt werden, finden das schlimm — und machen es anders.

8.1 Gradient und Nabla

Ein Skalarpotential <j>(r) sei gegeben. Wir denken am besten zweidimensional und deuten $ als Höhenprofil eines Berges. An einer bestimmten Stelle r kann man fragen, wie steil er ist, in welcher Richtung es am steilsten nach oben geht, welcher Tensor die Krümmungsverhältnisse beschreibt (Ebene tangential an den Berg legen und Höhendifferenzen wie Potentialminimum behandeln) und so weiter. Aber zu einer lokalen Charakterisierung des Berges bei r , die mit ersten Ableitungen von (f> zu tun hat, dazu fällt uns (wie wir auch nachdenken) als schlimmste Frage nur die folgende ein: „Wie steil geht es nach oben, wenn wir in einer bestimmten Himmelsrichtung vorankommen wollen?“ (im Berg- Beispiel liegt r in der :n/-Ebene). Die Antwort heißt R ichtungsab leitung und ergibt sich per Rechnung:

r(s) = r + se , d.h. x(s) = x 4- sei , y ( s ) = . . . rx

d'* \e T «■«'(•»L- eidx<j> + eidyö + ezdz<j> = e -g r ad0 . (8.1)

Der Gradient ist ein alter Bekannter: (3.18). Aus (8.1) kann man nun schön seine Eigenschaften ablesen, indem man (8.1) zu verschiedenen Richtungen e betrachtet. Die größte (/»-Zunahme ergibt sich, wenn e und grad <f> die gleiche Richtung haben. Also gibt der Gradient die Richtung an, in der die 0 -Werte am stärksten anwachsen. Bewegung auf einer Äqui-^-Fläche (d.h. keine 0-Ände- rung) liegt vor bei Orthogonalität von e und grad 0. Also steht der Gradient (bei r ) senkrecht auf der Äqui-0-Fläche (durch r).

Ein Tensor macht aus einem Vektor einen Vektor. Ein Integral macht aus einer Funktion eine Zahl. Ein linearer Operator darf also ruhig aus dem Raum der Patienten herausführen. Auch der Gradient ist ein linearer Operator, und er macht aus einem Skalarfeld ein Vektorfeld. Da nun ein Operator links vor den Patienten gehört, müssen wir wohl wie in der jetzt folgenden Gleichung verfahren:

__ ( Einheitsvektor in Richtung \ / diese maximale \ y der maximalen ^-Zunahme) \ Zunahme J

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8.1 G r a d ie n t u n d N a bl a 153

== ( dx<t> , dy(j) , dzd> )

grad <t> i ( dx , dy , 0* ) 0 = V<£Nabla-Operator := V := ( , d* )

(8 .2)

In dem Moment also, in dem der Operator bei der Gradient-Operation isoliert betrachtet wird, gibt man ihm einen anderen Namen. Zu dieser Namensände­rung ist man nicht gezwungen, aber sie stellt sich als recht sinnig heraus. Bei­spielsweise können wir jetzt sagen, daß ein Skalarfeld linear in V nur ein einziges lokales Charakteristikum habe, nämlich den Gradienten.

Nabla ist ein Vektor

Zunächst ist V nur ein Operator-Tripel. Das Wort „Vektor“ verlangt bekannt­lich viel mehr, nämlich daß

( ö«' , dy' , dz, ) =S V# = DV (8.3)

gilt. (8.3), falls gültig, ist eine Operator-Identität. Zwei Operatoren sind (per definitionem) gleich, wenn sie bei Anwendung auf sämtliche Elemente des Anwendungs-Raumes das gleiche liefern. Unsere Frage läßt sich also in derForm V(j) = DV<t> zum Leben erwecken. Wenn man das Koordinatensystem dreht, behält ein Skalarfeld seine Werte, sie werden lediglich anderen (gestri­chenen) Ortsvektor-Komponenten zugeordnet: <p{xj) = (ß((DT)jkX,k). Hiermit erhalten wir

dx'e4> = (DT)j(dXj<p = Dl}dXl4> . (8.4)

Rechts und links können wir <j> (da beliebig) wieder weglassen. Damit ist (8.3) hergeleitet. Nabla ist also ein Vektor ganz im Sinne der Definition (4.23). In (4.23) wird von Zahlen-Tripeln geredet. Wir lernen, daß sich (4.23) zwanglos auf Operator-Tripel verallgemeinern läßt. Wir wollen vereinbaren, daß man keinen Pfeil über V zu setzen braucht. Steht er nicht eigentlich schon da? (Suchbild: oberer Querstrich und ein Stückchen des rechten Schrägstriches).

Nabla in Kugelkoordinaten

Wenn man (8.2) in der Form V = eidx + e2Öy + ~e3dz = ejdXj aufschreibt, dann wird klar, wie man V auf eine beliebige orthonormale Basis beziehen kann. Rechts hinter dem jeweiligen Einheitsvektor steht die Ableitung nach dem Weg in dessen Richtung. Diese Basis darf sich ruhig von Raumpunkt zu Raumpunkt allmählich verändern. Das passiert zum Beispiel, wenn alle Erdenbürger ihre 2 -Achse nach „oben“ (d.h. in radiale Richtung) legen, die x-Achse nach Süden und die y -Achse nach Osten. Wenn man verreist, ändern die entsprechenden Basisvektoren ständig ihre Richtung:

e# = ( cos(tf) cos((p) , cos(tf) sin(<p) , -sin ($ ) )

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154 K a p i t e l 8: F e l d e r

e<p = ( -sm((f) , cos(tp) , 0 ) _ (8.5)r

er = ( sin($) cos(y?) , sin($) sin(y?) , cos($) ) = — .r

Alles in (8.5) ist direkt anschaulich. Aber man kann auch jeden dieser drei Einheitsvektoren als Kreuzprodukt der beiden anderen erhalten. Wenn man nun ein infinitesimales Stück nach Osten reist, dann ändert sich nur <p (r, $ bleiben fest), und man legt den Weg r sin(tydkp zurück. Nach Süden ändert sich nur $, und der Weg ist r M . Nabla hat also in Kugelkoordinaten die folgende Gestalt:

V = erdr + e# - d# + — — rr d<p . (8.6)r r sin(f/)Die Einheitsvektoren in (8.6) hängen von den Variablen ab und müssen folglich stets links von den Differentiationen bleiben.Wir sind stolz darauf, (8.6) durch reines Nachdenken gefunden zu haben. Wer lieber rechnet, der hat zwei Möglichkeiten. Er kann (8.6) auf <t>(x,y,z) anwen­den („zum Leben erwecken“), die Kugelkoordinaten (6.74) für die Argumente einsetzen und dann fleißig die Kettenregel bedienen sowie (8.5), bis schließlich ~ejdXj<l> entstanden ist. Er kann sich aber auch die Drehmatrix D für den Um­stieg auf das ~e#-~e(p-'er -System ausrechnen (als Produkt zweier D ’s) und dann (8.3) in der Form V = DTV bemühen. (8.6) stimmt. Wichtiger mag sein, die zu (8.6) führenden Gedanken zu üben — und sie hin und wieder ohne Vorlage aufzuschreiben; samstags in Zylinderkoordinaten.In praxi muß man auf (8.6) nur relativ selten zurückgreifen. Wenn eine kugel­symmetrische Situation vorliegt, „muß“ man an Kugelkoordinaten denken. Aber es ist ein zweiter (mitunter vermeidbarer) Schritt, auch noch die varia­ble Basis (8.5) einzuführen. Es soll z.B. (Billig-Beispiel) der Gradient eines kugelsymmetrischen Potentials <ß(r) ausgerechnet werden. (8.6) zeigt, daß

grad 4>(r) = V0(r) = er 0'(r) . (8.7)Aber wozu erst (8.6) in Erinnerung rufen (d.h. sich erneut herleiten), es geht ja auch kartesisch. Wir können das im Kopf. Aber wozu Kopfrechnen, es geht ja auch anschaulich: Einheitsvektor in Richtung des steilsten Anstieges (± r /r) mal Betrag dieses Anstieges (±(j>\r)). Fertig!

Ausgleichs Vorgänge in Materie

Eine recht typische Anwendung findet der Gradient als Ursache-Vektor bei der phänomenologischen Beschreibung von Ausgleichsvorgängen. Es liegt ein Gefälle vor und ist Ursache dafür, daß etwas fließt. In den drei folgenden physikalisch recht verschiedenen Fällen ist je eine Stromdichte der Antwort- Vektor. Und jeder der drei Faktoren ist eigentlich ein Tensor zweiter Stufe, den wir hier der Einfachheit halber als proportional zur Einheitsmatrix ansehen:

Energie-Stromdichte h — — Ac-gradT (8.8)Teilchen-Stromdichte Jt = * gradny (8.9)

Ladungs-Stromdichte J = a • E = —o -grad0 . (8.10)

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8 .2 R o t a t io n 155

Zu (8.8) versetze man sich in das Innere einer Herdplatte, die sich abkühlt. k heißt Wärmeleitfähigkeit. Bei (8.9) befinden Sie sich in der Wandung Ih­rer vergoldeten Armbanduhr. Jeder Atomkern hat zwar seine Gleichgewichts- Position, aber hin und wieder kommt es schon vor, daß zwei Kerne ihren Platz tauschen. Dabei verbreiten sich die Gold-Kerne allmählich mehr und mehr im Wirtsmetall: Gold-Teilchen strömen pro Zeit durch Fläche, ut ist ih­re Teilchenzahl pro Volumen. Jedoch, wenn im Panzerschrank der Bank ein Goldstück fehlt, dann können Sie den Diffusions-Argumenten des Angestellten getrost entgegenhalten, daß doch wohl die Diffusionskonstante D einen viel zu kleinen Zahlenwert habe (immerhin, ein guter Anwalt bei Gericht ...). Alle drei Vorgänge (8.8) bis (8.10) bedürfen der Materie, in der sie stattfinden, und dominierender Reibung gegenüber Trägheitseffekten (sie ersetzen Newton in diesem Grenzfall), k oder D oder a auszurechnen, gehört zu den schwierigeren Aufgaben der Quanten-Statistik von Festkörpern. Es ist wichtig zu wissen, daß so etwas geht (mindestens im Prinzip, aber nicht nur). Es gibt stets einen Weg von phänomenologischen Gleichungen zu harter Physik und zurück.

In (8.10)) wurde unterstellt, daß das elektrische Feld E ein Potential hat. Esheißt Skalarpotential und ist wegen K — qE und K — -grad V das Potential pro Probe-Ladung: V = q<f>. K-Unterschied ist Arbeit und

^-Unterschied =: Spannung , E = -grad<£ . (8.11)

Greifen Sie nun mit feuchten Fingern in die Steckdose, auf daß die ^-Differenz einen bleibenden Eindruck hinterlasse. Eine Punktladung Q am Ursprung hat das Skalarpotential

<j> = -1— - , und E = -V<f> = - ß - ^ (8.12)47T£o T 47T£o T6

ist ihr elektrisches Feld. Auf eine Probeladung q wird also die Kraft K = q mal obiges E ausgeübt. Hieran sieht man, daß der seltsame Faktor £o lediglich die Maßeinheit der Ladung festlegt. Sie dürfen £o = 1 setzen. Im heute üblichen Sl-System arbeitet man mit £o = 8.854 . . . x 10_12C2m“2N_1 und darf teilha­ben an der geistigen Umnachtung, die diese Wahl unverkennbar begleitet hat (Agrarbeschluß der Europäischen Gemeinschaft). Die Ausdrücke (8.12) heißen Coulomb-Potential bzw. Coulomb-Feld.

8 .2 Rotation

Wir gehen nun daran, Vektorfelder lokal zu untersuchen. Malen ist immer gut, und nach einiger solcher Tätigkeit werden Sie wohl recht sicher darin sein, daß ein Feld A ( r ) an einer Stelle f eigentlich nur zwei lokale Besonderheiten (linear in V) haben kann. Das Feld „strömt“ bei r , und in dieser Strömung dreht sich ein toter Wasserfloh (Bild 8-1 a und b). Er hat eine Winkelgeschwindigkeit, und somit ist die Stelle r durch einen Vektor (die Rotation) charakterisierbar.

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156 K a p i t e l 8: F e l d e r

Wenn die Strömung „zunimmt“ (Bild 8-1 c), wird der Wasserfloh gedehnt. Der Arme leidet auch bei Bild 8-1 d, denn es fließen (bei gleicher Pfeillänge) durch eine äußere Kugeloberfläche mehr Teilchen heraus als durch eine innere hinein. Die „Floh-Dehnung“ ist bereits das gesuchte zweite Charakteristikum eines Vektorfeldes. Diese Dehnung hat keine Richtung. Also kann man der Stelle r einen Skalar (die Divergenz) zuordnen. Damit ist das Wichtigste schon verraten. In diesem und dem nächsten Abschnitt geht es darum, die genannten beiden Vektorfeld-Merkmale präzise zu fassen und sie auch ausrechnen zu können.

(a) (b) (c) (d)

Bild 8-1: Typische Beispiele für die zwei Möglichkeiten, ein Vektorfeld lokal zu charakterisieren

Ein Vektorfeld A ( r ) sei gegeben. Seine drei Komponenten sind also als Funk­tionen von x , y , bekannt. Um A im Modellversuch darzustellen (Gedanken-Experiment), setzen wir A = av und lassen Wasser oder Gas mit der Ge­schwindigkeit v( r ) strömen. Das geht immer. Falls Wasser und Dehnung, muß für Zufuhr gesorgt werden. Bei Bild 8-1 c, als ebene Strömung verstanden, quillt Wasser aus dem Sandboden, und auf Bild 8-1 d regnet es. Der „tote Wasserfloh“ sei infinitesimal klein. Er befindet sich gerade an der Stelle r , die wir untersuchen wollen. Seine Winkelgeschwindigkeit öj bezieht sich auf ein mitfahrendes Koordinatensystem (Ursprung im Floh) dessen Achsen stets par­allel zu den ursprünglichen bleiben — wie bei der Gondel eines Riesenrades. Die Gondel und ein Paternoster haben Winkelgeschwindigkeit Null. Niemand schäme sich all dieser Anschaulichkeiten, zumal sie jetzt Präzision erreicht ha­ben!

Definition der Rotation : rot A ( r ) := ol2ü5(r) . (8.13)

Der Sinn hinter dem Faktor 2 wird sich bald erweisen. Der Faktor a überträgt lediglich A - auf v -Dimension: rot v —2 u .

(a) (b) (c) (d)

Bild 8-2: Die vier Vektorfelder von Bild 8-1 unter einer mitfahrenden Lupe

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8 .2 R o t a t io n 157

Bei r fließt das Wasser mit v(r ) . Ein Stück dr davon entfernt hat es Geschwindigkeit v (r + dr). Die Drehung u kann nur mit der Differenz dv = v (r + dr) - v (r ) zu tun haben. Bild 8-2 zeigt unter der Lupe, wie diese dv 's aussehen (Kringel := Nullvektor). Durch jede „Lupe“ in Bild 8-2 sieht man eine Stelle rechts oben (r = (a, a,0)) im entsprechenden Bild 8-1.

Wenn wir nun dv studieren, dann muß sich u erhalten lassen. Haben wir u, dann sagt (8.13), wie die Rotation von A per Rechnung zu erhalten ist. Der Reihe nach:

dv =r ( vi(r -f dr) — ui(r) , . . . , . . . )( dx dxv\ + dy dyvi + dz dzv\ , dx dxv2 +V dr mit

. . . )

(dxvi dyVi dzvi \ 1 1dxv2 dvv2 dzv2 + y T ) + “ ^ T)

dxv3 dyv3 dzv3 J |i : 5

T T J

dv i dvs + dvA , d v s := S d r , dvA A d r

(8.14)

(8.15)

Der Anteil dv$ trägt nichts zur Drehung bei, denn auf den Hauptachsen von 5 fließt Wasser nur nach innen oder außen (s.a. Abschnitt 8.3). Nur der Anteil dvA hat mit Drehung zu tun. Wenn wir die A-Elemente wie folgt bezeichnen,

0 -%(dxV2 - dyVi) i ( dzvi - dxv3)- \ { d yn - dzv2)

00

0 -CJ3 U) 2

uz 0 - Ui

-U)2 u i 0

(8.16)

dann können wir auf (4.37) zurückgreifen und dvA = ui x dr schreiben. Das nun sind gerade die Geschwindigkeiten der Punkte eines starren Körpers. In infinitesimaler r-Umgebung bewegt sich also das Wasser, als wäre es gefroren zu einem Stück Eis. Und das soeben definierte u) ist die Winkelgeschwindigkeit, die wir suchen. Damit haben wir die rechte Seite von (8.13) rückgeführt auf Ableitungen von v :

rot v = 2 ED = ( dyvs - dzv2 , dzv\ - dxv3 , dxv2 - dyv\ ) .

Der Faktor 2 in (8.13) hat seine Schuldigkeit getan. Er hat Faktoren 1/2 vertilgt, die andernfalls die Berechnungs-Vorschrift verunzieren würden. Wir multipli­zieren noch mit a und fassen zusammen:

rot A ( r ) j ( dt,A3 - dzA2 , dzAi - dxA$ , dxA2 - dyA x )

== V x A ( r )

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1 5 8 K a p it e l 8: F e l d e r

== Wirbelfeld von A (8.17)

— doppelte Winkelgeschwindigkeit eines infinitesimalen Objektes bei r , wenn A ein Geschwindigkeitsfeld wäre.

Wie schön (8.17) funktioniert, das zeigen die folgenden Beispiele.

Beispiele zur Rotation

A Linkes Ufer der Elbe, Bild 8-1 a: v (r ) = 7 ( - y , 0 , 0 ),

rot v = ( 0 , 0 , 0 - dy(- jy ) ) = 7 6 3 .

Natürlich war uns schon vorher klar, daß uj nach oben zeigt (rechte Hand) und daß es hier gar nicht von r abhängt. Räumlich konstant sind hier auch die Matrizen

V = ' ' ( S ~ o ) ’ s = l ( - ° " o ) “ d Ä = H° ~ o ) • <a i 8 >5 ist also nicht Null. Und deshalb zeigt auch Bild 8-1 a keine reine uj x d r -

Strömung. Vielmehr ist der Strömung d/VA = (-dy,dx) noch die wirbelfreie Strömung dvs = \ j ( ~ d y , — dx) zu überlagern (malen!).

B Zirkulare Stömung von Bild 8-1 b. Alle Pfeile sind gleich lang, und wir unterstellen, daß sie keine ^-Abhängigkeit haben:

rot v = v0 ( 0, 0, dx - + dy - ) = e3 — . (8.19)v Q Q ' Q

Es war nicht nötig, die ersten beiden Komponenten auszurechnen, denn daß sie verschwinden, ist anschaulich klar! Die vorliegende Symmetrie legte Zylin­derkoordinaten nahe; g ist eine. Wer jedoch in variablenabhängige Dreibeine vernarrt ist, der hätte die folgende Rechnung veranstaltet. Sie hat ihre Tücken:

V x v = ^ eede + ~e^Ld{p + e3d ^ x v0 e<p = ^ x = e3 ^ . (8.20)

C Wirbelfreie zirkulare Strömung:

v ( r ) = } { q) { - v , x , 0 ) , e •= V x2 + y2' >rot v = (0 , 0 , dx{xf) + dv(yf)) = e3 ( g f + 2 f ) = 0 . (8.21)

Die zu lösende Dgl rechts in (8.21) verlangt nach Potenzansatz: Fall (l) in Kapitel 7. Er liefert / = C/g als allgemeine Lösung und folglich

t)(r) = ev - . (8.22)Q

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8 .3 D i v e r g e n z 159

Dieses Resultat besagt, daß die Pfeile nach außen hin kürzer werden müssen — und zwar genau reziprok mit dem Abstand — damit der Paternoster senkrecht bleibt. Der Leser möge (8.22) auch in Zylinderkoordinaten herlei­ten. Es versteht sich, daß direkt an der 2 -Achse die Wirbelfreiheit nicht mehr aufrechterhalten werden kann (wenn man nicht gerade C = 0 setzen will).Um (8.22) in der Natur vorzufinden, fahren wir an die Nordsee. Ein langes vertikales Rohr erstreckt sich von einer Ölplattform bis zum Meeresboden. Es dreht sich (nicht zu schnell). Die das Rohr umgebende Strömung (weit weg von den Meeresbegrenzungen) ist (8.22). Aus der Wasser=Rohr-Geschwindigkeit am Rand (bei Radius R) läßt sich die Konstante C bestimmen. Daß gemäß 1/q weit draußen das Wasser nichts mehr vom Rohr bemerkt, ist plausibel. Tatsächlich löst (8.22) die sogenannte Navier-Stokes-Gleichung für inkompres- sible, zähe Flüssigkeiten: [Landau/Lif'schitz, VI, Abschnitt 18].

D Ein Beispiel für Formeln, die man jederzeit selbst entdecken kann:

rot((j)A) = V(j>xA = V 0 x A + V 0 x A = (grad0) x A +0ro t A . (8.23)

Im ersten Schritt wurde 0 an x vorbei gezogen: (j> ist Skalar und hat mit der Kreuzerei nichts zu tun. Sodann sind Markierungen angebracht, die angeben „was“ „nur worauf4 wirken soll. Das ist sehr praktisch. Sind markierte Objekte aneinander gebracht, können die Pfeile wieder entfallen.

E Wie man nachrechnet, daß 2Ü;, sofern räumlich konstant, das Wirbelfeld von lj x r ist:

/_ -A ^ ^ 1 * _ ^ ^ ^ ^V x (o; x rJ y cj(Vr) - r (Vw) = cj(Vr) - (l jV)t

== lj (dxx + dyy + dzz') - ^ (u V )x , ( u V )y , ( ljV)z^

— 3 lj - lj = 2 lj . (8.24)

8.3 Divergenz

Ein Vektorfeld A ( r ) sei gegeben. Wie im vorigen Abschnitt setzen wirA = o l v . Aber v ( r ) sei jetzt besser das Geschwindigkeitsfeld eines Gases, da­mit wir es bequem verdünnen können. Auch mit dem armen Wasserfloh führen wir etwas im Schilde. Er sei bereits zu Staub zerfallen und die Bestandteile seiner Wandung mögen mit dem Gas mitfliegen. Sie bilden ein mitfliegendes kleines Volumen V (ein „Rauchervolumen“, falls Sie gerade an einen Raucher­ring gedacht hatten). Verdünnt sich das Gas, so vergrößert sich V . Also legen

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16 0 K a p it e l 8: F e l d e r

wir uns das „Verdünnungs-Maß“ fest als die relative Volumenänderung (eines mittreibenden „Wasserflohs“):

_ vDefinition der Divergenz : div A ( r ) := a — . (8.25)

Die Frage ist nun, wie diese Bildung mit Ableitungen der Komponenten von v (r ) Zusammenhängen mag. Zuerst geben wir die Antwort kurz und „genial“, und danach länglich und gründlich. Beim kurzen Weg realisieren wir Bild 8-1 c in einem Rohr mit Querschnitt F . Es sei links verschlossen, und rechts zieht ein Kolben das Gas auseinander. Irgendwo mittendrin hat dann ein infinitesimales Scheibchen F mal dx — horizontal riesenhaft vergrößert — das Dehnungs- Erlebnis

( v ( x ) ,0 , 0 ) -------------- i------- ► ( v ( x + dx) ,0 , o)V ' 1 V___________ 1_ (8.26)

I I I Ix x + dt v(x) x + dx x + dx + dt v(x + dx)

Wir lesen ab, daß sich während dt das Volumen von V(t) = F dx auf V (t+dt) = F [dx 4- dtv(x + dx) - dtv(x) ] vergrößert hat. Also ist x

V _ V(t + d t ) - V ( t ) _ v(x + d x ) - v ( x ) _ \v ~ — dt V(<) “ ---------Tx---------“ ’ (8'27)

Weil v erste Komponente war, ist auch dxv\ richtig. Wenn das ganze Rohf zugleich nach oben-hinten bewegt wird, hat v auch andere Komponenten, aber die Änderung von vi mit x bleibt die gleiche. Nun möge zugleich auch die hintere Rohr wand sich nach hinten verschieben, so daß sich v2 mit y verändert. Das gibt (jetzt wird’s genial) einen zweiten Verdünnungsbeitrag dyv2. Und analog entsteht ein dritter Beitrag bei Deckel-Anheben. So wird es sein. Ganz allgemein ist V / V = dxv\ + dyv2 + dzv3 . Die Bildung V / V hängt nicht von der Kopfhaltung ab, ist also ein Skalar — und die einzige Möglichkeit, aus V (hoch eins) und v (hoch eins) einen solchen zu bilden, ist das Skalarprodukt V v der beiden. Wie man doch hinterher manchmal schlau ist.Der gründliche Weg greift auf (8.14) zurück. Dort kann der antisymmetrische Anteil dvA entfallen, weil er nur dreht und nicht dehnt. Mit dvs = Sdr gehen wir in das Hauptachsensystem der symmetrischen Matrix 5, haben also

(S 'n dxr d f* = J S22 dy1

V £ 3 3 dz ' ,

legen ein Quaderchen mit Kanten dx ' , dy1, dz1 an die Stelle r und sehen, daß sich dessen rechte Wand um S'ndx' schneller bewegt als die linke und so weiter. Das gibt

V j (dy'dz') S'ndx1 + (dx'dz') S'22dy' + (dx'dy') S'33dz'

! V (Six + + 5 ^ ) = V Sp(S') = V Sp(S) , (8.28)

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8 .3 D iv e rg en z 161

weil die Spur eine Invariante unter Drehungen ist. Und was ist das nun, die Spur von 5 ? Auf (8.14) blicken. Weil A spurfrei ist, gilt Sp(S) = Sp(F), unddie letztere ist erneut Vv . Wir kehren zum Ausgangspunkt A ( r ) zurück und fassen zusammen:

div A ( r ) j Spur (dXjAk) = dxA\ + dyA2 + dzA$

---- V- A

== Quellenfeld von A (8.29)

=P relative Vergrößerung eines mitfliegenden Volu­mens, wenn A ein Geschwindigkeitsfeld wäre

^ Feldlinien-Anfangspunkt-Dichte .

Weil einerseits aus anschaulichen Gründen die Divergenz ein Skalarfeld ist undandererseits A ein Vektor, darf man aus (8.29) darauf schließen, daß Nabla ein Vektor ist. (8.29) macht also (8.4) unnötig.

Die Wortwahl „Quellenfeld“ will erklärt sein. „Quillt“ denn da etwas? Doch, ja, das Volumen quillt auf. Wenn man für Zufuhr sorgt, geht das sogar mit inkompressiblem Wasser zu machen. Zu ebener Strömung quillt es aus dem Sandboden oder macht naß von oben. Räumlich ist wohl ein wenig science fic- tion zu bemühen: Zufuhr mit oo vielen infinitesimalen Schläuchen, so dünn und glatt, daß sie die Strömung nicht stören, Mit diesen können wir auch Wasser dort absaugen, wo „negative Quellen“ (Senken) erforderlich sind. Wir mul­tiplizieren divv = V / V mit der konstanten Teilchen-Dichte qq des Wassers, bedenken, daß qqv = J ist, und erhalten

^ Q0 V 1 / Anzahl der V \ Teilchenproduktion . .dlv 3 = 1 7 " = V pro Zeit zuge_ = --------7 V =: • (8-30)V V V führten Teilchen ) Volumen • Zeit

Die letzte Zeile von (8.29) redet von Feldlinien. Das sind Wege im Raum, diesich ergeben, wenn man stets den A -Pfeilen folgt. Wir vereinbaren überdies, daß die Anzahl der Feldlinien pro Fläche (senkrecht zu Ihnen) proportional zur Feldstärke sein soll. Bei großer Feldstärke muß man also die Feldlinien entsprechend eng malen. Wie kann das gehen — etwa bei Bild 8-1 c? Ab und zu muß eine neue Feldlinie beginnen! Und das ist schön, denn nun kann man die „Brauselöcher“ sehen (Bild 8-3), durch welche Wasser zugeführt wird. DasQuellenfeld V • A ist proportional zur Dichte dieser Brauselöcher.

Beispiele zu r D ivergenz

A Nach rechts expandierendes Gas, Bild 8 -3c: J = 7 ( x , 0 , 0 ) ,

div J = dx(yx) = 7 (konstante Dichte von Brauselöchern)

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162 K a p it e l 8: F e l d e r

(a) (b) (c) (d)

Bild 8-3: Feldlinien-Darstellung der vier Vektorfelder von Bild 8-1. Positive Feldlinien-Anfangspunkt-Dichte bei positiver Divergenz

B Zylindersymmetrisch radiale Strömung von Bild 8-3 d. Die Pfeile seien gleich lang und mögen nicht von z abhängen:

Jo ee = jo •x y n- - 0> ’ uQ Q

= j 0 ( d X ^ + d y l ) = j 0 = JO \e e j \e e j e

Der „Regen“ auf Bild d nimmt also nach außen hin ab. Zu kugelsymmetrischer radialer Strömung mit gleich langen Pfeilen erhält man div (r /r) = 3 /r - 1 /r = 2/r.

/C Quellenfreie kugelsymmetrische Strömung: 3 (r) = f ( r ) r = ( x f , y f , z f )

div 3 = dx{xf) + dy{yf) + dz(zf) = 3 f + r f = 0 ,

(8.31)Potenz­ansatz

* c rv / = - 3 cj ( r ) = er ^

Die Quellenfreiheit läßt sich am Ursprung nicht auf rechter halten. Beim Lösen obiger Dgl haben wir uns ja auch vorgestellt (unbewußt?), daß r echt größer als Null ist. (8.31) gilt außerhalb einer kugelförmigen Brause in der Nordsee. Wir hätten (8.31) auch leicht erraten können: die gleiche Menge Wasser muß pro Zeit durch jede Kugeloberfläche, und deren Fläche ist proportional zum Radius-Quadrat. Auch das elektrische Feld E ~ -grad (Q /r ) einer Punktladung Q

_i.zeigt diese 1 /r2-Abhängigkeit. Eigenartig: E sieht genau so aus, als würde etwas aus der Ladung Q herausströmen, was dann durch jede Kugeloberfläche hindurch müßte. „Wo Ladung, da Brauselöcher?“ Wir kommen hierauf zurück.

D ^ ^ ^ ^d i v ( A x B ) =p V - ( A x B ) = ( V x A ) • B + ( B x V ) • A

i B • rot A - A • rot B (8.32)

Kontinuitätsgleichung

Dieser wichtigen partiellen Dgl sind wir jetzt so nahe, daß wir sie erst einmal per Argument ins Leben rufen. Aber weiter unten werden dann zwei biedere Herleitungen nachgetragen.

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8 .3 D i v e r g e n z 163

In (8.30) hatten wir gesehen, wie viele Teilchen pro Zeit und Volumen zugeführt werden müssen, um eine bestimmte Quellstärke der Teilchen-Stromdichte auf­recht zu erhalten: div J = q q . Wenn wir statt dessen nichts zuführen, dann wird die Dichte g um genau diese Anzahl pro Zeit und Volumen abnehmen: div J = — q . Und das ist sie schon, die Kontinuitätsgleichung.

In der Natur sind im allgemeinen beide Mechanismen am Werke, so daß div J = — g + Qq ist. Wir denken dabei etwa an die Wassermoleküle in der At­mosphäre: ihre Dissoziation durch Sonnenlicht ist z.B. ein negativer Beitrag zu Qq . Manche Größen jedoch, wie Energie oder Ladung, können in einem totalen Sinne weder entstehen oder vergehen — jedenfalls nach allem, was wir heute von der Natur wissen. Man sagt dann, sie sind erhalten: Energieerhaltung, Ladungserhaltung. Der extreme Fall Qq = 0 trifft dann in Strenge zu.

Genau dann, wenn etwas,was pro Volumen gedacht q + div J = 0 . (8.33)werden kann, erhalten ist, gilt

(8.33) ist ein lokaler Erhaltungssatz. Er gilt zwischen Ladungs-Stromdichte und Ladungsdichte in der infinitesimalen Umgebung eines jeden Punktes der Welt. Bezüglich Ladung ist (8.33) eines der heute bekannten obersten Prinzi­pien. Wehe, wenn (8.33) nicht eine der elektromagnetischen Grundgleichungen ist oder aus diesen flugs hergeleitet werden kann. Es sei erwähnt, daß (8.33) unverändert auch Relativitätstheorie und Quantentheorie übersteht und in der heutigen Elementarteilchen-Theorie ihren Platz hat. Vielleicht darf man sagen, die Kontinuitätsgleichung (8.33) sei die wichtigste partielle Differentialgleichung der Physik. Nur eines stört: sie enthält mehr als nur eine unbekannte Funktion und bedarf darum noch anderer Regierungsmitglieder.

Erster Nachtrag. Um div J + q = 0 erneut und sehr direkt herzuleiten, veran­kern wir das Volumen V = F dx von (8.26) in Gedanken fest im Raum. Bei x und x -\-dx stellen wir zwei Hilfsassistenten auf und lassen sie Teilchen zählen. Die Pfeile in (8.26) zeigen jetzt j i(x)e\ und j \ (x + dx)e\. Wenn kein Teilchen verlorengegangen ist, und die Kameraden richtig gezählt haben, dann hat sich die Zahl der Teilchen in F dx während dt um

dt-(Fdx)Q = d tF j i (x ) - d tF j i ( x + dx) (8.34)

verringert. Zur Situation (8.26) sind beide Seiten negativ. (8.34) führt auf dxji(x) = —ß, und die Verallgemeinerung auf 3D ist uns schon geläufig.

Zweiter Nachtrag. Es sollte doch möglich sein, divv = V / V direkt auf die Kontinuitätsgleichung umzurechnen. Nur Vorsicht, in einem mitfahrenden Vo­lumen bleibt die Teilchenzahl N (in V) konstant, nur V vergrößert sich. In q hingegen bezieht sich die Zeitableitung nur auf das zweite Argument von 6(r, t): Volumen konstant bei r , aber die Teilchenzahl ändert sich mit der

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164 K a p it e l 8: F e l d e r

Zeit. Wir werden es schon schaffen:

ß f dte(r,t) = dte(r(t),t) - [vV)g = dt ^ - { v S 7 ) e. v (8.35)

f N V _== — - (vV)g = - g V v - (vV)g = —V(gv) = - div j , qed.

Der dritte Nachtrag ist von ganz anderer Art: 9 = 3 + 6 ^ 3 + 3 + l. In der3 * 3-Matrix V, (8.14), war eine Strömung noch durch 9 Zahlen charakterisiert(linear in V und v). 3 geben den antisymmetrischen Anteil (d.h. die Rotation)und 6 den symmetrischen. Von diesen 6 geben 3 das Hauptachsensystem von 5(Achse und Winkel). Die skalare Divergenz ist nur eine Zahl. Da fehlen dochzwei! So ist es. Die diagonale Matrix S 1 enthält drei Parameter. Wir setzenu = 0 sowie „

S'n = a - ß - 7 , **Soo — ol — ß x (8.36)S'33 = a + 2ß . ' (a = = 0)

Wegen Sp(S) = 3a hat der isotrope a-Anteil die gesamte Divergenz. Zu a = 0 bleiben quellen- und wirbelfreie Strömungen übrig. Ist auch noch ß = 0, so liegt die rechts in (8.36) angedeutete ebene „Stauch-Strömung“ vor, Stauch- stärke 7 . Kommt ß hinzu, entsteht in der xy-Ebene ein Uberschuß, welcher in ±z-Richtung abfließt. Also ist ß eine Art „Maß für Stauch-Unebenheit“.

8.4 Nabla mal Nabla

In den vergangenen drei Abschnitten haben wir anschauliche Fragestellungen mühsam bis zum Kalkül verfolgt. Etwas wunderbar Einfaches ist dabei heraus­gekommen: V0, V x A und V • A. Wir hätten also auch spielen können, um sodann die Bedeutung unserer Erfindungen nachträglich zu studieren. Dieser Weg empfiehlt sich jetzt bei der Untersuchnung zweifacher V-Anwendungen. Eine V-Anwendung kann aus einem Skalarfeld nur ein Vektorfeld machen, aber aus einem Vektorfeld ein anderes Vektorfeld und ein Skalarfeld. Für „Nabla zum Quadrat“ gibt es also die folgenden fünf Möglichkeiten:

Skalar — > Vektor — > Vektor> Skalar

Vektor — > Vektor — > Vektor (8.37)» Skalar

> Skalar — > Vektor .

Wir sehen sie uns der Reihe nach an.

V X (V 0) = (V X V )0 = ro t grad 0 = 0 . (8.38)

Weil für beliebige Funktion <j> geltend, kann (8.38) auch als Operator-Identität gelesen werden: V x V = 0. Die Null beruht gemäß (V x V ) 3 = dxdy - dydx

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8 .4 N a b l a mal N a b l a 165

etc. auf der Vertauschbarkeit der Differentiationen (man schreibe sich einmal diesen doppelten DifFerentialquotienten auf). Aber was bedeutet die Null? Ein Gradientenfeld ist automatisch wirbelfrei. Wenn eine Kraft ein Potential hat, dann hat sie automatisch keine „Ringelrum-Anteile“. Wir hatten uns die ent­sprechende Energiesatz-Katastrophe schon einmal zu Bild 3-4 überlegt. Aber hier nun ist es per Rechnung herausgekommen: K = —gradF rv rotK = 0. Schön wäre, wenn auch aus der rechten Seite die linke folgen würde. Es ist so, siehe Abschnitt 8.5.

V • (V 0) = (V • V ) 0 = A 0 = div grad 0 . (8.39)

Die Bildung A : = V • V = d\ -I- dy + d\ heißt Laplace-Operator und ist eine wichtige Angelegenheit (siehe unten). Wieder erzählt uns die rechte Seite, was er mit Physik zu tun haben könnte. Wenn man sich für die Quellen eineselektrischen Feldes interessiert („wo Ladung, da Brauselöcher“) und wenn Eein Potential <j> hat, dann sind diese Quellen per divi? = —div grad 0 = — A</> direkt gleich der negativen „mittleren Krümmung“ von <j) .

V x (V x A ) = V ( V - A ) - ( V- V ) A = rot rot A

grad div A — A A =L . (8.40)

Wichtig hieran ist die zweite Zeile, nämlich daß die unangenehme rot-rot- Bildung durch zwei angenehmere ausgedrückt werden kann. Wenn der skalare Laplace-Operator ein Vektorfeld vor sich sieht, dann wird er natürlich kompo­nentenweise angewendet: A A := (AAi, AA2 , AA3 ) .

V • (V X A ) - (V x V ) • A = div rot A = 0 . (8.41)

Ein Wirbelfeld ist also automatisch quellenfrei. Auch diese Folgerung, B = rotA rv div B = 0, werden wir versuchen umzukehren (in Abschnitt 8.5). Man verzeihe den Vorgriff: es gibt ein reines Wirbelfeld in der Natur, das Magnetfeld B — und div B = 0 ist die dritte Maxwell-Gleichung.

V Cv • A ) = grad div A . (8 42)

Zu dieser Bildung ist nichts besonderes zu sagen. Falls man über rot A schon etwas weiß, kann man mittels (8.40) wieder Laplace ins Spiel bringen. Der Leser hat bemerkt, wie wichtig es hier ist, Klammern zu setzen und manchmal auch Skalarprodukt-Punkte. Das Unglück „V(V • A) = W A = A A u kann dann nicht passieren.

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„Das mag ja alles ganz hübsch aussehen“, meldet sich hier eines jener nützlich­boshaften Subjekte zu Wort, „aber die Behauptung (8.41) ist doch irgendwie unglaublich. Ich nehme einen Kochtopf mit Wasser und rühre so um, daß das Wasser nach oben hin immer schneller umläuft. Von der Seite sehe ich die Strömung Bild 8-1 a. Die Pfeile des Feldes rotv zeigen zylindrisch-radial nach außen. Da ihr Betrag mit der Entfernung von der Topf-Achse zunimmt, ist div rotv ^ 0.“ Selbst wenn uns hierzu ein naheliegendes Gegenargument einfällt, bleiben Zweifel an „genau Null“ in (8.41). Also rechnen wir. Wäre das Wasser gefroren, dann wäre v = 7 (y, - x , 0) sein Geschwindigkeitsfeld. Nun lassen wir den Vorfaktor 7 nach oben hin zunehmen:

v = a z ( y , - x , 0) , rotv = c*V x (yz , - x z , 0) = a( x , y, - 2 z )

rx (f iv ro tlr» a + a - 2a = 0 . (8.43)

„Oh, die dritte Komponente von rotv sah ich nicht“. So lernt der Mensch. Bei Bertold Brecht heißt es: „So lernt der Mensch, indem er sich ändert“. Gelernt haben wir hier übrigens auch, daß beide Formulierungen, V, V-, Vx einerseits und grad, div, rot andererseits, ihre Berechtigung haben. Die erste unterstützt das Rechnen, die zweite das Nachdenken und die Anschauung. Man verwende sie beide.

Laplace in Kugelkoordinaten

Nabla in Kugelkoordinaten kennen wir schon. Also rechnen wir

1r ' ^rsin(??)

• ( er dr + e#-d# + (8.44)\ r rsm(?;) *)

aus. Das sind 9 Terme. Jeder DifFerenzier-Operator in der linken Klammer sieht nicht nur das Feld ganz rechts, auf das der gesamte Operator A in Ge­danken anzuwenden ist, sondern auch die Variablen in der zweiten Klammer. Kombinieren wir z.B. den zweiten Term der ersten Klammer mit dem ersten der zweiten, dann ist

A = V V = ( er dr -I- e $ - + e<p—

1 1_ / * 1 \ 1_> - d# • er dr =f - • ( d$ e r ) dr -I— • d# dr r r \ / r1 ~ ~ L / K i e r . .r r

i= - e* • e* dr = - dr , (8.45)r r

denn es ist d#er = d# (sin(tf)cos(<p) , sin($) sin(<£>), cos(#)) = e# , siehe (8.5). Solcherlei Vorsicht vorausgesetzt, ist die gesamte Rechnerei nur eine Übung im Differenzieren. Das Resultat ist

A = f T + r d\+ r*d* + r‘> sil(i) °* + r2sin2(»9) % ‘ (8'46)

i^r

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8 .4 N a b l a m a l N a b l a 167

Besonders wichtig ist der spezielle Fall, daß man A nur auf ein kugelsymmetri­sches Feld <j>(r) anwendet. Man darf dann A durch Ar ersetzen. Es lohnt sich, Ar erst einmal weiter umzuformen, nämlich mittels rdr + 1 = drr:

Ar = - (r dr + l) dr + - dr = - dr r dr -I- - dr = - dr (r dr + l) r \ / r r r r \ /

rv A r = - d 2r (8.47)r

— und diese Version sollten Sie sich merken, weil sie meist besonders günstig ist. Auch Ar = (1 / r 2)drr2dr ist richtig, aber oft besonders ungünstig. In Büchern und Formelsammlungen wird leider meist nur die in (8.46) angegebene Ar-Version bedacht.

Wo Ladung, da Brauselöcher

Wir beginnen speziell mit dem Coulomb-Feld und interessieren uns für sei­ne Quellen. Dazu ist offenbar div [—grad(l /r)] = — A( l / r ) auszurechnen. Mittels (8.47) ergibt sich A( l / r ) = ( l / r ) d ^ l = 0. Aber dies ist ein haar­sträubendes Resultat. Überall strömt Wasser nach außen, aber das Quellenfeld soll Null sein?? Wo ist der Fehler? Es gibt zwei Möglichkeiten:

1. Wir arbeiten mit einer r-Halbachse. Genau bei r = 0 läßt sich der Dif­ferentialquotient von dr nicht mehr hinschreiben. A in Kugelkoordinaten ist nicht in der Lage, ein Feld bei Durchgang durch den Ursprung zu analysieren. Der kartesische Laplace hingegen, der kann das. Wenden wir nun brav A = d2 -I- d2 -I- dl auf 1/r an, dann kommt leider eben­falls Null heraus. Möglichkeit 1 scheidet also aus (Vorsicht, bei anderen r = O-Seltsamkeiten trifft sie zu. Es war also richtig, an sie zu denken).

2. Die Raumfunktion 1/r ist pathologisch am Ursprung. Spazieren wir auf der x-Achse durch den Ursprung (r = |x|), dann bilden die Werte 1/r eine unendlich hohe Spitze. Wir haben zu erklären, was dx bei x = 0 bedeuten soll. Wir haben einmal das Zauberwort gelernt (im Abschnitt 5.1), das hier zutrifft: von der physikalischen Seite her einbetten! Das heißt hier, daß die 1/r-Spitze ein wenig abzurunden ist. Bald wird klarer werden, daß dies physikalisch Sinn macht und einer etwas ausgedehnten Ladung entspricht.

Man kann 1 /r auf viele Weisen abrunden. Wir wählen die folgende Einbettung

X{r) = , a- Ai . so daß x(0) = - und lim x(r) = - . (8.48) Vr2 + e2 £ «->-0 rDas Feld \ ist in Ursprungnähe völlig harmlos. Es mündet bei r -> 0 horizontal ein, hat also keine Spitze. Jetzt macht es keinen Unterschied mehr, ob A

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168 K a p it e l 8: F e l d e r

kartesisch oder in Kugelkoordinaten benutzt wird. Beide Versionen erfassen die starke räumliche Krümmung bei r > 0 richtig:

div ( - gradx) =f - A x = - - < 9 2r

1 5

= - ~ d r — V

y/r2 + £2=: /x(r) . (8.49)

Bei jedem festen r ^ 0 drückt der Limes e —> 0 die Funktion fi(r) auf den „haarsträubenden“ Wert Null. Gehen wir aber mit r in das Innere der e- Kugel, dann kommt ein riesiges Quellenfeld zum Vorschein (mit Wert 3/e3 bei r = 0), das sich bei e —> 0 auf einen Punkt zusammenzieht. Stärke l /e 3 mal Volumen e3 gibt etwas der Größenordnung 1. Wir erwarten also, daß /i(r) einer Darstellung der^atimliehenrL^elta-Funktion proportional ist:

/ ro o ro o

d3r /i(r) y 47r / dr r 2 ( - A x ) = -47r / drrd%(rx)

u — r v' = <92 (rx)r°° u' = 1 v = dr (rx)

47r / dr dr (rx) = 47r Jo

rx /i(r) = 47r <5(r) . (8.50)

Bei obiger Integral-Auswertung wurde die konkrete x- Gestalt gar nicht aus­genutzt. Sowohl [tw]o° = \rdr (^x)]o° = 0 als auch [rx]o° = 1 folgen bereits aus den Eigenschaften \ = 0 ( rA_1) bei kleinen r und x — \ (l “ 0[(^)A]) bei großen r, je mit A > 0. Das ist sehr beruhigend, besagt es doch, daß sich die Delta-Funktion bei jeder Einbettung ergibt. Drei andere Abrundungen, mit denen man gut rechnen kann, sind \ — (1 “ e~r/e) / r , \ = V (£ + r ) unc* X = 0(e - r)/e -I- 0(r - e ) / r .

Wir fassen zusammen:

A - := lim Ar e-K) \Jr2 -I- £■=r = “ 4tTÖ(r) . (8.51)

Das ist eine nützliche Formel. Zunächst kehren wir zum physikalischen Aus­gangspunkt zurück, indem wir sie mit - Q K ^ tteq) multiplizieren:

div —grad 1 Q47T£o r

QSo

6{r) oder :

div ^ E einer Punktladung^ = • ^ ( r ) dieser Punktladung^ . (8.52)

Wo Ladung, da Brauseloch. Oder auch: wo die Ladungsdichte Null ist, ent­stehen keine E -Feldlinien. Nun wettet wohl schon niemand mehr dagegen, daß obiger Zusammenhang auch für eine ausgedehnte Ladungsdichte und ihr E'-Feld gilt.

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8 .4 N a b l a mal N a b l a 1 6 9

Greensche Funktion des Laplace-Operators

Um den Nachweis dafür anzutreten, daß (8.52) nicht nur für Punktladungen gilt, setzen wir eine allgemeine Ladungsverteilung g(r) aus Punktladungen zu­sammen. Das von dieser Verteilung verursachte elektrische Feld sollte sich dabei als die Superposition der Coulomb-Felder ergeben. Schon einmal wurde so ge­dacht, nämlich am Ende des Dgl-Kapitels: Fall © .

Im ersten Schritt verfrachten wir (8.51) samt ö-peak per r -> r — r' an die Stelle r 1,

1 147r |r — r ' | _

= ö{r - r ') , (8.53)

und sehen sie in der eckigen Klammer stehen, die Greensche Funktion G ( r , r ') von A . Jetzt multiplizieren wir beide Seiten mit —g(r ')/£o und integrieren über r ' :

= - ! , < ? ) . (8-54)4 7 reo y \r - r ' | £o

Links durfte A, weil nur auf r wirkend, vor das r'-Integral gezogen werden. Die­ses Integral ist nun ersichtlich nichts weiter als die Überlagerung von Coulomb- Potentialen (8.12),

*(f)- i / iVi iS r (8-55»und das Ziel ist erreicht:

div E = div (-grad 0) = —A 0 = — gCr) . (*)£q

Die Gleichungskette (*) war von rechts nach links entstanden. (*) ist das, waswir zeigen wollten: das Quellenfeld von E ist (bis auf £o) die Ladungsdichte.(8.55) ist das Analogon zum Gravitationspotential (6.72). Beim Umsteigen von „Gravi-Statik“ zu Elektrostatik hat man übrigens nur und genau folgendes zu tun: V( r) —> <ß(r), —7 m —> 1/(47T£o), Massendichte —> Ladungsdichte.

Natürlich ließ sich (*) auch auf folgende Weise erhalten: Man schreibt sich die Überlagerung (8.55) von Coulomb-Potentialen auf, wendet A darauf an (d.h.bildet divE), läßt A unter Integral an 1/ | r — f ' | hängen bleiben und benutzt nun ganz trocken (8.53) als mathematische Formel.

divi? = g/eo ist die erste Maxwell-Gleichung: es gibt vier, siehe Kapitel 11. Bei unserem momentanten Kenntnisstand erscheint sie wie eine nebensächliche andere Formulierung der Coulomb-Formel E = -grad (Q/(47reo^)- Jedoch gilt diese nur im elektrostatischen Fall. Wenn sich Ladungen beschleunigt bewegen, ist sie falsch. Auch (8.55) ist dann falsch und ebenso die beiden inneren Aus­drücke in (*). Aber die erste Maxwell-Gleichung divE* = g/e0 bleibt richtig! Wieviel Mut mag wohl vor 140 Jahren dazu gehört haben, diese Behauptung zu wagen. Mit viermal soviel Mut beginnt Kapitel 11.

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1 7 0 K a p it e l 8: F e l d e r

8.5 Drei Theoreme

T heorem 1: Wenn ein Feld E( r ) in einem einfach-zusammenhängenden Gebiet keine Wirbel hat, dann kann es in diesem Gebiet als Gradienten­feld geschrieben werden — es hat es ein Potential:

rot E ( r ) = 0 rx E ( r ) = - g r a d ^ ( f ) . (8.56)

Einfach-zusammenhängend heißt ein Volumen, wenn man jede in ihm liegende geschlossene Kurve auf einen Punkt zusammenziehen kann. Die Luft in einem Ballon hängt einfach zusammen, nicht aber jene in einem Fahrradschlauch. Zum Beweis von (8.56) sehen wir zuerst die infinitesimale Umgebung eines be­stimmten Punktes an und legen oBdA (ohne Beschränkung der Allgemeinheit) den Ursprung dorthin. Keine Rotation heißt u = 0 und somit A = 0 in (8.14). Als& ist in Ursprungnähe

\ E( f ) = E(0) + S f ,

<j>(r) = - E { 0 ) r - \ r S r . (8.57)

Hierin ist r infinitesimal klein zu denken (es sei denn obiges E'-Feld liegt tatsächlich überall vor). Das Potential konnten wir in (8.57) gleich darunter schreiben. Was man sogar explizit aufschreiben kann, das existiert. Um <j) im ganzen Gebiet anzugeben, benutzen wir das „Ar beit “-Integral

= - f Tdr' - E( r ' ) . (8.58)Jo

Es hängt nicht vom Kurvenverlauf ab. Wenn man nämlich die Kurve an einer Stelle infinitesimal ausbeult, dann ist der Unterschied ein geschlossenes Arbeit- Integral in einem Bereich, in dem (wie oben gezeigt) ein Potential existiert. Es ist also Null, s. (6.34). Beinahe geht sogar im Fahrradschlauch noch alles gut(sofern E wirbelfrei). Aber wenn man durch den Schlauch hindurch einmal her­um integriert (bei z.B. ständig parallelem E ), dann kann man ein mehrwertiges <j) erhalten. Man schneide den Schlauch kaputt und verklebe die Enden.

T heorem 2: Wenn ein Feld B( r ) m einem einfach-zusammenhängenden Gebiet keine Quellen hat, dann kann es in diesem Gebiet als Wirbelfeld geschrieben werden — es hat ein V ektorpotential:

div B (r) = 0 rx B ( r ) = v o t A ( r ) . (8.59)

Die Analogie zu (8.56) ist unverkennbar. Also möchten wir auch den Beweis analog führen, nämlich zuerst lokal. Jetzt ist A ^ 0 ( 5 ^ 0 ) , aber die Matrix5 hat wegen div 2? = 0 die besondere Eigenschaft, spurfrei zu sein. Es ist wohl ein starkes Sück, wenn wir auch in

(8.60)

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8 .5 D rei T h e o r e m e 171

das Vektorpotential gleich darunter schreiben. Es ist zu zeigen, daß mit dem angegebenen Feld A per V x A das obige J3-Feld herauskommt. Eine wun­derschöne Übungsaufgabe — selber machen! Etwas bac-cab führt u.a. auf Ausdrücke Q : = [ V a ( r ) ] r , wobei a für S r oder u x r steht. Was nun? Zuerst Q = ( aV)r + r (Va ) und dann ( aV) r = a. „Aber es kommt auch ( r V ) S r vor!?“ (r V) ist ein skalarer Operator und kann an der konstanten Ma­trix S vorbei geschoben werden. „Es bleibt ein Term V S r übrig!“ Soso, der ist dkSk&i — Ski$ki — Sp(S) = 0. Irgendwo mußte ja die Voraussetzung benötigt werden. „Was mache ich nur mit V(ü; x r ) ? “ Gar nichts: eine Eisblock- „Strömung“ hat keine Quellen. Aber Sie können auch in -5 (V x r) = 0 umformen und anmerken, daß eine radiale Strömung keine Wirbel habe.

Um analog Theorem 1 das Vektorpotential A( r ) im ganzen Gebiet anzugeben, müssen wir uns auf sternförmige Gebiete beschränken. Das sind solche, welche ab Ursprung mit Fahrstrahlen ausgeleuchtet werden:

A ( r ) — f d X X B ( X r ) x r . (8.61)Jo

Daß gar kein Integral nötig ist, zeigt die Version

M ? ) = - i r x 1 + \?v B { r ) , (8.62)

wobei der Bruch als geometrische Reihe in | r V zu lesen ist. Das Nachprüfen von (8.61) und (8.62) bleibe eine Herausforderung an den Leser. Auch hierbeiwird natürlich divJ3 = 0 benötigt. So viel zum Beweis von Theorem 2. In vergangenen Auflagen war anstelle von (8.61) und (8.62) eine widerlich koor­dinatenabhängige Version vorzufinden. Vielleicht sind auch [Großmann] und [Boume/Kendall] ganz froh darüber, daß es besser geht.

Eichung

Als vom letzten Term in (8.60) die Rotation gebildet wurde, war i x r heraus­gekommen. Aber dies ergibt sich auch per V x ( - r 2ü5/2) = w x V r2/ 2 = 5 x r .Offenbar hat die Frage nach dem Vektorpotential A zu gegebenem Feld B keineeindeutige Antwort. B — rot A hat viele Lösungen. Verschiedene Strömungenkönnen gleich wirbeln. Wenn zwei Studenten I und II ihre A -Resultate (zumgleichen B ) miteinander vergleichen, dann regen sie sich nicht weiter auf, son­dern bilden zunächst die Differenz der Rotationen,

rot(Ai - An) = 0 , (8.63)

und schließen über Theorem 1, daß der Unterschied ein Gradientenfeld sein müsse:

M f ) = An(r) + gradx(r) (8.64)

mit beliebigem skalarem Feld x(^) • Zu einem anderen erlaubten A-Feld überzugehen, das nennt man Um eichen. Die genannte Wahlmöglichkeit heißt

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172 K a p it e l 8: F e l d e r

Eichfreiheit. Und wenn man sich festlegt (meist durch Angabe von div A , siehe Theorem 3), dann arbeitet man in einer bestimmten Eichung.

Zu (8.60) ist divA = 2ü;f/3. Ersetzt man aber den letzten Term von (8.60)durch (-1 /5) [? x ( lü x r ) + r 2ö;] = : C (mit den Eigenschaften rotC =u x r und divC = 0), dann gilt div A — 0, und man befolgt C oulom b-Eichung. Das Feld B merkt nichts von einer Umeichung: es ist eichinvariant. Diese Angelegenheit hat eine hochaktuelle Variante in der modernen Physik (Prinzip der lokalen Eichinvarianz), aber hier können wir sie vorerst als harmlose Nebensache abtun.

Bisher haben wir Vektorpotentiale nur verifiziert. Wie findet man sie? An- schaming und Ansatz sind in einfachen Fällen allemal gute Ratgeber:

1. In den Pfeilen des gegebenen Wirbelfeldes (B ) sehe man die Winkelge­schwindigkeiten kleiner Schaufelräder. Wie mag nun Wasser ( A ) strömen aufgrund dieser Schaufelei?!

2. Für die erwartete A -Strömung denke man sich einen Ansatz aus, bilde von diesem die Rotation und wähle ggf. Konstanten (oder löse Dgln fürim Ansatz enthaltene Funktionen) so, daß sich B ergibt.

Wenn zum Beispiel die Lösung A von rot A = (0,0, Bo) mit -Bo = const gesucht wird, dann haben die Schaufelräder vertikale Achsen und drehen sich alle gleich schnell. Das Wasser kann nun (1. Möglichkeit) wie ein starrer Körper fließen: lü x r mit 2 lü = Boe3 . Oder es handelt sich (2. Möglichkeit) um das linke Ufer der Elbe (Bild 8-1 a), welche sodann noch in beliebige Richtung _L ~e3 fließen kann, z.B. in ^-Richtung. Resultat:

Mögliche Vektorpotentiale A\ = \ B q ( - y , x , 0 ) und—v v (o.65j

von B = Boe$ = const sind Au = Bo ( 0 , x , 0 ) .

Die „Kreuzeichung“ Ai = ^ B x r folgt auch aus (8.62). Und An ist schöneinfach. Der Unterschied dieser beiden Vektorpotentiale ist übrigens Ai - An = grad* mit x = - x y B 0/2.

T heorem 3: Im unendlich ausgedehnten 3D Raum wird ein Feld A( r )(das mindestens wie 1 /r2 abfällt) durch seine (ganz im Endlichen lie­genden) Quellen und Wirbel eindeutig festgelegt:

d i v J - g p ) ) n r es gibt mirrot A = W{r) J l eine Lösung A ( r ) .

Das Theorem behauptet zweierlei: „es gibt“ und „nur eine“. Die beste Sorte Existenzbeweis ist einmal mehr jene, bei der man das, was da angeblich exi­stiert, sogar hinschreibt. Wir spalten oBdA das A-Feld in zwei Anteile so auf,

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8 .5 D r e i T h e o r e m e 173

A ( r ) = E ( r ) + B ( r ), daß der eine keine Wirbel und der andere keine Quellenhat. Die beiden Teilproblerne nennen wir E lek trosta tik bzw. M agnetosta­tik. Ihre Lösung läßt sich fertig angeben:

(8.67) ist nichts anderes als (8.55), also wohlbekannt und bereits nachgeprüft.(8.68) hat wegen V • (V x = 0 keine Quellen. Um die Wirbelstärke zu verifi­zieren, machen wir von (8.40), d.h. von V x (Vx = V(V • -A , Gebrauch. Der Laplace-Term gibt bereits das gewünschte Resultat, nämlich mittels (8.53). Also müßte der V(V- = graddiv-Term verschwinden. Er ist tatsächlich Null, nämlich aufgrund eines Integralsatzes (dem Gaußschen) aus dem nächsten Ka­pitel. Es versteht sich, daß wir zu dessen Beweis nicht etwa (8.68) verwenden dürfen.Wir fragen nun nach der Eindeutigkeit von (8.67), (8.68). Wenn es neben jeweils dem angegebenem Feld noch ein anderes gäbe, dann müßte es sich um ein Feld C( r ) unterscheiden, das im ganzen Raum die beiden Gleichungen div C = 0 und rot C = 0 erfüllt. Sie lassen sich leicht in eine einzige Dgl zweiter Ordnung überführen (Rotation der zweiten bilden und (8.40) ausnutzen): A C = 0. JedeC -Komponente für sich muß also die L aplace-G leichung erfüllen, über deren Lösung in einem Raumbereich V (mit Rand) man folgendes weiß:

Die Lösung </> von A^ = 0 hat nirgends in V ein Maximum oder Minimum. Die größten und kleinsten 0-Werte liegen am Rand. ' * '

Hätte nämlich <j> ein Maximum, dann wäre dort (d% + dy + dl) <j> negativ, und die Laplace-Gleichung wäre verletzt, qed. Diese Weisheit interessiert uns nun für den ganzen Raum. An dessen „Rand“ soll nach den Voraussetzungen von Theorem 3 das Feld 0 verschwinden. Auch die Differenz etwaiger zweier solcher Felder wird dort Null. Der größte und kleinste Wert von z.B. C\ ist Null, sagt(8.69). Folglich ist überhaupt C\ = 0 und das Theorem 3 bewiesen.

Am Abend im Lehnstuhl und bei Rückblick auf (8.59) und (8.68) meldet sich eine unangenehme Frage. Warum nur haben wir uns bei Theorem 2 so ange­strengt, wo uns doch (8.68) die dort gesuchte Rotations-Darstellung klar vor Augen führt!? Der Punkt ist, daß für Theorem 2 die Quellenfreiheit nur in einem endlichen Raumbereich V gefordert war. Theorem 2 leistet also mehr, als mit(8.68) zu erhalten ist. Außerhalb von V kann der Teufel los sein. Über diesen „Teufel außerhalb“ darf man sogar beliebig verfügen, z.B. wenn man die Ei­chung (8.65) benutzt, um etwa ein Atom im Magnetfeld quantenmechanisch zu behandeln. Das ist praktisch. Wenn Sie hingegen mehr philosophisch werden, die Gültigkeit der dritten Maxwellgleichung div B = 0 im ganzen Weltraum re­klamieren und sich vorstellen, es gäbe ein statisches W elt-W (r) = rot B (man

(8.67)

(8.68)

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174 K a p it e l 8: F e l d e r

kennt es nur nicht), dann gibt in der Tat (8.68) die gesuchte Existenz-Antwort auch für ein endliches Gebiet.

Wäre Theorem 3 nicht bekannt gewesen, dann hätten wir es aufgrund anschau­licher Überlegungen gefunden. Wir befinden uns tief im Inneren der unendlich ausgedehnten Nordsee. Nun mögen viele infinitesimale Brauselöcher und Schau­felräder in Aktion treten. Das Wasser weiß jetzt genau, wie es zu strömen hat. Diese Strömung kann man nur von außen beeinflussen, etwa indem man den Golfstrom überlagert oder die Erde rotieren läßt. Um entsprechende statische elektrische oder Magnetfelder zu erzeugen, müßten weit draußen riesige Kon­densatoren und Spulen stehen. Genau solche Bosheiten verbietet Theorem 3 von vornherein. Niemand rührt und braust am Rand des Weltalls.

Das Unternehmen, Felder zu verstehen, hat eine erste kritische Phase erreicht. Am Anfang stand die Umkehr einer Fragestellung. Wir kannten Felder und konnten sie per Meßvorschrift definieren (siehe Text unter (3.2)), aber wir hat­ten ihnen nur die Nebenrolle zugedacht, einem Teilchen bei r zu erzählen, wie es sich zu beschleunigen habe: Feld als Ursache und Teilchenverhalten als Antwort. Eine vollständige Zukunfts-Vor hersage verlangt, auch umgekehrt zu gegebenen Teilchen-Positionen das räumliche und zeitliche Verhalten der Felder bestimmen zu können. Teilchen als Ursache und Feld als Antwort.

Bisher haben wir uns sehr zurückhaltend nur auf räumliches Feldverhalten kon­zentriert. Keine Zeitabhängigkeit heißt S tatik . Alle Teilchenpositionen zu kennen ist äquivalent zu bekannter Ladungsdichte g(r). Diesen Spezialfall der Elektrostatik haben wir bereits behandelt. (8.55) und (8.67) war die Lösung. Wovon die Lösung? Wenn Sie sagen, hier seien doch nur Coulomb-Potentiale superponiert, dann können Sie noch eine Weile Anhänger der „Fernwirkungs- theorie“ bleiben, wonach die Kraft zwischen zwei Teilchen nichts Reales ist, was tatsächlich den Raum erfüllt. Wenn Sie (8.67) rechts als Lösung der links in (8.67) stehenden zwei Gleichungen verstehen, dann dürften Sie bereits zu einem Anhänger der „Nah wirkungstheorie“ werden. Durch diese zwei lokalen Gleichungen wird ja von Raumpunkt zu Raumpunkt fest gelegt, wie sich das Feld zu verändern hat: da ist wirklich etwas, und es gehorcht einer Natur- Mathematik. Um es kurz zu machen, die Nahwirkungstheorie gewinnt. Wer dies nicht glauben möchte, der wird spätestens dann bekehrt, wenn elektroma­gnetischem Feld eine Energie pro Volumen zugeordnet werden muß (indem man die Energie-Dichte-Kontinuitätsgleichung herleitet, s. Kapitel 11) — oder in­dem man ihn in die Sonne legt, bis er zugibt, daß ihm warm wird (Licht ist Feld).

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8.5 D rei T h e o r e m e 1 7 5

Im nun vergangenen Kapitel gab es hin und wieder Anspielungen auf Physi­ken, die der arme Leser nicht vollständig kennt (Hydrodynamik, Elektrody­namik). Man lasse sich nicht bange machen. Zunächst waren Definitionen wie rot, div zu begreifen, und das wird in der Regel durch einen realen Be­zug erleichtert. Auch bei den Theoremen kommt es in erster Linie darauf an, sie (irgendwie!) in Erinnerung zu behalten. So haben wir zwar die Bezeich­nung B nur an Stellen benutzt, wo es sich um ein Magnetfeld handeln kann. Der entsprechende mathematische Zusammenhang kann aber auch mit ande­rer Buchstaben-Bedeutung eine Rolle spielen. Beispielsweise antwortet (8.68)sowohl auf div B = 0, ro tB = ~j /{c2eo), B — ? als auch auf div A = 0, rot A = B , A = ?

Angenommen, unser momentaner Kenntnisstand wäre auch jener der Mensch­heit. Von Ihnen, der Sie auf der Höhe der Zeit sind, wird nun erwartet, daß Sie auf einer Frühjahrs-Tagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft über den Stand der elektromagnetischen Theorie berichten. Vermutlich räumen Sie Theorem 3 einen zentralen Platz ein, schlagen die Struktur

div E = -£■ + ? , d ivß = 0 [?]£o

rot E — ? , rot B = ( Stromdichte ? ) + ?

vor und kommentieren die Fragezeichen. Jenes in eckigen Klammern ist eine Herausforderung an die Experimentierkunst — so ist es heute noch, aber die Null steht. Zu jenem in der runden Klammer führen Sie Beispiele vor, wie gut etwa die zirkulare Strömung (8.22) zum Magnetfeld um einen vertikal strom­durchflossenen Draht passen würde oder wie aus (8.68) das Magnetfeld einer Spule folgt. Zu den restlichen drei Fragezeichen betonen Sie schließlich, daß bittesehr nicht etwa alle drei entfallen dürfen. Es soll sich ja um echte Bewe­gungsgleichungen für Felder handeln. Also sind noch zeit-abgeleitete Terme unterzubringen! So weit sind wir.Die Natur kennt r-i-abhängige, also grundsätzlich kontinuierliche Objekte. Ab Quantentheorie werden auch Teilchen durch Felder beschrieben. Dann kann man sagen, die Natur kennt nur kontinuierliche Objekte. So weit sind wir noch nicht.

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9 Integralsätze

Für die folgenden Weisheiten ist eine separate Schublade einzurichten. Inte­grale Zusammenhänge sollen weder die lokalen Überlegungen des vorigen Ka­pitels belasten noch die Physik der zwei nächsten. So mag denn die Kunst des Addierens erneut ihre eigene Harmonie entfalten (und der Abschnitt 6.4 eine Fortsetzung bekommen). Zuerst werden jene zwei Integralsätze, die man ken­nen muß, Gauß und Stokes, begründet. Sie sind angenehm einfach. Beispiele belegen ihren Nutzen. Im dritten Abschnitt ziehen sich dann Gauß und Stokes märchenhafte Gewänder an, nennen sich Cauchy und gehen erste Schritte in die Funktionentheorie.

9.1 Gauß und Stokes

Wir kennen schon einen Integralsatz, einen „nullten“. Wir schreiben ihn erneut auf:

[ dx ÖxF{x) = F(b) - F(a) . (6.9)Ja

„Integral über Ableitung von etwas gibt dieses ‘etwas’ am Rand“ ist sein Thema. Wir kennen inzwischen andere Sorten Rand und können mittels Nabla räumlich ableiten. Nach Abwandlungen von (6.9) zu suchen, liegt also nahe: Thema und Variationen. Eine erste sinnvolle Abwandlung ergibt sich, wenn wir in (6.9) F(t) = </>(r(t)) setzen, wobei es sich bei r(t) um irgendeine Raumkurve handelt, die bei r(a) =: r\ beginnt und bei r(b) = : r2 endet. Aus (6.9) mit t statt x wird dann

f dt dt </>(Ja

oder kurz : J dr *grad0 = </>(2 ) - 0 (1 ) . (9.1)

(9.1) gilt, weil dabei lediglich die x-Achse von (6.9) zu einer Kurve gekrümmt wurde, oder: weil (bei Potential-Existenz) das Arbeit-Integral (6.34) auch räumlich den Potential-Unterschied liefern muß, oder: weil beim Addieren aller kleinen Höhenzunahmen dr • grad<j) — ds • d8(j>\- [vgl. (8.1)] längs irgendeines Weges der gesamte Höhenunterschied herauskommen muß. Der Integralsatz(9.1) ist also sehr selbstverständlich und hat keinen besonderen Namen.

r{t)) - /Jadt r • V(j> = 0 ( r 2 ) — 0 (n )

Gauß

(9.2)

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9.1 G auss u n d S t o k e s 177

Beim Nachdenken darüber, was (9.2) aussagt, bringt sich mit Nachdruck die(bekanntlich perfekte) Übersetzung von E in eine Teilchen-Stromdichte in Er­innerung. Der Übersetzungsfaktor a kürzt sich auf beiden Seiten. Gemäß(8.30), div y = Qq , steht nun links in (9 .2 ) die in V pro Zeit zugeführte Anzahl von Teilchen. Da es sich um die Teilchen eines total inkompressiblen „Wassers“ handelt, müssen ebensoviel Teilchen pro Zeit durch die Oberfläche S von V entweichen. Diese Anzahl pro Zeit (= Teilchen-Strom I durch S) steht nun in der Tat auf der rechten Seite von (9.2). Also stimmt (9.2) und ist direkte Folge unserer anschaulichen Divergenz-Definition. Offenbar kann ruhig V auch mehrfach Zusammenhängen oder Spitzen haben usw.

Stokes

J df rot B = dr ■ B . (9.3)

Dieser Sachverhalt scheint etwas mehr Raffinesse zu enthalten. Natürlich soll C die geschlossene Randkurve der Fläche S sein. Aber S darf gewölbt sein. Zum Verstehen von (9.3) — egal, ob nun anschaulich oder per Rechnung — ist sehr hilfreich, daß man die Fläche S unterteilen kann (Bild 9-1). Die linke Seite von (9.3) bemerkt nichts, wenn man S zerschneidet.

Bild 9-1: Zum Beweis von Stokes’ Satz durch Zerlegung in ebene Rechtecke

Zur Randkurve C kommen an der Schnittlinie zwar zwei gegenläufige neue Stücke hinzu, aber ihre Beiträge zur rechten Seite von (9.3) kompensieren sich. Gilt also (9.3) für zwei Teilflächen von S, dann gilt sie auch für S. Wir untertei­len weiter, bis S nur noch aus Kacheln besteht, die so klein sind, daß sie beliebig genau als eben angesehen werden dürfen. Für ein ebenes Rechteck (oBdA in der £2/-Ebene) rechnen wir die linke Seite von (9.3) ein Stück weit aus:

r a r b r a rb

/ dx dy (dxB 2 - dyBi) = d x B i ( x , 0 , 0 ) + d y B 2( a , y , 0 ) Jo Jo Jo Jo

Jr a rb

' dx Bi( x , b , 0) — I dy B2( 0 , y , 0 ) , (9.4)0 Jo

und sehen, daß die rechte Seite herauskommt. (9.3) stimmt für jede Kachel in Bild 9-1 und folglich auch für die Wandung S des Badezimmers samt ihren Wölbungen und Kanten. Man kann Stokes’ Satz übrigens auch aus Gaußens erhalten, indem man den letzteren in 2 D für ein Feld ( B2 , —B\) aufschreibt (s.a. (9.30)) und dann auf gekrümmte Fläche verallgemeinert.

Die Beziehungen (9.1) und (9.3) haben gemeinsam, daß man auf der linken Seite den Verlauf der Kurve bzw. Fläche abändern kann (Rand fest), ohne daß

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Bild 9 - 2 : Zu Feynmans Tests der Integralsätze beim Schließen einer Kurve bzw. eines Volumens

der Wert der rechten Seite davon betroffen wäre. Wieso verschwindet der dabeiauf der linken Seite entstehende Unterschied? [Feynman, Bd. II, Kap. 2 ]Dieser Unterschied ist nach Bild 9-2 ein geschlossenes Kurven- bzw. Flächen­integral. In dem Moment, in dem man links in (9.1) die Kurve schließt, läßt sich (9.3) anwenden:

Und in dem Moment, in dem man links in (9.3) die Fläche schließt (den Luft­ballon zuschnürt), trifft (9.2) zu:

9.2 Anwendungsbeispiele

Bei geeignetem Integranden bieten Gauß und Stokes die Möglichkeit, Informa­tion von innen auf den Rand abzuwälzen. Ob ein solcher formaler Schritt die zu behandelnde Physik voranbringt, ist jeweils eine offene Frage. Mitunter (sie­he folgende Beispiele) wird sogar im ersten Schritt ein lokaler Zusammenhang zunächst überintegriert und dadurch im allgemeinen zunächst Information ver­loren. In solchen Fällen ist man entweder tatsächlich an „globalen“ Aussagen interessiert (Beispiel A), oder man weiß aus anderen Gründen (meist Symme­trie, Beispiele B und C) so viel, daß gar kein Informationsmangel eintritt. Dies zur Warnung.A Verzweigungsregel. Wir integrieren die Kontinuitätsgleichung g + div J =0 über irgendein zeitunabhängiges Volumen V, benutzen Gaußens Satz und erhalten die integrale Kontinuitätsgleichung

Wenn nun in V nur dünne Drähte liegen (Bild 9-3), so daß sich in V keine nennenswerte elektrische Ladung anhäufen kann (Kapazität Null), dann ver­schwindet der erste Term. Der zweite Term wird zur Summe der elektrischen Ströme, die durch diese Drähte fließen (positiv, wenn nach außen). Also gilt

(9.5)

(9.6)

(9.7)

(9.8)

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9 .2 A n w e n d u n g s b e i s p i e l e 179

und heißt Kirchhoffs Verzweigungsregel. Sie war — niemand lasse sich beirren— schon vorher anschaulich klar. Es ging darum, Gauß zu illustrieren.

Bild 9—3: Kirchhoffs Verzweigungsregel ist direkte Folge von Ladungserhaltung

B Platten-Kondensator. Wir integrieren divE = g/eo über irgendein Vo­lumen V, benutzen erneut Gauß und erhalten die integrale erste Maxwell- Gleichung

£ d f E = — [ d3r e . (9.9)J s £o J v

Eine Chance, aus dieser Gleichung etwas Lokal-Gescheites herauszulesen, bietet sich nur in einfachen Fällen, wie z.B. dem folgenden. Die vertikalen parallelen ebenen Metallplatten eines Kondensators seien oo ausgedehnt, um d vonein­ander entfernt und mit Ladung pro Fläche a = Q/F bzw. - Q / F versehen. Bild 9-4 zeigt nur ein Stück der rechts unteren Quadranten der beiden Ebenen (zeigt man alles, sieht man nichts mehr).

Bild 9-4: Die integrale erste Maxwell-Gleichung liefert das elektrische Feld im Inneren eines Plattenkondensators

Falls wir wissen, daß das Feld E nur eine x-Komponente hat und außerhalb des Kondensators verschwindet, dann können wir V so wählen, daß E auf S nur entweder parallel oder senkrecht steht, nämlich als Trommel mit Deckfläche So, welche die Ladung aSo einschließt:

0 ■+■ 0 -h E S q — —&Sq£o

rx

rx Kapazität C :=

-binnen — ( » 0 , 0 \ £ 0

Ladung _ Qeq Spannung ad

-grad ( - x — £o

eoFd

(9.10)

Der Rechenaufwand war gering. Ferner ist obige Argumentations-Kette sehr üblich. Aber um die naheliegende Verfahrensweise handelte es sich nicht. Wenn

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180 K a p it e l 9: In t e g r a l s ä t z e

man so viel über E schon weiß, dann empfiehlt sich ein Ansatz:

E = ( / ( x ) , 0 , 0 ) , A \ v E = d xE 1 = f '(x ) = j-5{x) ( inn“ k“ n d )

rv f (x) = —6( x ) + C , f ( x < 0) = C = 0 rv obiges E -Feld . (9.11) so

Es ist übrigens bei allen Gauß-Stokes-Anwendungen dieses Typs so, daß man auch mit Ansatz zum Ziel kommt. Der Ansatz-Weg mag ein wenig mehr Mühe machen, ist aber in der Regel viel instruktiver. Andere elektrostatische Beispie­le, die Gauß-Anwendung erlauben, sind der homogen geladene gerade Draht und kugelförmige Ladungsverteilungen.

C Magnetfeld um geraden stromdurchflossenen Draht. Wir vertrauen (Vor­griff) dem Herrn Maxwell, daß rot 5 = j /c?£o die Grundgleichung der Magne- tostatik ist, integrieren sie über eine (zunächst beliebige Fläche) S , benutzen(9.3), d.h. Stokes, und erhalten die integrale vierte Maxwell-Gleichung im sta­tischen Fall

( 9 1 2 )

Wir „wissen“, daß das Magnetfeld um einen vertikalen, oo langen Draht (entlang \?-Achse) überall in e^-Richtung zeigt. Also wählen wir die Randkurve C alsitreis mit Radius g um die z-Achse, damit auf C stets dr\ \B ist. Auf der rechten Seite ergibt sich l / ( c 2 £o) mal der Strom / , der nach oben durch den Draht fließt:

2wßB(e) = - ^ - I rv ß = e „ —4 — - . (9.13)C £ q * 27TC £0 Q

Wie sich (9.13) mit Ansatz ergibt, zeigt die Rechnung (8.21). Man darf sich den Draht auch dick vorstellen und mit der Kreisschleife C in das Innere des Drahtes wandern. Eine andere schöne Stokes-Anwendung bietet sich z.B. anhand einer parallel stromdurchflossenen dicken ebenen Metallplatte.

Räumliche Partielle Integration

Beispiel:

/ d3r A-gidAcj) =j= / d3r [div( A<j>) - (j> div A j J v | JV

i j) df • A <j> — J d3r <f> div A . (9-14)

Auch die eindimensionale partielle Integration (6.36) war nur eine Umformungs­möglichkeit — manchmal sinnvoll, manchmal nicht. Wenn das Produkt A (j> der beiden Felder am Rand verschwindet (etwa weil sich V über den ganzen Raum erstreckt und eine im Endlichen stattfindende Physik behandelt wird), dann haben wir

f d?r A V(j> — - f d?r <j> V • A , (9.15)Jv Jv

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9 .2 A n w e n d u n g s b e is p ie l e 181

oder kurz: V = - V . Letztere „Schnellmethode der partiellen Integration“ ist natürlich mit wenn (kein Randbeitrag) und aber (Produkt-Version von V intakt lassen!) zu verzieren.

Als es im vorigen Kapitel das Theorem 3 zu beweisen galt, hatten wir die Frage aufgeschoben, weshalb der unerwünschte Term

div / dV jfr=£|=/ v • ( n ) = fi=~ 'v n (9-16)verschwindet. Jetzt können wir antworten. Der erste Schritt ist weiteres Bei­spiel für die „Schnellmethode“:

- [ d3r' W(r ' ) • V' _ * , = f d3r' _ * , V' • W (f ' ) = 0 , (9.17) J | r — r'\ J | r — r '|

—k —i weil V • W = div rot B = 0 , qed.

Wir haben Gauß und Stokes im Griff und können uns nun — nicht ohne eine gewisse gelöste Heiterkeit — ansehen, wie andere Literaturen die Divergenz und die Rotation ihren Lesern beibringen:

div E

rot B

wobei das Maximum bezüglich aller Orientierungen e der kleinen, bei r an­gebrachten Fläche 5 zu suchen ist. Werden nun hierdurch wirklich „unsere“ Bildungen div und rot definiert? Nach Umformung der rechten Seiten mittels Gauß bzw. Stokes sieht man, daß dem so ist.

!=

- r i / - - i - (9’18):= e • max < lim — <b dr • B > , e J L S ,

Alle Integralsätze folgen aus einem

— und dieser eine ist der „nullte“: (6.9). Der erste Schritt auf diesem Wege in Richtung Vereinheitlichung erfolgte bereits bei der Herleitung von (9.1). Im zweiten Schritt, der nun natürlich von (9.1) ausgeht, werden wir eine Wegga­belung erreichen.Wir überziehen zunächst eine ebene Fläche 5 (mit Normalenvektor n) äquidi­stant (Abstand da) mit Linien in Richtung e. (9.1) liefert für jeden Streifen

da I (ds e) • grad <j> = <j>(2) da - <p(l) da . (9.19)

Am rechten Ende (Bild 9-5) kann da durch d r ( i i x e ) ersetzt werden (am lin­ken Ende ist dies —da), wobei dr das entsprechende Stückchen der Randkurve C von 5 bezeichnet.Addition ergibt

e • J d/grad0 = e • j) dr x n(f> . (9.20)

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Bild 9 -5 : Ebene Fläche als Ausgangspunkt bei der Herleitung aller Integralsätze aus einem

(9.20) ist keine erfreuliche Gleichung, weil 5 eben ist und e in 5 liegen muß. Aber (9.20) markiert die angekündigte Weggabelung.

Abzweigung 1: Um die genannte e-Beschränkung loszuwerden, legen wir viele Flächen 5 äquidistant übereinander und erhalten

e •J d3r V <f>=e ■ j> df 4> . (9.21)

Hierin ist jetzt e ein völlig beliebig wählbarer Einheitsvektor. Also darf man ihn auf beiden Seiten weglassen. Auch das Skalarfeld $ ist beliebig und darf somit rechts und links entfallen. Das Resultat ist eine vektorielle Operatoridentität:

J d3r V . . . = j d f . . . (9.22)

Das gefällt. An Stelle der Punkte darf man ein Skalar- oder Vektorfeld einfügen. Im Vektorfeld-Falle ist man frei in der Wahl der Produktart (Skalar- oder Kreuzprodukt). Damit ist klar, daß der Gaußsche Satz (9.3) ein Spezialfall von (9.22) ist.

Abzweigung 2 : (9.20) bietet noch eine andere Möglichkeit, auf beiden Seiten e wegzulassen. Würde auf beiden Seiten von (9.20) der jeweilige Skalarprodukt- Partner von e bereits automatisch in 5 liegen, dann könnten wir zweidimen­sional denken und das obige auf (9.22) führende Argument in der S-Ebene wiederholen. Auf der rechten Seite von (9.20) ist dies bereits der Fall. Auf der linken Seite erreichen wir es mit der Umformung

e -grad^ = e *[(n2 )grad0 - n (n-grad^)] = e -[(n xgrad<£) x n] , (9.23)

bei welcher e • n = 0 ausgenutzt wurde. Damit wird (9.20) zu

I ( d f xgrad<£) x n = ^ d r ( / ) x n . (9.24)

Darf man nun x n auf beiden Seiten weglassen? Im allgemeinen nicht, aber hier schon. Hier stehen nämlich die Kreuzprodukt-Partner von n senkrecht auf n, so daß wir nach dem Motto n x (a x n) = a - n(a • n) = a verfahren können. Schließlich fällt 0, da beliebig, und wir bekommen

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9 .3 W eg e in d e r k o m p l e x e n E b e n e 183

Es versteht sich, daß auch noch die lästige Beschränkung auf ebene Fläche jetzt entfallen kann, nämlich via Bild 9-1. Nimmt man insbesondere den vektoriellen Operator (9.25) im Skalarprodukt mit einem Feld B und formt (df xV) • B in df *(V x B) um, dann folgt Stokes’ Satz (9.3).

Das Ziel ist erreicht. Alle Integralsätze hängen aneinander. Sollte es weitere geben, dann vertrauen wir darauf, daß sie sich ohne viel Federlesens aus den ge­nannten herleiten lassen. Beispielsweise haben wir mit der „zweiten Greenschen Formel“ [.Bronstein]

(<j>Ax ~ X&<i>) =j= j>df -(0 Vx-xV<A)

i j) df((pn ■ grad x — X” ' grad (p) (9.26)

keine Probleme und sehen auch, wie dabei eine Richtungsableitung ins Spiel kommt, nämlich jene nach außen und auf der Oberfläche im letzten Ausdruck.

9.3 Wege in der komplexen Ebene

So eine kleine Tür und so ein großes schönes Märchenland dahinter! Das Märchenland heißt Funktionentheorie. Und die unscheinbare Tür geht auf bei einer kleinen Spielerei. Das Argument x einer weichen Physiker-Funktion könnte man ja mal durch z = x + iy ersetzen. Mal sehen, was dabei passiert.Mit dem Hinzufügen von iy zu x verlassen wir die x-Achse und betreten die komplexe Ebene, jene von Bild 5-7. Die imaginäre Achse zeigt nach oben. Funktionen über dieser Ebene dürfen i enthalten, können also z.B. als f ( x ,y ) = u(x,y) + iv(x,y) geschrieben werden. Unter den vielen solchen Funktionen haben jene der Form f ( x + iy) eine recht spezielle Abhängigkeit von den beiden Variablen. Für sie gilt offenbar

dxf (x+iy) = f ' , dyf (x+iy) = i f rx (dx+idy ) f (x+iy) = 0 . (9.27)

Wer hier zuerst an (dx + dy) f (x — y) = 0 denkt und dann y durch — iy ersetzt, der erhält (9.27) ebenfalls — nichts Besonderes also. Die i-Angst ist Vergan­genheit. Die Identität (9.27) enthält zwei Komponenten von Nabla. Wir sind ja ständig dabei, alles Mögliche durch Nabla auszudrücken. Das muß hier auch gehen. Es geht sogar auf zwei Weisen. (9.27) kann (a) als Skalarprodukt in 2D gelesen werden und (b) als dritte Komponente eines Kreuzproduktes:

(a) ( dx , d y ) - ( i f , - f ) = i ( d xf + idvf ) = 0 (9.28)

(b) [(dx , d y , 0 ) x ( f , i f , 0 ) ] 3 = i ( d xf + idyf ) = 0 . (9.29)

Mit (9.27) ist der erste Schritt in die Funktionentheorie getan. Mit dem zweiten Schritt bekommen wir es bereits mit einem Integral in der komplexen Ebene zu tun. Falls das Empörung auslöst, gibt es drei Erwiderungen. Erstens hatten

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184 K a p it e l 9: In t e g r a l s ä t z e

wir gerade Gauß und Stokes etabliert, zweitens geht es so schön und drittens ist angeblich „das Wichtigste zuerst!“ ein gutes journalistisches Prinzip. Zur Sache. Eine einfach zusammenhängende ebene Fläche 5 liege in der komplexen Ebene (wie „weich“/ darin sein muß, siehe unten). Die Randkurve von S heiße C . In (9.28) steht eine verschwindende Divergenz und ruft nach Gauß:

(a ) 0 J div2D ( i f , —f )

f c ^ d y ’ ~ dX ( ^ ’ ~ ^ ) = f (S dx + idy) $ '

Zum ersten unteren Gleichheitszeichen hatten wir einen auf C senkrechten Vek­tor df - gefunden und ihm den Betrag der Bogenlänge gegeben, wie in 2D erfor­derlich. In (9.29) steht eine verschwindende Rotation und ruft nach Stokes:

(b ) 0 J j d 2r e3 - T 0 t ( f , i f , 0) = J d f ' r o t ( / , i f , 0)

± j>dr • ( / , i / , 0) = j ) ( d x + idy) f . (9.31)

Die beiden Herren scheinen sich völlig einig zu sein: (9.30) = (9.31). Wenn jetzt dx + idy = : dz geschrieben wird, dann ist mit dz wirklich eine kleine Differenz zweier komplexer Zahlen gemeint, wobei diese beiden Zahlen auf der Kurve C liegen. Hat C etwa eine Parameterdarstllung r(t) = (x( t ) , y(t) ) , so daß z(t) = x(t) + iy(t) , dann ist dz = dt (x + iy). Ist x selbst der Parameter, dann haben wir dz = d x ^ + vy'). Und ist die Kurve ein Kreis (R), so daß Werte z = Re1<p durchlaufen werden, dann ist dz = dtpd^z = Re1<pidtp. Mit dieser Winzigkeit in der Notation werden (9.30) und (9.31) zu Cauchys Theorem :

£ d z f ( z ) = 0 . (9.32)

Ein geschlossenes Kurvenintegral in der komplexen Ebene verschwindet dann, wenn die Kurve C in einem einfach zusammenhängenden Gebiet liegt, in wel­chem die Funktion f ( z) überall analytisch ist.

Der letzte Satz war sehr beunruhigend. Die Einschränkung des Gebietes ver­stehen wir gut aufgrund der Herleitung: sowohl Gauß als auch Stokes brauchen C als die eine Randkurve von 5. Aber dann ist die Rede von einer besonderen Sorte von Funktionen. Nanu, wo haben wir denn auf der letzten Seite eine notwendige Einschränkung verpaßt?? Eigentlich nirgends. Der Schreck legt sich. Lediglich — und das ist schön — haben unsere „anständigen weichen Physiker-Funktionen“ endlich einen Namen bekommen! Analytisch = regulär = harmlos = weich = physikalisch.

Vor der Argumenterweiterung um iy gab es auf der x-Achse pathologische Stel­len (z.B. Pole) oder Ränder von Halbachsen (wie bei ln(x) oder y/z?), über die hinweg wir nicht differenzieren konnten. Jetzt aber, wenn die x-Achse Teil der komplexen Ebene wird, liegen solche Stellen (oder Linien) in einem Gebiet. Schon in (9.27) hatten wir unterstellt, daß man / differenzieren kann, und zwar

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9 .3 W e g e in d e r k o m p l e x e n E b e n e 185

sowohl „in x-Richtung“ als auch „in ^/-Richtung“. Kann man das (in einem Gebiet G), dann heißt / analytisch (in G). An jeder Stelle zq € G soll man f (z) = a + (z — zo) b + .. . schreiben können, und b ist dann f ' (zo) .Wird eine analytische Funktion in Real- und Imaginärteil aufgeteilt, f ( z) = u(x, y) + i v(x ,y ) , dann erzählt uns (9.27), daß

( dx + idy ) (u + iu) = 0 dxu - dyv = 0 , dyu + dxv — 0 . (9.33)

Diese beiden Beziehungen, welche u und v verknüpfen, nennt man die Cauchy— Riemannschen Dgln. Eliminieren von v gibt A2Du = 0, und analog folgt A2Du = 0. Die Abbildung von der xy-Ebene auf die uu-Ebene ist winkeltreu (konform), denn geht man von einer komplexen Zahl zq in zwei Richtungen ein kleines Stück weg, nach zq -hee1^ 1 und zq + £e1< 2 (Winkelunterschied y>2 - ¥>i), dann ist man in der uu-Ebene nach / ( zq -bse1 1) = f(zo) + eelipi/ ' ( zq) bzw. nach f(zo) + e e ^ f ^ z o ) gelangt: erneut Winkelunterschied y?2 — <£i- Es wird jetzt recht gefährlich, daß wir aus dem Märchenland nie mehr wieder heraus finden. Nur noch den Residuensatz (s.u.) wollen wir „mitnehmen“. Alles an­dere wird der Literatur überlassen. In den ersten fünf Kapiteln bietet [Jänich] eine für Neulinge sehr einfühlsame Funktionentheorie. Wer eine knappe Zusam­menstellung aller Wesentlichkeiten vorzieht, der blicke bei [Mathews/Walker] in den Anhang oder bei [Joos] in das vierte Kapitel (fünf Seiten).Viel interessanter als die Null in Cauchys Theorem ist der Fall, daß das Analyti- zitätsgebiet einen Pol umschließt. Die Funktion 1 / z hat ihn am Ursprung sitzen. Und nun integrieren wir dort (unter Verletzung der (9.32)-Voraussetzungen) mathematisch-positiv einmal herum. Den Weg C kann man wegen (9.32) ver­biegen. Er sei oBdA ein Kreis (R):

<£ d z - = f ( R e ivi d v ) - = ^ = i f dtp = 2ni . (9.34)./Kreis z J 0 J 0

Steht auch noch eine analytische Funktion f (z) mit im Zähler (analytisch über­all im Kreis), dann wählen wir den Kreisradius so klein, daß man f ( z) an der Stelle z = 0 vor das Integral ziehen kann. Translation nach a gibt

dz U llL = 2ni f(a) . (9 .3 5 )Z CL

Man nennt dieses Resultat meist den R esiduensatz. Man darf auch „Cauchys Integralsatz“ zu ihm sagen. Aber warum denn „Satz“, wenn man (9.35) jeder­zeit erneut per fast-Kopfrechnen erhalten kann (und soll). Durch Anwendungen von da auf (9.35) folgt

/

/Wie sich Wegverbiegen und Zusammenziehen an Polen nützlich machen, illu­striere das folgende Beispiel:

Z*00, cos(ax) 1 f . cos(az) 1 f(z + i&) (z - ib)

A chse A chse

+ C.C.

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186 K a p it e l 9: In t e g r a l s ä t z e

1 f J eio*

4 Jc£ Z (z + i&) ~ i6) + C C

- i i * - " U ’ 7 h + - i ' - “ ■ <9-37>

Die linke Seite zeigt, daß wir a > 0 und b > 0 verlangen dürfen. Der In­tegrand wurde dann geeignet zubereitet. In der zweiten Zeile wurde eine Null addiert, nämlich das Integral über den großen Halbkreis (R —> oo) von Bild 9-6. Dort draußen wird zwar der Halbkreisumfang nR riesengroß, aber der Bruch im Integranden geht wie ~ R~2 auf Null, und auch der Exponent iaz = i aRcos(y?) —a R sin(<p) bleibt anständig. Ein „Hilfsweg“ [Jänich] ließ sich hinzufügen. Jetzt folgt die Zusammenschnürung des Rundkurses um den Pol, bis die harmlosen Teile des Integranden, nämlich eiaz und l / ( z + i&), vor das In­tegral wandern dürfen. Das Resultat (9.37) läßt sich auch im Reellen erhalten: zwei mal nach a ableiten und Dgl lösen.

Bild 9-6: Ein Umlaufintegral zieht sich um den Pol bei i b zusammen

Mit einem anderen, aber sehr ähnlichen Beispiel verlassen wir nun das Thema wieder. Die Stufenfunktion hat eine integrale Darstellung, nämlich

s i h ä * m (e - +o) - (9-38)

Der Integrand hat nur einen Pol, welcher in der oberen Halbebene liegt. Aber nur zu 0 < t kann man oben schließen — andernfalls unten mit Resultat Null. Nur noch ein Blick auf Bild 9-6, und Sie können es im Kopf!? Durfte denn auch hier der große Halbkreis addiert werden? Ja, weil auf diesem wegen der e-Funktion nur ein Wegstückchen der Länge ~ 1/t (statt R) beiträgt, zum Integral also nur l/(* Ä )-> 0 .

Schon am Ende von Kapitel 5 gab es uns Rätsel auf, weshalb die Physiker- Funktionen in der Regel „weich“ sind. Für dieses Wunder haben wir jetzt andere Worte. Als Möglichkeit und mit weichen Knien: „Die Welt ist analytisch“. Derzeit gibt es ein paar Durchbrüche an der Frontlinie physikalischer Forschung (Stichwort Konforme Feldtheorie), welche diesen Gedanken unterstützen.

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9 .3 W e g e in d e r k o m p l e x e n E b e n e 187

In diesem Kapitel gab es Abschweifungen. Man hat Gedanken, verfolgt einen solchen, ästhetisiert damit herum, findet ihn immer amüsanter, verbeißt sich darin .. . und schon treibt man Tage und Nächte höchst irrelevante Dinge (wie etwa, als alle Integralsätze aus einem folgen sollten). Daß sich ein „Märchen­land“ auftut, ist sehr selten. Nun gut, wem sollte es schon erlaubt sein, über Relevanz zu entscheiden, dem TUV etwa? Die Medaille hat zwei Seiten. Daß der Einzelne hin und wieder über Sinn und Effizienz seiner Mühen nachfühlt, seine Verantwortlichkeiten über denkt, das ist natürlich nötig (manchmal bitter nötig). Nein, nein, nicht an anderer Leute Nötigkeiten war jetzt zu denken: ertappt, — die eigenen bitte! Dies zeigt die Kehrseite. Hoffentlich führt nicht die heute übliche Elite-Abneigung zu mehr und mehr Reglementierung des Denkens. Man kann es letztlich umbringen, und manche Zonenrandgebiete der Erde zeigen, wie das funktioniert. Elite ist etwas Wunderbares. Wenn es in unserer großen Familie einen besonders begabten Pianisten gibt, dann freuen wir uns, fördern das Talent und treten selbst ein wenig zurück.

K. Jänich [Analysis für Physiker und Ingenieure, s. Literaturverzeichnis] :Die analytischen Funktionen einer komplexen Veränderlichen bilden eine Welt für sich, in der ganz eigenartige und unerwartete Gesetze gelten. Die Faszination, die davon auf die Mathematiker ausgeht, braucht der Physiker, der ja andere Ziele hat, nicht unbedingt nach­zuempfinden. Aber dennoch können sich Mathematiker und Physiker in der gemeinsamen Wertschätzung dieses Gebietes treffen, denn die Anwendung jener seltsamen funktionentheo­retischen Gesetze bringt gewisse sonst schwer angreifbare Probleme der reellen Analysis, die in der mathematischen Physik Vorkommen, zu einer überraschenden Lösung.“

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10 Diffusion und Wellen

Diesen Titel könnte ein Buch haben. Die folgenden Seiten zeigen, wie schnell ein Buch in die Bibliothek zurückwandert, wenn man im Banne einer bestimmten Idee steht und nur die einschlägigen Passagen heraussucht. Der Gedanke, der uns hier (fast engstirnig) verfolgen wird, ist folgender: Wie kann es sein, daß es Zukunfts-Gleichungen auch für Felder gibt? Bislang sind wir nur mit einer einzigen Sorte Zukunfts-Regie vertraut, nämlich mit jener durch Newton. Gäbe es auch eine andere, dann wäre dies ziemlich aufregend. Es gibt. Aber in diesem Kapitel bleiben wir noch beim Newton-Typ — und bekommen dennoch Felder-Bewegungsgleichungen aufs Papier. Die genannte „Aufregung“ wird also etwas hinausgezögert.

In diesem Kapitel und in dem nächsten (Kapitel 11) wollen wir Feld-Gleichun­gen nur aufstellen und dabei die allerwichtigsten partiellen Differentialgleichun­gen der Physik kennenlernen. Sollten uns ganz nebenbei auch spezielle strenge Lösungen derselben in den Schoß fallen, dann wird das hilfreich sein. Aber eine mächtige Methode, solche Gleichungen zu lösen, folgt erst in Kapitel 12.

10.1 Diffusion = Wärmeleitung

Was Diffusion ist, wurde schon einmal erklärt [im Abschnitt 8.1, unter (8.10) im Text]. Die ganze Pein, ob und wie die Details eines solchen Vorgangs in eine einzige phänomenologische Konstante gepreßt werden können, interessiert hier nicht. Ein Vorgang sei durch (8.9), d.h. J = - D gradn, beschreibbar, und die Teilchendichte n(r , t ) eines erhaltenen Materials sei wohldefiniert. Bild 10-1 zeigt in ID eine solche „Gold-Atome-Verteilung“ mit Pfeilen, in deren Richtung wir Stromdichte J(r, t) = ~eiji(x,t) erwarten.

Bild 10-1: Eine Teilchendichte von Goldatomen, die in rc-Richtung variiert und sich folglich zeitlich verändern wird

J = — D • gradn lesen wir als Newton bei dominierender Reibung:

m v + y v & ' y v = Kraft = ' Druckgradient . (10.1)

Also ist (8.9) bereits die „Theorie der Teilchenbewegung“. Nur die „Theorie der Kraft“ fehlt noch, d.h. ein Rückschluß der Art, daß gegebene Stromdichte J

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1 0 .1 D i f f u s i o n = W ä r m e l e i t u n g 189

ihrerseits n reguliert. Wir sehen in Bild 10-1, in welchen Regionen sich n(r , t ) erhöht, nämlich dort, wo die ~j -Pfeile ihre Richtung umkehren (von rechts nach links bei wachsendem x). Unausweichlich ist die Kontinuitätsgleichung die gesuchte vervollständigende Gleichung:

r +J “- D |^ d » } ~ ( 0 > - D * ) « * . ! ) - 0 . (10.2)

Links stehen 4 Gleichungen für 4 Unbekannte. Bei Einsetzen der unteren in die obere wurden 3 auf einen Schlag eliminiert. Das Resultat (10.2) paßt bestens in unsere Leitphilosophie. Ist nämlich einmal (z.B. bei t — 0) die Verteilung n ( r , 0) bekannt, dann folgt Zeitschritt für Zeitschritt die Zukunft: n(r ,t+dt) = n(r , t ) + d t D A n ( r , t ).(1 0 .2 ) ist eine lineare homogene partielle Dgl zweiter Ordnung. Es ist eine Glei­chung für eine Unbekannte. Man kann sagen, daß (10.2) zu einer sehr beschei­denen und phänomenologisch betriebenen Physik eine „vollständige Theorie“ sei. Da linear, erlaubt sie Superposition. Vor allem ist (10.2) ist angenehm ein­fach. Anhand von (1 0 .2 ) kann man lernen, was ein Separationsansatz ist (siehe Übungen). Physikalisch jedoch arbeitet (10.2) im Grenzfall starker Reibung, bedarf eines Mediums und ist somit weit davon entfernt, eine Grundgleichung zu sein. Damit kommen wir einem Relativitäts-Theoretiker zuvor, der an (10.2) sofort beanstandet hätte, daß Orts- und Zeitableitungen nicht in gleicher Po­tenz auftreten. Er hätte recht: (10.2) ist „nicht relativistisch invariant“.

W ärmeleitung

Der Versuch liegt nahe, auch (8 .8 ), d.h. h = —KgradT, in analoger Weise zu vervollständigen. Dazu deuten wir Bild 10-1 um und denken uns die Tempe­ratur in einem homogenen Medium über dem Ort aufgetragen. In Richtung der Pfeile strömt Energie (pro Zeit und Fläche). e(r, i ) sei die Energie pro Volumen. Falls Energie etwas Erhaltenes ist, gilt

e + d i v A = 0 1 ^ dt£ = K A T _ (103)

h = —KgradT /

Offenbar fehlt uns noch ein Zusammenhang e(T) zwischen der Energiedich­te des Mediums und der Temperatur, die es hat. Diese Kurve zu errechnen ist Standardaufgabe der Statistischen Physik. Hier genügt uns, daß man sie experimentell aufnehmen kann, indem man einen großen Klotz des Mediums erwärmt und aufpaßt, wieviel Energie dabei hineinwandert (Bild 1 0 - 2 ). Wenn die bei Wärmeleitung betrachteten Temperaturunterschiede klein sind, können wir die £(T)-Kurve am Arbeitspunkt linearisieren (Taylor und Abbruch):

e(T) = e{T0) + (T - T0) ^ (Tq) rx e = e'(T0) T

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190 K a pit e l 10: D if f u sio n u n d W ellen

Bild 10-2: Energiedichte eines Mediums als Funktion der Temperatur. Arbeitspunkt

Mit der Bezeichnung k/ e^Tq) =: D folgt

(10.5)

also erneut (10.2) — Wärmeleitung ist Diffusion.

Quantenmechanik

Keine Sorge, wir schauen nur einmal solch einem älteren Knaben (5. Semester) über die Schulter, was der wohl für Gleichungen durch die Gegend schiebt:

Sieh an, Laplace und Nabla gibt es immer noch. Setzen wir in (10.6) das Po­tential V(r) Null, dann steht die Diffusionsgleichung (10.2) da. Alles, was wir zum Umgang mit (10.2) lernen werden (Übungen, Kapitel 12), wird al­so von weiterreichender Bedeutung sein. „Alter Tee“, sagen wir also zu dem Obengenannten. Aber nun bekommen wir Fürchterliches zu hören über die Deutung des Teilchen-Felds r , t), über den Effekt der Zahl i, über die (4 x 4)- Matrizen 7 und darüber, daß die Dirac-Gleichung (10.7) relativistisch invariant sei, die Schrödinger-Gleichung (10.6) aber nicht und folglich falsch. „Danke, das genügt“.

Das Anfangswertproblem

Zur Zeit Null sei bekannt, wie die Temperatur in einem homogenen Medium verteilt ist: T ( r ,0) =: f ( r ) gegeben. Welche Zukunft das Temperaturgebirge hat, diese Frage nach T (r,£) läßt sich vollständig beantworten. Sie lesen rich­tig. Normal erscheint uns, daß man die Lösung einer Zukunfts-Gleichung nur in ausgewählt einfachen Situationen finden kann. Der glückliche Umstand ist hier, daß die unbekannte Funktion T nur linear in T = D A T auftaucht, während in Newtons Bewegungsgleichung die Unbekannte r (t) beliebig krumm in der Kraft vorzukommen pflegt. Die Diffusionsgleichung (und ebenso alsbald die Wellengleichung) ist eine „freie Feldtheorie“. Quadratische Terme (und solche höherer Feldpotenz) in einer Felder-Bewegungsgleichung müssen in der moder­nen Quantenfeldtheorie meist leider als „Wechselwirkung“ behandelt werden, nämlich per Störungsrechnung.

ihdtip

ih^dt'ip

(10.6)

(10.7)

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10.1 D iffu sio n = W ä r m e l e it u n g 191

Das Problem hat wegen T(r , t + dt) = T(r , t ) + dtD A T ( r , t ) eine ganz be­stimmte Lösung. Es verdient darum einen Eindeutigkeitsrahmen:

T = D A T , T (r,0 ) = / ( r ) (10.8)

Was könnte man hier tun? Gerade eben fiel das Stichwort. Wir könnten D als kleinen Parameter ansehen und Störungsrechnung nach D versuchen: T = j'(o) _|_ j-(i) _|_ j>(2 ) _j_ _ Problem zerfällt damit in viele einfachere,

f (0) = 0 , f (n+1> =Z?AT<n> zu T ^ ( r , 0 ) = 6n,of{r) (10.9)

mit n = 0 , 1 , 2 , . . . , und jedes einzelne läßt sich lösen:

T<°>= 0 zu T (o>(r,0) = / ( ? ) rv T<°> = f ( r )

f (!) = DAT<°> = D A f zu T (1 >(r,0) = 0 rv T*1* = t D A f ( r )

T (2) = DA TW = t (DA)2f zu T<2 )( ? ,0) = 0 rv T<2> = ^ t2 (Z)A)2 / ( r )z

und so weiter. Mit = ^(£Z)A)n/ ( f ) haben wir alle Terme der Störungs­reihe erhalten. Sogar die Summe T = kann ausgeführt werden:

T(r , t ) = et D A T(r , 0) . (10.10)

(10.10) ist die formale Lösung des Anfangswertproblems. Eine Funktion ei­nes Operators ist über ihre Reihe definiert. (10.10) löst (10.8) als wäre DA nur eine Konstante. Offenbar darf man mitunter — mit etwas Vorsicht— Operatoren wie Zahlen behandeln. Daß ihip = H%j) die formale Lösung %j)(r,t) = etH^ th ( r ,0) hat, kann Sie später nicht mehr erschrecken.Wie aus der formalen Lösung eine konkrete wird, zeigt das folgende Beispiel. Nur in einer Richtung (jene von k ) möge die Starttemperatur schwanken:

T ( r ,0) = Ti + T0 cos( k r) , A l = 0 , Acos( k r ) = - k 2 cos( k r)A 2 cos( k r) = (—k2)2 cos( k r) usw.

T(r , t) = etDA [ Tj + T0 cos( k r ) ] = T 1 - T 0 e~wk2 cos( k r) . (1 0 .1 1 )

Im Laufe der Zeit schmelzen also die Kosinusberge ab und die Täler füllen sich, T( r , t —> oo) —> Ti — Diffusion gleicht aus.

Die Rechnung (10.11) zeigt noch mehr. Sie gelang genau deshalb, weil es sichsowohl bei cos ( k r ) als auch bei der Zahl 1 (= Kosinus zu k =0) um Eigen­funktionen von A handelte, nämlich zu Eigenwerten - k 2 bzw. 0 :

/^Operator^ Eigenfunktion = f(^Eigenwert^ Eigenfunktion.

Allgemein ist also zu versuchen, die gegebene Startfunktion T (r,0 ) als LK von A-Eigenfunktionen zu schreiben (nach ihnen zu entwickeln). Die A-Eigen- funktionen sind trigonometrische Funktionen. Daß diese Entwicklung Fourier- Transformation heißt und stets möglich ist (unter nur geringfügig einschränken­den Voraussetzungen), das lernen wir im Kapitel 12.

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192 K a p it e l 10: D if f u sio n u n d W ellen

Ladungsausgleich bei geringer Leitfähigkeit

Wenn wir (8.10), d.h. J = a E , mit der Kontinuitätsgleichung kombinieren (diesmal mit jener für Ladungserhaltung), wird als dritter Zusammenhang ei­ner zwischen Feld E und Ladungsdichte g benötigt. Wir kennen diesen Zusam­menhang, div E = g/eo (1. Maxwell-Gleichung), und erhalten:

g + div J = 0 )

3 i rx dte ( r , t ) = - — ß(r , t )d iv £ = i - e°

£° r \ g( r , t ) = ^ ( r , 0 )e eo1

Die Gültigkeit von (10.12), (10.13) ist vor allem dadurch eingeschränkt, daß—

sich das mit a leitende Medium überall hin erstrecken muß, wo E ~Feld ist. An Rändern würde sich Ladung anhäufen. Aber z.B. bei einem sich entladenden Kugelkondensator geht alles gut. Schließlich müssen die beteiligten Ströme klein bleiben (a klein), damit Magnetfelder vernachlässigt werden können. BeideGefahren kommen über die phänomenologische mittlere Gleichung J = a E ins Spiel.

(10.12)

(10.13)

10.2 Wellengleichung

Was mag in einem Kubikmeter Luft vor sich gehen, während man ihn von links höflich anredet und der Schall rechts wieder herauskommt? Luft enthält Teil­chen. Ein gedachtes kleines Volumen rfV, das sich mit den in ihm enthaltenen Teilchen mitbewegt, ändert seine Geschwindigkeit nur, wenn die Summe der auf es wirkenden Kräfte nicht Null ist, d.h. wenn ein Druck-Gradient vorliegt. Schall ist Newton. Man muß nicht zum Küchengeschirr greifen, um „Kraft gleich Masse mal Beschleunigung“ zu demonstrieren. Mit sanfter Musik geht es auch.Schall ist Newton ohne Reibung. Kein Wattebausch bremse die Teilchen, und es gebe auch keine Betonwand, durch die die Luft zu diffundieren hätte. Verglichen mit den bisherigen extremen Reibungs-Phänomenen liegt jetzt der entgegenge­setzte Grenzfall vor. Entsprechend erwarten wir, daß

dt y ~ grad p ~ grad n ( n = Teilchendichte) . (10.14)

Weiter unten untersuchen wir diese Vermutung genauer. Im Moment sind wir für Detailpflege viel zu aufgeregt:

In der links-unteren Gleichung wurde der Proportionalitätsfaktor willkürlich mit c | bezeichnet. Um j zu eliminieren, mußten offenbar beide Gleichungen vorbehandelt werden: Zeitableitung der oberen und Divergenz der unteren.(10.15) ist die W ellengleichung.

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10.2 W e l l e n g l e ic h u n g 193

(10.15) ist lineare homogene partielle Dgl zweiter Ordnung. Da sie (im Un­terschied zur Diffusionsgleichung) zwei Zeitableitungen enthält, muß man bei Start sowohl n (r,0 ) als auch n (r,0 ) kennen, um per n ( r , t + dt) = n(r , t ) + dtc\&n(r , t ) und n ( r , t + dt) = n(r , t ) + dtn(r , t ) die Zukunft der Teilchen­dichte Vorhersagen zu können.

Wir kennen bis jetzt zwei Feldgleichungen mit gleicher Potenz von Orts- und Zeitableitungen, nämlich die Kontinuitätsgleichung und die Wellengleichung. Letzten Endes ist es dieser Umstand, der beiden Gleichungen ein Überleben ermöglicht, wenn uns die unerbittliche Natur zu einer Revision unserer „kind­lichen“ Raum-Zeit-Vorstellungen zwingen wird — manche Leute meinen ja, Einstein sei einer lyrischen Anwandlung gefolgt, und es sei an der Zeit, hin und wieder eine andere Anwandlung zu publizieren.

Die Wellengleichung, da linear, erlaubt Superposition. Bei Addition einer Lösung von (10.15) zu irgendeiner anderen (10.15)-Lösung entsteht also wieder eine Lösung von (10.15). Die schamlose Ausnutzung dieses Umstandes erleben Sie bei nahezu jeder Fernseh-Diskussion. Wenigstens ein abschließendes „Wir bitten die Superpositionen zu entschuldigen“ wäre dort angebracht.

Allgemeine Lösung der ID Wellengleichung

Eindimensionale Schallausbreitung liegt in der Nähe einer sehr großen ebenen Lautsprecher-Membran vor oder in großer Entfernung von der Schallquelle in einem hinreichend kleinen Raumbereich. Die Wellen sind dann in guter Nähe­rung eben, übrigens im gleichen Sinne, wie uns die Erdkugel als eben erscheint. Die Wellengleichung wird dann zu n = (csdx)2n . Stünde hier u an der Stelle von csdx , dann wäre Ae“w* + J3ew< die allgemeine Lösung. Vielleicht (es läßt sich ja nachprüfen) sollten wir nun die Faktoren A, B nach rechts schieben und zu Funktionen von x werden lassen:

n = c | n" hat die allgemeine Lösung

n(x, t) = e~tCsdx f (x) + etCsdx g(x) . (10.16)

Nachprüfen! Die zwei Zeitableitungen schaffen (csdx ) 2 nach unten, und zwar in jedem der beiden Terme: (10.16) stimmt. Wie schon bei der Diffusionsgleichung fragen wir jetzt, wie wohl aus der formalen eine konkrete Lösung wird. Man staune, daß auch dies allgemein geht, nämlich mit Hilfe der Taylor-Reihe (5.46) , f ( x + a) = e adxf(x) :

n(x, t) = f ( x - cst) + g(x + cst) . (10.17)

In (10.17) sind / und g beliebige Funktionen. Wegen n(x, 0) = f (x) + g(x) und n(x ,0) = —cs [ / ;(z) — g'(x)] kann an beliebige Startvorgaben angepaßt werden (darum „allgemeine“ Lösung). Man kann n und n an unendlich vielen „Stellen x “ vorgeben, und entsprechend enthält (10.17) „zwei mal unendlich viele“ Konstanten. Das paßt. Wenn man sich / z.B. als Gaußfunktion denkt und g = 0 setzt, dann zeigt (10.17), daß das ganze Funktionsgebirge nach rechts

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194 K a p i t e l 10: D i f f u s i o n u n d W e l l e n

wandert, nämlich mit Geschwindigkeit cs- Genau jetzt begreifen wir die Be­deutung der Konstanten c s , und warum sie bei (10.15) als Quadrat eingeführt wurde, cs ist die Schallgeschwindigkeit.

Von (10.16) nach (10.17) haben wir von der Taylor-Reihe in ungewohnter Rei­henfolge Gebrauch gemacht. Nicht f ( x + a) wird Reihe, sondern per Reihe definierter Operator macht f ( x + a). Der Operator hat einen Namen, es ist der T ranslationsoperator:

Ta f(x) := f ( x + a) , Ta = ea9* . (10.18)

Links steht, wie er definitionsgemäß auf eine beliebige Funktion wirken soll, und rechts seine e-Darstellung.

Schwingende Saite

Eine dünne Saite mit linearer Massendichte a ist bei x = — oo eingespannt und wird bei x = + 0 0 mit Kraft K gezogen. Wenn man sie transversal auslenkt (Bild 10-3), und zwar sehr wenig (y klein), dann erfährt ein Segment dx dieKraft K ( x + dx) - K (x ).

Bild 10-3: Die zwei Kräfte,- K (x) und K (x + dx) , auf ein Segment einer gespannten Saite

Da (1 , 2/ ') / \ / 1 + 2// 2 1 der Einheitsvektor in K -Richtung ist, haben wir ferner K(x) = K • ( 1 , y ' ) + 0 (y ' 2) . Newton lautet also

(adx)y = dxdxK 2(x) = d x K y " . (10.19)

Somit folgt erneut die ID Wellengleichung mit speziell

cs = ^ ■ (1 0 .2 0 )

Da die Wellengleichung das Geschehen lokal regiert, gilt sie selbstredend auch für eine Saite, die z.B. bei x = 0 und x = L eingespannt ist. Es kommen dann lediglich die Randbedingungen y(0,t) = 0 und y(L,t) = 0 hinzu.

An (10.20) lernen wir, daß sich die Ausbreitungsgeschwindigkeit in einem Medi­um durch die „mikroskopischen“ Details desselben (hier: a und K) ausdrücken läßt. Man muß nur wirklich von den Grundgleichungen (hier: Newton) ausge­hen. Dies erinnert uns daran, daß eine solche Bemühung zu Schall durch Luft noch aussteht.

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10 .2 W ell e n g l e ic h u n g 195

Schallgeschwindigkeit in Gasen

Der folgende Nachtrag zu (10.15) paßt nicht besonders gut zum momentanen „roten Faden“. Wir bleiben darum sehr knapp.

Bild 10-4: Trommelförmiges Volumen auf einer Fläche gleichen Gasdruckes

Das Gas enthalte nur eine Sorte Teilchen mit Masse m. g sei die Teilchendichte. In dV = dF ds sind gdV Teilchen. Die dünnen Linien in Bild 10-4 zeigen Äqui-p-Flächen. Die Erdanziehung wird einbezogen, damit zu sehen ist, wie sich hier die Betrachtung zur barometrischen Höhenformel von Abschnitt 5.2 verallgemeinert. Newtons Bewegungsgleichung lautet

• •( g d F d s m ) r 0 = dF (-grad(p)ds) - (mges) gdFds . (10.21)

Auf der linken Seite versuchen wir, ro mit v zu verbinden. Das infinitesimaleVolumen dV bewegt sich im Strömungsfeld ü;(r,£). Also gilt ro = ^(^o,*)- Und hiermit folgt

ro = dtv ( r 0(t) , t) = d tv ( r 0 , t ) + (r0 • V ) v ( r , t ) L _ . (10.22)i r = ro

Nur wenn wir linear rechnen (in allen Schall-bedingten kleinen Abweichungen•• •

vom Gas-Gleichgewicht), folgt also das gewünschte ro = v. Wenn nicht nur nach der expliziten Zeitabhängigkeit von v{ro,t) zu differenzieren ist, son­dern auch nach der im ersten Argument „versteckten“ (man schreibt besser alle Abhängigkeiten explizit hin, siehe oben), dann spricht man gern von der „ to ta len Ableitung“ und schreibt (um sich daran zu erinnern) gedruckte rf’s. dt meint dann nur noch die Ableitung nach dem zweiten, expliziten Argument von v(r , t ) . Im obigen Falle ist

dt = dt + ( v - V ) . (10.23)

Auf Newtons linker Seite (nach Tteilen durch mdFds) steht jetzt gv. Wegen » ♦

dt(gv) = gv + gv « gv (erneute lineare Näherung) kann endlich die Teilchen­stromdichte ins Spiel gebracht werden: g v = J . Damit erhält Newton die folgende Gestalt:

J = -----gradp - g g e s . (10.24)m

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196 K a p i t e l 10: D i f f u s i o n u n d W e l l e n

Auch rechts in (10.24) müssen wir, um konsequent zu sein, in den Schall­bedingten kleinen Abweichungen linear bleiben: p(g) = p (qq + n) « p (go) + nj/(ßo) , wobei n die Abweichung von der Gleichgewichtsdichte qo sei. Nach Einsetzen erhält Newton rechts zwei „große“ Terme und zwei n-Terme. Weil ohne Schall keine Stromdichte vorhanden und n = 0 ist, müssen sich die beiden großen Terme kompensieren: dzp (^o(^)) = —fngßo(z). Dies war gerade der Aus­gangspunkt bei der Herleitung der barometrischen Höhenformel im Abschnitt 5.2. Bezüglich Schall bleiben die folgenden zwei Gleichungen übrig:

n + div J = 0 , J = - i g r a d (np'(QojS) - gn es . (10.25)

Das sind nicht genau die beiden links in (10.15) stehenden Gleichungen. Dies wollten wir noch sehen: Gravitation macht tatsächlich die schöne Wellenglei­chung (10.15) ein wenig kaputt. Bei den Frequenzen, auf die unsere Ohren ansprechen (esu; » g) , ist der Unterschied allerdings ganz unwichtig. Lassen wir also noch den g-Term weg und ziehen p ’ ( 6 o ( z )) bei z = z q = Ohrhöhe vor den Gradienten. Dann ergibt sich (10.15) mit expliziter Formel für die Schallgeschwindigkeit:

cs = • (10.26)V mBei weiterer Auswertung von (10.26) steht eine Falle bereit. Um p'(g) am Ar­beitspunkt Qo zu erhalten, ist in der Zustandsgleichung p = p(g,T) — zum Beispiel p = qT für ideales Gas, s. (14.29) — auch die Temperatur T als Funktion der Dichte p anzusehen. Eine Schallwelle ist nämlich so schnell, daß für Temperaturausgleich (zwischen wärmerer Ebene bei höherer Dichte und kälterer Ebene) gar keine Zeit bleibt. Der Vorgang läuft im wesentlichen „adia­batisch“ ab. Ist p ~ q1 , so folgt c | = 1p{6o)/ (m Qo) — speziell 7 = 5/3 und c | = 5T/(3m) in Idealgas-Näherung.

Das Resultat (10.26) paßt zu anschaulichen Vorstellungen. Träge Teilchen ma­chen den Schall langsam. Er wird hingegen schnell bei großer „Steifigkeit“ des Materials (große p-Antwort auf kleine Dichte-Änderung). Darum kann man sein Gegenüber durch eine Betonwand auch tatsächlich schneller erreichen. Das Telefon allerdings, das funktioniert anders.

Auch die Zukunft von Feldern wird durch Bewegungsgleichungen festgelegt. Man mag hier einwenden, daß mit dieser Aussage doch wohl ein wenig ge­schummelt werde. Es sei hier doch letzten Endes nur Newton auf Systeme aus vielen kontinuierlich verteilten Teilchen angewandt worden. Wirklich Neues habe man dabei nicht gelernt. Der Einwand ist leider berechtigt. Wir haben allerdings Erfahrungen gesammelt, wie Felder-Zukunfts-Gleichungen aussehen können, welcher Art die Anfangsbedingungen sind und wie sich die Zukunfts- Regie in Zeitschritte auflösen läßt. Da stehen wir also mit all unserer Erfahrung aus den Kapiteln 8 bis 10 und warten auf etwas echt Neues.

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11 Maxwell

Das oberste Prinzip, welches Gegenwart und Zukunft der elektromagnetischen Felder regiert, besteht aus vier Gleichungen. James Clark Maxwell hat sie um 1863 aufgestellt und untersucht. Er hat sie weder hergeleitet noch „verstanden“, denn beides ist nicht möglich (siehe Beginn des dritten Kapitels). Sie sind nicht vollständig, werden es aber in Kombination mit Newtons Bewegungsgleichung in der Form (3.2). Die vier Maxwell-Gleichungen lauten:

div E = — e (11.1) div B = 0 (11.3)

rot E = - B (11-2) rot B = J + ~ E (11-4)C £ q C

Die Gleichungen (11.1-4) bilden einen Satz von vier linearen partiellen Diffe­rentialgleichungen erster Ordnung. Sie enthalten zwei Konstanten. Von der Konstanten £o wissen wir schon [Text unter (8.12)], daß durch ihre Wahl die Maßeinheit der Ladung festgelegt wird. Damit sind Ladungsdichte g (der Welt)und Ladungs-Stromdichte J (der Welt) wohldefiniert. Die beiden Felder Eund B (der Welt) sind es ebenfalls, nämlich via (3.2) (siehe Text dort). Also bleibt für die Konstante c (der Welt) keine Wahl mehr. Sie ist eine N atu rkon ­stan te . Ihre physikalische Bedeutung wird bald klar, nämlich in dem Moment, wo sich aus (11.1-4) Licht ergibt.

(11.1-4) haben die Struktur, welche auf der „DPG-Frühjahrstagung“ am Ende von Kapitel 8 vorgeschlagen wurde. In (11.2) und (11.3) bleiben die Felder unter sich. Man nennt sie die hom ogenen Maxwell-Gleichungen — schaffen Sie in (11.2) den -B -Term in Gedanken nach links. Entsprechend sind (11.1) und (11.4) die inhom ogenen oder auch m ateriellen Maxwell-Gleichungen. Wenn es hingegen um die Zukunfts-Regie geht, dann gehören offenbar (11.2) und (11.4) zusammen.

(11.1-4) erlauben Fragestellungen aller Art, aber eine Sorte Frage ist besonders typisch (wir wollen sie „enge Fragestellung“ nennen): g und J gegeben, welcheFelder E , B folgen aus (11.1-4)? Wenn man sich anstrengt, diese enge Präge

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198 K a p it e l 11: M a x w e l l

präzise zu formulieren, dann zerfällt sie in zwei verschiedene:

gegeben gesucht

enge Frage 1 — Statik — e(r) , j ( r ) E ( r ) , B ( r ) (11.5)

enge Frage 2 — Zukunft —

e(r, t ) , 7 ( r , t ) E { r , 0) , B ( r , 0) E ( r , t ) , B ( r , t ) (1 1 .6 )

Auf beide Fragen antwortet (11.1-4) eindeutig; jedenfalls wenn am Rand des Weltalls niemand rührt und braust oder gar einlaufende Kugelwellen produziert. Obige Unterscheidung gibt es in allen Physiken. Bei Newton lautet Frage 1, an welchen Stellen ro der Ortsvektor des Massenpunktes keine Zeitabhängigkeit

—habe (Antwort: wo K = 0 ist, d.h. am Potentialminimum). In der Quanten­mechanik führt Frage 1 zur sogenannten stationären Schrödingergleichung (und macht eine Menge Arbeit). Rubrik (11.6) ist das A nfangsw ertproblem . Es ist angenommen, daß bereits in aller Zukunft g und J bekannt sind (darum„eng“), obwohl auch sie sich in Wirklichkeit erst via Newton, (3 .2 ), bestim-—i —imen, d.h. im Einklang mit den Feldern jE7 , B. Mitunter muß man mächtig nachdenken, ob und warum und wie sehr man diese Konsistenz im konkreten Falle verletzen darf. So wird zum Beispiel beim Fernsehsender ständig von Menschenhand dafür gesorgt, daß die Sendeleistung nicht zusammenbricht.Das Gleichungssystem (11.1-4) ist falsch. Aber die Maxwell-Gleichungen sind „viel weniger falsch“ als Newton. Sie haben die Relativitätstheorie überdau­ert (oder besser: sie enthalten diese), wurden in der Quantentheorie nur mitanderer Deutung der Objekte E, B versehen, und erfuhren erst vor weniger als 20 Jahren eine Vereinheitlichung (unification) mit der sogenannten schwa­chen Wechselwirkung. Sie gelten also heute (wie ja auch Newton) nur in einem Grenzfall.

11.1 Erste Folgerungen

S ta tik

Keines der in (11.1-4) enthaltenen Felder ändere sich mit der Zeit, E nicht,—vB nicht und g, j nicht (aber es darf Strom fließen). Also entfallen die beiden gepunkteten Terme. Was jetzt die Gleichungen (11.1), (11.2) enthalten und bestimmen, hat keine Auswirkung mehr auf (11.3), (11.4) und umgekehrt. Die statischen Maxwell-Gleichungen entkoppeln in zwei Paare. Für den Fall, daß die enge Frage (11.5) gestellt ist und g, J bekannt sind, kennen wir sogar schon die Lösung! (8.67) und (8 .6 8 ) beantworten (11.5).Man kannte die beiden statischen Gleichungspaare schon vor Maxwell. Es gab elektrische Kräfte und magnetische Kräfte, aber erst durch Maxwell wurden

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11.1 E r st e F o l g e r u n g e n 199

sie zu Bestandteilen einer einheitlichen Struktur (deren Harmonie im Moment noch nicht gut zu sehen ist). So geht denn die erste unification of forces in das neunzehnte Jahrhundert zurück. In den Neunzehnhundertsiebzigern gab es zwei weitere solcher unifications, und an der vierten wird gearbeitet. Mindestens diese vierte muß es noch geben: unification 1 : elektrische mit magnetischen Kräften, 2 : beide mit schwacher Wechselwirkung, 3 : diese drei mit starker Wechselwirkung, 4 : diese vier mit Gravitation.

Man könnte irrtümlich meinen, in Elektrostatik und Magnetostatik gehe es nur noch um die Auswertung von (8.67) und (8 .6 8 ). Das wäre so, wenn tatsächlich stets q und jf bekannt wären, sich also stets nur die enge Frage (11.5) stellen würde. Wenn man jedoch z.B. einen endlich großen Plattenkondensator auf­stellt und Gleichspannung anlegt, dann sind sowohl E als auch q unbekannt. Statt dessen weiß man, daß in einem Stück Metall überall gleiches Potential (j) herrscht, denn bei ^-Änderung wären wegen — grad<£ = E ~ K ^ 0 die Ladungen noch nicht im Gleichgewicht. Wir sehen, daß bereits bei solchen Problemen zugleich Maxwell und Newton (hier je im Statik-Falle) am Werke sind.

Kontinuitätsgleichung aus Maxwell

In einem Nebensatz vor (11.1-4) stand eine sehr starke Behauptung, beäng­stigend stark, nämlich daß Maxwell und Newton [mit Lorentz-Kraft: (3.2)] zusammen vollständig seien. Dies bedeutet, daß die Welt der mechanisch­elektromagnetischen Vorgänge durch die genannten fünf Gleichungen regiert wird und keine weiteren Gleichungen. Alle Weisheiten der genannten Welt folgen aus diesen fünf. Es ist nicht erlaubt, flugs noch das eine oder andere „Gesetz“ hinzuzufügen. Wenn etwa jemand bei der Behandlung eines opti­schen Problems (Optik gehört vollständig in die genannte Welt [Sommerfeld, IV, Abschnitt 34]) plötzlich das „Huygenssche Prinzip“ aus dem Hut zaubert, dann treibt er Götzendienst. Man frage ihn nach seinem Verhältnis zu Tele­pathie, Wünschelrute, Tachyonen-Motor und Uri Geller. Wirft er uns dann Exorzismus vor, dann nicken wir wortlos und wenden uns ab.

Ob Ladung entstehen oder vergehen kann, ist eine rein elektromagnetische Fra­gestellung. Also muß die Kontinuitätsgleichung in (11.1) bis (11.4) enthalten sein. Sie ist:

—idiv (11.4) rv 0 =f div J + £o div E

dt (1 1 .1 ) rv i d iv J + £ , qed. (U-?)

Coulomb aus Maxwell

Wir wissen längst, wie man das Coulomb-Feld E = (Q / 4n£o)er / r2 oder das Coulomb-Potential 0 = (Q/4n£o)/r aus den beiden Dgln div E = (Q/£q) S ( r )

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200 K a p it e l 11: M a x w e l l

und rot E = 0 erhalten kann. Uns stehen sogar mehrere mögliche Antworten zur Verfügung:

1. wir wählen für ö(r) eine r-abhängige Darstellung [z.B. jene von (8.50)]—i

und arbeiten mit Ansatz E = f ( r ) r ,

2. wir kennen (oder konstruieren) die Greensche Funktion von A: (8.51) ,

3. wir benutzen Theorem 3 und werten das Integral (8.67) aus, oder

4. wir legen eine Kugel um den Ursprung und benutzen Gauß: (9.2).

Mit dieser Erinnerung an unsere Vorkenntnisse verbindet sich ein besonderes Anliegen. Der Leser möge bitte jetzt, falls nicht schon geschehen, seine Werte- Skala umsortieren! Maxwell steht oben und Coulomb ist Folgerung. Diese Umsortierung schafft nicht nur Einheit (was Grund genug wäre), sondern sie ist auch sachlich geboten, da Coulombs Gültigkeit begrenzt ist, s.a. Text am Ende von Abschnitt 8.4.

6 Unbekannte, 8 Gleichungen?

Komponentenweise gelesen, besteht (11.1-4) aus acht Gleichungen. Aber beider engen Frage werden nur die sechs unbekannten Funktionen E , B gesucht. Eine solche Ungereimtheit löst Alarm aus. Irgendwie muß sich (11.1-4) in sechs wesentliche und zwei trivial erfüllte Gleichungen zerlegen lassen. Wirkliche Bewegungsgleichungen sind nur (11.2) und (11.4). Versuchen wir also einmal, nur mit diesen sechs auszukommen. Dann sehen wir uns aufgefordert, (11.1) und (11.3) herzuleiten. Ladungserhaltung betrifft bei der engen Frage nur die Eingaben (nicht die Unbekannten), darf also zusätzlich verwendet werden:

div (11.4) und q + div J = 0 rv dt\ div E —— 1 = 0L £ o J

div (11.2) rv dt £ div B j = 0 . (H-8 )

Wenn also zu Urzeiten einmal (11.1) und (11.3) erfüllt waren, dann ist dies bis heute so geblieben. Wir leben in einer Welt mit den speziellen „Anfangsbedin­gungen“ (11.1) und (11.3). Mit dieser Erklärung von „6 7 8 “ sind wir zufrieden. Auch zur Bewegung eines Teilchens zählen wir ja drei Newtonsche Gleichun­gen und nicht zusätzlich die Anfangsbedingungen. Es kann aber nichts schaden, die zutreffenden „Welt-Anfangsbedingungen“ stets mit anzugeben. Und darum bleiben wir bei (11.1) bis (11.4).

Eindeutigkeit

Theorem 3 aus Abschnitt 8.5 gibt die Ja-Antwort im Statik-Spezialfall. Bei all­gemeiner Zeitabhängigkeit sind aber die vier Gleichungen (11.1-4) miteinander verkoppelt. Die folgende Konsistenzbetrachtung macht klar, daß die enge Frage

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11.1 E r s t e F o l g e r u n g e n 201

auch dann noch eine eindeutige Antwort hat. Wir starten mit einer „nullten Näherung“ für das Magnetfeld eines konkreten Problems (z.B. mit einer grob qualitativen Vorstellung, wie es aussehen könnte): B ^ ( r , t ) . Natürlich sorgen wir dafür, daß es divergenzfrei ist, also (11.3) erfüllt, und daß es physikalisch vernünftiges Verhalten bei r -» oo zeigt. Mit diesem Magnetfeld und wegen Theorem 3 haben (11.1), (11.2) eine eindeutige Lösung. In (11.4) sind nun alle Terme bekannt. Und natürlich ist (11.4) nicht erfüllt oder nicht ganz erfüllt.Also wandeln wir B ein wenig ab und durchlaufen den Kreislauf erneut —so lange, bis (11.4) erfüllt ist. Nun könnten noch verschiedene Start- B ’s zudiskret verschiedenen Resultat- B ’s führen. Aber nur eines dieser denkbaren Resultate hätte die Eigenschaft, sich kontinuierlich an den statischen Grenz­fall anzuschließen. Dies klingt recht plausibel und soll uns vorerst genügen. Genauere Überlegung würde uns im Moment überfordern. Es sei aber darauf hingewiesen, daß die Maxwell-Gleichungen zur engen Frage allgemein lösbar sind (!): siehe (11.28).

Potentiale, die stets existieren

Aus (11.3) und Theorem 2 folgt, daß B stets ein Vektorpotential A hat. Wir setzen B = rot A in (11.2) ein, rot(E +dt A) = 0, und schließen mit Theorem 1 , daß E +dtA ein Skalarpotential hat:

E = —grad (fi — dtA , B = rot A . (H-9)

(11.9) führt die 6 Unbekannten E , B auf 4 zurück, nämlich 0, A, und dies hat enorme Vereinfachungen zur Folge.

Eichfreiheit

Zu gegebenen Feldern E, B liegen die Potentiale <j>, A nicht eindeutig fest. Wir haben das schon einmal irgendwo bemerkt (bei Theorem 2), als wir zu A den Gradienten einer beliebigen Funktion * ( r ) addierten. Hier verallgemeinern wir nur auf * ( r ,£ ) . Die Abänderung (Umeichung) der Potentiale

^neu = <^alt ~~ & t X 5 ^ n e u = ^ a lt + ( 11.10)

hat keine Änderung der Felder E , B zur Folge. Die elektromagnetische Realität(11.9) ist unter der Eichtransformation (11.10) invariant. Man sieht, daß das stimmt.

Integrale M axwell-Gleichungen

Mittels Gauß und Stokes, d.h. (9.2) und (9.3), kann man (11.1-4) leicht eine integrale Form geben:

<j>df -E = — f d3r e , <£df - B = 0 , J s £o J v J s

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202 K a p it e l 11: M a x w e l l

£ d r - E = —dt J d f -B , (11.11)

Damit (11.11) gilt, müssen die beteiligten Volumina, Flächen und Kurven un­beweglich im Raum hängen. Die Formulierung (11.11) ist nur in einfachen Fällen von^Wert. Schon in Kapitel 9 wurde davor gewarnt, sich auf das Über­integrieren von Feldgleichungen etwas einzubilden. Local is beautiful Jedoch ist (leider) auch die Behauptung richtig, daß man (11.1-4) aus (1 1 .1 1 ) her lei­ten könne, nämlich indem man V bzw. S auf einen beliebig gewählten Punkt zusammenzieht.

11.2 Licht

Es gibt einen Problem-Typ, der sich mit den Maxwell-Gleichungen beson­ders angenehm behandeln läßt. Ein Experimentalphysiker will für irgendwelche Zwecke ein ganz bestimmtes elektrisches Feld (oder Magnetfeld) hersteilen und fragt nun, welche Ladungen er mindestens anzubringen habe und welche Ströme er mindestens fließen lassen müsse. Auch welches Magnetfeld dann automatisch beteiligt ist, interessiert ihn. Es handelt sich um die Umkehr der engen Fra­ge. Diese Umkehrung gibt es auch zu Newton, wenn man ein bestimmtes f (t) hersteilen will und danach fragt, welches Kraftfeld dazu erforderlich sei. Dort wie hier ist die Antwort einfach. E ( r , t ) ist bekannt. Also gewinnt man sofort aus (11.1) die Ladungsdichte, aus (11.2) ein (möglichst einfaches) Magnetfeld£ ( f ,£ ) , welches (Kontrolle!) natürlich (11.3) zu erfüllen hat, und schließlich aus (11.4) die erforderliche Stromdichte. Fein.

Das elektrische FeldE = ^ 0 , 0 , f ( x — vt) ) (1 1 .1 2 )

soll hergestellt werden. Die Funktion f ( x ) möge nach rechts und links auf Null abfallen und um x = 0 herum positiv sein. Bei (11.12) handelt es sich also umeine in yz-Richtung unendlich ausgedehnte Schicht, in der E nach oben zeigt. Diese Schicht bewegt sich mit Geschwindigkeit v nach rechts. In der folgenden Rechnung ist f ( x - vt) kurzerhand mit / abgekürzt:

(11.1) : dzf = 0 rx g = 0

(11.2): ( dvf , - d xf , 0 ) = - e2/ ' = ^9«e2/ = - d t B ,

B = ----62f (kein + constt well physikalisch sinnlos)

(11.3) : dvf = 0 ( ? - !)—k A (p" S

(11.4) : j = <?£0 rot B - e o E = f + eoezv f rv

y ( r , t ) = - e 3 — ( l - ^2 ) f ' ( x - v t ) . (11.13)u \ c </

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11.2 L icht 203

Gemäß (11.13) muß der Raum mit vertikalen Drähten erfüllt werden, durch die Computer-gesteuert Strom geschickt wird, nämlich in der Schicht (dort wo sie gerade ist) links nach unten und rechts nach oben (Bild 1 1 - 1 ). Muß man wirklich?? Wenn wir uns (11.13) gemütlich ansehen, die Augen reiben und noch einmal hinsehen, dann kommt uns ein wunderbarer Gedanke. Wozu denn Drähte aufbauen: bei genau v = c ist kein Strom erforderlich. Das Feld (11.12) fliegt von alleine. Wir haben soeben Licht entdeckt.

Die Natur konstante c gibt also an, wie schnell elektromagnetische Felder durch Vakuum fliegen können:

c = Lichtgeschwindigkeit « 300000km/s = 3 x 108 m/s . (11.14)

Wenn man geeignet Spiegel anbringt, fliegt Licht in einer Sekunde ungefähr sieben mal um die Erde. Wenn Sie den Auto-Scheinwerfer einschalten, haben Sie sich nach einer Siebentel Sekunde im Rückspiegel.

Wir kehren zu v < c zurück und überlegen erneut, wie man z.B. zu f (x) ~ cos(kx) die nun erforderliche Stromdichte (11.13) irgendwie realisieren könn­te. Immerhin hat sie die gleiche Periode und Frequenz wie das Licht. Wir müßten etwa Elektronen durch ein entsprechendes elektrisches Feld beschleuni­gen und bremsen. Ein solches Feld ist bereits da! Wenn unsere E -Feld-Welle durch ein Medium geht, in dem es (schwach gebundene) Elektronen gibt, dann verursacht das Feld eine phasenverschobene Stromdichte (Bild 11-1 rechts), und zu einer geeignet zu wählenden Geschwindigkeit v stimmt sie mit (11.13) überein. Damit haben wir eine erste grobe Vorstellung davon, weshalb die (Phasen-)Geschwindigkeit des Lichtes von c abweichen kann, wenn es durch ein Medium fliegt.

Bild 11- 1 : Elektrische Feldstärke (~ /) einer mit v < c fliegenden Schicht und die dazu erforderliche Stromdichte - f )

Darf man v > c wählen? Aber gewiß doch! Man muß den Leuten zwischen Han­nover und Braunschweig natürlich vorher genau sagen, wann sie wieviel Strom gemäß (11.13) durch ihre vertikalen Drähte zu jagen haben. Die E -Schicht fliegt dann tatsächlich mit Überlichtgeschwindigkeit nach Braunschweig. Infor­mation ist jedoch hierbei nicht mitgeflogen, vielmehr war diese schon vorher an den entsprechenden Stellen. Es ist so ähnlich wie bei Hase und Igel („Ich bin schon da.“). Wenn man äquidistant viele Leute in eine Reihe stellt und sie zu bestimmten Zeiten ein Fähnchen heben läßt, dann kann man leicht jede belie­bige Geschwindigkeit > c des Fähnchen-Maximums erreichen. Keine Kunst.

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204 K a p it e l 11: M a x w e l l

Licht ist frei fliegendes elektromagnetisches Feld. Es ist wirklich schade um das schöne kurze Wort „Licht“, wenn es bei Frequenzen weit unterhalb des Sichtbaren klammheimlich aus dem Verkehr gezogen wird. Vom ZDF geht Licht aus ebenso wie von der Sonne (andere Ähnlichkeiten sind rein zufällig).

E bene elektrom agnetische Welle

Es sei noch einmal besonders betont, daß das ebene nach rechts fliegende Licht (11.12) jede Form f (x) haben kann. Obige Rechnung zeigte das. Besonders häufig wird jedoch Licht von Sendern erzeugt (auch solchen in der Natur), die periodisch arbeiten (wenigstens einige Zeit lang). Der trigonometrische Spezi­alfall f (x) = Eq cos(for) ist darum besonders wichtig. Wir legen die x-Achse in Richtung eines Vektors k (A usbreitungsvektor oder W ellenvektor) und formulieren das, was wir zwischen (11.12) und (11.13) gelernt haben, vektoriell:

E = E 0 cos ( k r - Lütj , lü = ck

- i * - - - {1U5) B = - — x E , E 0 ± k .c kDie Wellenlänge ist \ = 2n/h, denn auf einer „Fotografie“ von (11.15) (d.h. bei festem t) haben zwei Kosinus-Bergrücken diesen Abstand, u ist die Kreisfre­quenz, denn an einer bestimmten Stelle [(11.15) bei festem r] wird eine Ladungmit dieser Kreisfrequenz in E -Richtung hin- und hergezogen.

Bild 11-2: Richtungsverhältnisse in einer harmonischen ebenen elektromagnetischen Welle

Nur zu E q _L k löst (11.15) die erste Maxwell-Gleichung (nachprüfen!). Undnur zu B 1 E (welche Maxwell-Gleichung?!) und B _L k (welche Maxwell- Gleichung?!) kann der ganze „Raumkreuzer“ Bild 11-2 durch das Vakuumfliegen. Den Einheitsvektor e in E -Richtung, E q = : E^e , nennt man Pola­risationsvektor. Er steht also stets senkrecht auf der Ausbreitungsrichtung.

Inwiefern ist das unendlich ausgedehnte Gebilde (11.15) real? Es ist nährungs- weise real, nämlich im gleichen Sinne wie bei eindimensionalem Schall. Auch Licht wird „immer ebener“, je weiter man sich vom Sender entfernt (mit sei­nem Kubikmeter, in dem man das Licht untersucht und auf den sich das Wort „eben“ bezieht). Ferner wird (11.15) beiderseits einer großen ebenen Platte ausgesendet, in der periodisch Strom hin- und herfließt (Platten-Sender).

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11.2 L icht 205

W ellengleichung aus M axwell

Im Vakuum — keine Teilchen, kein g, J — lauten die Maxwell-Gleichungen

div E = 0 ^ (1') , div B = 0 ^ (3') ( n 16)rot E = - d t B (2 ') , r o t ß = 4 j 9 t E (4')

_kund zeigen Gleichberechtigung von E und B (wer Lust hat, führe das komplexeFeld E +icB = : G ein). Wir versuchen, B zu eliminieren, und haben dazu offenbar rot (2') und dt (4') zu bilden:

rot rot E =p -d t rot B = —~ d? ECA

i grad div E - A E = - A E . (H-17)

In der zweiten Zeile wurde zuerst (8.40) benutzt und danach (1'). Der Leser möge auch E eliminieren. Das Resultat ist:

□ := - A , □ E = 0 , D ß = 0 . (11.18)

Der Operator links heißt Quabla, Box oder D ’Alem bert-Operator. Beide Felder erfüllen also die Wellengleichung (10.15), nur tritt jetzt c an die Stelle der Schallgeschwindigkeit. Das war zu erwarten.

Die homogenen Box-Gleichungen (11.18) sind nützlicher Anhaltspunkt, wenn man sich nicht nur für ebene Wellen interessiert, sondern allgemein für die Eigeninitiative, die Felder miteinander im Vakuum entwickeln können. Wenn Felder „frei fliegen“, dann tun sie dies mit Geschwindigkeit c.

Vorsicht ist geboten. Unterwegs von (11.16) nach (11.18) ging Informationverloren: die Richtungen von E und B werden durch die Wellengleichung(11.18) nicht mehr fest gelegt. Man kann sich überlegen (oder auch bis zumFourier-Kapitel 12 damit warten), daß man □ E = 0 um (1;) ergänzen muß

—k —i(um ein erlaubtes E zu erhalten) und daß für das begleitende B -Feld schließlich (2') und (3;) heranzuziehen sind.

Superposition

Wenn ein Felder-Paar E, B die Vakuum-Gleichungen (11.16) erfüllt und einanderes ( E 1, B 1) ebenfalls, dann erfüllt auch das Paar E +E' , 5 + 5 ' die Gleichungen (11.16). Grund hierfür ist, wie wir ja bereits wissen, die Linearität von (11.16). Ein Lichtstrahl schert sich nicht darum, ob er von einem anderen gekreuzt wird. Auch die Nähe der Platten eines Kondensators oder der Pol- schuhe eines Magneten beeindruckt ihn nicht im geringsten. Wir können ihm sogar ein Elektron oder ein Proton in den Weg halten („halten“ = festhal- ten). Nun drängt sich der Gedanke auf, daß ja auch die vollständigen Maxwell-Gleichungen (11.1-4) linear seien und daß man folglich mit Quadrupeln E, B,

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206 K a p it e l 11: M a x w e l l

q, j ebenso verfahren könne wie eingangs mit Feld-Paaren. Das ist richtig. Aber genau hier ist auch die Gefahrenstelle der Superposition. Wenn man das Elektron total „festgenagelt“ hätte (in praxi kann man es höchstens stark aneinen Kern binden), so daß es durch die Lorentz-Kraft [mit E und B aus(11.15)] nicht beschleunigt werden könnte, dann würde der Lichtstrahl nichts bemerken. Wenn er aber die Teilchen beschleunigt, dann werden diese ihrerseits Felder verursachen. Also ist allemal Newton der Bösewicht. Kaum läßt man ihn gewähren, macht er die Super position kaputt.

Maßsysteme

Neben dem hier benutzten Sl-System ist ein anderes Maßsystem weit verbreitet, das Gaußsche System. Hierfür gibt es einen guten Grund, nämlich Standhaftig­keit — gegenüber „Agrarbeschlüssen der EG“, siehe auch Text unter (8.12). Wer vom Sl-System zum Gauß-System übergehen will, der setze

£o = und cBsi = ^Gauß • (11.19)

Man beachte, wie einfach hiermit das Coulomb-Potential (8.12) aussieht: (j) = Q/r. Die Vakuum-Gleichungen (11.16) zeigen, daß Gauß die Gleichbe­rechtigung der beiden Felder auch dimensionsmäßig herstellt.

Am Beginn dieses Kapitels hatten wir uns überlegt, daß man nur die Konstante £q wählen (und damit die Ladungseinheit festlegen) kann. Daß (11.19) aus zwei Schritten besteht, erscheint also im ersten Moment rätselhaft. Die Antwort ist einfach. Wir hatten nämlich auch gesagt, daß die Felder durch die Lorentz- Kraft (3.2) festgelegt seien. Offenbar wird diese Festlegung im Gauß-Systemein wenig anders vorgenommen: ra r = q ( E + (v /c) x B). Man sieht erneut,daß nun E und B gleiche Dimension haben.

Die zwei Schritte (11.19) kann man mühelos in allen bisherigen und künftigen Gleichungen vornehmen. Der SI-Mensch findet also leicht den Weg zum Gauß- System. Ein Gauß-Mensch hingegen hat es schwer, denn in seinen Gleichungen gibt es keinen Parameter, der ihm den Weg nach SI weist. Für sein Mehr an Schreibarbeit hat der SI-Mensch diesen Trost wohl verdient.

Alle Maßsysteme (darunter auch zwei nicht mehr gebräuchliche) unterscheiden sich voneinander nur durch die Ladungs-Einheit (Konstante L) und dadurch, wie das Magnetfeld relativ zum elektrischen festgelegt wird (Konstante M):

(11.20)

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11.2 L ic h t 2 0 7

Sl-System Gauß-System natürliche Einheiten

M l 1 /c 1

L l / e 0 4tt 1(11.21)

Zur Ladungs-Festlegung genügt die in (11.20) punktiert eingerahmte Informa­tion (am besten via Punktladung g = Q6(r) und gleich großer Probeladung q = Q). Die natürlichen Einheiten werden in der Quantenfeldtheorie bevorzugt, wobei man noch c = 1 setzt, d.h. auch die bisher unangetasteten mechanischen Einheiten (m, kg, s) abändert und eine Zeit durch die Länge angibt, die das Licht in ihr zurücklegt.

Feld enthält Energie

Licht ist Feld, und Sonnenlicht macht warm. Muß sich das Feld bewegen, um Energie zu enthalten? Hängt auch zwischen den Platten eines Kondensators Energie im Raum? Wieviel Energie ist in einem (gedachten) Volumen Feld ent­halten? Wir erinnern uns daran, wie wir erstmals etwas zu Papier bekamen, was sich sodann „Energie“ nennen ließ. Wir hatten die Bewegungsgleichung (damals: Newton) mit der einmal-weniger-abgeleiteten Unbekannten multipli­ziert, weil dabei die Zeitableitung einer neuartigen Bildung entstehen mußte. Es ist irgendwie faszinierend, wie diese Idee auch bei den Maxwell-Gleichungen funktioniert:

eoc2B -(11.2) - eoc2E ■ (11.4) rv

£ q E - E +£oc2B B =j= — j ■ i?+£oc2[.E-(V x B) - B -(V x i?)J

== - 3 - E - £ 0( ? V - ( E x B ) , (11.22)

dt [ ^ ( E 2+c2B 2) ]+div[£0c2( E x B ) \ = - j - E ,

Ü + divS = t /Q . (11.23)

Eine Kontinuitätsgleichung ist entstanden. Um zu ergründen, was für ein „Ma­terial“ hier Dichte U und Stromdichte S hat, sollten wir die Produktionsrate Uq = - J E studieren. Lassen wir in einer ersten Überlegung nur gleiche Teilchen (q, m) mit v strömen, so daß J = gv = nqv gilt, dann zeigt die Zeile

v -1 ^ -i ^ fjJl A- j E = - n v q [ E + v x B ] = - n v m v = - d t Umech mit Umech = n —v2 .,

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208 K a p it e l 11: M a x w e l l

daß die Material-Produktion genau gleich der Abnahme der mechanischen kine­tischen Energie (pro Volumen) ist. Verlust (Gewinn) an mechanischer Energie = Gewinn (Verlust) an Feld-Energie.Es geht jedoch viel schöner, nämlich allgemein für verschiedene Teilchen (Index a), deren Orte ra(t) beliebig über den Raum verteilt sind. Nach (6.104) liegen Ladungsdichte g = - ra) und Stromdichte J = ^2aqaVa^(r - ra)vor. Im gleichen Sinne gehören auch mechanische Energiedichte und Energie­Stromdichte zueinander, nur übernimmt jetzt Ta := \ m av2 die Rolle von qa :

^mech = ^ ]Taö(r — ra) , 5mech = ^ ~ ra) 5 (11.24)a a

wobei sich die Summe ruhig über alle Teilchen der Welt erstrecken kann. Überall in derselben gelten dann die folgenden lokalen Zusammenhänge:

—x , - _ _1 —x - •~ y E j ~ ra)qava[E +va x B] = - ) ö(r - ra)vam ava

a a

== - 5Z T = ~ 9t J 2 - r a ) + 5 2 S( r ~ M______________________________________“ * 1 '

va ■ V aS(r - ra) = -V • va S(r - ra)

== —dt t/mech — V • Smech » °der nach Einsetzen in (11.23) :

dt ( U + Umech ) + div ( S + S mech) = 0 . (11.25)

Die Bedeutung der Größen U und S ist damit entschlüsselt:

Felder-Energiedichte = U = (11.26)

Felder-Energie-Stromdichte 7 2/ n /-.i= : Poynting-Vektor = 5 = «>c ( E x B ) . (11.27)

Die Anteile U und S können auch unter sich bleiben (die homogene Gleichung(11.23) erfüllen), etwa wenn eine elektromagnetische Welle durch den Raum zieht oder wenn um eine Ladung, die zwischen Magnetpole gehalten wird, die Stromdichte S geschlossene Feldlinien hat. Kaum legt man aber solch einer Energieströmung eine Ladung in den Weg, zeigt sie ihr Vorhandensein.Wir fassen zusammen. Lokal und mechanisch-elektromagnetisch-weltweit ist die Summe aus Feldenergie und kinetischer Energie der Teilchen eine Erhal­tungsgröße. Das war eine wichtige Entdeckung.Zu (11.25) bis (11.27) müßten nun allerlei eingängige Beispiele studiert werden. Aber irgendwo wird dabei der Rahmen dieses Buches gesprengt. Er ist bereits reichlich strapaziert. Im folgenden und letzten Unterabschnitt werfen wir einen Blick über diesen Rahmen hinaus.

Die Lösung der M axwell-Gleichungen

Wenn man die Antwort auf die allgemeine enge Frage zu raten hätte, würde man wohl zunächst von der Kenntnis der Lösung im statischen Fall ausgehen,

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11.2 L icht 209

d.h. von (8.67) mit Q = q/ eq und (8 .6 8 ) mit W = J/(£o (?) • Sodann wäre wohl der Felder-Potentiale-Zusammenhang auf (11.9) zu verallgemeinern, d.h. aufE = -V 0 - dt A , B = V x A . Wenn nun aber £(r,£) und J ( r ,£ ) von der Zeit abhängen, erwarten wir zum Beobachtungs-Zeitpunkt t Felder, welche ein wenig früher verursacht wurden — denn „Was frei fliegt, fliegt mit c ! “. Also schreiben wir auf:

Man mag es unglaublich finden, aber (11.28) stimmt! In der Literatur findet man (11.28) unter re ta rd ie rte Po ten tia le oder unter kausale Lösung der Maxwell-Gleichungen. Der Leser kann versuchen, (11.28) nachzuprüfen. Das ist ein wenig schwierig, aber es geht. Nicht zu verachten wäre wohl eine Her­leitung geradenwegs aus den Maxwell-Gleichungen. Mit deren Fourier-Version (12.82) wird sie möglich.

Das Gleichungspaar (11.28) spielt eine zentrale Rolle in der Elektrodynamik. Insbesondere gibt (11.28) erschöpfend darüber Auskunft, wodurch und wie elek­tromagnetische Wellen entstehen. Die Gleichungen (11.28) enthalten und lösen das Ausstrahlungsproblem. Damit haben wir das ZDF im Griff, die Entstehung von Röntgen-Licht, die Strahlung aus Beschleunigungsanlagen und vieles an­dere mehr. Beschleunigte Ladungen strahlen. Dies war ein Blick in die Ferne. Er bietet eine verstehbare Welt, und das gibt ein gutes Gefühl.

Auf den wenigen Seiten dieses Kapitels ist ungeheuer viel passiert. Es ist wieder einmal an der Zeit (wie am Ende des Newton-Kapitels), die Essenz auf eine Seite DIN A4 zu schreiben, aus der dann bekanntlich ein DIN-A7-Zettel wird. Wir haben sozusagen das „Gehirn“ kennengelernt, das sämtliche elektromag­netischen Vorgänge steuert (besser: die mechanisch-elektromagnetischen, und Newton gehört zum Gehirn). Würden wir von hier aus ins Detail gehen und zahlreiche Anwendungen untersuchen, dann würde sich ein Semester füllen. In der Regel geschieht dies in einer der Kurs-Vorlesungen in Theoretischer Physik. Lehrbücher der Elektrodynamik sind leider häufig umgekehrt organisiert und erreichen die Einheit aller dieser Vorgänge (d.h. die Maxwell-Gleichungen) erst „irgendwo auf Seite 300“. Das Eindrucksvolle dieses Gebietes ist aber gerade die Systematik, mit der „das Gehirn“ bis in die Verästelung der Anwendungen hinein alles unter Kontrolle behält. Es ist im übrigen eine gute Gewohnheit, bei jeder Anwendung stets alle fünf Gleichungen (11.1-4) und (3.2) zu befragen und ggf. zu rekapitulieren, wie etwaige angewandte Formeln aus diesen folgen.

(11.28)

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210 K a p it e l 11: M a x w e l l

Vielleicht (die Gedanken sind frei) ist eine weitere Kritik hilfreich, nämlich an manchen Lehrbüchern, welche (11.1-4) und die „Maxwell-Gleichungen in Ma­terie“ (MiM) nicht genügend trennen. Die MiM sehen so ähnlich wie (11.1-4)aus, enthalten aber neuartige Felder D statt E in (11.1) und H statt B in(11.4), gelten für Felder in Medien mit idealisierten Eigenschaften und arbeiten mit veränderter Bedeutung von £, J (als Dichte und Stromdichte von zusätzli­chen „freien“ Ladungen). Der Leser ahne bereits anhand dieser Worte, was hier los ist. Die MiM sind phänomenologische Gleichungen, Näherungen, zu deren (meist heuristisch vorgetragener) Begründung Kenntnisse aus dem Bereich der Quanten-Statistik der kondensierten Materie erforderlich sind. (11.1-4) hinge­gen sind first principles und gelten somit in Medien auch. Aus diesen (woraus sonst?) kann man die MiM (unter haarigen Zusatzannahmen) herleiten. An­sprechende Kommentare hierzu finden sich im Taschenbuch von [Mitter] und bei [Fließbach, 2]. Äußerst konsequent verfahren [Landau/Lifschitz]: Ausar­beitung von (11.1-4) in Band II, aber MiM in Band VIII, nicht jedoch das Standard-Lehrbuch von [Jackson] .

„Gott sprach div E = 0 , div B = 0ro tE = —dtB , ro tB = dtE /c 2 und es ward Licht“,

stand einmal beim hiesigen Kolloquium overhead-projiziert an der Leinwand. Jedoch vermutlich stimmt es nicht. Einerseits hat er sicherlich gleich (11.1-4) gesprochen, aber andererseits kann ihm „£o“ wahrlich nicht über die Lippen gekommen sein. Möglicherweise waren es jedoch die Gleichungen (11.20) zu L = M = 1, und zwar alle fünf. Diese nämlich erschaffen eine Welt, die mechanisch-elektromagnetische. Man kann diese fünf Gleichungen übrigens so umformulieren, daß nur noch eine einzige dasteht, eine Weltformel (Stichwort „Lagrangedichte“; siehe auch Ende von Kapitel 5).

Wir sind zum ersten Male fertig. Es hätte ja sein können, daß wir lange Zeit nichts entdeckt hätten, was im Widerspruch zu dieser Weltformel gestanden hätte. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts sah es wohl ein wenig so aus, wes­halb denn auch der Student Max Planck (sinngemäß) zu hören bekam: „Junger Mann, warum gerade Physik? Dies ist doch ein abgeschlossenes Gebiet“. Da­mals war nicht einmal die chemische Bindung verstanden. Im Erfolgsrausch werden Mängel leicht übersehen. Inzwischen gab es einige weitere „fertig“- Erlebnisse, aber stets auch Wunden, auf die man den Finger legen konnte.

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12 Fourier—Transformation

Im folgenden gewinnt der Aspekt der Machbarkeit wieder die Oberhand, etwa so stark wie im Abschnitt 5.3 über Potenzreihen. In der Tat wird es sich hier um eine weitere Version handeln, eine Funktion anders aufzuschreiben. Was aus diesem Blickwinkel wie eine harmlose Spielerei aussieht, stellt sich für den Betreiber von Natur-Mathematik (der z.B. die Maxwellgleichungen lösen will) als ein außerordentlich nützliches Kalkül dar.

Die eigentliche Fourier-Transformation wird erst im zweiten von drei Abschnit­ten behandelt. Der erste bereitet darauf vor, hat aber auch genügend eige­nen Wert. Die spezifische Begleit-Philosophie bei Anwendung der Fourier- Transformation steht im dritten Abschnitt und wird anhand von Beispielen gepflegt.

12.1 Fourier—Reihe

Wir hören den lang anhaltenden Ton einer Orgel. Das Trommelfell im linken Ohr bewegt sich periodisch. Bezogen auf eine 2/-Achse, die senkrecht zum Trommelfell und durch dessen Mitte gelegt sei (es tut nicht weh), ist y(t) = y(t + T). Das Gehirn ist in der Lage, den Orgelton in Grundton und Obertöne abnehmender Stärke aufzulösen. Notfalls idealisieren wir das Gehirn ein wenig oder ersetzen es samt Ohr durch eine Apparatur. Es kommen nur Obertöne vor, deren Frequenz ein Vielfaches der Frequenz des Grundtones ist. Hat nun das Gehirn noch alle in y(t) enthaltene Information? Wenn «7a, dann liegt ein mathematischer Sachverhalt vor. Dann muß man nämlich y(t) aus den Stärken von Grund- und Obertönen rekonstruieren können. Das ist die Frage. Wir formulieren sie zunächst abstrakt und ändern dabei die Bezeichung: t —> x, y / , T -+ L. Bild 12-1 zeigt Trommelfell-Auslenkung / über „Zeit“ x .

Bild 12-1: Eine L-periodische Funktion

Die Frage lautet nun folgendermaßen:

gegeben f (x) mit f (x) = f ( x + L)

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212 K a p i t e l 12: F o u r i e r - T r a n s f o r m a t i o n

^ \ ( 2tt \ . . / 2tt \ 1/ ( s ) == / o + a n COS y a ~ Y X J + S in

E„n = l

p—in^£2 2 i

X*

T • c—n 2 w,

/(* ) = £ c" ei”^ * •

(12.1)

(12.2)

Mittels Euler-Formel nimmt also die Frage (12.1) die kürzere und rechentech­nisch vorteilhaftere Form (12.2) an. Nehmen wir einmal an, (12.2) sei in Ord­nung, das Fragezeichen sei unnötig und f (x) werde durch die rechte Seite dar­gestellt (es gibt jedenfalls solche Funktionen). Dann möchten wir als nächstes die Koeffizienten Cn erhalten. Dies gelingt, indem wir beiderseits von (12.2) den Operator

Pm := ± £ d x e - im%* (12.3)

anwenden:

i f Ld x e - im x f{x)L J o

J 2 c n j f dxn L

1 1 — • 'Jn.m (12.4)

^ gi(n—m)27r _

it/it T" *7 \ 27rn^m L i ( n ^ r a ) ^

Cn = i f dx e-'m2? xf(x) . (12.5)£ 7o

Der Operator Pm hat also die Gabe, den m-ten Vorfaktor Cm herauszupräpa­rieren. Aus (12.5) kann man leicht auch die Koeffizienten / o , an, bn der reellen Darstellung (12.1) erhalten:

/o = Co = 2 j dx f (x) = 7 (1 2 .6 )

an = Cn + c-n = ^ J dx f (x) cos (12.7)

bn = i(cn - C _ n ) = j ^ J ^ d x f{x) sin • (12.8)

Offenbar ist /o der Mittelwert der Funktion / , und dies ist sehr plausibel. Ist die Funktion / eine Konstante, dann verschwinden alle Koeffizienten a, b. Ist sie andererseits durch z.B. f (x) = cos(6nx/L) gegeben, dann verschwindet /o sowie alle an, bn (nachrechnen?!) — bis auf <1 3 . Der Integrand (12.7) von az kann durch 1 / 2 ersetzt werden, so daß sich erwartungsgemäß <13 = 1 ergibt.

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12.1 F o u r ie r - R eihe 2 1 3

Modifiziert man nun dieses / ein klein wenig, dann weicht a3 nur wenig von 1 ab, und alle anderen Koeffizienten sind klein.

Bis hierher haben wir (12.2) als Annahme behandelt und uns vorgestellt, daß sie zutrifft. Wenn sie nicht zutreffen sollte (wer weiß), dann können wir dennoch die Integrale (12.5) ausrechnen, d.h. jeder gegebenen Funktion / die oo vielen Zahlen Cn zuordnen. Diese Zahlen cn können wir auf der rechten Seite von(12.2) einsetzen. Dadurch wird eine neue (?) Funktion definiert:

M x ) ■■= • (*)n

Wir nennen (*) die Fourier-Reihe von / (jedenfalls solange wir nicht wissen, daß (*) gleich / ist). Die Reihe (*) konvergiert, weil die Koeffizienten Cn bei großen \n\ stärker als 1 jn abfallen. Man begreift dies am besten anschaulich. f (x) soll natürlich eine anständige weiche Physiker-Funktion sein (zumindest zunächst). Der andere Faktor in (12.5) ist trigonometrisch (Euler-Formel) und oszilliert stark. Bei genügend großen n wird die Periode dieser Oszillationen klein gegenüber der /-Skala, und Flächenstücke entgegengesetzten Vorzeichens kompensieren sich immer besser (malen!). Weil eine solche Oszillation zu

l - L ^ ( a + bX + 0(a;2)) Sin ("T*) = & + 0 G?) (12'9)

führt und es n Oszillationen gibt, erwartet man zunächst Cn = 0 ( l /n ) . Aber bei einer periodischen Funktion ohne Sprung muß der Anstieg b das Vorzei­chen wechseln. Daß letztlich Cn = 0 ( l /n 2) herauskommt, ist nun hinreichend plausibel (per Rechnung geht’s übrigens auch).

Wie läßt sich herausfinden, ob /f (^ ) = /(# ) ist? Indem man / f (x) ausrechnet und nachsieht! Dazu setzen wir (12.5) in (*) ein:

f F(x) = 5 2 Q ; £ < & f(x') e~,nT * ') einx*[e- £W] , e -> 0 . (1 2 .1 0 )

In eckigen Klammern wurde (reine Willkür) ein konvergenzerzeugender Faktor hinzugefügt, der ersichtlich keinen Einfluß auf das Resultat hat, denn auch ohne ihn konvergiert ja die n-Summe schon (wie wir uns oben gerade überlegt haben). Dadurch, daß er da steht, geben wir ihm eine Chance, vielleicht später etwas zu bewirken. Leben und leben lassen. Wer ihn nicht mag, der setze im folgenden überall e = 0. Als erstes vertauschen wir Summe und Integral. Hierbei leistet der konvergenzerzeugende Faktor bereits seinen ersten Hilfsdienst: mit ihm ist das Vertauschen unproblematisch:

fj?(x) = f dx' f ( x ' )K (x - x1) mit Jo

IS („ \ — 0-e|n|

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214 K a p it e l 12: F o u r ie r - T r a n s f o r m a t io n

1 oo oo== I ( £ > " + ! > " ) - « = = e ^ * e -

n= 0 n= 1i

t> := e - * ^* e_£

i U +L VI - u 1 sh(f)ch(f)

V \ _ 11 - v ) " I I

1 — uv 1 sh(£)+ uv — u — v

i (i)

1 / ch(£) - cos(^£)

L sh2 ( f )+ s in 2( ^ ) L ( | ) 2 + sin2( ^ )

~ f 5 (s i n( l ) ) = T A ^ m L ) rx171

rLf f (x ) =f / dx' f ( x ' ) 5 ^ 6 ( x — x' + mL)

J 0 mpL—mL

- f ( x ) 5 2 / d x ' 6 ( x - x ' ) = /(x )_ J - m L

(12.11)

qed. (1 2 .1 2 )

Das Ziel ist erreicht. Jede periodische Physiker-Funktion kann in eine Fourier-Reihe entwickelt werden. Die „Oberton-Stärken“ oder Fourier- Koeffizienten Cn enthalten die volle Information über f (x). Die Fragezeichen an (12.1) und (12.2) können ab sofort entfallen. Gleichung (*) ist (12.2). Darum bekam sie keinen eigenen Namen.Der Beginn dieser Rechnung (dort, wo der Kern K(x) eingeführt wurde) möge an die Ursache-Antwort-Beziehungen (6.108), (7.37) oder (8.55) erinnert ha­ben. Hier ist / die Ursache, und sie steht in einem linearen Zusammenhang mit der Antwort fp. Die response-Funktion K hängt nur vom Differenz-Argument ab (Faltungs-Integral) und ist sogar eine (periodisch wiederholte) Deltafunk­tion, weshalb sich der Zusammenhang als lokal herausstellt.Der konvergenzerzeugende Faktor war dazu da, von obiger Rechnung miß­trauische Fragen fernzuhalten. Aber nachträglich können wir gut sehen, daß er eigentlich unnötig war. Ohne ihn wären wir bei K(x) = 0 angekommen, aus­genommen die Stellen x = 0, ±L, ±2L, . . . , wo K unendlich wird. Um diese gefährlichen Stellen zu untersuchen, hätten wir x sanft an z.B. Null heranwan­dern lassen. Und dort wäre (vgl. (6.5)) die n-Summe zum Integral geworden:

2?r „ ( 2 ttx '

TK{x -* 0) i / = (S(x) . (12.13)

Bei diesem Weg leistet also die Formel (6.89) zur Delta-Funktion das Gewünsch­te. Man darf, wie wir sehen, mit ihr sorglos umgehen. Sie erspart uns mühsame Epsilontik. Was wir in dieser Hinsicht hier gelernt haben, läßt sich als nützliche Formel aufschreiben:

oo(12.14)

Einige allgemeine Eigenschaften der Fourier-Reihe

Die folgenden drei Weisheiten kann man von (1 2 .2 ), (12.5) bzw. (12.1), (12.7),

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12.1 F o u r ie r - R eihe

(1 2 .8 ) direkt ablesen:f (x) reell c_n = c*n

f ( —x) = f (x) J—r bn = 0 (reine Kosinus-Reihe) (12.15)f ( —x) = —f(x) '—r a n = 0 , fo = 0 (reine Sinus-Reihe) .

Wenn die Fourier-Koeffizienten Cn von f (x) bekannt sind, dann erhält man leicht auch jene der um a verschobenen Funktion, der Ableitung und einer Stammfunktion F von / :

f ( x - a) : , f ( x ) : i , F(x) • ^ (12.16)n O

Die erste Behauptung in (12.16) folgt aus (12.2), wenn wir dort x durch x — a ersetzen:

/(* - a) = Cn e“ inT “ einT* . n

Die zweite Behauptung in (12.16) ergibt sich durch Differenzieren von (12.2) und die dritte durch Differenzieren der F-Reihe (bei co ^ 0 enthält F auch den nicht-periodischen Term c$x). Um mit den Integralen (12.5) umgehen zu lernen, rechnen wir die Koeffizienten dn von f ( x - a ) noch einmal etwas anders aus:

dn = i f Ldx f ( x - a) e~in%x = y [ L “dx f (x) (*+“)W o J - a

rL—ae -1”- ay f “dx f{x) e -“ T ’ = e~in^ aCn

L J - adenn

/ L—a pL—a pO pL—a pL pL p

= / + / = / + / = / = : / ’ (1217) ■a JO J - a Jo J L—a J 0 J{L)

weil der Integrand periodisch ist.Wir werden nun mutiger und bauen in f (x) eine Stufe und/oder eine Delta­funktion ein. Wenn zu einer Stufe alles gut geht (die Hausübungen werden zeigen, daß dem so ist), wenn also die Funktion noch immer durch die Rei­he perfekt dargestellt wird, dann können wir via (12.16) diese Stufe an eine beliebige Stelle zwischen 0 und L bringen. Mehrere Stufen lassen sich durch Addition verschiedener / ’s und ihrer Reihen erhalten. Wie die Koeffizienten einer Deltafunktion pro L-Intervall aussehen (und daß auch hierbei alles gut geht), zeigt (12.14). Wir fassen zusammen: auch noch Funktionen mit end­lich vielen Sprüngen und/oder endlich vielen Delta-Zacken werden durch die Fourier-Reihe korrekt dar gestellt.

215

Parsevals Theorem

(12.18)

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216 K a p it e l 12: F o u r ie r - T r a n s f o r m a t io n

Best—Approximation

Wenn eine Fourier-Reihe abgebrochen wird, also nur noch endlich viele Koeffi­zienten Cn enthält, dann erhebt sich die Frage, wie die zu wählen sind, damit f (x) möglichst gut durch die abgebrochene Reihe f a(x) approximiert wird. Wir haben zunächst zu entscheiden, was „möglichst gut“ heißen soll. Ein gesundes Maß hierfür ist die mittlere quadratische Abweichung der Funktionswerte. Also verlangen wir

(12.19)

Dabei wird das Minimum der Zahl V bezüglich der endlich vielen Variablen Cn gesucht, während f (x) und ihre oo vielen Cn als bekannt gelten und fest gehal­ten werden. Wir schreiben jetzt einfach V(cn) so gescheit auf, daß man das Minimum sehen kann. Dabei nutzen wir (12.18) aus und bezeichnen mit (n) die Menge der Indizes, zu denen es c’s gibt:

v { Z n ) 7 z J o d x ( | / | 2 + 1 / 0 , 2 ~ f f : ~ f a r )

n (n)

$ Z l c"|2 - 5 Z l c" l2 + X ) l C n_2n l2 ^ min ' (12.20) n («) (»)

Offensichtlich wird V am kleinsten, wenn die Cn genau gleich den Fourier- Koeffizienten Cn der gegebenen Funktion / sind. Schon endlich viele Terme in der Fourier-Reihe (nicht unbedingt jene zu kleinsten Indizes) stellen also eine gegebene Funktion optimal dar.

VONS von Funktionen

Hinter den bisherigen Gleichungen verbirgt sich ein weiteres Beispiel dafür, daß Funktionen „Vektoren“ sein können. Wegen

=: ipn{x) rv j f dx ip*(x)ipm(x) = 6nm (1 2 .2 1 )

sind die Funktionen ipn(x) orthonormiert (ON), wobei wir uns wie am Ende von Kapitel 6 vorstellen, daß aus der Summe beim Vektor-Skalarprodukt das Integral geworden sei. Da sich eine beliebige L-periodische Funktion nach ihnen entwickeln läßt, heißt das Funktionensystem der ipn(x) vollständig (V). Es ist eine Basis im Raum der L-periodischen Funktionen. ipn(x) ist sozusagen die x-te Komponente des n-ten Einheitsvektors. Eine andere Basis des gleichen Raumes ist ö(x - a) mit 0 < a < L. Wegen (12.14) gilt auch

52^n(x)iPn(x') = 5 2 5(x ~ x' ~ m L )n m

(12.22)

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12.1 F o u r ie r - R eihe 217

und heißt V ollständigkeits-R elation. Wenn wir die Gleichungen (12.2) und(12.5) „richtig“ aufschreiben,

CL^ ( X) = Y ] d n(pn(x) , dn = dx ip*n(x)i)(x) , (12.23)

'o

dann zeigen sie, daß sich die Koeffizienten dn = y/V Cn so wie bei Vektoren bestimmen. Parsevals Theorem (12.18) lautet jetzt

[ Ldx \tp{x)\2 = ] T |d „ | 2 . (12.24)

Wenn ^(x) normiert ist, d.h. die linke Seite von (12.24) eins ist, dann ist auch der Koeffizienten-Vektor auf eins normiert. Wir sind unversehens in die Quan­tenmechanik geraten. Dort werden Quadrate der Entwicklungs-Koeffizienten als Wahrscheinlichkeiten interpretiert: damit die Gesamtwahrscheinlichkeit 1 ist ( = 100%), muß ip normiert sein. Wenn man tp(a) (oder (a|^)) als a-te Komponente des ^ “Vektors bezüglich Basis 6(x — a) ansieht, dann ist dn (oder (n|^)) die n-te Komponente des gleichen Vektors zur Basis <pn(x) (oder (x\n)). Sind die einen auf eins normiert ( ( ^ x ) ( x ^ ) — 1), dann sind es auch die anderen (('ip\n)(n\,tp) = 1). (12.23) schreibt Paul Dirac als

(x\i)) = (a;|n)(n|^) , (n|^) = (n\x)(x\ip) n\x) = (x\n)*) (12.25)

und verweist dabei auf Einsteins Summenkonvention. Damals in Kapitel 6 waren die ö(x — a) Eigenfunktionen des Orts-Operators: hier sind nun die (pn(x) als Eigenfunktionen von —idx zu Eigenwerten n2n/L hinzugekommen. Für jeden, der den Hunger nach expliziten Beispielen in der Quantentheorie durchlitten hat, sind (12.21) bis (12.24) wahre Leckerbissen.

A nw endungsbeispiel zur Fourier—Reihe

Ein gedämpfter ID harmonischer Oszillator wird von einer periodischen Kraft K (t) angetrieben. Wir wählen v-proportionale Reibungskraft —7 mv und setzen k =: mujQ sowie K(t) =: mk(t):

x(t)+'Yx(t)+cjQx(t) = k(t) = k(t+T) = ^ kn elnwt , u := ^ . (12.26)n

Da die periodische Kraft „schon immer“ wirkt, ist in der Auslenkung x(t) kein Einschwing-Anteil mehr enthalten. Also ist x(t) = x(t + T), und wir dürfen x(t) = Cn einu)t (gesucht: Cn) in die obige Bewegungsgleichung einsetzen:

[ - n 2 o; 2 + 7 ino; + cjq ] - A;n| = 0 . (12.27)n

Hieraus folgt, daß die geschwungene Klammer für alle n verschwindet. Um dies einzusehen, wenden wir entweder den Operator Pm an oder wir verwei­sen darauf, daß die Funktionen exp(inutf) linear unabhängige Basis-,, Vektoren“

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218 K a p i t e l 12: F o u r i e r - T r a n s f o r m a t i o n

sind. Das Problem, x(t) zu finden respektive die Cn, ist nun ungemein einfach geworden. Es lautet

Cn [ - n 2 w2 + . . . ] = k„ rv c„ = kn

Also bestand das Lösen der Bewegungsgleichung am Ende darin, durch die eckige Klammer zu teilen! Mit den nun bekannten Koeffizienten ergibt sich

x(t) = Y T----- 2 2 kn---------- 21 einw< • (12-28)“ [ - n 2uß + 71710; + u 2]

Wie so oft, ist man mit der ersten Version eines Resultates noch nicht zufrieden. An (12.28) lassen sich drei mögliche Mängel erkennen und beheben.

Das Resultat (12.28) enthält die Koeffizienten kn. Statt nun diese zu jeder gegebenen Kraft k(t) erneut mittels (12.5) auszurechnen, können wir auch ver­suchen, den allgemeinen £(£)-fc(£)-Zusammenhang herzustellen. Dazu müssen wir (12.5) in (12.28) einsetzen:

T V 7----- ö -,— ■ ---------- 9 T einu<i [ Tdt' e~lnwt' k{t')7 n I ~~ ^mU Wol T Jo

T[ dt ' x ( t - t') h(t') . (12.29)

Jo

Dies ist wieder ein Faltungs-Integral. k(t) ist die Ursache, x(t) ist die Antwort und

( 1 2 - 3 0 )

ist die Antwort- oder Responsefunktion.

Man darf mit (12.28) auch unzufrieden sein, weil die Kunstzahl i darin auftritt. Natürlich muß der Ausdruck (12.28) reell sein, da er eine meßbare Größe an­gibt. Auch das formale Erfordernis (12.15), c_n = c* ist offenbar erfüllt. Nach einigen recht naheliegenden Umformungen fällt i in der Tat heraus (ungerader Summand gibt Null). Das reelle Resultat ist

1 ____ oo ~

x (t) = ~ K (t) + Y / r T -- - 2 - - 2 =r =? cos(nujt + Vn - an) , (12.31) K n^\ V (wo ” n W ) + n 7 w

wobei

. / \ nyu n2w2sin(a„) := —j= = ^ , cos(an) := -----, ( 1 2 32)

und kn = rn e1(fn = k*_n = r_ n e~l(p~n

gesetzt wurde. In (12.31) sind ujq und 7 feste Daten des Oszillators, während rn, ipn und u = 2ir/T die äußere Kraft charakterisieren. Wir variieren u („Durch­stimmen“). Immer, wenn ein Vielfaches von u gleich der Eigenfrequenz ujq des Oszillators ist, wird gemäß (12.31) die Amplitude der Schwingung nur noch

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12.2 F o u r ie r - T r a n s f o r m a t io n 219

durch die (z.B. sehr kleine) Dämpfung 7 endlich gehalten: Resonanz. Wenn man unendlich langsam hin und her zieht (uj -» 0), bleiben die Amplituden endlich und x(t) —> k(t)/uq, wie zu erwarten war. Plausibel ist auch, daß bei u —► 0 0 jede Amplitude gegen Null geht, weil dann die Masse m nicht mehr folgen kann.

Es gibt noch eine dritte Unzufriedenheit mit obigem Beispiel. An dem Oszil­lator „durfte“ nur mit einer periodischen Kraft gezogen werden. Aber in der Wirklichkeit kann man ihn natürlich ohne weiteres auch nicht-periodisch anre­gen. Dieser Gedanke und die Hoffnung, auch dann noch ebenso schön rechnen zu können, führen uns in den nächsten Abschnitt.

12.2 Fourier-Transformation

Eine Funktion f ( x ), die physikalische Bedeutung hat, fallt in der Regel für große ±x auf Null ab. Notfalls muß man den interessierenden Vorgang aus genügend großer Entfernung betrachten und sich alle unbeteiligten Objekte aus dem Weltall herausgekehrt denken. Auch eine Funktion der Zeit fallt auf Null ab, wenn man nur genügend weit in die Zukunft blickt und auch die ganze Vorgeschichte des Vorgangs einbezieht (indem man z.B. darüber nachdenkt, wie eine Masse eine bestimmte „Start“-Geschwindigkeit vq erreicht haben könnte). Die so zubereitete Physik läßt sich gemäß Bild 12-2 ganz im Inneren eines genügend großen Periodizitätsintervalls unterbringen. Daß sie sich außerhalb desselben periodisch wiederholt, ist unerheblich.

Fourier—R eihe —y Fourier—T ransform ation

Daß man nach Bild 12-2 jegliche Physik als Fourier-Reihe behandeln kann, ist sehr beruhigend. Es so zu tun, wäre aber unpraktisch. Die Größe des L- Intervalls ist ersichtlich nicht fest gelegt. Wir dürfen also den Grenzübergang

Bild 12-2: Wie man irgendeiner realen Physik stets eine Periode geben kann

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220 K a p it e l 12: F o u r ie r - T r a n s f o r m a t io n

L-+ oo betrachten (f ( x ) bleibt fest) und nachsehen, wie sich (12.5) und (12.2) dabei verhalten. Die n-Abhängigkeit der Koeffizienten wird immer schwächer, wie in

/ L/2 1 e\L d x f ( x ) e ~ in^ , / (a:) = - ^ ^ ( L c n)e i" ^L j2

die linke Hälfte zeigt. Und rechts in f (x) ist schließlich der Übergang von Summe zu Integral erlaubt, d.h. Yln / ^ n - Nach Substitution n2n/L = : k sowie mit Bezeichnung Len =: f (k) erhalten wir die Fourier-T ransfo rm ation

/(* ) = ^ J dk / ( * ) e** (12.33)

und ihre Umkehrung

f (k) = J d x / ( x)e~ikx . (12.34)

Wenn man in diesem Kapitel alle Vorbereitungen, Nachbereitungen und Aus­arbeitungen wegläßt, dann reduziert sich seine Essenz auf diese beiden Glei­chungen (!). Im Unterschied zum Orgelton enthält ein Geräusch alle Töne, und darum ist eine nicht-periodische Funktion nach harmonischen Funktionen aller Frequenzen zu entwickeln. f (k) heißt F ourier-T ransfo rm ierte von / oder schlicht Koeffizientenfunktion. Manchmal ist statt f (k) dieBezeichnung FT(f(x)) praktisch.

Die Idee, die Fourier-Transformation aus der Fourier-Reihe entstehen zu las­sen, ist übrigens [Mathews/Walker] entnommen. Hinsichtlich mathematischer Ausrüstung ist dieses Buch sozusagen die „Physik mit Blei für Fortgeschritte­ne“.

Fourier-T ransfo rm ation d irek t

Wer den speziellen Zugang nicht mag, der uns soeben zu (12.33) und (12.34) geführt hat, der darf ihn vergessen. Man kann nämlich diesen Zusammenhang auch direkt erfinden, und zwar in völliger Analogie zum Abschnitt 1 2 .1 . Ange­nommen (12.33) ist in Ordnung. Wir wenden beiderseits den Operator

P(q) := J d x e ~ iqx (12.35)

an und erhalten

Jd x e~lqxf(x ) = Jd k f(k ) Jd x = Jd k f(k ) 6(k - q) = f(q) .

(12.36)Dies setzen wir nun auf der rechten Seite von (12.33) ein, nennen das Resultat / f (x ) und rechnen mittels Delta-Formel (6.89) nach, daß zwischen / f {x) und

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12.2 F o u r ie r - T r a n sfo r m a t io n 221

f (x) kein Unterschied besteht:

}F{x) = ± - J d k elkx j dx' e~lkx' f (x') = j d x ' f{x') J dk e***"*')

== [ d x 1 f ( x ' ) 8 { x - x ' ) = f (x) . (12.37)

Damit alle diese Integrale existieren und vertauscht werden können, genügt zunächst eine hinreichend starke Null-Asymptotik von f (x) und der erneute Hinweis auf „anständige weiche Physiker-Funktion“. Bald wird aber klar wer­den, daß wir letzten Endes nur das Nicht-Anwachsen von f (x) bei |g| —► oo benötigen.

Beispiel Kastenfunktion

f (x) = d(x) - 9(x — a)

f (k) = P d x e~,kx = —rr(e~ika - 1 ) = 2-Sln(fco/ 2)Jo _1^ k

Oder:

m = e - ‘V rJ —I

a/2

a/2

r a / 2dx e~lhx = e-1" 2 / dx cos(kx) = ..

Jo

(12.38)

Bild 12-3: Kastenfunktion und die Fourier-TYansformierte (2/A:) sin(ka/2) ihrer zentrierten Version 0(x + a/2) - 0(x — a/2)

Wenn man die Fourier-Transformierte f (k) einer Funktion ausgerechnet hat, ist natürlich stets die Probe aufs Exempel zu empfehlen, ob denn auch wirklich via (12.33) die ursprüngliche Funktion wieder herauskommt:

f (x) j: l j d k e - ^ ™ ^ e ' kx

== J d k i ( eikx - eik^ ) =•■ h(x)

h’(x) = [dk (e'kx - eiA -°>) = S(x) - S(x - a) (12.39)27T J

rx h(x) = C + ß(x) - 0(x - a) = f (x) , qed ,

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222 K a p it e l 12: F o u r ie r - T r a n s f o r m a t io n

denn daß C = 0 ist, entnimmt man direkt dem Integral zu x -y oo. Das war ein hübsches Beispiel zur Kunst des Integrierens.

Ein a-tel der Kastenfunktion, f ( x) /a also, hat Fläche eins und wird bei a —y 0 zu einer Delta-Funktion. Wie sich ein a-tel von / verhält, entnehmen wir (12.38):

0(x) — 6(x — a) , 1 ~ _{ka sin(fca/2)a —y 0 : ----- --------- -y S(x) , ~ / = e 12 —±—J—L-y 1 .a v 7 ’ a J ka/2

Damit haben wir anhand des schnöden Kastens etwas entdeckt, was sicherlich auch jede rundere «^-Darstellung geleistet hätte:

/ w . « . ) m d / w = i (1240)

hat f (k) = 1 hat f (k) = 2tt 6(k) .

Wer nun zur Probe f (k) = 1 in (12.33) einsetzt, sollte sich der ^-Darstellungen (6.88) oder (6.89) erinnern. Ab sofort können wir f dk elkx = 2ttS(x) im Schlafe.

Die Fourier-Transformation erlaubt (wie schon die Fourier-Reihe) endlich viele Delta-Zacken und endlich viele Sprünge. f (x) darf bei x —y ± 0 0 sogar gegen eine Konstante gehen (gleiche Konstante bei — 0 0 und + 0 0 ), wenn diese Sätti­gung als Grenzfall einer abfallenden Funktion begriffen werden kann. Hier ist Physik im Spiel. Wenn diese Physik auch im Raum der abfallenden Funktionen Sinn hat, dann gilt (12.40) und ist nichts anderes als eine angenehm einfache Notation der Verhältnisse am Rand dieses Raumes. So arbeiten wir ja auch mit der Deltafunktion.

Beispiel Gauß-Funktion

f (x) = Ae“

f (k) y J dx Ae ax2 e lkx = A J dx e ax2 cos(kx)

<*“ >

wobei die Doppelfakultät Verwendung fand:

(2n - l)ü := 1 • 3 • 5 • . . . • (2n — 1) , (-1)!! := 1 . (12.42)

Die Fourier-Transformierte einer Gauß-Funktion ist also wieder eine Gauß- Funktion. Solcherlei Forminvarianz unter Fourier-Transformation gibt es öfter.

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12.2 F o u r ie r - T r a n s fo r m a t io n 223

Ein zweites Beispiel, [Gradstein/Ryshik) entnommen, ist

FT { - r ^ r } = [ d x = [dx = * . (1 2 .4 3 )\ ch(:r) J J ch(:r) J ch(:r) ch(7rfc/2)

Mehr? Sei Q der Operator, welcher die Fourier-Transformierte bildet und dann darin die Variable k durch x ersetzt: Qf (x) := (27t)“ 1/2 Jdy e~lxyf(y) = f (x) /y/27T1 . Man bekommt leicht heraus, daß Q2f(x) = f ( - x ) gilt (Q2 ist der Paritätsoperator) und daß folglich Q4 = 1 ist. Aus jedem f (x) lassen sich daraufhin vier forminvariante Funktionen g(x) wie folgt konstruieren:

*,(*) = [ 1 + CnQ + £ Q 2 + C o 3 ] /(* ) mit Cn = ein*/2 (12.44)

und n = 0,1,2,3. Es ist = 1. Wendet man nun Q auf (12.44) an, so ergibt sich Qg(x) = £3 g(x) zu jedem Index n . Die vier Gleichungen (12.44) lassen sich nach / auflösen. Jede Fourier-transformierbare Funktion f (x) besteht somit aus vier forminvarianten Anteilen: / = (<70 4- gi 4- # 2 4- 9s)/4 .

Wegen ihrer Details war die auf (12.41) führende Rechnung zwar unwidersteh­lich, aber man kann ahnen, daß es auch einen harmonischeren Weg gibt: qua­dratische Ergänzung und Wegverbiegung:

J d x e -“*2 e~ikx = j d x e -aix+^ h)2- & = e~& j d x e"“*2 . (12.45)

Im zweiten Schritt war zunächst z = x + ik/(2a) substituiert worden. In der z - Ebene ist der Integrationsweg eine Horizontale, welche die i-Achse bei k/(2a) schneidet. Jetzt erst folgt Verbiegen dieses Weges mittels Cauchys Theorem (9.32) bis er zur reellen cc-Achse geworden ist.

Einige allgemeine Eigenschaften der Fourier-Transformation

Da man die Fourier-Transformation aus der Fourier-Reihe hervorgehen lassen kann, verwundert es nicht weiter, daß auch deren Eigenschaften (12.15) bis(12.24) ihr Analogon haben:

f (x) reell ^ /(-& ) = f(k)*

« - ) - * / ( . ) - / < - * ) = * / » - <“ •>

In Tabellen werden häufig nur reine Kosinus- und Sinus-Transformationen an­gegeben. Wir zerlegen dann die gegebene Funktion in ihren geraden und unge­raden Anteil, f (x) = g(x) + u(x), und erhalten f(k) gemäß

(12.47)

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2 2 4 K a p it e l 12: F o u r ie r - T r a n s fo r m a t io n

Parseval: J d x \ f ( x )\2 =1= J d x ^ J d k f (k) eik* ± I dq /*(<?) e"**

h Im (12.48)

VONS:

~^=re'kx =i <pk(x) rx j d x <pk{x)<pq(x) = 6{k - q) (12.49)

I M . =: c(k) rx f{x) = J d k c(k)<pk(x) , c(k) = J d x ipk(x)f(x) . (12.50)

Eine Funktion f (x) als LK von „Einheitsvektoren“ (fk(x) darzustellen, ist in der nicht-relativistischen Quantenmechanik üblich (s. Kapitel 16). (12.50) wird darum von manchen Büchern bevorzugt. Unsere Konvention (12.33) weicht hingegen im Vorfaktor ab. Warum? Sie hat den Vorteil, daß sie Faltungs- integrale in der Unterwelt zu reinen Produkten werden läßt, siehe (12.64), (12.67), (12.74). Haufenweise gibt es solche Faltungen, Greensche Funktionen G(r — r' ,£ — tf) als Kern enthaltend, in der Quantenfeldtheorie. Auf der Stu­fenleiter der Erkenntnis steht die letztere höher als Quantenmechanik. Darum.

Räumliche Fourier-Transformation

f (x ,y , z ) = f dkl J(ki>y>z ) f kix

=~ " t J dk2f ( k i.*» ,*)6**”

e(r) = Jd,3k e ( k ) e lkT , g{k) = J d 3r g ( r ) e ~1—i A; r* (12.51)

Raumzeitliche Fourier—Transformation

E ( r , t ) = ( ^ ~ y j d 3kdu) E (jfc.w) e1* '" 1

E ( k , u ) = J d 3r d t E ( 7 ,t)e ~ ikt+iut .

(12.52)

Die Entwicklung nach der Zeitabhängigkeit wird also gern mit dem „falschen“ Vorzeichen definiert, weil damit (12.52) eine Entwicklung nach ebenen Wellen ist (Euler-Formel!), welche in Richtung von k laufen. Es handelt sich um reine Konvention.

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12.3 A n w e n d u n g s b e is p ie l e 22 5

12.3 Anwendungsbeispiele

Die Fourier-Transformation einer Funktion ist nur bei bestimmten, meist linea­ren, Problemen vorteilhaft, führt dann aber oft zu durchschlagendem Erfolg. Die folgenden Fall-Studien sollen einerseits zeigen, unter welcher Begleitmusik und mit welcherart Geschick sie anzuwenden ist. Zum anderen wollen wir et­was Spürsinn dafür erwerben, unter welchen Umständen Aussicht auf Erfolg besteht. In der Regel besteht die Prozedur aus den folgenden Schritten:

Gleichungen für gesuchte Funktionen / sind zu lösen, aber dies erscheint „zu schwer“. Ist / (oder sind die / ’s) im ganzen Raum (d.h. auf beidseitig oo langer cc-Achse bzw. Zeit-Achse bzw. ...) definiert oder definierbar? Ist Abfall auf Null im Unendlichen zu erwarten, oder genügen spezielle solche Lösun­gen? Gegebenenfalls ist das Modell auf den ganzen Raum zu erweitern, siehe unten.

Man setze f = f f e+!- in die /-Gleichungen ein und verein­fache nun die entstandenen /-Gleichungen. Meist leistet dies ein Koeffizientenvergleich: f dk elkx [ ] = 0 rv [ ] = 0.

Die /-Gleichungen sind ein „Spiegelbild“ des Oberwelt-Pro­blems. Wenn man Glück hat oder den richtigen Spürsinn hatte, dann ist das /-Problem einfacher. Man löse es. Das „Spiegel­bild“ / der Oberwelt-Lösung ist nun bekannt.

/ = / / e +l- ist die Oberwelt-Lösung in geschlossener Form. Nun sind Integrale auszuwerten und/oder Spezial- und Grenzfälle zu betrachten und/oder die Zahl i zu eliminieren. Mitunter kann man, ohne Integrale auszuwerten, das Resultat weiterer Verwendung zuführen.

Erweiterung auf ganzen Raum

Im Falle von Randwert- und Anfangswertproblemen kann die Fourier-Trans­formation nur helfen, wenn es gelingt, das „Geschehen jenseits des Randes“ einzubeziehen. Wie dies mitunter gelingt, sehen wir uns an einem Beispiel an, bei dem die Zeitachse der „Raum“ ist. Das Geschehen jenseits des Randes ist nun die Vorgeschichte bis zum Start bei t = 0.Ein Kondensator (Kapazität C) mit Ladung Qo entlädt sich über einen Wider­stand R . Die Lösung dieses Anfangswertproblems gelingt uns im Kopf:

RQ(t) + ^ Q{t) = 0 , Q{0) = Q0 n, Q(t) = Q0 e " . (12.53)

Aber nun wollen wir dieses Problem mittels Fourier-Transformation lösen. Es ist scheinbar nur für positive Zeiten definiert. Zu t < 0 ist irgendwie Ladung

Oberwelt

Abstieg

Fourier-Unterwelt

Aufstieg

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226 K a p it e l 12: F o u r ie r - T r a n s f o r m a t io n

auf den Kondensator gelangt: wie, dürfen wir uns ausdenken. Die Ladung Qo kann man mit der Gleichspannung Qo/C auf dem Kondensator halten. Also beziehen wir die Vergangenheit dadurch ein, daß wir die Spannung U ~ e£t ganz langsam auf diesen Wert anwachsen lassen. Die Dgl lautet nun

RQ(t) + ^ Q ( t ) = U(t) = ^ e r t0 (-t) (12.54)

und gilt für alle Zeiten t. Wir sind sicher, daß ihre Lösung Q(t) dann bei t > 0 mit der gesuchten zusammenfällt, wenn wir (im Endresultat) e —> +0 gehen lassen. Der zweite und der dritte Schritt der Standard-Prozedur (Abstieg und Lösen in der Unterwelt) lauten nun

Q ( t ) = ^ f d k Q(k) e'kt , [ ä i* + i ] Q(k) = U{k) , Q = ^ . (12.55)

Der Aufstieg ist Kunst des Integrierens und sei weitgehend dem Leser überlas­sen. Er wird zunächst U(k) = Qo/{C [e - i k ] ) erhalten und schließlich bei

Qi*) = ( ö( - 0 e et + ö ( t ) e - ^ ‘ ) (12.56)

ankommen. Nicht wahr, das sieht recht gut aus.

Spezielle Lösung einer inhomogenen linearen Dgl

Einen gedämpften harmonischen Oszillator mit nicht-periodischer Kraft zu be­handeln, bereitet uns bereits keine Schwierigkeiten mehr. Man kann dabei nämlich völlig analog zum Anwendungsbeispiel in Abschnitt 12.1 vorgehen. Der Leser versuche, das Resultat anhand von (12.28) zu erraten, und rechne dann nach. Hier versuchen wir zu verallgemeinern. Der Operator L einer linearen Dgl habe konstante Koeffizienten, und zwar z.B. oo viele:

L = f ^ c n d ? = : L(dx) . (12.57)n=0

Das Problem, eine spezielle Lösung der inhomogenen Dgl L(dx)y = f zu fin­den, kann mittels Fourier höchst elegant gelöst werden. Es muß lediglich f (x) Fourier-transformierbar sein, d.h. auf der ganzen z-Achse erklärt sein und Null-Asymptotik haben:

L(dx) ± J d k y(k)e'kx = ^ J d ky (k )H ik ) e ik* l ± J d k f(k)e'kx

rv y(k) L(ik) = f(k) , y(x) = ^ • (12-58)

Ob auch die Lösung (12.58) Fourier-transformierbar ist, dürfte sich bei Inte­gral-Auswertung heraussteilen — oder man weiß aus physikalischen Gründen, daß es so ist. Der entscheidende Schritt in dieser Rechnung war

dx eikx = ik e'kx rv L(dx) eikx = L(ik) e'kx (12.59)

Page 239: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

12.3 A n w e n d u n g s b e is p ie l e 2 2 7

Fourier funktionierte so gut, weil die Funktionen exp(ifc:r) allesamt Eigenfunk­tionen von L waren und weil sowohl Inhomogenität als auch die gesuchte Funkti­on nach diesen Eigenfunktionen entwickelt wurden. Das ist eine wichtige Idee. Sie hilft auch dann noch, wenn L schlimmer aussieht: etwa wenn der Leser später einmal die Schrödinger-Gleichung zu lösen hat und dazu nach den Ei­genfunktionen des Hamilton-Operators entwickelt. Wenn L einfacher aussieht, nämlich eine Matrix H ist (Vektorfall), dann (zur Erinnerung) funktioniert die Idee wie folgt:

U = U j 1 p ; \3 \ sei bereits gelöst /

Hujipj = a , f j r \ u = ^ ^ ^ . (12.60)i 3

Es versteht sich, daß man mit (12.58) auch leicht die Greensche Funktion von L(dx) ermitteln kann. Dann ist L(dx) G(x,a) = S(x — a) zu lösen, und (12.58) wird zu

G(k,a) L(ik) = e~lka rx G(x,a) = J d k ^ ' (12.61)

Schließlich kontrollieren wir (12.58) an einem Trivialbeispiel. Wenn L der Trans- lationsoperator ist, L = Ta = eadx, dann kann man der Dgl Ly = f einerseits ihre Lösung ansehen, linke Hälfte in

Ly{x) = jt(x + o) = f ( x) y(x) = [dk /(A)ei*(l-o)r v * . ) - / ( . - . ) • J g _ a ) ’ <1 2 '6 2 >

oder andererseits (rechte Hälfte) (12.58) mit L(ik) = exka bestücken. Es stimmt.

Integralgleichung vom Faltungstyp

Die Integralgleichung f (x) = h(x) - Jdy K ( x - y ) f(y) soll gelöst werden. h(x) (Inhomogenität) und K (:r) (Kern) seien bekannte und Fourier-transformierbare Funktionen. f (x) wird gesucht. Für den „Abstieg“ können wir entweder für alle drei Funktionen die Fourer-Darstellung einsetzen oder besser gleich den Operator P(k) = Jdx exp(—ikx) auf alle Terme der Gleichung anwenden:

m J ~h{k) - j d x e - ikx J d y ^ J d q K(q) ^ j dp f(p) e™

---- h(k) - j d q K(q) J d p f(p) ö(q - k) 8(p - q)

== h(k) — K(k) f (k) . (12.63)

Hieran lernen wir, daß ein Faltungs-Integral in der Oberwelt schlicht zum Pro­dukt der Fourier-Transformierten in der Unterwelt wird:

FT Q d y K ( x - y ) f ( y ) J = K(k ) f ( k ) . (12.64)

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228 K a p it e l 12: F o u r ie r - T r a n s f o r m a t io n

Die Lösung der Integralgleichung in der Unterwelt gestaltet sich — wieder einmal — höchst einfach: f = h/[l + K], und wir erhalten insgesamt

n x ) = h ( x ) - f d V K ( x - y ) M i f d k j kxJ m _ (1265)hat die Losung v 1 2ir J \ + K(k)

Wenn man L := Jdy K(x - y) als Operator ansieht, der aus f (x) eine andere Funktion von x macht, dann bekommt unsere Integralgleichung die Gestalt f = h — Lf . Man fragt sich, ob nicht vielleicht deshalb die Lösung so leicht zu erhalten war, weil — wieder einmal — L die exp(ifc:r) als Eigenfunktionen hat:

j J d y K(x - y) e'ky = J d y K ( - y ) ^ v + x) = e[kx J d y K(y) e~ik«

-1— ( Tr» T o t n r o r A a y r i r n n ^ \ O

Le ikx

K(k) elkx ( In der Tat, das war der Grund. ) (12.66)

Wenn man die auf (12.64) führende Rechnung auf den Fall r -abhängiger oder r-t-abhängiger Funktionen überträgt, passiert überhaupt nichts Neues. Die Durchführung ist eine leichte Übungsaufgabe. Man erhält:

FT ( J d 3r’dt' K (7 - 7 ' ) / ( r ' , 0 ) = K ( k , u ) f ( k , u ) . (12.67)

Allgemeiner linearer Zusammenhang

Eine Ursachen-Funktion u(x) sei gegeben, und es sei ferner bekannt, daß sie eine Antwort-Funktion a(x) zur Folge hat, welche linear mit u(x) zusammenhängt. Im ersten Moment klingt es vermessen, den allgemeinst-möglichen linearen Zu­sammenhang zwischen u und a zu Papier bringen zu wollen. Aber bei Vektoren ist das möglich gewesen: (4.28). Der Zusammenhang wurde durch eine Ma­trix hergestellt. Also suchen wir jetzt nach dem Funktionen-Äquivalent einer Matrix.

Bild 12-4: Wie aus einem Vektor eine Funktion wird

Der Übergang von Vektoren zu Funktionen ist uns inzwischen vertraut (Bild 12- 4): der Komponenten-Index wird zur Variablen x [s.a. Text zu (12.21) bis(12.24) und am Ende von Kapitel 6]. Nun haben die Matrix-Komponenten zwei Indizes (Bild 12-5), und folglich wird eine Matrix zu einer Funktion von zwei Variablen: K(x ,y) . Bei einer Matrix-Anwendung wird über den zwei­ten Index summiert. Da Index-Summation zum Integral wird, haben wir also

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12.3 A n w e n d u n g s b e is p ie l e 2 2 9

Bild 12-5: Wie aus einer Matrix der Kern eines integralen Operators wird

das Produkt von K(x,y) mit u(y) noch über y zu integrieren. Damit ist das Matrix-Anwenden in den Funktionenraum hinübergerettet. Zugleich haben wir gelernt, wie man allgemeinstmöglich, jedoch linear, eine Antwortfunktion mit einer Ursachenfunktion zu verknüpfen hat:

Der Vorzug des Zusammenhangs (12.68) liegt darin, daß man ihn schon hin­schreiben kann, bevor man irgend etwas Genaueres weiß. Jeder lineare Operator im Funktionenraum hat seinen Kern. Dieser gibt via (12.68) die Wirkungswei­se von L an. Natürlich gehen wir unverzüglich alle uns bekannten linearen Operatoren in Gedanken durch und fragen nach ihrem Kern. Zum Beispiel hat der Translationsoperator Ta den Kern K(x,y) = 8(x + a — y ) . Auch der Differenzieroperator dx ist linear. Er wehrt sich ein wenig, aber nicht lange:

Mitunter weiß man, daß eine um b verschobene Ursache u(x - b) auch eine um b verschobene Antwort a(x - b) zur Folge hat. Der Zusammenhang ist transla tionsinvarian t. In diesem Falle kann der Kern nur vom Differenz- Argument abhängen:

Zum letzten Schritt haben wir uns zuerst den Kern als Funktion von x + y und x — y gedacht und dann bemerkt, daß er (da b beliebig) vom ersten Argument überhaupt nicht abhängen kann. Translationsinvarianz und Linearität führen also zu Faltungsintegralen, und diese wiederum erfreuen sich an Fourier.

(12.68)

denn f ' (x) j J d y S(x - y) f '(y) = - J d y f ( y )dv S(x - y)

i J d y S ' ( x - y) f(y) qed. (12.70)

K ( x + b , y + b) = K(x,y) rx K(x,y) = K{x - y) . (12.71)

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230 K a p it e l 12: F o u r ie r - T r a n s f o r m a t io n

Wie wertvoll all dies ist, zeigt sich, wenn wir beispielsweise die Stromdichte j (?,£) untersuchen, mit der ein Medium auf ein elektrisches Feld E ( r , t ) ant­wortet, das in ihm herrscht:

7(?, t ) = 7o(r , t )+ Jcßr'Jdt ' g ( r , f '; t , t') E ( r ' , t ' ) + 0 ( E 2) . (12.72)

Hierbei wurde lediglich unterstellt, daß J eine Reihenentwicklung nach Poten­zen von E hat (Vorsicht, es gibt Medien mit exp(-l/ü7)-artiger Abhängigkeit). Weitergehende Annahmen über das Medium vereinfachen nun unsere Formel weiter:

In der Regel fließt ohne Feld kein Strom : Jo(^>£) = 0 Medium isotrop (keine Richtung auszeichnend) : g = 1 • er

und homogen (z.B. kein Fremdatom enthaltend), , ,d.h. räumlich translationsinvariant : cr(r — r ' ;£,£')

und sich im Laufe der Zeit nicht verändernd,d.h. auch zeitlich translationsinvariant : er(r — r' ;£ - t f)

Unter diesen einschränkenden Annahmen (und wenn höhere E -Potenzen ver­nachlässigbar klein sind), führt (12.67) auf

J ( £ , w ) = ?(jfe,w) E ( k , u j ) . (12.74)

Dies ist die Verallgemeinerung von Ohms Regel (4.32) auf den Fall raumzeitlich veränderlicher Felder. Zwar ist er weiterhin eine Funktion, die noch auf mikro­skopische Berechnung wartet. Aber ansonsten sind wir ganz sauber geblieben. Unser Beispiel zeigt, welche Strenge bei Phänomenologie erreichbar ist.

Lösung der Diffusionsgleichung

Das Anfangswertproblem zur Dgl T = D AT ist allgemein lösbar. Das Start- Temperatur-Gebirge T(f ,0) sei bekannt. Die formale Lösung zu dieser Situa­tion haben wir in (10.10) stehen, nämlich

T(r , t ) = e W A T(r ,0) , T ( r ,0) = f d3k el k t T ( k ,0) . (12.75)

Links, dieser Laplace-Operator in der e-Funktion, der ist nur zufrieden (nur so kommt man weiter), wenn er seine Eigenfunktionen zu fressen kriegt. Diese sind trigonometrische von k r , oder ebensogut exp(iA; r). Und darum wurde rechts nach A-Eigenfunktionen entwickelt (Neeiiin, Leute, nicht die e-Funktion entwickeln wollen. Das hilft gar nichts. Der Operator will befuttert werden!). Trifft nun A auf ein exp(iA; f ) , so ersetzt er sich durch den Eigenwert — k2. Und das wars dann schon:

T (r, t ) = ( ± ) 3J d * k e~DkHei k t f ( k , 0) (12.76)

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1 2 .3 A n w e n d u n g s b e i s p i e l e 231

Zu jeder konkreten^ Vorgabe kann man sich T ausrechnen. Aber man kann ja auch allgemein T durch T( r , 0) ausdrücken, nämlich per Fourier-Umkehr- Formel (12.51). Dann wird — man sieht es — (12.75) zu einem Faltungs­integral. Der Kern K ( r — r \ t ) unter diesem Integral läßt sich sogar explizit auswerten. Sei U(t) der lineare Operator, der Zeitentwicklungs-Operator, der diesen Kern hat, dann schreibt sich das Resultat wie folgt:

T(?, t ) = U(t )T(r ,0) , ^ ( f , t ) = ( i - ^ ) 3/2e-4fc--2 . (12.77)

Beim Nachrechnen von (12.77) hilft übrigens die Erkenntnis, daß das d3k- Integral faktorisiert, nämlich in drei solche von (12.41) zu a = Dt.

Lösung der ID Wellengleichung

Wir kennen die allgemeine Lösung schon: (10.17). Hier wollen wir nur sehen, wie sie mit Fourier erneut herauskommt, nämlich über raumzeitliche Transfor­mation:

n - c2n" = 0 , n(X)t) = j dk du n(k,uj) elkx~lujt ,

[ — u j 2 4- c|fc2 ] n = 0 rv n = a(k) ö ( u j — csk) + b(k) ö ( w 4- csk) . (12.78)

Diese Schluß weise ist es, die es hier zu begreifen gibt. Entweder ist n Null oder die eckige Klammer ist es. An diesen Klammer-Nullstellen lassen wir Delta- Zacken beliebiger Stärke zu (Motto xö(x) = 0) und überzeugen uns davon, daß dies in Ordnung geht:

n (x,t) = ( ~ ) 2J d k a(k) e'k(x~°st) + j d k b(k)e'^x+Cst = (10.18)

Fourier-Transformation —> Fourier-Reihe

f { x ) - f { x + L) = 0 , ± J d k eikx [l - eikL] f(k) = 0 , [ ] / = 0

f ( k) = X ! 27rc« s ( k - , }{x) = °n e'n^ x ■ (12.79)n n

Die M axwell-Gleichungen in der Unterwelt

Hätte Jean Baptiste Joseph Fourier (1768-1830) die linearen Gleichungen (11.1- 4) noch erlebt, dann wäre ihm das folgende Vergnügen zuteil geworden. Wirentwickeln alle f-^-abhängigen Funktionen (JE7, B, q, jf) gemäß (12.52). Der Operator dt wandert unter das Integral bis an die e-Funktion und kann dort durch —io; ersetzt werden. Die Operationen div und rot scheinen hingegen vor der vektoriellen f-unabhängigen Fourier-Transformierten hängenzubleiben:

V | * | E e, k * = j Xj i?=i fcjXjj!? ei k * . (12.80)

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232 K a p it e l 12: F o u r ie r - T r a n sf o r m a t io n

Auch Nabla kann also ersetzt werden, nämlich durch i k . Der Koeffizientenver­gleich besteht nun wieder darin, überall die Integrale und die ebenen Wellen wegzulassen. Es geht im Kopf, und das ist fein:

V —y i k , dt —y —io; rx (12.81)

i k • E = — q , i k • B = 0- 60 - -* - 1 -* i o , - (12-82)

i k x E = iuj B , i k x B = -=— j ----^ E .c2eo c2

Die „Spiegelbild“-Maxwell-Gleichungen in der Fourier-Unterwelt sind also rei­ne Vektorgleichungen. Wir haben keine Zweifel mehr daran, daß man sie zu gegebenen Quellen allgemein lösen kann. Das Resultat war ja bereits notiert:(11.28). Es ist lediglich der bewußte Rahmen dieses Buches, der uns von der entsprechenden, ein wenig mühsamen Rechnung abhält. Falls sich ein unbeirr­barer Leser unverzüglich an diese Arbeit heranwagen sollte (indem er zunächst Skalar- und Kreuzprodukte von i k mit (12.82) bildet), dann sei ihm ein guter Rat mit auf den Weg gegeben. Er füge vorweg in der vierten Maxwell-Gleichung einen infinitesimalen Reibungsterm e E hinzu (e —>• +0). Dieser sorgt dann dafür, daß vom Rand des Weltalls her keine einlaufenden Kugelwellen bis zu uns Vordringen und sich darum nur die kausale Lösung (11.28) ergeben kann. Viel Erfolg und gute Wünsche.

Elektrostatik aus der Unterwelt

Daß und wie die Unterwelt-Maxwells funktionieren und welche Schwierigkeiten der Aufstieg in die Oberwelt bietet, läßt sich recht gut bereits am elektro­statischen Spezialfall erkennen. Wir erwarten, daß sich dabei eine neuartige Herleitung von (8.55) oder (8.67) ergibt. Gemäß (12.82) bilden die beiden Glei­chungen

i k - E ( k ) = — e und i k x E ( k ) = 0 (12.83)£0

den Ausgangspunkt. Das Skalarprodukt von i k mit der zweiten Gleichung gibt Triviales, aber im Kreuzprodukt mit i k wird es möglich, die erste Gleichung einzusetzen:

i k x ( i k x E ) = i k ( i k - E ) + E k2 = i k — q + E k2 = 0£o

rv E ( k ) = - ß ^ e ( k ) . (12.84)

Das war die Lösung des Problems (!). Keine Klimmzüge waren nötig und keine Verifizierungen. Es folgt „nur noch“ der Aufstieg in die Oberwelt:

^(7) = _(^)3 s _ W) ~

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12 .3 A n w e n d u n g s b e is p ie l e 233

r k&YJ

- i f d' r ' K , f ~ e'y ] '(12.85)

—ikru _ 2 sin(fcr) k rJ - i

J \ r ) = — f dk cos (kr) = — f dk elkr = 26(r)

(12.86)

Hiermit folgt nun tatsächlich die Integral-Formel (8.55) für </>(r). Die Unter- welt-Maxwell’s (12.82) stimmen und funktionieren. Wenn man einmal von den rein technischen Details bei den Integrationen absieht, dann handelt es sich um eine sehr klare Herleitung von (8.55) bzw. des Coulomb-Potentials, welche von vornherein auch die zweite Maxwell-Gleichung berücksichtigt. Die Bedingung, daß die Felder im Unendlichen verschwinden, wurde per Fourier- Gebrauch automatisch einbezogen.

G ru p p en — und Phasengeschw indigkeit

Dieser Abschnitt wird seine Tücken haben. Wenn man die Worte Schallwelle, Licht welle oder Wasser welle hört, dann erscheint wohl als erstes die Funktion cos(k r —ut) vor dem geistigen Auge und sodann ein Vorfaktor, der ein Dichte- Unterschied, ein transversaler Vektor oder eine Höhe über Normalnull ist. In der Wirklichkeit ist jedoch keine Welle genau harmonisch, eben, räumlich un­endlich ausgedehnt und zeitlich ewig. Sie hat Anfang und Ende. Zum Beispiel möge sie wie der „Elefant“ von Bild 12-6 aussehen. Wie schnell sich ein Ele­fant fortbewegt (G ruppengeschw indigkeit), ist eine ganz andere Frage als jene, wie schnell ihm dabei eine Gänsehaut über den Bauch läuft (Phasenge­schwindigkeit) .

Offenbar bedürfen diese beiden Geschwindigkeiten einer genaueren Definition. Ein realer Elefant (z.B. ein zweidimensionaler aus Pappe) hätte eine lineare

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234 K a p it e l 12: F o u r ie r - T r a n s f o r m a t io n

Bild 12-6: Wellenzug mit Gruppengeschwindigkeit (Elefant) und Phasengeschwindigkeit (dessen Gänsehaut)

Massendichte a(x,t). Beim 2D Elefanten ist dies die über y integrierte Mas­se pro Fläche. Als „Mitte“ dieser Funktion würde man per definitionem den Schwerpunkt R(t) = Jdx xa(x, t ) / Jdx a(x,t) wählen und sodann nachsehen, wie schnell er sich fortbewegt: Gruppengeschwindigkeit vg(t) := dtR(t) . Wenn es sich jedoch, wie in Bild 12-6, bei der gegebenen Funktion um die Amplitude einer Welle handelt, dürfen wir neu und unbeschwert darüber nachdenken, wie man dieser eine „Massendichte“ zuordnen könnte. a(x,t) = f (x , t ) wäre eine unglückliche Definition, weil dann eine bei negativen x konzentrierte Funktion mit negativen Werten eine Mitte hätte, die auf dem positiven Teil der rr-Achse liegt (ganz woanders also). Was mit Schall- oder Lichtwelle tatsächlich trans­portiert wird, ist Energie, und diese ist proportional zum Quadrat der Am­plitude (s. z.B. (11.26)). Also setzen wir er = / 2, oder vorsichtshalber gleich er = | / | 2, und schreiben

„Mitte“ von / := (x) mit (...) := ^ ^ - (12.87)

Gruppengeschwindigkeit = vg(t) := dt (x) j . (12.88)

Zu jeder Funktion /(rr, ), welche sogar komplexwertig sein kann, läßt sich also die Gruppengeschwindikgeit (12.88) ausrechnen, wenn nur (für alle betrachteten Zeiten t) die Integrale in (12.87) existieren, (x) nennt man auch E rw artungs­w ert von x. In der Quantenmechanik ist er der mittlere Orts-Meßwert eines ID beweglichen Teilchens mit Zustandsfunktion / . Die Zahl (x) hängt gemäß (12.87) von einer Funktion ab: sie ist ein Funktional. Mit welcher Funktion sie zu bilden ist, sollte mit einem Index an ( ) angegeben werden, wie in (12.88) geschehen. Mindestens aber vergesse man nie, sich diesen Index hinzuzudenken, damit die leider sehr übliche Bezeichnung (12.87) keinen Schaden anrichtet.Bis hierher ist alles ganz klar. Die Bildung (12.88) ist ein solider Ausgangs­punkt, läßt aber Fragen offen: wie schnell fliegt denn nun die Mitte etwa eines Schall-Wellenzuges durch einen festen Körper, über den man ansonsten alles weiß? Hierzu sind Kenntnisse über das Medium erforderlich, in dem die Welle propagiert. Die folgenden zwei Annahmen werden uns weiter helfen:

1. Das Medium erlaube Superposition beliebiger zwei Wellen. Bei Schall im Festkörper läßt sich diese Annahme nur im Grenzfall kleiner Amplitudenrechtfertigen.

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12.3 A n w e n d u n g s b e is p ie l e 235

2. Das Medium ermögliche ungedämpfte harmonische stehende Wellen (eben, unendlich ausgedehnt, Wellenlänge A, k := 2tt/X) und weise ei­ner jeden eine bestimmte Kreisfrequenz u(k) > 0 zu.

Die Funktion u(k) ist Charakteristikum des Mediums und heißt S pek trum der Schallwellen. Im allgemeinen ist u(k) ^ const, und die Wellengleichung gilt nicht. Annahme (ii) erlaubt, auf die Frequenz laufender Wellen zu schließen:

2 cos ( kx -f cos (u(k)t 4- ß'j = cos (kx - u(k)t 4- a - ß'j

4- cos (kx + u(k)t + a + ß j . (12.89)

Zur Zeit t = 0 und bei x = 0 hat der erste Term die Kosinus-Phase a — ß . Damit man stets diese Phase sieht, d.h. damit ständig kx — u(k)t = 0 ist, muß man neben der Achse herlaufen, und zwar nach rechts (bzw. nach links beim zweiten Term). Eine harmonische Welle obiger Form hat also die

Phasengeschwindigkeit = uph (k) = ± — . (12.90)

Licht durch Vakuum hat die spezielle angenehme Eigenschaft, daß Wellen aller Frequenzen wegen w = ck die gleiche Phasengeschwindigkeit haben, nämlich vph = c . Ist die Wellengleichung für Schall einigermaßen gut erfüllt, dann ist auch „einigermaßen“ uph « cs .

Wir folgen nun der abenteuerlichen Idee, auch die Gruppengeschwindigkeit vg könne mit dem Spektrum u(k) in einem direkten Zusammenhang stehen. Nach Annahme (i) können wir rechts- und linkslaufende Wellen aller Wellenlängen und beliebiger Stärken und Phasen addieren:

f (x, t) = r(x,t) 4- t{x, t) , r(x,t) = J dk a(k) cos (kx - uj(k)t 4- a(k)^j

£(x,t) = j dk b(k) cos (kx 4- u(k)t 4- ß(k)^j . (12.91)

Die hierin vorkommenden Funktionen w, a, a, b, ß von k haben nur positives Argument. Bei negativen Argumenten dürfen wir sie eigenmächtig festlegen. Mit

a(—k ) := a(k) , uj(—k) := —uj(k) , a(—k) := —a(k) (0 < k )

bekommt der allgemeine Rechts-Läufer ein so angenehmens Äußeres,

r (rr, t) =f ^ J dk a(k) cos (kx - u t 4- a) = i J dk a(k) e1 kx~u;(k)t+a(k) ]

7r a(k) ela^ =: r(k) , r(—k) = na(k)e~lot = r*(k)

== f d k r ( k ) e ^ kx~u^ , (12.92)27T J

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236 K a p i t e l 12: F o u r i e r - T r a n s f o r m a t i o n

daß wir es nun wagen, seinen Erwartungswert (12.87) auszurechnen. Den Nen­ner f dx \r\2 kürzen wir vorübergehend mit N ab und beginnen mit dem Zähler:

N-(x) j ( i - ) 2 J d x J d k r*(k)e~ihx+iu t x Jdq F

== ( l ) 2J d k r*(fc)ei" « ‘ Jdq r(«)e","W‘ J d x e~ikx( - idq)eiqx

i= —idq2w 6(q — k)

== J d k r {k )e '“W Jdq S(q - k)\dq [F fa je ""^ 4]

= f dk r*(k)idkr(k) + t f dk \r(k)\2u 1 (k) . (12.93) 27T J 27X J

Um auch den Nenner N zu erhalten, lasse man in obiger Rechnung überall den Faktor x weg bzw. dessen Effekt (Suchbild!). N ist also zeitlich konstant. Gemäß (12.93) verändert sich also der Ort (x) des Schwerpunktes linear mit der Zeit. Folglich hängt die Gruppengeschwindigkeit, man staune, nicht von der Zeit t ab:

- ■ = - <“w > ' ■ (i2-M)Mit dem Resultat (12.94) sollten wir sehr zufrieden sein, co'(h) ist eine gerade Funktion von k (und |r |2 ebenfalls). Wenn uj(k) monoton anwächst, ist uj’(k) positiv und somit auch vg (wenn nicht, dann nicht unbedingt). Falls das Medi­um einen größtmöglichen Wellenvektor kmax hat (bei Schall im Festkörper ist es so), dann setzen wir für k > kmax einfach r = 0, und alles bleibt richtig. Mit der Faktor-Funktion r(k) drürfen wir spielen. Wenn sie ein scharfes Maximum hat und jenseits desselben rasch auf Null abfallt, dann kann man näherungs­weise die in der Regel schwach variierende Funktion ujl(k) an der Stelle des Maximums vor das Integral ziehen. Alles, was das Spektrum an u/(A;)-Werten zu bieten hat, läßt sich also als Gruppengeschwindigkeit realisieren. Dies recht­fertigt nicht den Spruch „Die Gruppengeschwindigkeit ist die Ableitung von u j 11

— man hört oder liest ihn leider oft. Er gilt nur im genannten Grenzfall, und das Wörtchen „ist“ macht den Skandal.Licht durch Vakuum (aber nicht durch Medium) ist auch hinsichtlich (12.94) ein exzellenter Spezialfall, denn zu uj = ck wird u'(k) konstant = c und wandert darum vor das Integral: vph = vg = c .

Für die Linksläufer ergibt sich völlig analog das Negative von (12.94). Nun fällt allmählich auf, daß wir uns bisher feige um den allgemeinen Fall / = r + £ herumgemogelt haben. Er bringt über

N - ( x ) j = J d x x \r + £\2 = J d x x ^ |r |2 + r*£ + r t + \£\2>j (12.95)

boshafte r-^-Mischterme mit nichtlinearer Zeitabhängigkeit ins Spiel, d.h. In­terferenz zwischen Rechts- und Linksläufern, und macht vg zeitabhängig. Es

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12.3 A n w e n d u n g s b e is p ie l e 237

sei erwähnt, daß die Materiewellen der Quantentheorie nur den r-Term haben und daß darum (12.94) für sie generell gilt. Der Grund dafür ist, daß in der Schrödinger-Gleichung nur die erste Zeitableitung steht.

Kann man „die“ Phasengeschwindigkeit einer bestimmten Welle mit ihrer Grup­pengeschwindigkeit vergleichen? Um eine wohldefinierte Phasengeschwindigkeit zu haben, muß eine Welle (Ausnahme: Licht durch Vakuum) unendlich ausge­dehnt sein. Ist sie unendlich ausgedehnt, hat sie keine wohldefinierte Mitte, und man kann ihre Gruppengeschwindigkeit nicht ausrechnen. Hat sie hingegen ei­ne vernünftige Gruppengeschwindigkeit, dann besteht sie aus vielen Teil-Wellen und hat (im allgemeinen) viele Phasengeschwindigkeiten. Man kann nicht. Es sei denn, r(k) hat (wieder einmal) ein scharfes Maximum bei (k) und man einigt sich darauf (üblich?), uph als die Phasengeschwindigkeit dieser einen Teil-Welle zu definieren. Wohlan, dann kann man doch.

Die Thematik war anstrengend. Es gab Fallgruben und Fußangeln. Wir schrei­ben sie abschließend in eine Zeile:

Vg := dt {x)f t dt {x)r = <«% t o/«*)) * 5 Ä 1 : „ph . (12.96)

Daß die Sache mit Gruppen- und Phasengeschwindigkeit „eigentlich ganz ein­fach“ sei, möge bitte niemand behaupten.

Unschärferelation

Wenn man die rr-Achse dehnt und dabei eine gegebene Funktion f (x) immer breiter macht, d.h. f ( x / a ) zu wachsendem a betrachtet, dann wird wegen

J d x eikx f ( ^ ) = a J d x eikax f (x) = af(ak) (12.97)

die Fourier-Transformierte immer dünner: die k-Achse schrumpft. Bild 12-3 zeigt dies am speziellen Beispiel. Ob nun Funktionen / , die ungefähr „gleich breit“ sind, aber verschiedene Form haben, stets auch ein ungefähr „gleich dünnes“ / haben, bleibt vorerst fraglich. Unsere Beispiele wie etwa (12.38) und (12.41) scheinen allerdings die Regel „ / breit rv / dünn“ auch in dieser Hinsicht zu erfüllen. Also beginnen wir zu spekulieren, es könne vielleicht einen generellen Zusammenhang der Form

/-B reite = ~C°nSt (???) (12.98)/-Breite

geben: wenn ja, mit welcher Konstanten? Diese Spekulation erweist sich als falsch. Es gibt aber, wie wir bald sehen werden, eine kleinstmögliche Konstan­te. Zuvor müssen wir die „Breite“ einer Funktion vernünftig definieren. Die „Mitte“ wurde bereits per (12.87) festgelegt. Ist der Elefant mit Massendichte a(x) besonders „breit“ (bzw. kurz), dann ist sein Trägheitsmoment bezüglich Drehung um eine vertikale Achse durch den Schwerpunkt (x) besonders groß (bzw. klein). Wenn wir dieses Trägheitsmoment (es handelst sich um /f3 iir

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238 K a p it e l 12: F o u r ie r - T r a n s f o r m a t io n

(6.26)) noch durch die Gesamtmasse teilen, dann muß ein gutes Breite-Maß entstehen. Da es so die Dimension einer quadrierten Länge hat, ziehen wir die Wurzel:

Die Bedeutung der gewinkelten Klammern (mit „etwas drin“) geht aus (12.87) hervor. Enthalten sie eine Funktion von k , dann tritt diese an die Stelle von u'(k) in (12.94):

Statt „Breite von x “ sagt man üblicherweise Schwankung von x oder x- Unschärfe. Die Bezeichnung Ax ist grausam, hat nichts mit Laplace-Operator zu tun, erfordert Hinzudenken der Funktion, mit der sie errechnet wird (oder ihr Anbringen als Index), und ist ansonsten leider üblich. Gegeben^ f (x), dann können wir der Reihe nach die Zahlen (x) und Arr, die Funktion f (k) und die Zahlen (k) und Ak ausrechnen. Gegeben alle unendlich vielen Funktionen f (x) (für die die beteiligten Integrale existieren), dann können wir nachsehen, wel­chen kleinsten Wert das Unschärfe-Produkt (Ax) • (Ak) annimmt. Antwort: den Wert 1/2.

Wie kann man das beweisen? Zuerst vereinfachen wir das Problem. Wenn man f (x) auf der z-Achse verschiebt, dann behalten sowohl Ax als auch Ak ihren Wert — eine hübsche Im-Kopf-Übung für den Leser. Zur Untersuchung des Produktes genügen also Funktionen mit (x) = 0. Überdies genügen jene mit (k) = 0. Auch über die „Höhe“ von / , d.h. über einen Vorfaktor, dürfen wir verfügen, z.B. so, daß Jdx \f(x)\2 = 1 wird. Mit diesen Vereinfachungen ist

Der folgende Vierzeiler, eine partielle Integration und die Identität dxx — xdx =1 enthaltend,

ist (a) richtig, (b) kurz, (c) er beweist (12.101) und (d) er antwortet auch auf die Frage, für welche Funktionen das Gleichheitszeichen zutrifft. Da nämlich aus 0 = / | . . . |2 zwingend | .. . | = 0 folgt, gilt für diese Funktionen

(12.99)

(12.100)

(12.101)

( M ) 2 = h j d k r { k ) k 2 f { k ) = j d x r { x ) ( _ ö 2 ) f { x ) = : ^ • ( m 0 2 )

0 < [ (Ak) x + (Arr)dx ] f |

== J d x (Ak) x - (Ax) dx j [ (Ak) x + (Arr) dx j /

== (Ak)2 (x2) + (Ax)2 { - d 2x) - (Ak)(Ax)

== 2(AJk)(Aa;)[(AÄ:)(Aa;)-i] , (12.103)

(Ak) x f + ( A x ) f = 0 , ax ln(/) = - — x , / = Ae~x^ Ak^ 2Ax . (12.104)

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1 2 .3 A n w e n d u n g s b e is p ie l e 239

Da schließlich (x ) ^ 0 und (k) / 0 wieder zugelassen werden kann, gilt

(Ax)f(A ifc)/ = i genau für f ( x ) = A e iaxe~^x- ^ 2 , (12.105) z

d.h. für alle Gauß-Funktionen beliebiger Höhe, Breite und Zentrierung und mit z-linearem Phasenfaktor.

Allzu gern wird (12.101) in grob qualitative Argumente folgender Art umge­setzt: „Diese Funktion / ist aus Wellenzahlen aus ungefähr dem und dem (Ak)- Intervall zusammengesetzt, also hat sie ungefähr die Breite 1/(Ak)“. Hier ist Vorsicht geboten. Wir vermissen insbesondere das Wort „mindestens“. (12.101) ist nur eine Ungleichung. Die linke Seite von (12.101) kann den Wert 2937145 haben, und es ist kein Problem, eine entsprechende Funktion zu konstruieren: man nehme eine Kamelhöcker-Funktion und ziehe die beiden Buckel auseinan­der.

In der Literatur über, unter und neben der Quantentheorie wird oft viel Auf­hebens um die Orts-Impuls-Unschärferelation gemacht. Mit dieser ist (12.101) tatsächlich identisch — man hat dazu lediglich (12.101) mit h zu multipli­zieren, den „Impulsoperator“ —ihdx ins Spiel zu bringen und anders über das Resultat zu sprechen. Jedoch spielt sie dort, weil nur Ungleichung, eine eher untergeordnete Rolle. Sie war historisch von großem Wert. Heute können wir es besser.

Bei all den Vorzügen, die der vierzeilige (12.101)-Beweis hat, hinterläßt er doch ein unangenehmes Gefühl: die Beweis-Idee fiel vom Himmel. Statt dessen wäre ein Verfahren wünschenswert, das geradewegs auf obige Dgl führt, d.h. auf eine Dgl für jene Funktion, für welche ein gegebenes Funktional minimal wird. Das gibt es und steht im nächsten Kapitel.

Felder pflegen den ganzen Raum zu erfüllen. Nie hören sie irgendwo total auf (von Modellen abgesehen) und ihre potenzartig oder exponentiell abfallenden Schwänze reichen bis nach Unendlich. Daß die Fourier-Transformation (falls anwendbar) danach verlangt, den ganzen Raum und/oder die ganze Zeit ein­zubeziehen, ist also ein besonders lobenswerter Zug an ihr. Sie verlangt nach Wahrheit.Werner Heisenberg soll sinngemäß einmal gesagt haben, in seinem Leben habe er „von dieser ganzen Mathematik eigentlich nur die Fourier-Transformation gebraucht“. Hübsch. Aber manchen Sprüchen sollte ein Foto beiliegen, um das gewisse Lächeln genauer ergründen zu können. Wer weiß, vielleicht enthält obiger Spruch auch einen Seitenhieb auf eine gewisse studentische Psychose, die sich dahingehend äußert, daß nichts angefaßt wird, wovon nicht vorher klar ist, ob es existiert. Indem man z.B. den Erwartungswert „anfaßt“ und ihn im konkreten Fall auszurechnen versucht, wird klar, ob er existiert. Bekanntlich erfordert Natur-Verstehen, daß sehr sauber gearbeitet wird. Ein Putzteufel

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2 4 0 K a p it e l 12: F o u r ie r - T r a n s f o r m a t io n

jedoch, der versteht gar nichts mehr. Weshalb das Fourier-Kalkül häufig auf Hemmschwellen trifft, bleibt ein Rätsel.

Es gibt kein Verfahren, mit dem man alles machen kann. Gäbe es dies, dann hätten wir zu lernen, es zu beherrschen. Es wäre vielleicht sehr vielschichtig und würde unendlich viele „Unterwelten“ enthalten. Der entsprechende Lernprozeß würde weit über ein Lebensalter hinausreichen, und man würde ihn in Por­tionen aufteilen: erste Unterwelt im ersten Jahr. Bei Schwierigkeiten mit der Machbarkeit treten heutzutage gern Leute mit unverhohlener Freude auf den Plan. Gewiß, die Diskrepanz zwischen intellektueller Fähigkeit der Menschen und ihrer Bindung an biologisch erworbene Verhaltensmuster ist unüberseh­bar. Aber der Zeitpunkt, ab dem die wünschbare Balance einzuhalten gewesen wäre, dürfte Hunderte oder Tausende von Jahren zurückliegen. Heute gibt es nur noch die Flucht nach vorn: den Weg der Aufklärung, den der Beherrschung der menschlichen Anlagen durch Einsicht in Zusammenhänge und den der Be­scheidenheit (einer Spezies unter vielen bewundernswerten Tieren). Es gibt Hoffnung. Sie erwächst daraus, daß wir die Harmonie von Natur und Mensch denken können. Mit einem Zehntel der heutigen Anzahl Erdenbürger mag sie möglich sein.

Konrad Lorenz [Der Spiegel Nr. 45, 7. November 1988] :„Die Triebausstattung des Menschen krankt daran, daß sie eine solche Hemmung [die Umwelt auszubeuten] nicht enthält. Seid fruchtbar und mehret euch, nehmet die Welt und machet sie euch untertan — das sind die Lehren die der Mensch bekommt, und sie sind allesamt Lügen.“

Aurelio Peccei [Die Zukunft in unserer Hand (Molden, Wien, 1981)] :„... doch sind all diese Erfolge auf Treibsand gebaut, und je mehr der Mensch fortschreitet, um so tiefer versinkt er im Sand. Die wichtigste Frage lautet daher: Kann der Mensch den Teufelskreis erkennen, in den er geraten ist, und die äußerste Anstrengung unternehmen, aus ihm auszubrechen, bevor es zu spät ist? Denn er muß einen großen qualitativen, d.h. kulturellen Sprung machen, um unter den von ihm selbst geschaffenen, neuen Bedingungen zu überleben.“

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13 Variationsrechnung

Das Variations-Kalkül führt ein eigenwilliges Dasein. Zum einen ist es bei der Formulierung oberster Prinzipien beteiligt (Stichworte: Wirkungsintegral und Lagrange-Funktion). Zum anderen werden seine eigentlichen Fähigkeiten viel zu selten gewürdigt. Wenn alle Hoffnung geschwunden ist, ein Problem vernünf­tig zu behandeln, dann hilft manchmal seine Umformulierung als Variations­problem (es ist wie der Maulesel im unwegsamen Bergland, wo der Mercedes wertlos wird). Näherungs weise lösbar ist ein Variationsproblem, grob gespro­chen, immer.

Eine Maschinerie V[f(x)\, die einem Funktionsverlauf f(x) eine Zahl V zu­ordnet, nennt man Funktional. Wirft man verschiedene Funktionen der Reihe nach in das Funktional hinein, dann kommen der Reihe nach Zahlen heraus, die im allgemeinen voneinander verschieden sind. Man darf fragen, ob es un­ter diesen Zahlen eine kleinste oder größte gibt. Manche Funktionale haben diese Eigenschaft, andere nicht. Wenn es eine kleinste Zahl V gibt, für welche Funktion(en) wird diese erreicht? Das ist (meist) die Fragestellung.

Einfache Beispiele für Funktionale sind das bestimmte Integral (von a bis b) oder der Erwartungswert (12.87). Beide haben weder Maximum noch Minimum und sind somit in Bezug auf obige Frage langweilig. Um das folgende Funktional, in welchem g(x) eine gegebene quadratintegrable Funktion sei, steht es nicht viel besser:

V[f] ■= J d x ( f 2 - 2 f g) = - J d x g2 + J d x (f - g)2 = min . (13.1)

Es macht uns nämlich die Antwort allzu leicht: V hat ein Minimum mit Wert- Jdx g2 bei f(x) = g(x) . Immerhin zeigt dieses Beispiel, daß unsere Frage­stellung Sinn hat. Es versteht sich, daß man hier nur Funktionen „einwerfen“ darf, welche für alle x definiert sind und für welche das Integral existiert. Sol­cherart Einschränkungen des Raumes der erlaubten Funktionen sind die Regel; sie sind meist anschaulich klar und schaffen keine Probleme. Daneben gibt es aber auch „echte“ Einschränkungen, nämlich Nebenbedingungen, und wie man sie bewältigt, wird Beispiel D zeigen.

Einem Funktional kann man unter verschiedenen Umständen begegnen. Das

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242 K a p it e l 13: V a r ia t io n s r e c h n u n g

folgende Schema möge helfen, sie auseinander zu halten:

2Physik -----...> V[f] = min

i 1 3

optimale trial function

Bei Weg 1 sucht man nach dem V -Minimum direkt, indem man (mehr oder weniger systematisch) im Funktionenraum spazierengeht. Beste Funktion ist jene mit tiefstem 'LJ-Wert. Bei Weg 2 wird nach der exakten Lösung gesucht und dazu aus der Minimal-Bedingung eine Gleichung für / gewonnen. Dies ist in der Regel einfach, nicht unbedingt aber das Lösen dieser Gleichung. So kommen uns denn auf Weg 3 allerhand Kameraden entgegen, eine schwere Glei­chung mit sich schleppend, um diese in ein Funktional einzutauschen (Mercedes gegen Maulesel) und um es mit Weg 1 zu versuchen: „Weg 1 geht immer“.

Gleichung für / <-= — Physik

•1 (13-2)i Lösung /

13.1 Testfunktionen (Weg 1)

Das folgende Beispiel ist „echt“, es entstammt nämlich der Quantenmechanik:

W 1 - ß ’ = - • <».3)

Zweiffellos ist dieses Funktional nach unten beschränkt, V ^ 0 , denn sowohl Zähler also auch Nenner sind additiv nur aus Quadraten zusammengesetzt ( / sei reell). Nach oben ist es nicht beschränkt, denn mit steil oszillierender Funk­tion / läßt sich der erste Term beliebig groß machen (ohne daß dabei die an­deren groß werden). Und mit Kamelhöcker-Funktion und Auseinanderziehen der Höcker wird der zweite Term bliebig groß. Das Minimum von (13.3) wird gesucht. Wenn man zu einem gegebenen Funktionsverlauf die vertikale Skala ändert ( / -* A f ), dann ändert sich V überhaupt nicht. Am Minimum von V gibt es also eine ganze Menge Funktionen, die sich allerdings nur im Vorfaktor unterscheiden. Der erste Zähler-Term wird klein, wenn / möglichst horizontal verläuft. Dies aber mißfallt dem zweiten Term; er möchte den Funktionsverlauf möglichst nahe bei Null konzentriert wissen. Ein Kompromiß wird gesucht.

Die gesuchte V -minimalisierende Funktion f (x) hat sicher nur ein Maximum (bei Null) und ist ansonsten so glatt und monoton wie möglich. Die „Schlich­tungsverhandlungen“ konzentrieren sich somit auf ihre horizontale Ausdehnung. Also füttern wir (13.3) mit Ein-Buckel-Funktionen variabler Breite:

f(x] a) = —2-^—2~ (Lorentz) und f ( x ’,ß) = e~^l3x2 (Gauß) . (13.4) Ol —f~ x

Dies sind Testfunktionen, trial functions: „mal sehen, wie tief man dabei mit dem V-W ert kommt“. Nach Einsetzen wird das Funktional zu einer Funktion

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1 3 .1 T e s t f u n k t io n e n (W e g 1) 2 4 3

von a beziehungsweise von ß . Im Lorentz-Fall — die Rechnung ist unerfreulich— ergibt sich

V[f(x-, <*)] = o? + — =■. V{a) , V'(a) = 0

r \ Cüo — 2 4 } ^m in — •

Im Gauß-Fall macht das Rechnen richtig Spaß:

(13.5)

V[f(x-,ß)] =j= (ß2 + 1) = ~{ß2 + l )dß \a ( J d x e ß*2)

-- - {ß 2 + 1)dß]n^ = ß2 ^

-- f + ^ = = V(ß) , V'(ß) = 0 r v ßo = l ,

d ß H ß )

.Io .2f(x; 1) = e _ 2x , y min = V ( \ ) = l .

(13.6)

(13.7)

Es gibt also in beiden Fällen ein Breite-Optimum. Allerdings ist Gauß klar besser: er liefert den kleineren 'LJ-Wert. Es sei nicht verschwiegen, daß wir zufällig auch gleich die exakte Lösung (Gauß nämlich) gefunden haben. War das Zufall? Wir hatten bereits ein so gutes Gefühl und das Funktional war einfach; es war also nicht unwahrscheinlich, eventuell gleich die Lösung zu erwischen.

Die Verallgemeinerung obiger Verfahrensweise liegt auf der Hand. Man denke schwer darüber nach, welche qualitativen Züge die minimalisierende Funktion haben könnte oder sollte. Man parametrisiere diese Eigenschaften (vieles ist erlaubt, aber nur weniges ist gut), setze ein, rechne aus und löse das durch Nullsetzen aller Ableitungen entstehende Gleichungssystem

V[ f {x \ a , ß , ... , 7 )] = : V ( a , ß ... , 7 )

daV = 0 , dßV = 0 , ■■■ , dyV = 0 (13.8)

Dieses Verfahren ist jenen Leuten auf den Leib geschneidert, die gern probieren, spielen, raten und am Objekt lernen. „Weg 1 geht immer“ — aber denkt man sich besonders gute trial functions aus, dann werden z.B. die Integrale schlimm oder das Gleichungssystem will nicht mehr (so ist er nun mal, der Maulesel).

Falls sich der Leser einen Funktionenraum vorstellen kann — etwa aufgespannt durch unendlich viele Basis-Funktionen wie in (12.23) oder (12.50), dann stellt ihm (13.8) die Haare zu Berge. Mit nur endlich vielen Parametern in der trial function kann man nur einen verschwindend kleinen Teil des Funktionenraumes erfassen. Und nur die „beste“ Funktion in diesem Tei/raum kann ermittelt werden. Wenn man bei der Konstruktion des Teilraumes sehr ungeschickt ist, dann kann es einem passieren, daß man nur ein Nebenminimum von V findet (falls es eines hat) oder ein Maximum (wenn man nicht nachsieht, ob die V~ Werte ringsum größer sind) oder einen Sattelpunkt.

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244 K a p it e l 13: V a r ia t io n s r e c h n u n g

13.2 Variation gleich Null (Weg 2)

Ab sofort sei mit dem Buchstaben / die Funktion (oder die Teilmenge von Funktionen) gemeint, bei der das Funktional V seinen Minimal wert Vo an­nimmt. Andere Funktionen schreiben wir als f (x) + rj(x). In unmittelbarer Umgebung des Minimums, d.h. für infinitesimal kleine Abweichungsfunktion tj,

wächst V an. Und zwar wächst V - Vo quadratisch mit tj an, denn gäbe es einen linearen Term, dann würde rj -* - tj z u V - Vo < 0 führen. Damit kennen wir die Bedingung dafür, daß bei / ein Extremum (Minimum, Maximum oder Sattel) vorliegt. Wir suchen nach einer Gleichung für / und dürfen nun hoffen— auch aus Gründen der Analogie zur Minimum-Suche einer Funktion — , daß sie sich hinter dieser Bedingung verbirgt. Ihre Formulierung ist der erste Schritt: man bilde die V ariation von V und setze sie Null:

SV := V[f(x)+Tj(x)] = 0ri hoch eins

(13.9)

Der Index „ tj hoch eins“ ist ein sehr radikales Waschmittel. Dem Ausdruck V[f(x) + tj( x ) ] soll nämlich nur der Term linear in tj entnommen werden. Man analysiere also V nach Potenzen von tj (an brutale Reihenentwicklung zu denken ist meist nicht sinnvoll), werfe den Term ohne tj weg und ebenso alle höheren //-Potenzen. Erst wenn dies geschehen ist, hat man die Variation gebildet. Und erst dann darf man sie Null setzen. Regeln wie ö V[f] W[f ] = (ö V ) W + V ö W und ög(V[f]) = g'{V)ö V[f] folgen unmittelbar aus der Definition (13.9).(13.9) ist die zentrale Gleichung dieses Kapitels. Um weiter zu kommen, sind offenbar konkrete Funktionale V zu betrachten. Zu unserem Trivial-Funktional(13.1) bildet sich die Variation wie folgt:

SV --= J d x [ { f + rj)2 - 2 { f + rj)g)

== J d x [ f 2 + 2/7/ + Tj2 - 2 f g - 2rjg ] ^ = J dx [2 fr] - 2rjg]

i 2 J dx i}(x)[f{x) — g(x)] = 0 . (13.10)

Der nun folgende Schritt ist typisch für eine ganze Reihe von Fällen. Die Ab­weichungsfunktion tj ist eine beliebige Funktion. Daß sie bisher infinitesimal war, spielt in der letzten Zeile der obigen Rechnung keine Rolle mehr, denn man könnte auf beiden Seiten mit einem beliebig großen Faktor multiplizieren. Wir begreifen, daß für alle rj(x) das Integral nur verschwindet, wenn [/ - g] = 0 ist. Wer zu dieser Schlußweise mehr Detail braucht, der setze rj = e e " lfcl, schließe mittels (12.34) auf f = g und kehre nun zurück in die Oberwelt. Die­ses Argument läßt sich sehr schön folgendermaßen verallgemeinern. Da rj(x) jede Basis-Funktion des Raumes sein kann, hat [/ — g] nur Null-Koeffizienten. Und wer will, fügt noch hinzu: „Und die einfachste Basis, die mir einfällt, ist 6(x - a); den Rest sehe ich im Kopf.“

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1 3 .2 V a r ia t io n g l e ic h N u ll ( W eg 2) 245

F ü n f Beispiele

A Welche kürzeste Verbindung haben die Punkte (0,0) und (a, b) in der Ebene? Wer hat da wieder gelacht?! Natürlich ist eine Gerade die kürzeste Verbindung. Jedoch: „Woher wissen Sie das? Wie kommt das heraus?“. Einfache Beispiele sind nun einmal hilfreich:

V[ f ( x )\ = [ ds = f \Jdx2 + df2' = f dx y/ l + / 12 = min . (13.11) Je Je Jo

Es sind nur Funktionen mit /(0) = 0 und f(a) = b zugelassen. Folglich haben alle Abweichungsfunktionen die Eigenschaft 77(0 ) = rj(a) = 0, und darum hat die partielle Integration in der folgenden Umformung keine Randterme:

i v j £ * . v i + < /• + * ? • ! , , - [ ' d t

/ ' V , „ . ( f

f = Ci x + C2 ; ^ = ~~ X ’ W'8 erwartet' (13.12)

Wenn die Variation an einer „Stelle“ / verschwindet, dann kann dort ein Mi­nimum, Maximum oder ein Sattel vor liegen. Angenommen, weder Anschauung noch der Blick auf das Funktional würden uns verraten, was für ein Extremum gefunden wurde. Dann wäre diese Frage per Rechnung zu entscheiden, nämlich indem man die zweite V ariation bildet:

Ö2V := V [ / ( * )+ !?(*)] (13.13)r/ hoch zwei

Im Falle eines Minimums ist sie für alle r)(x) (außer 77 = 0) positiv, bei Maximum negativ, und bei Sattel nimmt sie (abhängig von der 77-Form) beide Vorzeichen an. Der Leser möge (13.13) zu V aus (13.11) auswerten. Man erhält

1 r a n 1 2 1 / n 2 \ 3 / 2 r a

ö2v = 2 l d x ä T T W = 2 { ^ ) (13-14>

und somit ein Minimum.

B Brachistochrone (Bernoulli 1696). Die Form 2 = - f ( x ) ^ 0 einer reibungs­freien Rutschbahn (beginnen im Ursprung) ist gesucht, auf welcher eine Mas­se 77i (die mit Null-Geschwindigkeit im Ursprung startet) den Punkt (a, - b ) ,0 < a, b , in möglichst kurzer Zeit erreicht. Das Interessante an diesem Problem ist die Frage, wie es zu Papier zu bringen ist:

v = [ dt = [ dt\r\^-= [ d s - = r d x ^ 1 + / ' 2 , , (13.15)

Jo Jo |f | Je v Jo y ^ ~ mgZ)E = 0 , z = - f rx

1 ra \ / i + r 2‘V = yo dx - j j r - , /(0) = 0 , f(a) = b . (13.16)

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246 K a p it e l 13: V a r ia t io n s r e c h n u n g

An dieser Stelle sind wir sicher, daß wir das Problem lösen können, siehe auch (13.21). Das Resultat ist eine Rollkurve oder gewöhnliche Zykloide [.Bronstein].

C W irkungsintegral. Ausnahmsweise bezeichnen wir jetzt die Variable mit t , die Funktion mit x(t) und das Funktional mit S . V(x) sei eine gegebene, bekannte Funktion:

Das ist hübsch. Ab sofort darf nämlich nun behauptet werden, das oberste

funktional S. Das ist eine Zahl. Ganz oben steht also die „Zahl der Welt“. [Landau/Lifschitz] beginnen Band 1 mit dieser Behauptung. Bittesehr, sie dürfen. Auch in 3D gibt es das Funktional, und sein Integrand, die Lagrange- Funktion, ist dann ebenfalls T - V .

„Wer gewinnt denn nun, Newton oder die Wirkung 5?“ — S gewinnt! Gegen so etwas Schönes wie eine Zahl der Welt (koordinateninvariant, eichinvariant und Lorentz-invariant [Kap. 15]) können weder Newton noch Hamilton [Kap. 16] etwas ausrichten. Vom „Königsweg“ (zu den Bewegungsgleichungen) spricht [Sommerfeld, I, Abschnitt 36] und geht dann den Hintergründen nach. Ein Wirkungsintegral gibt es auch zu den Maxwell-Gleichungen, zur allgemeinen Relativitätstheorie, zur Dirac-Gleichung, zur Quantenchromodynamik und zum Standardmodell der Elementarteilchentheorie.

Die zweite Variation zu obigem Wirkungsintegral ist übrigens

Wie antwortet dies auf die Frage nach Maximum, Minimum oder Sattel? Die erlaubten Funktionen 77 sind an den Rändern Null. Wir entwickeln sie in eine Fourier-Sinus-Reihe, konzentrieren uns auf den ersten (hier wichtigsten) Term und erkennen, daß in S2S der ff2-Term dominiert, wenn man nur die beiden Zeiten t\ und £ 2 nahe genug aneinander rückt. Bei nicht zu weit entfernten Rändern hat also die Wirkung S ein Minimum bei der real ablaufenden Bewe­gung x(t). Dies erklärt den Ausdruck „Prinzip der kleinsten Wirkung“.

Bei den drei Beispielen A bis C waren je die Funktionswerte am Rand fest­zuhalten: r}(ti) = rj(t2 ) = 0. Und alle drei Funktionale hatten die folgende Gestalt:

Extremum (13.17)

rt2SS = I dt (

J t 1 Jt 1rx m x = -V '(x ) . (13.18)

Prinzip der klassisch-mechanischen Natur sei (statt Newton) ein Variations-

(13.19)

(13.20)

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1 3 .2 V a r ia t io n g l e ic h N u ll (W e g 2 ) 2 4 7

Der Integrand heißt L agrange-Funktion. Ohne zu spezifizieren, wie sie von ihren drei Argumenten (die wir 1, 2 und 3 nennen) abhängt, läßt sich die Ex­tremwertaufgabe lösen:

SS = j dt (^T)diL + r)d2L^ = J dt rj - dt d\L + d2L ^ = 0

rv dt Ln = L '2 . (13.21)

Das Resultat (13.21), die Euler-Lagrange-Gleichung, haben wir mit Absicht ein wenig unüblich aufgeschrieben. Sie pflegt nämlich Unsicherheiten beim Differenzieren auszulösen. Die Funktion L hat drei Arguemente. Wenn man die Ableitung nach dem ersten bildet, dann entsteht eine andere Funktion von drei Argumenten: daL(a,b,c) = Ln (a,b,c). Jedoch, wie die partielle Integration vor (13.21) zeigt, hat man sich beim Ableiten nach der Zeit t wieder daran zu erinnern, daß in jedem der drei Argumente Funktionen von t stehen. Ganz ausführlich lautet also die linke Seite von (13.21) so: dt Ln (x( t ) , x(t) , £). Differenzieren ist Differenzieren; man wisse stets wonach. Irgendwie klingt das vertraut: siehe Text unter (2.23) und unter (10.23). Übrigens bleibt (13.21) unverändert, wenn man zu L ein totales Differential addiert,

L - > L + dtF , dtF : = d t F ( x ( t ) , t ) , (13.22)

weil dabei in S[z(£)] nur konstante Randterme hinzukommen. Auch ein kon­stanter Faktor an L ist unwichtig.

Bild 1 3 -1 : Variationsproblem mit Nebenbedingung: Dachrinne mit zu optimierendem Fassungsvermögen

D Nebenbedingungen. Eine Dachrinne, die möglichst viel Wasser faßt, soll gebaut werden. Es stehen Blechstreifen der Breite L zur Verfügung. Die ho­rizontale Breite a sei fest vorgegeben (Bild 13-1), und nur noch die Form ist variabel. Wir haben es so einzurichten, daß die Querschnittfläche F möglichst groß ausfällt, —F = : A also möglichst stark negativ wird. Somit suchen wir das Minimum des Funktionais

A [ f ] = [ dx f (x) = min < 0 (13.23)Jo

ra ______ , ,unter der Nebenbedingung M[f) — / dx y/l + / 7 2 - L = 0 . (13.24)

Jo

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248 K a p it e l 13: V a r ia t io n s r e c h n u n g

Ein Kreis dürfte herauskommen (richtig). Viel interessanter ist jedoch, wie man generell Variationsprobleme mit Nebenbedingung in den Griff bekommt. Es gibt hierfür einen Trick, und diesen gilt es zu erfinden.Durch die Nebenbedingung wird der Funktionenraum stark eingeschränkt. Nur Funktionen, die N = 0 erfüllen, dürfen in A eingeworfen werden. Um die Situation irgendwie anschaulich zu erfassen, denken wir uns Funktionen als Punkte der xy-Ebene und tragen ihre A -Werte nach oben auf: Bild 13-2. Der Nebenbedingung entspreche eine Gerade in der xy-Ebene (ohne die Nebenbe­dingung würde es beim Dachrinnen-Fall natürlich gar kein Minimum geben). Wir möchten gern ein neues Funktional V[f] konstruieren, welches den tiefsten Punkt der Schnittlinie als Minimum hat, ohne daß dabei noch eine Nebenbe­dingung den Funktionenraum einschränkt.

Bild 13-2: Das Nebenbedingungsproblem in graphischer Analogie. Wie man den Lagrangeschen Multiplikator erfindet

Also addieren wir zu A einen Term, der Abweichungen von Af = 0 unter Strafe stellt:

v = A + i i N 2 . (13.25)Je größer der Faktor /i, um so näher rückt das V -Minimum an die gewünschte Stelle. Die Idee muß gut sein. Wir lösen also das '^-Problem zu einem großen, noch endlichen Wert von n , erhalten eine minimalisierende Funktion f ß(x) und lassen dann n gegen Unendlich gehen. Sehen wir uns an, wie es dabei zugeht:

S V = SA + 2fiJ\föAf = J dxr}(^///// + 2ßAf • \ \ \ \ \ ) = 0

^ ///// + 2 / ^ • \\\\\ = 0 . (13.26)

Nun empfiehlt es sich, dem konstanten Faktor in dieser Gleichung einen Namen zu geben, 2/xM =: A, und ihn als weitere Unbekannte einzuführen. Simultan zu lösen sind somit die beiden Gleichungen

///// + A • \\\\\ = 0 (*) und AH/] = ^ (#) (13-27)

Sei f (x\ A) die Lösung von (*). Setzt man sie in (#) ein, so wird (#) zu einer Gleichung für A mit Lösung A(fi) . Jetzt erst lassen wird den Parameter n in

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1 3 .2 V a r ia t io n g l e ic h N u ll (W eg 2 ) 249

Gedanken groß werden. Dabei wird sich die Gleichung Af[f(x;\)] = A/(2fi) vereinfachen. Wegen (13.25) wird nämlich M kleiner, A wächst (falls über­haupt) weniger stark an als /z, und die rechte Seite von (#) geht gegen Null. Damit ist der Limes /i -* oo ausgeführt. Wir haben folgendes gelernt. Zu der Gleichung für / (wie sie sich ohne Nebenbedingung ergeben würde) ist, multi­pliziert mit A, die aus der Nebenbedingung resultierende Gleichung (als wäre auch M [/] ein Variationsproblem) zu addieren. A bestimmt sich nachträglich aus der Nebenbedingung N[ f ( x \ A)] = 0. Damit ist der Lagrangesche M ul­tip likator entdeckt. Wir bringen ihn in der folgenden schönen Verpackung auf den Markt:

V[ f ( x ) , \ ]= A[ f ( x ) ] + \Af[f(x)] = min , (13.28)

wobei das Minimum von (13.28) bezüglich aller Funktionen / und bezüglich der gewöhnlichen Variablen A zu suchen ist. Es ist also

ö V = S A + \ Ö A T + (Ö\)/S = 0 (13.29)

zu setzen, woraus die bekannte Gleichung für f (x\ A) und die Nebenbedingung Af = 0 folgen.Im Fall der Dachrinne erhält man die Dgl ( f ' / y / l + / ' 2 )' = 1/A. Sie läßt sich mit bekannten Mitteln lösen. Für jene Lösung, welche die beiden Randbedin­gungen /(0) = f(a) = 0 erfüllt, gilt

( /(* ) - V ^ ~ ~ 7 ) 2 + {x ~ f ) 2 = a2 • (13-3°)

Alle f (x\ A) sind also Kreise mit Radius A. Erst per Af[f(x, A)] = 0 wird nun die vorgegebene Bleichbreite L berücksichtigt. Man erhält daraus sin(L/2A) = aj2A als Gleichung für den Radius A.

E Das Funktional (13.3) hatte uns geholfen, Weg 1 zu verstehen. Jetzt ver­suchen wir seine Minimalisierung in Strenge. Wir hatten gesehen, daß der /-Vorfaktor unbestimmt bleibt. Also dürfen wir ihn durch die Nebenbedin­gung

A/’f/] = 1 - J d x / 2 = 0 (13.31)

festlegen. Mit normierten Funktionen / zu arbeiten ist hier recht praktisch („dürfen“ heißt nicht „müssen“), weil der Nenner in (13.3) entfällt. Mit (13.28) erhalten wir:

V = J d x ( /'2 + x2 f 2) + A (l - J d x / 2)

6V = 2 J d x T)(^~ f" + x2 f - \ f ) + 6 \ ( l - J d x f 2) = 0

H := - d l + x2 rv H f = \ f , J d x f 2 = l . (13.32)

Die beiden Gleichungen (13.32) gehören zusammen und bestimmen sowohl Ei­genfunktionen / als auch Eigenwerte A. Im ersten Moment meint man, -die

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250 K a p it e l 13: V a r ia t io n s r e c h n u n g

Normierung lege nur den /-Vorfaktor fest, den die Eigenwertgleichung ersicht­lich unbestimmt läßt. Damit aber / normierbar ist, muß es nach beiden Seiten abfallen. Der Dgl H f n = \ nf n gefällt dies gar nicht, und so erlaubt sie es nur für spezielle Werte von A (Zitat: A = 1 + 2n mit n = 0 , 1 , 2 , , oo). Der extremale Wert von V an den „Stellen“ f n ist

Man prüft leicht nach, daß Hfo = Ao/o zu Ao = 1 durch / 0 = 7r-1/4e_a:2/2 erfüllt wird und somit zu Vmin = 1 führt. Dies paßt zu unseren trial-function- Er kennt nissen.

Der Leser hat bemerkt, daß wir im Begriff sind, gegen den harten Rahmen dieses Buches zu stoßen. (13.32) ist Quantenmechanik, nämlich die stationäre Schrödinger-Gleichung des ID harmonischen Oszillators (wobei wir hier lj =

2, m = 1/2 und h = 1 gesetzt haben). An sind die Energie-Meßwerte des Oszillators. Daß sie äquidistant liegen, ist seine Spezialität. Wenn man die zweite Variation untersucht, zeigt sich, daß V nur zu Ao = 1 (Grundzustand) ein echtes Minimum hat. Alle anderen Extrema (n = 1,2, . . .) sind Sättel. Das Variationsfunktional (13.3) gilt in der Form für jedes stationärequantenmechanische Problem. Und als auf Weg 1 die Bindungsenergie des Wasserstoffmoleküls ausgerechnet wurde, gab es in der trial function bis zu 13 Parameter.

13.3 Das inverse Problem (Weg 3)

Man schlägt sich mit einer Gleichung herum, kann sie nicht lösen und kommt irgendwann auf die Idee, es könnte doch ein Funktional geben, dessen Minimal­bedingung sie darstellt. Falls man ein solches Funktional findet (d.h. falls es einen Weg 3 gibt), dann wird Weg 1 möglich, „der immer geht“. Man könnte in Weg 3 das wichtigste Anliegen der Variationsrechnung sehen. Jedoch scheint darüber, wie man praktische Funktionale aufstellt, nur wenig Weisheit zu exi­stieren. Es gibt sie nicht zu kaufen — Funktionale ebensowenig wie Maulesel. Sie stehen in der Landschaft und sind nicht selten mit ganz wenig Mühe zu gewinnen. Hat man einmal die Idee, zu einem Problem sollte ein Funktional gefunden werden, schon erinnert man sich an Weg 2 und beginnt ihn rückwärts zu verfolgen.

Falls auch die 3D Newtonsche Bewegungsgleichung aus einem Funktional folgt, dann müßte sie im letzten Schritt aus

gefolgert worden sein. Wie hierzu der vorletzte Schritt aussieht, ist wegen V(r + rj) = V (r ) + T)- W ( r ) + . . . beim zweiten Term des Integranden bereits

(13.33)

(13.34)

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1 3 .3 D a s in v e r s e P r o b l e m (W e g 3 ) 251

klar. Im ersten Term muß zuvor Gleichberechtigung von r und rj hergestellt werden, nämlich via partieller Integration:

Ct2 •• Ct2 • • m Ct2 2- r a I d t r j r = m dt rjr = — 6 I dt r rx S = I dt (T - V) . (13.35)

Jti J ti 2 Jti Jti

Also ist T - V auch in 3D die Lagrange-Funktion.

Alle gewöhnlichen Dgln 2. Ordnung haben ein Funktional. Der Typ y" = f ( x , y ), (13.34) geringfügig verallgemeinernd, ist dabei ein angenehmer Spezi­alfall:

0 = f d x [ - rfy" + T)f(x, 3/)] = f dx [rfy' + F(x, y + rj\ , (13.36) Jo Jo v1

wobei F bezüglich y eine Stammfunktion von / sei: dyF(x,y) = f (x ,y) . Jetzt können wir das gesuchte Funktional erraten:

V[y(x)] = £ dx [ ? £ + F(x,y)} . (13.37)

Als nächstes möchte vielleicht jemand unverzüglich trial functions in (13.37) hineinwerfen. Hier jedoch ist Vorsicht geboten. Damit trial functions zu verläß­lichen Resultaten führen, muß ein „echtes“, d.h. ein absolutes Minimum vor­liegen (nicht nur ein Extremum, und möglichst auch nicht nur ein Nebenmini­mum; falls Maximum, gehe man zum negativen Funktional über). An dieser Stelle beginnen also weitere Betrachtungen (s. z.B. [Bronstein]) mit ungewissem Ausgang.

Besonders angenehm ist der Problem-Typ A f = g, wobei / gesucht wird, g gegeben ist und A ein symmetrischer linearer Operator ist, daß also Af(x ) = f d y K(x,y) f(y) mit K(x,y) = K(y,x) gilt. Hieraus folgt für beliebige zwei Funktionen h, / , daß J h A f = f f Ah ist. Man sieht dies sofort ein, wenn man Funktionen als Vektoren denkt und den Kern als symmetrische Matrix. Aber man kann natürlich auch explizit nachrechnen:

J h A f =j= J d x h(x) J d y K(x , y ) f (y ) = j d y f(y) J d x K(x,y)h(x)

± J d y f (y) J d x K(y, x) h(x) = J f A h . (13.38)

Ein Funktional, das bei A f = g minimal wird, erhalten wir nun folgendermaßen:

A f = g , A 2f = Ag ,

0 j J v (2 A 2f - 2 Ag) = 2 J(A if) {Af) - 2 J{Ar/) g

--= s J ( A f ) 2 - 2 s J ( A f ) g rv

V[f] = J [ ( A f ) - 2fAg] = - j g 2 + J ( A f - g ) 2 ^ - j g 2 . (13.39)

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252 K a p it e l 13: V a r ia t io n s r e c h n u n g

(13.39) zeigt, daß V ein absolutes Minimum hat. Verschiedene Funktionale können ihr Extremum an der gleichen „Stelle“/ haben. Wären wir ein klein wenig anders vorgegangen,

0 = / , ( 2 A f - 2g) rx V[f] = J ( f A f - 2}g) , (13.40)

dann hätte sich ein weniger erfreuliches Funktional ergeben, dessen Extremum- Art unklar ist (solange genauere Angaben über den Operator noch ausstehen). Man sieht übrigens sofort, daß (13.39) auch dann ein Funktional von A f — g ist, wenn A kein symmetrischer Operator ist. Um in diesem allgemeinen Falle(13.39) zu finden, hätten wir als erstes A f — g mit AT zu multiplizieren gehabt (der Kern von AT ist jener von A mit vertauschten Argumenten).

Möge nun eine Gleichung der Form U = 0 identisch in x zu erfüllen sein und U irgendein übler komplexwertiger Ausdruck, welcher die gesuchte Funktion f (x) nichtlinear enthält. Sogar zu diesem allgemeinen Fall haben wir dank (13.39) zumindest noch eine Idee

v i f ] = J \u \2 2 o . (13.41)

Vielleicht hat dieses Funktional wenig praktischen Wert. Aber es existiert. Mit weichen Knien: auch Weg 3 geht immer.Die meisten Überlegungen dieses Kapitels gelten auch für mehrdimensionale Probleme (insbesondere auch für partielle Dgln). Auf Vollständigkeit kam es nicht an, sondern darauf, dieses schöne Kalkül und seinen Wert zu begreifen. Rechtzeitig, wenn die Physik schwer wird, meldet es sich dann selbsttätig ir­gendwo im Hinterkopf.

Der soeben erwähnte „Hinter köpf“ ist eine wundersame Einrichtung. Man hat einen halben Tag lang versucht, ein Problem zu lösen oder in den Griff zu be­kommen. Es war vergebens. Enttäuscht und niedergeschlagen setzt man sich vor den gewissen Schirm oder geht zu Bett. Am nächsten Morgen sieht die Welt ganz anders aus. „Was war das eigentlich gestern für ein grausames Erlebnis?“ Und auf einmal erscheint das Problem recht einfach und überschaubar, oder: auf einmal weiß man, was als nächstes zu tun ist. Der Hinterkopf hat weiter­gearbeitet. Man sollte mehr Vertrauen zu ihm haben. Nur eines ist schlimm: wenn er nichts hat, womit er sich beschäftigen könnte. Hat er nichts, dann tut er nichts.In diesem Buch wird nur äußerst sparsam auf Literatur verwiesen. Ist Studie­ren nicht das Sitzen zwischen Bergen dicker Bücher? Soll man Bücher (außer diesem) etwa meiden ? Die Antwort ist nicht einfach. Wer in der Woche zwan­zig Stunden Vorlesungen hört, dabei also rein rezeptiv arbeitet, dessen Gemüt braucht Ausgleich in aktiven Tätigkeiten. Ein wenig erfreulicher läßt sich be­reits die Nachbereitung des Stoffes gestalten. Aber der eigentliche Ausgleich

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1 3 .3 D a s in v e r s e P r o b l e m (W e g 3) 253

liegt natürlich in der eigenen Auseinandersetzung mit Übungsaufgaben. Wir sind nun bei etwa vierzig Stunden. Vorbereitungen und verschiedene Reibungs­verluste bringen auf fünfzig. Man ist müde. Zwischen zwei Vorlesungen schafft man den Weg zur Bibliothek. Von fünf empfohlenen Büchern sind zwei zu haben. Später in der Straßenbahn blättert man ein wenig, z.B. im [Berkeley, Bd. 3], liest Titel, sieht flüchtig ein paar Abbildungen — „Diese Fourier- Transformation scheint hier ja völlig mit Physik durchsetzt zu sein“. Zum genaueren Lesen kommt man dann nicht mehr, und das Buch wandert zurück in die Bibliothek. Lieber Leser: (auch) das ist normal! Sie kennen nun das Buch bezüglich Aussehen, Gewicht und Gefühlseindruck. Lange Zeit später bei einer speziellen Frage zu Fourier erzählt Ihnen der bewußte Hinterkopf, daß man eigentlich mal im [Berkeley, 3] nachschauen könnte. Es war also nicht umsonst.

Anders liegen die Dinge in semesterfreien Zeiten. Jetzt muß man nicht, man darf. Grob gesprochen alles, was Menschen an Wertvollem hinterlassen ha­ben, ist aufgeschrieben oder aufgemalt oder auf Band. Man habe ein paar einschlägige Bücher — „Wer weiß, vielleicht packt es mich noch“. Bleistift und Papier sind dann erforderlich — und Zeit. Auch hier gilt, daß man sich nicht entmutigen lasse, wenn die Vorsätze etwas zu hoch angesiedelt waren.

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14 Wahrscheinlichkeiten

Das riesige Gebiet der Statistischen Physik nimmt seinen Ausgang bei einigen wenigen, einfachen und vergnüglichen Überlegungen zum Würfel, zum Münze- Werfen und zum Zahlenlotto. Überträgt man sie auf ein Gasteilchen, dann erfin­det man mehr oder weniger zwangsläufig ein Maß für warm und kalt und nennt es „Temperatur“. An der Stelle, an der wir die Richtung erkennen können, in der sich alles über Temperatur-Physik erarbeiten läßt, wird auf den „Rahmen dieses Buches“ zu verweisen sein.

Wer sich nach den Anstrengungen der vergangenen 13 Kapitel eine gewisse Be­ziehung zur Natur-Mathematik zuspricht, der möchte wohl auf das Ansinnen, über Wahrscheinlichkeit nachzudenken, mit Empörung reagieren. „Haben wir nicht ständig an der Erkenntnis gearbeitet, daß alle (alle!) Vorgänge aufgrund einheitlicher oberster Prinzipien erklärbar und präzise vorhersagbar sind? Daß ich die letzte Übung richtig habe, mag eine Wahrscheinlichkeit von 97% haben. Daß am 30. Mai die Welt untergeht, ist unwahrscheinlich. Physik ist doch nicht ,Blinde Kuh!’ “ In der Tat gibt es im folgenden auf der grundsätzlichen Seite des Natur-Verhaltens nichts Neues zu lernen. Die Teilchen in einem Kasten mit Gas oder Badewasser folgen (quanten)mechanisch-elektromagnetischen Grund­gleichungen. Das wissen wir. Aber die Anfangsdaten der beteiligten z.B. 1025 Teilchen kennen wir nicht. Wir müssen lernen, mit Unkenntnis zu leben. Die Frage ist, was für Aussagen zu gegebener Unkenntnis möglich sind. Was je­ner starre Körper in einem ledernen Würfelbecher treibt, bleibt weitgehend im Dunkel. Was dann aber auf dem Tresen zum Vorschein kommt, ist zu einem Sechstel von 100% eine Eins. Um einfache Beispiele für „gegebene Unkenntnis“ zu konstruieren, können wir uns also der (ansonsten belanglosen) Möglichkeit bedienen, Unkenntnis künstlich herzustellen. Wir verdunkeln absichtsvoll: doch „Blinde Kuh“!

14.1 Wahrscheinlichkeit ist meßbar

Wahrscheinlichkeiten werden auf eins normiert. Hat man eine Prozentzahl im Kopf, wie z.B. obige 97% für „Übung richtig“ und 3% für „Übung falsch“, dann teile man sie durch 100:

Prichtig == 0, 97 , falsch = 0,03 .

Andernfalls hätten wir einen schwachen Stand, wenn jemand bei halbe-halbe von „45 Grad“ redet oder wenn er die Sicherheit eines Ereignisses mit „90 Zentner“ kommentiert. Der Buchstabe p wird gern benutzt, weil er probability

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1 4 .1 W a h r s c h e in l ic h k e it is t m e s s b a r 2 5 5

abkürzt. So, wie die Summe aller Ereignis-Prozentzahlen 100 zu ergeben hatte, muß nun die Summe aller p-Wahrscheinlichkeiten 1 sein:

(14.1) muß erfüllt sein; andernfalls hat man sich verrechnet, oder die Objekte pu können nicht als Wahrscheinlichkeiten gedeutet werden. Mitunter verwen­det man (14.1), um ein letztes noch unbekanntes p zu bestimmen. Die Wahr­scheinlichkeiten bei Münzwurf sind p\ = po = 1/2. Ein idealer Würfel hat P i = P2 = • • • = Pe = 1/6. Ein „gezinkter“ Würfel (Magnet eingebaut, Garten­tisch aus Blech) habe p\ — ... = ps = 1/10; also fällt die 6 mit Wahrscheinlich­keit pe = 1 — 5 * (1/10) = 1/2. Was könnte man tun, um herauszufinden, ob ein Würfel gezinkt ist? Man würde drei Wochen lang würfeln, dabei eine Strichli­ste füllen, schließlich die Anzahl Nq der Sechsen durch die Gesamtzahl N der Würfe teilen und behaupten, das sei pe. „Zufall“, sagt der Würfel-Eigentümer, woraufhin wir uns zu weiteren drei Wochen veranlaßt sehen:

(14.2) zeigt, wie man die Wahrscheinlichkeit pu eines Ereignisses v experimen­tell ermitteln kann. Es ist dabei egal, ob man einen Würfel nacheinander N mal bedient, oder ob man sich N gleich gebaute Würfel zuvor in eine Reihe legt: Anzahl Würfe = Anzahl Würfel. Allgemein müssen die Umstände ei­ner einzelnen Messung reproduzierbar sein, d.h. das System muß stets erneut „gleich präpariert“ werden (Würfelbecher stets stark schütteln). Fazit: pu ist meßbare Größe. Die Mühsal der Experiment-Durchführung unterstreicht le­diglich den Wunsch, pu auch ausrechnen zu können. In aller Regel kann man das, nämlich aufgrund der Kenntnis der unterliegenden first principles. Daß die Limes-Prozedur (14.2) funktioniert, ist uns im Moment gefühlsmäßig klar (siehe jedoch unten).Mit idealem Würfel erhält man eine Zahl größer als 4 mit der Wahrscheinlichkeit p5 + p 6 = 1/3. Das seltene Glück, zwei Sechsen hintereinander zu werfen, wird einem mit der Wahrscheinlichkeit pe - pe = 1/36 zuteil. Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß bei zwei Würfen mindestens eine 6 dabei ist, ist kleiner als 1/3, nämlich (1/6)-1+(5/6) *(1/6) = 11/36. Es lohnt sich nicht, unter großer verbaler Anstrengung die Umstände zu beschreiben, unter denen p’s zu addieren oder zu multiplizieren sind, denn man kann etwaige solche Probleme stets auf Würfel abbilden (notfalls auf mehrere und n-flächige). a Richtige beim Spiel „6 aus c“ hat man leider nur mit der Wahrscheinlichkeit

(14.1)U

(14.2)

Pa = (14.3)

Die Behauptung (14.3) zu testen, zu beweisen oder herzuleiten (!), das wird ausnahmsweise ganz dem Leser überlassen [siehe jedoch (14.9)]. Verdunklung

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2 5 6 K a p it e l 14: W a h r s c h e in l ic h k e it e n

ist im Sinne der Lotto-Annahmestellen, Schatzmeister und Übungsaufgaben- Produzenten.Die mittlere Augenzahl eines idealen Würfels ist 3,5. Auch um diese Zahl zu messen und als arithmetisches Mittel zu erhalten, sind „unendlich“ viele Würfel erforderlich:

(v) = lim' ' N -too

TVi • 1 + JV2 • 2 +N

v (14.4)

Dabei haben wir (14.2) verwendet und natürlich absichtsvoll die Summe nicht genauer spezifiziert. (14.4) gilt auch für einen n-flächigen Würfel. Die Zahlen, die auf seinen n Flächen stehen, können beliebig der reellen Achse entnom­men sein — insbesondere können es quantenmechanische Meßwerte sein. Ihr Mittelwert (14.4) wird dann Erwartungswert genannt. Das hatten wir doch: (12.87)! (14.4) ist die gleiche Mittel-Bildung wie bei Funktionen: (6.18). Wir haben lediglich die Überstreichung durch die bequemere und üblichere Klam- merung ( ) ersetzt. Es versteht sich, daß wir die mittlere kubische Augenzahl erhalten, wenn wir ganz rechts und ganz links in (14.4) v durch ersetzen: wir schreiben einfach die Kuben der Zahlen auf die Würfelflächen. Schließlich können wir schreiben:

( / M ) =

Mittelwert einer System-

Eigenschaft

diese Eigenschaft = * I des Systems, wenn es

im Zustand v ist(14.5)

Das ist wichtig. (14.5) zeigt, wie man Wahrscheinlichkeiten unverzüglich zu Mittelwerten aller Art weit er verarbeiten kann. So ist zum Beispiel der Druck eines Gases ein Mittelwert, und mit (14.5) wird er ausgerechnet. (14.1) ist Spezialfall von (14.5) zu f (v) = 1: (1) = 1, (const) = const. Ein anderer Spe­zialfall ist die Schwankung, vergleiche (6.20), d.h. die Wurzel aus der mittleren quadratischen Abweichung vom Mittelwert:

:= J ( ( r ~ {v) f ) = J ( v 2) ~ { v ? (14.6)

Wenn man eine Häufigkeits-Verteilung skizziert, dann sollte man Au als Feh­lerbalken nach rechts und links vom Mittelwert eintragen. Für den gezinkten Würfel mit p\ = .. . = p$ = 1/10, p% = 1/2 ergibt sich

<">

(A„)2

i - ( l + 2 + 3 + 4 + 5) + i-6 - | (14.7)

1 1 81oder : — • (1 + 4 + 9 + 16 + 25) + - • 36 - —

134

r x 1 3 o 3 1 ----- « 2 ---------16 16

1,8 (14.8)

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14 .1 W a h r s c h e in l ic h k e it is t m e s s b a r 2 5 7

und somit die Verteilung und der Fehlerbalken von Bild 14-1. An der gestri­chelten Linie hätte der ideale Würfel seinen Mittelwert. Wer sich nun unseres Breitemaßes (12.99) erinnert und bei Bild 14-1 an Schwerpunkt und Trägheits­moment von fünf leichten und einer schweren Masse denkt, der bekommt alle diese Begriffe unter einen Hut. Man unterstreicht die Gemeinsamkeiten auch gern mit dem Wort „Verteilung“: Massenverteilung, Wahrscheinlichkeitsvertei­lung.

Bild 14-1: Werte, Mittelwert und Schwankung eines präparierten Würfels

Relative Schwankung —► 1/y/TT

Wir kehren nun zu unserer p-Messung (14.2) zurück und fragen, „wie gut“ z.B. P2 nach sechswöchigem Würfeln bestimmt ist. Daß wir dabei einen idealen Würfel zugrunde legen, wird sich als eine kaum nennenswerte Einschränkung erweisen. Um die Frage „wie gut?“ zu präzisieren, interessieren wir uns für die Wahrscheinlichkeit Pm dafür, daß unter 2 Millionen (= : JV) Würfen eine bestimmte Anzahl N2 =: m von Zweien enthalten ist. Statt JV mal hintereinan­der den Würfelbecher zu schwingen, können wir uns auch JV genaue Kopien des Würfels her st eilen lassen, sie in einen großen Eimer tun, diesen schütteln und ihn dann auf das Parkett einer großen Turnhalle entleeren. Ein Kurs in rhyth­mischer Gymnastik legt uns schließlich die Würfel in eine Reihe (ohne einen zu verkippen und ohne auf die Zahlen zu achten). Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß nun genau die ersten m Würfel eine Zwei zeigen (und alle anderen nicht), ist (l/6 )m(l — l /6)N~m . Es gibt aber viel mehr Anordnungs-Möglichkeiten von m Zweien auf JV „Plätzen“:

( Anzahl der Möglichkeiten, 77i \ / JV \ununterscheidbare Objekte auf JV I = — -----— - = ( ) . (14.9)

numerierte Plätze zu verteilen ) (N ~ m )!m! \ m J

Die erste Zwei hat JV Plätze zur Auswahl, die zweite JV -1 usw., und wir erhalten zunächst JV!/ (JV — 77i)! Konfigurationen von numerierten Zweien. Dabei haben wir z.B. den Fall, daß alle Zweien den linken Anfang füllen, 77i! mal gezählt (ebenso alle anderen Fälle) — daher der zusätzliche Faktor 77i! im Nenner von(14.9). Er bewerkstelligt den Übergang von numerierten zu ununterscheidbaren Objekten. Links in (14.9) spiele man noch ein wenig mit Worten: „aus einem Kamm mit JV Zinken m derselben auszubrechen“, „auf JV = 365 Tage m Feier­tage zu verteilen“, „an JV Straßenbahnstationen m Plastikpapierkörbe zu

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2 5 8 K a p it e l 14: W a h r s c h e in l ic h k e it e n

Die gesuchte Wahrscheinlichkeit Pm erhalten wir nun zu

Unverzüglich ist die Probe auf Normierung geboten:

s - s a r G r c M s - s ) ' - - * * -Der Mittelwert (m) muß (um alles in der Welt; wenigstens bei N —> oo) den Wert iV/6 annehmen. Wir rechnen das nach und erfinden dabei einen wunder­baren Trick zur Summen-Auswertung:

N / e \ W - m / Xr\ / rr \ N . N

m —0 ' v 7 m = 0N

(m) j mPm = x d* f ( x)\x_ i771=0

/ 5\W| / 5\W-i l\lx d * ( x + ö) L j ' M ' + e ) L * = 7 • (1413)

Nun dürfte sich auch die Schwankung Am berechnen lassen. Es wird spannend, denn wir möchten ja herausbekommen, daß sich der Fehlerbalken von (m) /iV, d.h. von p2 (oder von p%) mit wachsendem N auf Null zusammenzieht. Ein Pq = 1/2 nach sechswöchigem Würfeln wäre dann ein der Gewerbeaufsicht ausreichendes Argument dafür, daß der Würfel gezinkt ist.

(Am)2 = (m2) - (m)2 = (xdx)2f ( x ) - - - (14.14)

rx Am = \ ~ 7r , 7~T ~ \ l ~ ”7= t • (14.15)V 36 ’ (m) V 36 N y/W* v ;Die Schwankung von m = N2 wird zwar wurzelartig groß, aber die relative Schwankung (14.15) geht gegen Null. Nur der Faktor ^5* ist würfelspezifisch, die reziproke Wurzel aus N hingegen eine sehr allgemeine Eigenschaft großer Systeme.Der o.g. Eigentümer des gezinkten Würfel windet sich und behauptet nun, zwar sei der Fehlerbalken nach 6 Wochen winzig, aber die Häufigkeitsverteilung über der m-Achse habe halt bei m = N/2 noch beachtliche Werte. Wir weigern uns, auf solchem Niveau mit ihm weit er zu verhandeln, und drücken ihm den [Berkeley, 5] (statistical physics) in die Hand (mit Buchzeichen bei Appendix A .l). Dort wird nämlich die Häufigkeitskurve zu einer weichen Funktion von m verarbeitet. Sie hat (Zitat) die Form einer Gauß-Funktion, insbesondere ist

1 _ ( m —( m ) )*)2___, v. 2<Am>2 dm (14.16)

die Wahrscheinlichkeit dafür, daß das Resultat in einem Intervall dm um m liegt. Und ein m-Wert, der in z.B. dem Intervall ( (m) + 5Am, oo) liegt, ist nur noch mit Wahrscheinlichkeit 3 x 10“ 7 zu erhalten.

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14.2 E n t r o p ie 259

14.2 Entropie

Wir haben gesehen, daß man sich einen Würfel unendlich-fach kopieren muß (wenigstens in Gedanken), um die Wahrscheinlichkeiten pv definieren zu kön­nen. Man nennt eine solche Ansammlung von gleichpräparierten Systemen ein statistisches Ensem ble. Neben der ganzen p-Galerie sind auch Mittelwert (v) und Schwankung Av gewisse Zahlen, die das Ensemble charakterisieren. Man kann sich leicht weitere solche Ensemble-typische Zahlen konstruieren, aber eine von ihnen hat überraschende und exzellente Eigenschaften

Das Zeichen ^ gilt wegen pu ^ 1. Ist ein p Null, so hat man „0 • ln(0)“ als e • ln(£) mit £ ->• + 0 zu lesen („von der physikalischen Seite her einbetten“!). Im extremen Fall, daß ein p Eins ist und alle anderen Null sind, erhält man also 5 = 0. Ihren Minimalwert 0 nimmt somit die Entropie im Falle der Sicherheit an: keine Unkenntnis, kein Informationsmangel, total gezinkter Würfel. Im entgegengesetzten Falle sind alle Wahrscheinlichkeiten gleich, nämlich = 1/g (g = Anzahl der möglichen Resulte, d.h. = 6 beim Würfel), und 5 nimmt dann den Wert So = ln(p) an. Daß So der maximale Wert von S ist, läßt sich aufgrund von \n(x) ^ x - 1 zeigen,

wobei in der zweiten Zeile J2p = 1 und 1 = 9 ausgenutzt wurde. Somit hat S seinen größten Wert bei größtmöglichem Mangel an Information. Kurz: die Entropie ist ein Maß für den Informationsmangel, für die Unkenntnis. Es kommt noch schöner. S/ln(2) ist die (mittlere) Anzahl von Ja-Nein-Fragen, die zur Kenntnis eines vorliegenden, aber unsichtbaren Resultates führen. Je­mand hat einen idealen 4-flächigen Würfel bedient, hält aber sofort die Hand darüber (es ist eine Eins). 1. Frage „Ist die Zahl größer als 2,5?“, Antwort „Nein“ 2. Frage „Ist es eine 2?“, Antwort „Nein“. Jetzt wissen wir, daß es eine 1 ist. Zwei Fragen waren nötig, S/ln(2) = ln(4)/ln(2) = 21n(2)/ln(2) = 2, es stimmt. Mehr hierüber (und ein anderes schönes Beispiel) findet sich bei [Brenig] („Statistische Theorie der Wärme“).Eine andere erfreuliche Eigenschaft der Entropie ist ihre Additivität für den Fall, daß zwei „würfelnde“ Systeme keinen Kontakt miteinander haben (gesamte Unordnung = Unordnung hier plus Unordnung da). Zwei Herren würfeln, einer am vorderen Ende der Theke (p’s), einer am hinteren (g’s, verschieden gezinkte Würfel). Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß vorn eine 3 und hinten eine 5 fallt, ist pz'q$. Und die Entropie des Zwei-Würfel-Ensembles ist

(14.17)V

^ T p — - 1 + ln(g) = Info) rv S < S0 , (14.18)«- ■* n/7

Sgesamt T ~ 5 2 MP*«/*) = “ 5 1 V vq» lnW “ 5 2 P vql‘ ln (9<*)Uyß u,n u,n

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260 K a p it e l 14: W a h r s c h e in l ic h k e it e n

- - ' Y h p v ~ 5 2 qi‘ ln(^ ) — Svorn 4" ^hinten • (14.19)v n

Die sagenumwobene Größe S wird landläufig von ebenso umwobenen Sprüchen begleitet, wie etwa, daß sie immer zunehme. Wie könnte das gemeint sein? Wir nehmen eine Münze (zweiflächiger Würfel) und legen sie mit der „1“ nach oben. Die Wahrscheinlichkeit für „1 oben“ nennen wir p , und jene für „0 oben“ heiße q : p(t = 0) = 1, q(0) = 0. Nun hauen wir in Zeitabständen dt mit einem Hammer von unten derart gegen die Tischplatte, daß sich die Münze mit einer (ebenfalls infinitesimalen) Wahrscheinlichkeit dw umdreht: p(dt) = 1 — dw , q(dt) = dw . Wir überlassen es dem Leser (es ist viel zu schön, als daß man es ihm wegnehmen dürfte), die folgende Dgl für p herzuleiten und sie zu lösen:

p = A - ( l - 2 p ) , A := ^ rv p(t) = i [ l + e-2At] . (14.20)

Hiermit kann man nun untersuchen, wie die Entropie S = —p\n(p) — (1 — p) • ln(l - p) monoton anwächst, nämlich von 5(0) = 0 bis zum Maximalwert S(oo) = ln(2). So ist das gemeint. „Erschütterungen“ aller Art treiben ein physikalisches System ins Gleichgewicht (sofern es nicht bereits dort ist). Die Unordnung in der Studentenbude nimmt von ganz allein zu: man kann wirklich nichts dafür.In einschlägigen physikalischen Lehrbüchern ist noch eine Umwobenheit ganz anderer Art anzutreffen. Als Entropie wird dort die Größe Sait = ^B^ ange­sprochen. Wer nun verzweifelt einen Sinn hinter der Konstanten &b sucht, der wird enttäuscht. Es gibt keinen. Die Boltzmann-Konstante fcß ist „das sq der Wärmelehre“. fcß = 1,38 .. . • 10~27Joule/K und K = „Grad Kelvin“ ist so willkürlich wie jene „90“ beim rechten Winkel. Damals — anno 2000 — war die Physik noch sehr jung. Man wagte die Relikte ihrer Entstehung nicht anzutasten, und die Reformer waren noch in der Minderzahl (aus: „Geschichte der Physik“, H. Deutsch 2300).

Wahrscheinlichkeitsdichte

Würfel können sehr verschieden gebaut werden. So hat z.B. ein walzenförmiger Würfel kontinuierliche Werte auf einer ringsum angebrachten Zahlenachse. Wir können auch einen Massenpunkt m zwischen reflektierenden Wänden (Abstand 6a) auf der x-Achse hin- und herlaufen lassen und sodann mit der Hand (Hand­breite a) in das Intervall (2a, 3a) greifen. Da wir die Startzeit vergessen haben und einen „Punkt“ nicht sehen können, erwischen wir ihn mit der Wahrschein­lichkeit pz = 1/6. Nun zwicken wir mit dünnen Fingern (Breite dx) bei x in die Achse und sind nur noch mit der folgenden Wahrscheinlichkeit erfolgreich:

dx 1px = — =: P(x)dx , h ier: P{x) = — . (14.21)

Wenn eine Wahrscheinlichkeit proportional zu infinitesimalem Intervall klein wird, bildet man sinnvollerweise das Verhältnis, um eine normale Funktion zu

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1 4 .2 E n t r o p ie 261

erhalten. Handelt es sich etwa um einen Floh auf einem Zwirnsfaden, der sich aufgrund gewisser Angewohnheiten gern weiter links (Futter) oder rechts (Son­ne) aufhält, dann hat die Kurve P(x) in der Mitte ein Minimum. Die Wahr­scheinlichkeitsdichte P(x) hat Dimension 1 /[Intervall]. Sie ist eine Hilfsfunkti­on, die erst durch Multiplikation mit Intervall zum Leben einer dimensionslosen Wahrscheinlichkeit erweckt werden kann. Ein Beispiel ist die Gauß-Verteilung (14.16). Mit den Anhaltspunkten „Integral ist Summe“ und „dx und P(x) gehören zusammen“ verstehen wir die folgenden Gleichungen:

J d x P(x) = 1 , {f(x)) = J d x P(x) f (x) ,

Wahrscheinlichkeit, daß in (a, b) = / dx P(x) .Ja

(14.22)

Beispiele für Wahrscheinlichkeitsdichten finden sich überall im täglichen Le­ben (man muß weder einen Floh haben, noch die Quantenmechanik anflehen: P(x) = \ip(x)\2) . Eine Stahlkugel m springe verlustfrei vertikal auf einer Glas­platte: Höhe h , E = mgh , V (z) = mgz, v = y/2g y/h — z , halbe Periode T/2 = y/2h/g '. Die Wahrscheinlichkeit, sie in dz bei z anzutreffen, ist propor­tional zur Zeit, die sie in dz verweilt:

P W * = ( f “ / f t, * ~ = 2y/k(h — z)' - (I4-23)

Die Verteilung (14.23) sollte automatisch richtig normiert sein,

f dz P(z) = \ f du —4=r = 1 , (14.24)Jo * Jo v u

und das ist sie. Daß die P{z)~Kurve bei z h wurzelartig singulär wird, ist plausibel, denn dort wird die Kugel unendlich langsam. Was die Quantenmecha­nik zu genau dem gleichen.Problem (!) liefert, ist im Bild 14-2 als gestrichelte Kurve eingetragen, und zwar für einen bestimmten E -Wert (Grundzustands- energie). Zu immer höheren Energie-Eigenwerten nähert sie sich der skizzierten klassischen Verteilung.

Bild 14-2: Klassische Aufenthalts-Wahrscheinlichkeitsdichte zum Freien Fall. Die gleiche Aussage seitens der Quantenmechanik (gestrichelt) im Extremfall des Grundzustandes

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262 K a p it e l 14: W a h r s c h e in l ic h k e it e n

14.3 Maxwell-Verteilung

In einem Kasten (1 cm3) befindet sich ein Teilchen. Seine Masse m sei genügend groß (Quantenmechanik unnötig), und es sei (im Mittel) genügend langsam (Relativitätstheorie unnötig). Der Kasten klebt an der Innenwand einer großen Thermoskanne. Letztere ist gefüllt mit Badewasser und treibt im schwerelosen Raum. Das Wasser wurde einmal umgerührt und danach jahrelang in Frieden gelassen. Also nehmen wir an, es ist gleichmäßig „warm“. Das Teilchen zieht in dem Kasten seine Bahn und gewinnt oder verliert ab und zu an der „wärme­bewegten“ Wand ein wenig Energie. Wir fragen nach der Wahrscheinlichkeit P(p) d3p dafür, daß es (Jahre danach) bei einem in d3p um p liegenden Impuls angetroffen wird.

Die Wahrscheinlichkeitsdichte P hängt nicht von der p -Richtung ab, denn es ist keine Richtung ausgezeichnet. Sofern die Wände nur ideal spiegeln, klappen sie nur die gedachte Weiterbewegung formal nach innen. Auch die kleinen Impulsüberträge an der Wand können, da unsynchronisiert und von zufälliger Größe, keine Vorzugsrichtung etablieren. Kurz: Tetraeder- und Kugelkasten haben die gleiche Verteilung.

Also schreiben wir P{p) = f {p2) • Jetzt sehen wir uns die Projektion der Teilchenbewegung auf die x-Achse an. Mit welcher Wahrscheinlichkeit g(p\) dpi eine Impuls-x-Komponente in dpi um pi liegt, hat überhaupt nichts damit zu tun, sagt Maxwell (es ist der gleiche Maxwell), wie schnell es gerade in y- Richtung ist. (Achtung, diese Behauptung kann nur im nichtrelativistischen Grenzfall aufrechterhalten werden). Also ist die gesuchte Wahrscheinlichkeit f (p2) d3p das Produkt aus den drei Wahrscheinlichkeiten g(p2) dpj (j — 1,2,3). Wir folgen [Brenig] und erhalten:

f ( p2) = s(Pi) ■ 9{p\) ■ gipi) . f {x + y + z) =g(x) ■ g(y) ■ g{z) , dx bzw. dy : f ' ( x + y + z ) = g'(x) ■ g{y) ■ g(z) = g(x) ■ g'(y) ■ g(z) ,

3 ^ 1 = i M = const = : —£*, <?(*) = Ci e"“9{x) 9{y)

2

^ P(P) = /(P 2) = C e - ß & . (14.25)

Bild 14-3: Ein klassiches Teilchen in einem Kasten am Wärmebad. Zur Herleitung der Maxwell-Verteilung

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1 4 .3 M a x w e l l - V e r t e il u n g 263

Die Konstante C bestimmt sich aus der Normierung Jd3p P{p) = 1. Im letz­ten Schritt zu (14.25) haben wir einigermaßen willkürlich aus der Konstanten a noch die reziproke Masse abgespalten: a = ß/2ra. Dies hat keine Bedeutung, solange auch ra eine Konstante ist. Weshalb man im Vergleich mit anderen Systemen (14.25) als Punktion der Energie (hier: p2/2m) aufzufassen hat, ver­suchen wir weiter unten zu erklären.

Wenn das Badewasser sehr tief gefroren ist, dann sollte ß sehr groß sein, da­mit die Wahrscheinlichkeitsdichte (14.25) nur sehr kleine Impulse favorisiert. Umgekehrt sollte es bei heißem gasförmigen Badewasser auch sehr große Im­pulse des Teilchens geben, ß sollte dann klein sein, ß ist ein Charakteristikum des Wärmebades, ein Maß für seine „Kühle“. Somit ist l /ß = : T ein Maß für seine „Warmheit“. Wir nennen es T em peratur. Da das Argument einer e-Funktion dimensionslos sein muß, ist die Temperatur in Joule zu messen: ei­ne Wärmebad-spezifische Vergleichsenergie. Auf die altmodische Umrechnung Tait = T /k b lassen wir uns hier nicht ein: siehe Text unter (14.20). [Kittel] („Physik der Wärme“) sieht das auch so und schreibt r für die Temperatur, welche Sinn hat, nämlich den, eine Vergleichsenergie zu sein. Wir sind nicht allein.

Unser Kasten mit einem Teilchen ist ein Thermometer. Wir können ihn in den Kochtopf tauchen oder in den Kühlschrank stellen. Nachdem er sich dort eingewöhnt hat, haben wir „nur noch“ 2 Milliarden mal nachzusehen, ob der Impuls des Teilchens in einem gewählten kleinen Intervall d3p um ein gewähltes p liegt. Division gemäß (14.2) gibt uns dann die Wahrscheinlichkeit P{p) d3p , und via (14.25) folgt ß = 1 /T. Im Prinzip geht das. Aber den Protest der Krankenbrüder und Hausmänner sollten wir nicht abwarten. Es müßte doch ei­ne physikalische Größe geben, die einerseits die Details der Maxwell-Verteilung automatisch verarbeitet und die andererseits leicht zugänglich ist. Die gibt es und heißt Druck.

D er D ruck eines Teilchens

Der quaderförmige Kasten habe die Kantenlängen L2) L 3 und somit das Vo­lumen L \L 2Lz — V. Zum Zeitpunkt t — 0 habe das Teilchen (ra) den Ort r und den Impuls q (Buchstabe g, um den Druck mit p bezeichnen zu können). Jeder „Zustand“ des Kasten-Teilchen-Systems läßt sich (mit spiegelnden Wänden rückverfolgt) durch seine Startdaten r , q charakterisieren. Mit Blick auf die rechte Seite von (14.5) ordnen wir nun jedem Zustand seinen Druck zu. Ein Teilchen im r - q -Zustand legt die Strecke L\ in der Zeit L\/\v\\ = m Li/\qi\ zurück und stößt somit in Zeitabständen At = 2mLi/\qi\ gegen die rechte Wand. In einem großen Zeitraum r passiert das r/A£ mal, und jedesmal wird dabei der Impuls 2|gi| übertragen. Denken wir uns statt der Wand eine sehr große Klasse, gegen die das Teilchen „prasselt“, dann beschleunigt sich diese, und wir können die zugehörige Kraft K (t) (sie besteht gemäß K = p aus vielen fast-J-Zacken) zeitlich mitteln: Kraft gleich Summe der in r erfolgenden Im­pulsüberträge, geteilt durch r oder: (r/A )2 |g i|/r = q2/m L i . Druck ist Kraft

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264 K a p it e l 14: W a h r s c h e in l ic h k e it e n

pro Fläche L 2L3 , und wir erhalten:

Druck des Teilchens, wenn _ __ q\es im Zustand r , q ist 0 ~~ m V ’

Damit haben wir die runde Klammer rechts in (14.5) spezifiziert. Die Summe (über alle Zustände) wird zu Integralen über r und q , und als Wahrscheinlich­keit ist (d3r/V) d3q P(q) mit P(q) aus (14.25) einzusetzen. Schließlich multi­plizieren wir (14.5) vorweg mit dem Volumen V:

pV =p j ^ v h ^ S v - v

fd3q & Jdqi e~ß& |«1 rß2m

'2mf d 3q e 2m J d9l g-/3;

-20 /, ln (y d g i = -2 0 ^ ln )

l f ß = T rx p V = T . (14.27)

Wem der Gang der Rechnung beängstigend vertraut erscheint, der blicke auf(13.6) zurück. Im linken Term der zweiten Zeile bleibt alles richtig, wenn man q\ durch qf2/3 ersetzt. Dann steht dort bis auf den Faktor 2/3 die mittlere kinetische Energie des Teilchens. Diese ist also (3/2)T. Da keine potentielle Energie im Spiel ist, können wir schreiben:

E = . (14.28)

Sowohl beim Druck p in (14.27) als auch bei der Energie E in (14.28) handelt es sich um Mittelwerte, die man in ( ) setzen sollte. Das ist allerdings nicht üblich — „man weiß es“.

Wenn es in der Natur ein Gas gäbe, dessen N Teilchen (in V) überhaupt nichts voneinander bemerken, dann würden für dieses Gas die Gleichungen

p V = N T und E = \ n T (14.29)

gelten. Es würde durch Ineinandersetzen von N Kästen (mit je einem Teilchen) in Gedanken hergestellt werden können. Jedoch dieses „ideale Gas“, das gibt es nicht Daß reale Gasteilchen ein Eigenvolumen haben und Kräfte aufeinander ausüben, ist dabei recht unwesentlich (beides könnte man hinweg-,, idealisie­ren“). Nein, es ist das Pauli-Prinzip der Quantenmechanik. Teilchen bemerken einander — es sei denn, man kann sie unterscheiden, d.h. numerieren. Aber IO20 Teilchen, die die gleiche Masse haben und ansonsten alle voneinander ver­schieden sind, die lassen sich (nach derzeitiger Kenntis) im Universum nicht einsammeln. Es ist auch vorerst niemandem gelungen, Helium-Atome ver­schiedenfarbig anzustreichen. Hochverehrter Herr Studienrat, bitte setzen Sie Ihre Gymnasianer davon in Kenntnis, daß die beiden oben notierten und im Schulbuch eingerahmten „Gasgesetze“ falsch sind. Sie verbieten sich aufgrund

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1 4 .4 e~ßE 2 6 5

gestandener first principles. Als recht gute Näherungen erweisen sie sich im Grenzfall hoher Temperatur und geringer Dichte: Luft. Woher weiß man das? Von jenen Gasen, die es gibt („ideales Fermigas, ideales Bosegas“), indem man sie im genannten Grenzfall studiert.

14.4 e ~ ß E

Die Statistische Physik ist vergleichsweise reich an Weisheiten, die durch reines Nachdenken zu erlangen sind, etwa über Gedankenexperimente, sozusagen „ä la Einstein“. Aus dem Umstand, daß wir alles über ein Teilchen (bestimm­ter Masse) in einem Kasten am Wärmebad wissen, läßt sich erschließen, was irgendeinem Kasten-Inhalt widerfährt, wenn er bei Temperatur T im Gleich­gewicht ist. Klingt das unglaublich? Allerdings ist eine Annahme im Spiel, die zu akzeptieren sein wird. Ferner verbirgt sich hinter dem Wort „Gleichge­wicht“ eine sehr starke Einschränkung. Wenn etwa versehentlich eine Maus in den Kasten geraten ist (bevor er luftdicht verschlossen wurde; nur noch Energie kann geringfügig durch die Wände: Kanonisches Ensemble), dann hat sie bald das Zeitliche gesegnet, ist irgendwann verwest, und es braucht dann wohl noch Tausende von Jahren, bis alle chemischen Substanzen und Strukturen mit glei­cher Rate entstehen wie vergehen. Erst dann sind Gleichgewicht und maximale Entropie erreicht. Bei Kaffee, Luft oder Kochsalz gibt es kürzere Wartezeiten. Im Gleichgewicht muß sich auch das Wärmebad befinden (es ist „unendlich groß“).

Die oben angedrohte Annahme macht eine Aussage über den Inhalt von Kästen, durch deren Wände nichts kann (M ikrokanonisches Ensemble). Im Inneren sind dann nur Vorgänge bei konstanter Energie möglich. Bei Gleichgewicht, so die Annahme, liegen verschiedene Zustände (zu dieser Energie) mit glei­cher Wahrscheinlichkeit vor. Zugegeben, es ist die Quantenmechanik, die diese Sprechweise erzwingt (sowie, daß man im Entartungs-Unterraum zu Eigen­wert E nur orthonormierte Zustände zählen darf). Vielleicht ist der Leser zu gewinnen, die Annahme als einigermaßen plausibel zu empfinden. Wenn es kei­nen physikalischen Grund mehr gibt, der eine „Würfelfläche“ vor den anderen begünstigt, nun, dann haben sie eben alle „1/6“. Auch die Maxwell-Verteilung behandelt ja die zu festem p2 gehörigen Impulse gleich.

In einem großen Kasten (Bild 14-4) mit total undurchlässigen Wänden seien drei Systeme untergebracht: das Wärmebad, der vertraute 1-Teilchen-Kasten „K.“ und ein 2-Niveau-Quantensystem „Q.“. Das Letztere kann nur bei Energie Eq (Wahrscheinlichkeit po) oder bei Energie Eq + A (Wahrscheinlichkeit p+) dauerhaft verweilen. Wir vergleichen nun die folgenden zwei Gesamtsystem- Zustände miteinander:

. Q. bei E0 und . Q. bei E0 + A> K. bei £ + A ’ ’ und K. bei £ ' ( '

In beiden Fällen hat das Wärmebad ersichtlich die gleiche Energie. Gemäß

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2 6 6 K a p it e l 14: W a h r s c h e in l ic h k e it e n

Bild 14-4: Total isolierter Kasten (mikrokanonische Verteilung) mit Wärme­bad, interessierendem System Q. (kanonische Verteilung) und klassischem Teilchen (System K., Maxwell-Verteilung)

Annahme sind die zwei Zustände gleich wahrscheinlich, und folglich gilt:

p0 e-^+A)=p+e-^ rv ? ± = e- ß * , (14.3 1)Po

Ein schöner Gedanke will rekapituliert werden. Das Gesamtsystem (der große Kasten) hat viele, viele, viele Zustände. Wegen totaler Isolation haben sie alle die gleiche Energie. Sie liegen also alle mit der gleichen winzigen Wahrschein­lichkeit vor. Zwei davon greifen wir heraus. Was wir über die beiden wissen, steht in (14.31).

Hoffentlich wird nun kein Noch-nicht-Quantenmechaniker allzu sehr durch den folgenden Einwand beunruhigt. Leider ist ja die Maxwell-Verteilung eine Dich­te. Beim Isolieren des Kastens ist „die Energie“ bestenfalls nur die Position einer Deltazacke auf der Energieskala. Hier ist etwas faul. Aber was nur? — die klassiche Physik! Es gibt keine klassische statistische Physik. Wie schön, wenn uns die (quantenmechanische) Natur gelegentlich auf unsere Denkfehler aufmerksam macht. Zu obiger Situation verweilt auch das Maxwell-Teilchen letztlich in stationären Zuständen, welche Lösungen der Schrödinger-Gleichung sind und (im klassischen Grenzfall) der Maxwell-Verteilung folgen.

Die zwei Wahrscheinlichkeiten des Systems Q. — auf dieses kam es an! — können wir auch separat aufschreiben. (14.31) und die Forderung po + p+ = 1 nach Normierung bilden zwei Gleichungen für die zwei unbekannten p’s. Ab­sichtsvoll ein wenig umständlich (nämlich ohne exp(-ßEo) zu kürzen) schreiben wir die Lösung wie folgt auf:

po = | e - ^ , p+ = i e - « + i ) , (14.32)

mit Z = exp(-ßEo) + exp(-ßEo - ß A ) . Die Verallgemeinerung auf ein Drei- Niveau-System bietet keine Probleme. Anstelle von (14.31) gibt es dann zwei voneinander unabhängige p-Verhältnisse plus die Normierung. Auch bei belie­big vielen Zuständen geht alles gut (falls entartet: ihre Energien in Gedanken als Funktion eines Parameters zusammenwandern lassen, vgl. Hauptachsen­transformation). Beliebig viele Zustände beliebiger Entartung — allgemeiner

WSrmebad:

\egal ob ganz zu- \oder nicht ganz- ganz zu

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1 4 .4 e~ßE 267

geht es nicht. Q. ist jedes System. In seinem n-ten Zustand ist es, sofern kanonisch präpariert, mit der folgenden Wahrscheinlichkeit anzutreffen:

Pn = \ e~ßE" , z = 52 e ~ 0 E n • (14.33)n

Hat das System zur Energie Ei z.B. drei Zustände, dann enthält die Z ustands­sum m e Z den Term exp(-ßEi) additiv dreimal (nicht Niveaus zählen, son­dern Zustände!). Bei der Maxwell-Verteilung war offen geblieben, ob das Warmheits-Maß T von der Teilchenmasse ra abhängt. Die Antwort fällt jetzt leicht. Wir wählen einfach als Q.-System einen zweiten Kasten mit ei­ner Masse ra'; Resultat: exp(—ßp2/2m' ) . Die Abspaltung a = ß/2m in(14.25) war also sinnvoll und sorgte für ra-unabhängiges Kühle-Maß ß. In(14.33) ist automatisch auch die barometrische Höhenformel (Ende von Ab­schnitt 5.2, p ~ q ~ Wahrscheinlichkeit, jetzt 1 Teilchen) enthalten: man er­setze En —> p2/2m + V(z) und integriere über die Impulse. Ist das Teilchen „relativistisch“, dann steht y/m 2c4 + p2c2' für En in (14.33).Da sie nicht fundamental ist, darf es in der Statistischen Physik eigentlich kein oberstes Prinzip geben. Jedoch hat (14.33) sozusagen den Rang eines solchen.(14.33) gilt sowohl für mikroskopische Systeme am Wärmebad als auch für aus­gewachsene Suppentöpfe. (14.33) enthält als Spezialfälle die Hohlraumstrah­lung, die Fermiverteilung, die Halbleiter, die realen Gase, den Siedepunkt des Wassers, die Phasenübergänge von Eisen, die Sprungtemperaturen der Supra­leiter und das frühe Universum.Am Kapitel-Anfang hatten wir uns das Aufhören für den Augenblick verord­net, in dem wir durch das Schlüsselloch sehen können. Zugegeben, das letzte Stück war anstrengend. Niemand möge sich bedrückt fühlen ob der Fülle „un­klarer“ Nebenbemerkungen. Wesentlich war der Gang der Überlegungen: „wie es sein kann“, daß sich bei Verdunklung der physikalischen Details dennoch alle dann interessierenden Aussagen erhalten lassen [nämlich als Mittelwerte mit(14.33)]. Wenn einmal später solche „Unglaublichkeiten“ ausgiebig betrieben und angewendet werden, dann erinnere man sich: es ist eigentlich alles nur Würfeln.Bei Lotto und Würfeln, also bei Zufalls-Spielen, wird die „Verdunklung“ ab­sichtsvoll und künstlich vorgenommen. Bei Meßresultaten der klassischen Me­chanik ist sie behebbar (genauer messen!). Bei beispielsweise einem klassischen realen Gas ist sie im Prinzip behebbar (Zeit und Papier der Menschen reichen nur nicht aus). In der Quantentheorie (d.h. in der nicht-klassischen Physik,d.h. in der Natur, wie sie wirklich ist) rücken Wahrscheinlichkeiten in das Zen­trum der Formulierung. Ob hier die Verdunklung grundsätzlich nicht behoben werden kann — über mehrere Jahrzehnte schien es so — daran wachsen zur Zeit die Zweifel. Mehr dazu steht im Kapitel 16 und dort im abschließenden Zitat.

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2 6 8 K a p it e l 14: W a h r s c h e in l ic h k e it e n

Es ist an der Zeit, ein Geständnis abzulegen. Dieses letzte Kapitel ging weit, weit über das hinaus, was in der zugrundeliegenden zweistündigen Vorlesung geboten werden konnte. Wenn ein Sommersemester zu Ende geht, dann ist es warm, das Fenster steht offen und das unakademische Treiben gewisser Singvögel geht einher. Kurz: die Entropie nimmt stark zu. So erschien denn „mal noch“ eine Auswahl der obigen Gleichungen an einer halben Tafel. Auch das Variations-Kalkül hatte bereits unter solcherlei Kombinatorik zu leiden. Jedoch daß sie ein vorher festgelegtes Ende haben, die Vorlesungen, das gehört eher zu ihren positiven Aspekten. Hingegen haben Bücher weniger harte Gren­zen des Wachstums, und so wuchern sie denn gern dahin und zehren an Zeit und Geld. Aller Anfang ist leicht (so begann das erste Kapitel), aber stets mißlingt das Aufhören: es ist Verrat an der Sache.

D. Maedows [Die Grenzen des Wachstums (Rowohlt 1973, rororo Nr. 6825, Schlußsätze)] :

„Was uns noch fehlt, sind ein realistisches, auf längere Zeit berechnetes Ziel, das den Men­schen in den Gleichgewichtszustand führen kann, und der menschliche Wille, dieses Ziel auch zu erreichen. Ohne dieses Ziel vor Augen, fördern die kurzfristigen Wünsche und Bestre­bungen das exponentielle Wachstum und treiben es gegen die irdischen Grenzen und in den Zusammenbruch. “

Aldous Huxley [Zeit muß enden (Deutscher Taschenbuch Verlag München 1964, dtv Nr. 222, Schlußsätze)] :

„... Darum haben die Tiere keine metaphysischen Sorgen. Da sie mit ihrer Physis identisch sind, wissen sie, daß es eine Weltordnung1 gibt. Wogegen die Menschen sich, sagen wir, mit dem Geldverdienen identifizieren oder mit Trinken oder Politik oder Literatur. Und nichts von alledem hat mit der Weltordnung zu tun. Also sind sie natürlich der Meinung, daß nichts sinnvoll ist.“ „Aber was ist da zu tun? “ Sebastian lächelte, und während er aufstand, ließ er einen Finger über das Netzgitter des Lautsprechers gleiten. „Man kann entweder weiter die neuesten Nachrichten hören — und natürlich sind sie immer schlechte Nachrichten, auch wenn sie gut klingen, — oder man kann seinen Geist darauf einstellen, etwas anderes zu hören.“

Hans Erich Nossack [Der Fall d ’Arthez (Rowohlt 1971, rororo Nr. 1393/94, S. 25)] :

„Es geht nicht um das flüchtige Glück einer gelungenen Leistung. Genie ist die Gabe, Durst­strecken schweigend zu bestehen. Wir verlassen uns ganz auf Sie.“

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Teil III

Neuland

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15 Erste Schritte in die spezielle

Relativitätstheorie

Unter die Revolutionen, welche in diesem Jahrhundert unser Verständnis der Natur verändert haben, ist sicherlich die Relativitätstheorie zu zählen. Sie braucht kaum rechentechnisches Können: Pythagoras, Wurzeln, die Matrix- Anwendung auf Vektor. Ist es also nicht DAS Thema für Leistungskurse an den Gymnasien?! Wenn am Kapitel-Ende auch Differenzieren und Reihen­entwicklung Vorkommen, so lassen sich wohl beide in rudimentären Versionen dar st eilen.

Etwas anderes verlangt sie uns allerdings ab, die Relativistik. Sie zwingt uns, tiefsitzende Gewohnheiten aufzugeben. Independent sei Albert Einstein (1879- 1955) gewesen, sagt Paul Dirac (1902 - 1984) später in einem Gespräch (1982, Film G 209 des IWF Göttingen). Der Zwang zur Änderung geht vom Experi­ment aus. Die Natur i s t anders. Auch so, wie sie ist, ist sie anschaulich. Lediglich ist eine kindliche, falsche Anschaulichkeit durch eine neue, angemes­sene zu ersetzen. Umdenken ist echte Bildung. Zunächst werden zwei Begriffe benötigt.

Licht. Das folgende möge auch jenen verständlich sein, welche noch tief im „Wintersemester“ (Teil I) leben und somit nicht wissen, was Licht ist (Kap. 11). Licht ist etwas, was durch Vakuum fliegen kann. Wir schalten eine Taschenlam­pe an. Das vordere Ende des Lichtstrahls (die Wellenfront) erreicht den Mond in 1,3 Sekunden, die Sonne in 8 Minuten, das andere Ende unserer Galaxie in 100000 Jahren und den Andromeda-Nebel in 106 Jahren. Oh, wenn es doch nicht so langsam wäre wie c = 3 • 108m/s. Ehe von einem Lebewesen auf ei­nem anderen Planeten in unserer Galaxie die Antwort eintrifft, sind wir längst gestorben.

Inertialsystem , Abkürzung E . So heiße ein Koordinatensystem, in welchem sich ein Teilchen, auf welches keine Kräfte wirken (schiebe Kraft-Verursacher weit genug weg), mit konstanter Geschwindigkeit bewegt. Offenbar sind hier­durch Systeme ausgeschlossen, welche sich drehen oder beschleunigen. Das ist es auch schon. Es gibt viele Inertialsysteme. Steigen wir nämlich von einem sol­chen um in ein Koordinatensystem, welches sich mit konstanter Geschwindigkeit nach links bewegt, dann wird auch in diesem das genannte Teilchen eine kon­stante (wiewohl andere) Geschwindigkeit haben. Auch ein gedrehtes System ist Inertialsystem. Ah, und hier fliegen 1000 achsenparallele Inertialsysteme nach rechts unten und zugleich 5000 verdrehte nach oben usw. usw. Können Sie es ermessen? „Es rauscht“.

Mit den obigen beiden Begriffen sind wir in der Lage, die Umstände aufzu-

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2 7 2 K a p it e l 15: S p e z ie l l e R e l a t iv it ä t s t h e o r ie

schreiben, aus denen alles folgt. Jener Ausschnitt der Natur-Mathematik, um den-es hier geht, braucht nur ganz wenige Axiome. Die folgenden drei genügen.

Was in einem Inertialsystem mit c fliegt, fliegt in jedem anderen ebenfalls mit c .

Kein Experiment der Welt ist in der Lage, Inertialsysteme in solche und solche zu unterscheiden.

Die für langsame Physik bekannten Gleichungen bleiben im Sinne u2/c2 1 näherungsweise gültig.

(15.1)

(15.2)

(15.3)

(15.3) meint, daß im Limes u2/c2 -» 0 (u = größte an einem Vorgang beteiligte Geschwindigkeit) die vertraute Newtonsche Mechanik zum Vorschein kommt. Jede (!) „höhere“ Physik hat zu erklären, weshalb die „tiefere“ so gut funktio­nierte. Und so gibt es denn auch zur Quantenmechanik einen Limes, welcher auf Newton zurückführt.

(15.2) ist recht plausibel. Es darf auch nicht eine Hälfte der oo vielen E’s von der anderen Hälfte unterscheidbar sein. In (15.2) ist indirekt enthalten, daß der Raum isotrop ist (keine Vorzugsrichtung kennt; ein Vorgang läuft um 7r/5 gedreht ebenso ab) und homogen (ein Vorgang läuft 3 km weiter rechts ebenso ab). Auch die Zeit ist homogen (ein Vorgang läuft 3 Jahre später ebenso ab).

(15.1) tut weh. Lassen wir also wiederholt bei x = 0 eine Taschenlampe ein­schalten und sehen uns aus dem Ferrari (Bild 15-1) an, was da vorbei saust. Es bewegt sich a u c h mit c. Nanu. Also statten wir mal den Wagen mit ordent­lichen Raketentriebwerken aus und jagen mit 9c/10 die x-Achse entlang. Die Wellenfront überholt uns wieder mit c . Otto Normalverbraucher wundert sich nun sehr. Er malt sich erst einmal die S tan d ard -S itu a tio n auf, in welcher sich zur Zeit t' = t = 0 die Ursprünge berühren, Koinzidenz:

EV t \

E' Ereignis 1

£xi

Und nun würde er darum wetten, daß ein Ereignis 1, welches zur Zeit t\ bei x\ auf seiner z-Achse stattfindet, von den in E' lebenden Leuten zur Zeit t[ = t\ (was sonst?) registriert wird, und zwar auf einem um v t\ kürzeren Abstand von deren Ursprung: x[ = x\ — vt\ . Galilei hätte ihm recht gegeben. Der letztere hätte wohl auch seine Freude daran gehabt, die G alilei-T ransform ation in der folgenden Matrix-Formulierung zu erblicken. Wir multiplizieren alle Zeiten mit c, weil ct eine „Länge“ ist und nun zusammen mit x formal in einem Vektor

B ild 15-1: c in jedem E

(15.4)

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E r s t e S c h r it t e 273

untergebracht werden darf:

mit Aoalilei —1 0

- ß 1(15.5)

wobei ß die auf c bezogene, dimensionslose Relativgeschwindigkeit zwischen den Inertialsystemen ist und eine von zwei sehr üblichen Abkürzungen:

Die Sache hat jedoch einen Schönheitsfehler: die Matrix Acaiiiei ist falsch. Ob man bereits aus der Asymmetrie der Matrix schließen darf, daß etwas noch nicht vollendet ist? Man kann sich jedenfalls überlegen, daß die Null in der Matrix nicht sicher ist, nicht im Rahmen der groben Sekunden- und Millimeter- Meßgenauigkeit des Normalverbrauchers.

Es gibt übrigens Leute, welche Bild 15-1 nicht im geringsten erstaunt. Es sind jene, die sich im Sommersemester das volle Zutrauen zu den Maxwell- Gleichungen erarbeitet haben. Diese Gleichungen darf man auf einen Zettel schreiben. Den Zettel darf man mitnehmen (in den Ferrari). Feld, welches frei fliegt, fliegt mit c. Es ist doch von vornherein alles klar! Maxwell-Fans ha­ben kein Michelson-Morley-Experiment mehr nötig. Mehr noch, die Maxwell- Gleichungen erfahren beim „Relativmachen“ der Physik nicht die geringste Mo­difikation. Aus ihnen läßt sich sogar die Relativistik her leiten.

Von jetzt an machen wir alles richtig. Dazu halten wir uns eisern an den drei Postulaten (15.1) bis (15.3) fest. Mittels (15.1) kann man U hren stellen. An jedem Punkt in E (auf Gerüsten etc.) sitzt ein infinitesimales Männchen und hat eine infinitesimale Uhr. Dem Herrn B bei r (r bekannt) ist sie gerade stehen geblieben. Also ruft er beim Kollegen A am Ursprung an, er möge doch genau0 Uhr einen Licht blitz absenden. Wird gemacht. Bei Ankunft des Lichtsignals stellt B seine Uhr auf r/c Uhr. Alle anderen E-Bewohner verhalten sich ebenso. Jeder Punkt in E weiß, wie spät es ist.

Mittels (15.1) kann man auch eine U hr bauen. Auf der x y -Ebene und parallel dazu in Höhe h werden ebene Spiegel angebracht. Ein Lichtblitz (genauer: die Mitte von dessen Wellenfront), welcher 0 Uhr den Ursprung verläßt (tack), wird um h/c Uhr am oberen Spiegel reflektiert (tick), und so weiter.

Die soeben beschriebene vertikale Licht-Uhr sei nun im System E' aufgebaut, welches gemäß (15.5) mit v an uns (E) vorüberzieht. Wegen Koinzidenz gab es das „tack“ auch an unserem Ursprung. Der Lichtpunkt fliegt nun (wie unsere in E sitzenden infinitesimalen Beobachter gern bestätigen) mit c (!) die schrägen Linien im Bild 15-2 entlang. Das „tick“ erlebt der am oberen Knick bei (x\,h) befindliche E-Bewohner zur Zeit t\ = (Länge der ersten Schräge)/c , und es ist xi = vt \ . Der Index 1 betont, daß von einem ganz bestimmten Ereignis die Rede ist, dem „tick“ nämlich.

O V J 1ß := - und 7 := - 7 ..> 1 .c

(15.6)

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274 K a p it e l 15: S p e z ie l l e R e l a t iv it ä t s t h e o r ie

Bild 1 5 -2 : Pythagoras führt zur Zeitdilatation

Alles im Bild 15-2 wird von E-Leuten so gesehen: wir durften es malen. Der obere Spiegel habe die gestrichelte Linie hinterlassen. Weil (15.2) keine Un­terscheidbarkeit in linkslaufende und rechtslaufende E’s erlaubt, entsteht die gleiche Kratzspur auch bei nach-links-Bewegung von E'. Hieraus lernen wir sogleich etwas über die eingetragene Höhe h der Kratzspur.

Der obere Spiegel wurde von E'-Leuten fein säuberlich in (deren) Höhe h! an­gebracht. Sie hatten uns dieses Herstellungsmaß telefonisch mit geteilt, und wir hatten an der E-Fahnenstange bei bl einen Nagel eingeschlagen (seinerseits an E' kratzend). Es geht nun wirklich nicht, daß die Spiegel-Spur unter dem Nagel verläuft (beinahe hätten wir einen Tunnel mit Nagelhöhe gebaut), denn dann müßte in E' die Nagelspur tiefer liegen als ein mit Spiegel-Höhe gebauter Zug. Der einzige Ausweg liegt in h = b!. Generell sichert (15.2) ab, daß qualitati­ve Gegebenheiten (wie etwa Tunnel höher als Zug) in jedem Inertialsystem als solche erkannt werden. Wir haben soeben gelernt, daß Querkomponenten bei Standardsituation in beiden Systemen gleich sind:

Wenn der E'-Bewohner, welcher seine Nase am oberen Spiegel hat, das „tick“ zur Zeit t[ hört, dann gilt h = h! = ct[. Der Pythagoras zum rechtwinkligen Dreieck in Bild 15-2 setzt also Zeiten in Beziehung,

In (15.8) haben wir den Index 1 weggelassen, denn t = 7 11 gilt ebenso auch für die erste „tack“-Wiederkehr und für den 27-ten tick, kurz: für die Zeit am E '- Ursprung im Vergleich mit der Zeit jener Uhr in E, an deren Stelle er gerade ist. Was ist also zu erwidern, wenn jener gängige Spruch „Bewegte Uhren gehen langsamer“ zu Ohren kommt? „Oooh nein, was für ein entsetzlicher Unfug! nichts verstanden, eklatanter Mangel an jener Genauigkeit, welche die Relativistik benötigt!“. Man sage stets, wann, wo, wer, was beobachtet (die vier w’s). Auch die Uhr am Ursprung von E geht langsamer, verglichen mit den E'-Uhren, die über sie hinweg fliegen.

y = y , z = z . (15.7)

(15.8)

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E r s t e S c h r it t e 2 7 5

Die Lorentz—Transformation

Wenn denn also die Galilei-Matrix (15.5) falsch war (obwohl sehr hilfreich beim Klären der Fragestellung), dann suchen wir nach einem Zusammenhang zwi-

1. Wir beginnen recht allgemein und schreiben die gesuchte Beziehung in der Form

bei t = t' = 0) nichts einzuwenden, woraufhin die Konstanten a, b entfallen. Mit höheren Potenzen in Zeit oder Ort würden sich sofort Widersprüche zu

ster Krümmung vor anderen ausgezeichnet. Fazit: die gesuchte Transformation ist linear.

2 . Wegen Raum-Isotropie ist auch gegen die Standard-Situation (15.4) nichts einzuwenden. Weil gemäß (15.7) die Querkomponenten harmlos sind, reduziert sich die Frage darauf, die vier Komponenten einer 2 x 2-Matrix zu finden:

3. Wenn ab Ursprung ein Lichtsignal nach rechts läuft, dann liegt eine Ereig­nis-Folge vor, welche (15.10) erfüllen muß. Sie besteht aus Daten-Paaren (ct,x = ct) in E und wegen (15.1) zugleich (ct',xr = ct1) in E '. Läuft das Licht nach links, so ist lediglich in den z-Gleichungen das Vorzeichen zu wech­seln. Also muß gelten:

4. Mit der vertikalen Lichtuhr am E'-Ursprung x' = 0 ist eine weitere Ereig­nisfolge bekannt. Aus (15.8) kennen wir den Zeiten-Zusammenhang t' = f / 7 . Also ist

sehen den Daten (cf, r ) und (cf',"?') ein und desselben Ereignisses, lediglich einmal in E registriert und einmal in E '. Die Antwort zu finden gelingt in vier Schritten.

4 x 4-Matrix 4 - höhere Potenzen in f, r (15.9)

auf. Wegen Raum- und Zeit-Homogenität ist gegen Koinzidenz (der Ursprünge

(15.2) konstruieren lassen. Etwa wäre ein System mit Ursprung am Ort stärk-

(15.10)

(15.11)

In diesen beiden Gleichungen läßt sich bequem ct' eliminieren. Dies führt auf

A — D und B = C . (15.12)

(15.13)

Hieraus folgt(15.14)

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276 K a p it e l 15: S p e z ie l l e R e l a t iv it ä t s t h e o r ie

Jetzt sind nur noch zwei Gleichungen für zwei Unbekannte aufzulösen. Wir set­zen also B = - ß A aus der zweiten Gleichung (15.14) in die erste ein, erhalten1 = A y(l - ß 2) = A j 7 , und haben alles beieinander. Das also ist sie nun, die Lorentz—Transform ation:

( 5 ) = AW ( * ) mit = ( - / ? 7 ~ 7 7 ) • (15'15)

Ist sie nicht hübsch symmetrisch?! Wechselt man die E'-Bewegungsrichtung (die boost-Richtung), dann ist nur das Vorzeichen von v (jenes von ß also) umzukehren:

A(-«) = ( / 7 = A - » • (15-16)

Daß dabei automatisch die inverse Matrix entstanden ist, rechne man flugs nach auf einem Schmierzettel.

L ängen-K on trak tion

In E' wurde ein Stab der Länge l ’ hergestellt und ab Ursprung auf die x'~ Achse gelegt. Bald wird er in Standard-Situation über unsere Köpfe fliegen. Das linke Ende wird also 0 Uhr unseren Ursprung passieren (so ist es mit E' telefonisch vereinbart). Um herauszufinden, wie lang der Stab ist, bekommen unsere Mitarbeiter auf der x-Achse den Auftrag, Punkt t = 0 Uhr die Köpfe zu heben. Wer das rechte Stabende genau über sich sieht, der schreie laut auf und male einen Strich in den Sand. Danach ist dann viel Zeit, den Abstand l zwischen Ursprung und Strich auszumessen. Wie sonst hätten wir es anstellen sollen?! Der Aufschrei ist Ereignis 1. Was man über ein Ereignis weiß (und als Fragezeichen, was man nicht weiß), trage man unverzüglich in das folgende Schema ein:

0 - ( I - f ) ( «<_“ — >) • (15.17)\ c \Herstellungsmaß/ / \ P I 7 / \ * “ • • J

Es kommt also vor, daß die Fragezeichen auf beide Seiten der Gleichung verteilt sind. Aber zwei Gleichungen für zwei Fragezeichen, das hört sich gut an. Die zweite Zeile von (15.17) gibt bereits das Gewünschte:

Um 0 Uhr in E beobachteter _ _ 1 _ Herstellungsmaß . .Abstand der Stabenden 7 7

Aber auch die erste Zeile von (15.17) hat es in sich. Sie liefert et' = - ß y t Was in E zur gleichen Zeit (hier t = 0) stattfindet, das erscheint den E'-ianern ganz anders. Behaupten doch zwei Leute, sie hätten zur gleichen Zeit das Licht der Welt erblickt, einer in Hamburg und einer in München. Was für eine absurde Aussage, sie hängt doch vom Inertialsystem ab! Die Aliens, welche gerade in ihren Untertassen die Erde überquerten, haben etwas ganz anderes registriert.

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E r s t e S c h r it t e 2 7 7

Zwillings-Paradoxon

Es ist richtig, was gemeinhin dazu zu hören ist. Nur „paradox“ ist daran nichts. An unserem Geburtstag verabschiedet sich mein Zwillingsbruder, um eine einjährige Reise mit Photonenrakete anzutreten. Bei seiner Rückkehr gra­tuliere ich ihm herzlich. „Wass?? Die drei Monate sind eigentlich recht schnell vergangen.“ Der Film „Planet der Affen“ beginnt mit einer möglichen Situation.

Die genannte Zeiteinsparung ist ein rein kinematischer Vorgang. Daß Beschleu­nigungsphasen bei Start, Umkehr und Landung keine entscheidende Rolle spie­len, erkennt man daran, daß sich die kinematischen Zeiten (und somit der Ef­fekt) verhundertfachen lassen, ohne an den Beschleunigungs-Vorgängen etwas zu verändern. Die letzteren müssen übrigens nicht mit Gravitation erzielt wer­den. Mit Triebwerken oder Magnetfeldern geht es auch. Der nachgenannte Zwilling B möge ein „von 0 auf 100“ in vernachlässigbar kurzer Zeit aushalten.

Bild 15-3: Zwilling B macht eine Reise

Zwilling A bleibt am Ursprung von E zu Hause. B reist in E' mit v bis x = a . Dort angekommen (Ereignis 1, t\ = a/v , t[ = ?), läßt er sich in das System E" fallen, welches schon lange (unter Ursprünge-Koinzidenz) mit - v nach links unterwegs ist (Bild 15-3). B fallt also einem in E" lebenden Kameraden C in die Arme, dessen Uhr t" anzeigt. Bis zur Rückkehr zu A (Ereignis 2, fe = 2a/v, X2 = 0, = ?) vergeht nun für B wie für C noch die Zeit (t^ — t" ) :

A-Alter = ^ , B-Alter = t'x + {% - t" j . (15.19)

Die drei gestrichenen Zeiten in (15.19) ergeben sich aus Lorentz-Transforma- tionen,

( ! M 5 ) — (*)■ <“ >und wir kommen an bei

B-Alter = i ( 7 “ - ß la ) + { \ ( 7 ^ ) - \ (7 “ + /?7«) }

1 H£7 ( i _ ß 2 ) = = I .A -A lte r . (15.21)v v 1 71; 7

Da ist es, das Weniger-alt-geworden-sein. (15.21) erinnert irgendwie an die Zeitdilatation (15.8). Offenbar hätte Zwilling B ruhig bis 2a Weiterreisen kön­nen. Dort wäre er bei Drilling D angekommen — und auch dieser hätte eigentümlich alt ausgesehen. Diese „aufgeklappte Version“ des Zwillingspara­doxons ist nur noch harmlose Zeitdilatation. Daß es tatsächlich und genau

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2 7 8 K a p it e l 15: S p e z ie l l e R e l a t iv it ä t s t h e o r ie

so in der Natur zugeht, zeigt sich nicht nur z.B. im verzögerten Zerfall von Myonen auf ihrem Weg durch die Atmosphäre, sondern auch in mannigfaltigen Experimenten an den modernen Teilchenbeschleunigern.

Bis hierher haben wir relativistische Kinematik betrieben (alles über Orte und Zeiten). Auch Geschwindigkeit und Beschleunigung sind nur Weg-Zeit-Bildun- gen. Aber nur ein Spezialfall wird für das Weitere benötigt. In E' fliege ein Teilchen mit konstanter Geschwindigkeit u ' = (0,0, t/3) nach oben. Das ist eine Ereignis-Folge mit Daten (cf' ,0,0, z' = u'3t'). Nun ziehe E' mit Geschwindig­keit v an uns vorüber. Die inverse Lorentz-Transformation übersetzt dann wie folgt in E-Daten:

( c t ^U \ t _

U<it\ U 3 t J

rx

Wie zu erwarten, erfährt also die Querkomponente einer Geschwindigkeit nur den ZeitdilatationsefFekt. Langsame Physik bleibt nach (15.3) gültig. Soeben haben wir eine Idee davon bekommen, wie sich etwas über schnelle Vorgänge in Erfahrung bringen läßt: lasse langsame Vorgänge in E' ablaufen und werfe dann E' schnell durch das Labor.

Im puls

Zwei Gedankenexperimente werden uns die Welt der relativistischen Mechanik erschließen. Es gibt Größen, welche bei Umsteigen in ein anderes Inertialsystem ihren Wert behalten, c ist eine solche. Alle Größen, welche im Ruhsystem eines Teilchens definiert sind, sind es ebenfalls. So ist z.B. die E igenzeit die am Teilchenort vergehende Zeit, der Herzschlag des Reisenden B zum Beispiel. Auch die R uhm asse eines Teilchens ist eine solche Größe. Für sie ist der Buchstabe m reserviert. Sie ist im Ruhsystem des Teilchens nach Kapitel 3 perm r = K zu messen (die Ur-Feder aus Paris darf man mitnehmen).

Wir suchen eine Bildung p (namens Impuls), welche m und die Geschwindigkeit u eines Teilchens enthält und welche bei elastischen Stößen erhalten bleibt. Das heißt, die Summe der (gesuchten, neuartigen) Impulse der stoßenden Teilchen soll vor und nach dem Stoß die gleiche sein. Wegen Raum-Isotropie kann p nur die Richtung von u haben. In

p = m(u) u (15.23)

ist also m(u) keine Matrix, sondern nur eine unbekannte Funktion, u := \u\. Gemäß (15.3) muß rn(u -> 0) -> m gelten.

Das erste Gedankenexperiment will fn(u) erhalten. Es geht auf Lewis und Tolman (Philosophical Magazine 18 (1909) 510) zurück. In E' fliegt ein Teilchen

( 7 ß l 0 0 \ f et' \ / 7 et' \ß l 7 0 0 0 ß^ct'0 0 1 0 0 0

\ 0 0 0 1) w v \ /

u$t = u^t' = u’3t / 7 , U3 =7 3

(15.22)

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E r s t e S c h r it t e 279

(ra) sehr langsam (1 1 3 c) nach oben und wird an der xy-Ebene durch ein schnelles Teilchen (Geschwindigkeit w') genau so stark gestoßen, daß u3nach = - u 3vor. Da das untere Teilchen langsam ist, sagt uns (15.3), daß p'3 = rau3 ist.

Bild 15-4: Zum Lewis-Tolman-Gedankenexperiment. Die beiden Pfeile rechts unten sind (damit man etwas sieht) viel zu steil skizziert. In Wahrheit ist uz = ^u'3 .

E' möge nun genau s o schnell (v) nach rechts fliegen, daß das schnelle Teilchen in E die gleiche Bahn durchläuft, nur in entgegengesetzter Richtung: w\ — - w [ . Aufgrund dieser Symmetrie wird es nach unten den gleichen Impuls übertragen. Der gesuchte Impuls p des unteren Teilchens muß also p3 = p$ erfüllen. Genau diese Forderung bestücken wir nun mit (15.23) und (15.22):

1 u'rat^ = p'3 = ps = m(u) 1*3 = m(u) — . (15.24)

7

Rechts und links kann jetzt u3 gekürzt werden: rn(u) = 7 (v)m . Offenbar sind noch u2 und v2 in Beziehung zu setzen. Es ist u = (1;, 0 , 1x3 ). Und u2 = v2 4 - u2 m ü s s e n wir zu u2 « v2 vereinfachen, um in der weiter oben schon benutzten Langsamkeits-Näherung konsequent zu sein. Damit ist die Funktion m(u) erhalten:

TTlm(u) = —. ..— . (15.25)

Es ist nicht falsch, aber etwas gefährlich, beim Anblick von (15.25) von „relativi­stischer Massenzunahme“ zu sprechen. „Was soll das heißen? Welche Masse?!“ könnte die aggressive Gegenfrage lauten. Bleiben wir also bescheiden: (15.25) ist eine Funktion mit Dimension Masse, welche u mit p verknüpft.

Bewegungsgleichung

Für langsame Physik gilt Newton’s Bewegungsgleichung, welche wir je nachLaune in der Form ra r = K oder als p = K aufschreiben können. Falls wir jetzt eine dieser Gleichung gehorchende Physik in E' ablaufen und dann E' mit v an uns vorüberwerfen lassen wollen, dann gibt es ein Problem. Die linke Seite p ist rein kinematisch und darum sicherlich irgendwie in E übersetzbar. Aber welche Übersetzungs-Eigenschaften mag die Kraft K haben? Welcher Faktor, (1 - w2/c2)“5 oder (1 - u2/c?)27 mag hinzukommen? Behalten p und K überhaupt die gleiche Richtung?

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280 K a p it e l 15: S p e z ie l l e R e l a t iv it ä t s t h e o r ie

Das folgende zweite Gedankenexperiment beantwortet diese Fragen überra­schend einfach. Es reiht drei Gedanken aneinander: (1.) p ist der bei Stößen erhaltene Impuls eines Teilchens, (2.) über Stoß kann seine ImpulsänderungP schnell mit der Impulsänderung piangsam eines massiven langsamen Objektesidentifiziert werden und (3 .) für das letztere gilt jpiangsam = K wegen (1 5 .3 ) . Das ist die Idee, und gesucht wird nun eine geeignete konkrete Situation für einen solchen Stoß.

Bild 1 5 - 5 : Ein Stoß-Gedankenexperiment zur relativistischen Bewegungsgleichung.

Das schnelle Teilchen (m, positiv geladen) im Bild 15-5 gelangt durch ein Loch im Kondensator (M ) und wird dort in kurzer Zeit dt ein wenig beschleunigt, ^aufm ist eine positive erste Kraft-Komponente. Der Kondensator hat in dt eine Kraft ifaufM verspürt. Sie ist negative erste Komponente. M ist frei beweglich und wird nach dem Stoß langsam nach links fliegen: dp*ffh ist nega­tiv. Alle p’s im Bild 15-5 sind erste Komponenten des bei-Stößen-erhaltenen Impulses (15.23). Wir wissen daraufhin dreierlei:

1. Der Impulserhaltungssatz gilt und nimmt hier die Gestalt+ o = Pr h + « ° h

2. Der Kondensator betreibt langsame Physik, folgt also der herkömm­lichen Newton’schen Bewegungsgleichung. Sie ist schon im Bild notiert.

3. Auf kurzem Raum ist die Lichtgeschwindigkeit quasi unendlich.Für Abweichungen von „actio = reactio“ bleibt keine Zeit.

Alles was wir n i c h t wissen, nämlich wie sich der Impuls des schnellen Teilchens verändert hat, ist in dem Koeffizienten a unter gebracht. Gleich sind wir klüger:

(X Ä'aufm dt == Pr h - P m r1. Impulssatz : == — dpM°h2. Langsam-Newton : 4= — i^aufM dt3. actio = reactio: =*= K aufm dt rx a = 1 . (15.26)

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E r s t e S c h r it t e 281

In der Gleichung rechts unten im Bild 15-5 bringen wir nun p™T auf die linke Seite, teilen durch dt und erhalten pm = ÜTauf m • Kurz, in der speziellen p- Version gilt Newton a u c h für schnelle Teilchen.Stop. Das Gedankenexperiment erlaubt diesen Schluß doch nur für eindimen­sionale Situationen, während Newton eine Vektorbeziehung ist. Der Aufbau 15-5 läßt sich abwandeln. Zuerst denken wir uns die Metallplatten strom­durchflossen, so daß ein Magnetfeld senkrecht auf der Papierebene das schnelle Teilchen nach unten ablenkt. Der Kondensator wird nun kurzzeitig nach oben beschleunigt. (15.26) bleibt richtig — für dritte Komponenten. Jetzt lassen wir sogar beide Felder zu und kippen den Kondensator. Kurzzeitig wirkt al­so die Lorentz-Kraft i f aufm = q ( e + v x . Die Unkenntnis bringen wirvorsichtshalber in einer Matrix a unter. Aber nun wird die Sache hübsch. Im­pulssatz, Langsam-Newton und actio = reactio gelten alle drei auch vektoriell.(15.26) nimmt schlicht die Form

a K ^ f m d t = p ™ h-p ™ r = -d p ™ h = — Kaut M dt = K ^ im d t (15.27)

an, und a muß die Einheitsmatrix sein. Wir sind soweit. Die relativistische Bewegungsgleichung ist

» ' . \ y \ —p = dt (m(u)u) = fn(u) u + m(u) u = dt [ r — r ) = K . (15.28)

\ y / l - tt2 /c 2 /

Hier ist K zunächst die Lorentz-Kraft. Ist kein Magnetfeld im Spiel, so kann sie (nach Kapitel 11) als negativer Gradient eines Potentials geschrieben werden: K — qE = —qV(j> — —VF . Es ist dem Teilchen nun egal, wie das Potential V(r) , auf dessen Unterschiede es reagiert, zustande kam. V(r) kann z.B. auch mit Federn realisiert sein. Die Ausführlichkeit dieser Gedanken hat einen Grund. Es gibt nämlich neben der „normalen“, im Labor vorhandenen und nachmeßbaren Kraft K in der Literatur auch noch die Minkowski-Kraft F = K f y / l — u2/c 2‘ , welche dt bereits auf das Ruhsystem des Teilchens umrechnet.Lösen wir sie doch einmal schnell, die Gleichung (15.28), in einem besonders einfachen Falle. Wenn das Teilchen bei Start in Ruhe ist, u(0) = 0 , dannbleibt die Bewegung unter K = e\qE eindimensional (u2 = 0, U3 = 0). Ist E überdies konstant, dann haben wir mit der Bewegungsgleichung leichtes Spiel:

/ \ <]Etd t( , mUl2/ 2, ) = Q E ^ m(t) = m c . (15.29)

\ V 1 - u \/c 2 ) V 1 + (t °°)

Nichts zu machen. Am SLAC (Stanford Linear Accelerator) ist die Teilchen- Geschwindigkeit c nicht erreichbar, selbst wenn man noch so lange wartet (t —> 0 0 ). Aber wer sollte das bezahlen.

Die kinetische Energie eines Teilchens

Beinahe hätte E = mc2 in der Überschrift gestanden, mit der Erklärung von Buchstaben im Gefolge. Herleitung ist der bessere Weg. Kennt man die

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282 K a p it e l 15: S p e z ie l l e R e l a t iv it ä t s t h e o r ie

Bewegungsgleichung, hier (15.28), so kommt man bekanntlich „in Richtung Energie“ mit einer Regel voran (Kapitel 3 und 11): multipliziere die Bewe­gungsgleichung mit der einmal-weniger-abgeleiteten Unbekannten! Die letztere ist u . Skalare Multiplikation von (15.28) mit u gibt

_i__*2 _- a -t dWeg • Kraft ^Arbeitm u + m u u = K u = ----- ---------- = — ----- . (15.30)dt dt

Wie schon weiter oben erklärt, ist es ganz in Ordnung, wenn Sie etwa lieber mit einem Potential V arbeiten und die rechte Seite in K u = —u W = dtV(r(t)) umformen. Die linke Seite möchten wir gern ebenfalls als d(. . . )/dt schrei­ben, um sodann (...) als kinetische Energie anzusprechen. Die folgende kleine Differenzier-Ubung hilft hier weiter

• rri uu * •m = üdu fn(u) = .. . = ~2— ^ ^ muü — m u u = (c2 — u2)m , (15.31)

wobei sich das vorletzte Gleichheitszeichen per uu = dtu2/2 = dtuu/2 = uu erklärt. Rechts die letzte Gleichung in (15.31) (nein, nicht die linke!) setzen wir nun für den zweiten Term in (15.30) ein und erhalten

(/Arbeit , o ox_l ^ f m c2 \— — = m u +(c - u ) m = m c = J . (15.32)

Der Inhalt der rechts stehenden Klammer ist also die kinetische Energie T des Teilchens: T = m(u) c2 . Endlich verstehen wir (in einer ersten Version) den gängigen Spruch „E = mc2“. Erstens ist m keine sinnlose Konstante (siehe jedoch unten), sondern die Funktion m(w), und zweitens ist E die kinetische Energie T des Teilchens. In der Relativistik ist allerdings E eine sehr übliche Abkürzung für die kinetische Energie. Was dabei zum Vorschein kommt, wenn man im Sinne kleiner Geschwindigkeiten u die Wurzel im Nenner entwickelt, das gilt es zu genießen:

m c2 2 m 2 m 2 3w2 / 1 e oo\~ J T-1ZW - mc + + J u 4? + ••• • (15’33)

Der erste Reihenterm ist zwar riesig, aber in Energiebilanzen messen wir ja einer Konstanten keine Bedeutung zu. Der zweite Term ist wie Heimat und Weihnachten. Und der dritte Term ist in unserem alltäglichen Schneckentempo nicht mehr wahrnehmbar. Höhere Theorie hat zu erklären, weshalb tiefere so gut funktionierte. Und das tut sie, die Relativistik, bei allen anderen gewohnten Beziehungen übrigens ebenfalls.

Ist diese Konstante mc2 in (15.33) wirklich bedeutungslos, oder kann man etwas damit anstellen? Bei der Ruhmasse m hatten wir an die eines elementaren Teil­chens gedacht. Aber auch zusammengesetzte Teilchen folgen der Relativistik, als wären sie punktförmig. Wir sperren zwei gegenläufig fliegende Teilchen, Iund II, gleicher Ruhmasse m in einen Koffer, , und sehen uns diesen ausso großer Entfernung an, daß er nur noch als Punkt erscheint. Beide Teilchen

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E r s t e S c h r it t e 283

mögen die gleiche Kraft K /2 verspüren. Jedes folgt seiner Bewegungsgleichung (15.28). Deren Addition gibt

dt (ffiiui + toiiuh) = K , dt ( m , Ul +2 Un ) = K , (15.34)

denn im betrachteten Moment sind die gequerten Massen gleich. In diesem Moment ist auch die Geschwindigkeit (tti + wn)/2 des Koffer-Schwerpunktes gerade Null. Er wird aus Ruhe beschleunigt. Also ist 2m die Ruhmasse des Koffers. In (15.33) für den Koffer h a t der erste Term eine Bedeutung: man kann ggf. noch Energie aus ihm herausholen.

Die beiden Teilchen im Koffer stoßen alsbald gegen seine Wände. Dort wird kurzzeitig kinetische in potentielle Energie umgewandelt. Jetzt füllen wir den Koffer mit den vielen (z.B. schnellen) Teilchen eines Gases, binden zwei solche Koffer an einen Faden und lassen die beiden umeinander kreisen — irgend­wo weit weg im Weltraum. Die Gasteilchen mögen im Laufe der Zeit in der Wand absorbiert werden. Die zuguterletzt nur noch vorhandene Wärmebe­wegung besteht aus Schwingungen harmonischer Oszillatoren: ständig ist nun halbe-halbe potentielle Energie vorhanden. Die Fadenspannung hat nicht nach­gelassen. Auch potentielle Energie hat also Masse (und ist schwer). Jede Form von Energie hat Masse. „Wieviel Masse?“ — m = E/c2 .

Die relativistische Modifikation der kinetischen Energie eines Teilchens, (15.33) links oder die Klammer in (15.32), das war die markante Stelle, die wir mit unseren „ersten Schritten“ erreichen wollten. Es waren eigentlich recht vie­le Schritte. Es fehlt aber auch vieles, phyikalische Anwendungen aller Art natürlich und ein sehr erhabener Gedanke.

In den ersten vier Kapiteln waren wir sehr stolz auf unsere Vektor-Formulierung der Natur. Sie respektiert ihre Unabhängigkeit von Drehungen des Koordi­natensystems. Die Natur hat aber m e h r Unabhängigkeit, nämlich auch noch jene von der Wahl des Inertialsystems. Dieser Gedanke ruft danach, ver­langt von uns, zwingt dazu, eine Verallgemeinerung der Vektor-Formulierung zu finden. V ierer-V ek to ren sind solche, deren vier Komponenten sich per Lorentz-Transformation vom einen in ein anderes Inertialsystem übersetzen. Wir kennen x := (cf, r) , also gibt es das. Am Geschwindigkeits-4-VektorV ••= (c, u )/w mit w := y/l — tt2/c2' waren wir nahe vorbeigekommen, und so weiter:

Genug? Nicht genug! J e d e physikalische Größe ist zu identifizieren als Lorentz-Skalar, oder 4-Vektor-Komponente oder allgemein 4-Tensor-Kompo- nente. Im Zusammenhang mit Drehinvarianz hatten wir das Entsprechende ja

(15.35)

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2 8 4 K a p it e l 15: S p e z ie l l e R e l a t iv it ä t s t h e o r ie

auch verlangt. Und wenn man diesem Ziel nachgeht*, auch in der Formulierung, dann wird die Relativitätstheorie erst richtig schön.

A. Einstein [Mein Weltbild (Ullstein-Buch Nr. 35024, Frankfurt/M 1983)] :Für mich ist das Streben nach Erkenntnis eines von denjenigen selbständigen Zielen, ohne die für den denkenden Menschen eine bewußte Bejahung des Daseins nicht möglich erscheint.... Diese sozusagen religiöse Einstellung des wissenschaftlichen Menschen zur Wahrheit ist nicht ohne Einfluß auf die Gesamtpersönlichkeit. Denn außer dem durch die Erfahrung Ge­gebenen und den Denkgesetzen gibt es für den Forscher im Prinzip keine Autorität, deren Entscheidungen oder Mitteilungen an sich den Anspruch auf „Wahrheit“ erheben können. Dadurch entsteht die Paradoxie, daß ein Mensch, der seine besten Kräfte objektiven Din­gen widmet, sozial betrachtet zum extremen Individualisten wird, der sich — im Prinzip wenigstens — auf nichts verläßt als auf sein eigenes Urteil.

xln besonderem Maße stehen Lehrbücher zur Elektrodynamik im Verdacht, in einschlä­gigen Kapiteln eine gute spezielle Relativitätstheorie zu bieten. Beispiele sind [Jackson], [Landau/Lifschitz, II] und [Becker/Sauter, I]. Eigenständige Abhandlungen, nach wachsender Schwierigkeit geordnet, sind zum BeispielA .P. French, Die spezielle Relativitätstheorie (MIT-Kurs, Vieweg, 1971),H. Melcher, Relativitätstheorie, 4. Auflage (VEB Dt. Verlag d. Wiss., Berlin 1974), und C. Moeller, The Theory of Relativity (Oxford Clarendon Press, 1962)

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16 Erste Schritte in die

Quantentheorie

Ein Raumschiff senkt sich auf die Oberfläche eines unbekannten Planeten. Ro­boter schwärmen aus und bringen experimentelle Befunde herein. Die Men­schen im Rumpf reden miteinander über die unglaublichen Vorgänge da drau­ßen, prägen Begriffe, machen sich Bilder. Ja doch, Bilder! Sie versuchen, die Zusammenhänge quantitativ zu fassen. Manche Gleichungen festigen sich, an­dere werden unwichtig, weil herleitbar. Nach fünf Monaten „steht“ die Theorie und nach weiteren fünf Monaten ist sie durch Vorhersage und experimentelle Bestätigung zahlreicher weiterer Vorgänge gefestigt.Auf den folgenden Seiten werden wir ein solches Luftlandeunternehmen ver­suchen. Die genannten „zehn Monate“ werden eingespart. Statt Details von Experimenten zu erklären, springen wir unverzüglich zu deren Idealisierung und Fazit. Und wir werden immer gleich die r i c h t i g e n Schlüsse ziehen, Be­griffe einführen und in Bildern denken, die „gehen“. Wir betätigen uns also als geniale Erfinder. Auf einem solchen Weg lauern drei Gefahren.

1. Gefahr durch Nachahmungstäter. Nein, Leute, wir tun hier nur so ge­nial. Von allen scheinbar so mutigen Aussagen ist bereits bekannt, daß und in welcher Weise sie auf Rechnung beruhen. Die Quantentheorie ist 80 Jahre alt. Sie stimmt. Sie stimmt, weil sie mit a l l e n Expe­rimenten im Einklang steht. Auch in der heutigen Elementarteilchen­theorie stimmt sie (lediglich werden wir hier nur die nichtrelativistische Variante bedenken). Ob die Physiker eine starre Lehrmeinung vertei­digen? Oh nein: wer eine einzige reproduzierbare Abweichung findet, bekommt den Nobel-Preis. Es ist oft diese Einheit der Physik (die Ge­schlossenheit der einen Mathematik, der die Natur folgt), welche die „Einstein-Widerleger“ so gern vergessen1.

2. Gefahr durch Ungeduld. Es wird ein Weilchen dauern. Wenn die Erfin­dung gemacht ist, braucht sie zunächst eine mathematische Formulie­rung. Die zugehörigen Postulate dürfen sich nicht widersprechen, sich nicht überlappen und nichts Vorhersagen, was man gar nicht messen kann (das überzählige Postulat der „Ideal-Messung“ findet sich leider in allerlei Lehrbüchern). Die neue Theorie wird zu erklären haben, wes­halb die alte so gut funktionierte. Erst wenn schließlich die Anwendun­gen auf verschiedenste Situationen gutgehen (analytisch möglich sind,

1 Es gibt einen Vortrag von Max Planck, gehalten am 17. 2. 1933 im Verein deutscher Ingenieure in Berlin, in welchem er die „Zuschriften“ kategorisiert und freundlich niedermacht. Eine Kopie der einschlägigen vier Seiten könnte auch heute noch Wirkung zeigen. „Wege zur physikalischen Erkenntnis“, Hirzel, Leipzig 1933.

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2 8 6 K a p it e l 16: Q u a n t e n t h e o r ie

Sinn machen und sich im Experiment bestätigen) und erneut gutgehen -usw., dann stellt sich Vertrauen ein: so ist sie wirklich, die Welt.

3. Gefahr durch die Penetranz falscher Vorbildung. „Mit der Quantenphy­sik betreten wir den Bereich der Modelle.“, sagt einer und lächelt schief, „Da darf man so denken, oder auch so. Hier beschreiben die Physiker nur. Und jetzt wird das alles mal wieder etwas anders beschrieben.“ Verdammt nochmal, wo kommt das her? Aus Schundromanen, man­chen Schulbüchern nämlich. Nichts gegen Romane und Bilder, aber sie müssen doch bitte etwas mit der Wahrheit zu tun haben. Die Zeit der „Atom-Modelle“ ist längst vorüber. Das Thomson-Modell ist falsch. Die Bohr-Sommerfeld-Theorie ist falsch. Die Aufzählung historischer Irrungen verbildet, lenkt ab und vergeudet wertvolle Zeit. Liebe Lehrer am Gymnasium, falls etwa solche „Modell-Seiten“ im Schulbuch anste­hen, dann lassen Sie diese doch herausreißen und gemeinsam feierlich verbrennen.

Wenn die Relativitätstheorie eine gewisse Erschütterung unserer Vorstellungs­welt war, so ist wohl die Quantentheorie ein Erdbeben. Es wird ausgelöst durch die folgenden drei Worte.

Teilchen sind ausgedehnt

Diese erste Erkenntnis beruht auf einer Fülle von Experimenten. Statt eines auszuwählen, sei lieber darauf verwiesen, daß letzten Endes a l l e Experimente die Ausdehnung zeigen, wenn man nur jeweils genau genug hinsieht.

Kaum hat er obige drei Worte im Sinn, schon ruft der Analogrechner Mensch allerlei Bilder ab. Etwas Ausgedehntes hat eine Form, vielleicht die einer Voll­kugel oder einer Hohlkugel, eines Autoreifens, einer Wolke oder einer Maus. Alles in Ordnung: jede gewünschte Form eines Teilchens kann man mit etwas Experimentierkunst qualitativ herstellen (wir werden sehen). Nur eines ist nicht erlaubt, nämlich sich die genannten Formen wiederum aus Teilchen aufgebaut zu denken. Abgelehnt. E i n Teilchen, e i n Elektron ist ausgedehnt. Nun, dann ist es wohl eine Funktion mit Werten im Raum, ein Feld. Die Funktion möge den Namen ip(r,t) bekommen. Das Elektron ist zur Zeit t im Zustand x/j .

Wenn das stimmt, die Sache mit der Ausdehnung, dann geht das Märchen vom Massenpunkt zu Ende. Die ehrwürdige Mechanik sagt die Zukunft r(t) von Punkten voraus. Wie sich aber die Form eines Teilchens im Laufe der Zeit verändert, das weiß sie nicht. Die Mechanik ist falsch. Auch die herkömmli­che Elektrodynamik ist falsch. Wir werden uns hier jedoch vorrangig damit befassen, die „erste Hälfte Theorie“ zu reparieren. Das Wort Quantenmecha­nik verweist auf diese erste Hälfte. Wie schon in der Mechanik seien Kräfte gegeben.

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E r s t e S c h r it t e 287

Bild 16-1: Eine Maus unter dem Teppich. Mitte: zwei Höhenlinien von oben gesehen. Das rechte Bild zeigt die Maus (Teilchen?) aus 100m Höhe.

Wie sehr oder „wie wenig falsch“ die Mechanik ist, das hängt nach Bild 16-1 von der Entfernung ab. Eine Maus sieht aus 100m Entfernung nur noch wie ein Punkt aus, der sich bewegt. Dies ist bereits eine erste Erklärung dafür, weshalb wir über Jahrhunderte nichts von der Ausdehnung eines Teilchens be­merkt haben. Wir waren stets zu weit von ihm weg. Im weit-weg-Grenzfall sollte (wird, siehe letzter Abschnitt) die Quantenmechanik wieder auf New- ton’s Bewegungsgleichung führen. Für welches r (t) ? — für die Mitte * des Teilchens.Ein zweiter Grund dafür, nie Teilchen-Interferenz oder einen Teilchen-Regen­bogen gesehen zu haben, liegt darin, daß die Steinchen, mit denen wir werfen, immer gleich aus ca. 1023 Teilchen bestehen. Sie sind gebunden. Nun darf auch das ganze Steinchen ruhig als e i n Teilchen angesehen werden, aber als solches hat es die 1023 fache Masse. Inwiefern große Masse zu geringer Ausdehnung (seines Schwerpunktes) führt, zeigt sich noch (allerdings nicht mehr in dieser Einführung). Einzelne freie Teilchen (z.B. kosmische) gehen wiederum unseren trüben Augen durch die Lappen.Der oben erwähnte Analogrechner ruft auch noch andere Bilder ab, nämlich aus der Rubrik „Feld“. Räumlich ausgedehnt ist auch ein elektrisches Feld, etwa wenn es mit radialer Richtung um eine positive Ladung herum im Vakuum hängt. Um einen Magneten herum bündeln sich die geschlossenen Linien eines Magnetfeldes. Feld im Raum, das g i b t es. Zu elektromagnetischen Feldern wissen wir alles. Es steckt alles in den Maxwell-Gleichungen. Zum Feld ^ wissen wir nichts. Darum ist Quantenmechanik so sehr neu, weil sie gleich am Anfang so viele Fragen aufwirft. Um darauf verweisen zu können, bekommen sie eine Gleichungsnummer: _i.1. Hat ^ eine innere Struktur? (es könnte wie E ein Vektor sein)2. Verändert sich ^ im Laufe der Zeit von ganz allein ?3. In welcher Form kann es in Ruhe bleiben? (16-1)4. Wie reagiert der Feldklumpen auf gegebene äußere Potentiale ?5. Was passiert, wenn ein ausgedehntes Elektron Zählrohre erreicht ?Die Fragen zwei bis vier verlangen nach einer Bewegungsgleichung für ip. Hät­ten sich solche FYagen nicht auch gestellt, wenn über elektrische Felder noch nichts bekannt gewesen wäre?! Allmählich wird der Blick auf Experimente unabweisbar.

Experiment 1: ein Elektron schläft

Seit etwa 1920 war klar, daß der schwere Kern eines Atoms nur einen winzig kleinen Teil des Volumens erfüllt. Der Vergleich Fußballstadion (Elektron) mit

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Erbse (Kern) ist hübsch. Zugleich ist fast die gesamte Masse des Atoms im Kern anzutreffen: Masse des Protons = 1836 mal jene des Elektrons. Rutherford’s schwere a-Teilchen (2 Protonen, 2 Neutronen) bemerkten die leichte Hülle kaum und streuten sich fröhlich am fast-punktförmigen Kern der Goldatome. Nein, dies war noch nicht das in der Überschrift genannte Experiment.

Das Experiment, aus welchem wir jetzt etwas lernen wollen, besteht stark ideali­siert (Erdanziehung bitte vernachlässigen) darin, daß wir ein Wasserstoff-Atom (Proton plus Elektron) vorsichtig in die Mitte eines großen Vakuumbereichs le­gen und dann warten. Experimenteller Befund: nichts. NICHTS passiert!!! Es strahlt nicht! Das Elektron schläft. Sein Feldklumpen ruht still und starr wie der See.

Würde der Feldklumpen wackeln, dann wäre es zumindest sehr wahrscheinlich, daß seine Ladung wie eine Sendeantenne wirken und elektromagnetische Wellen aussenden würde. Wir kommen den weiter oben schon verprügelten „Model­len“ wieder gefährlich nahe. Neben diesen gibt es auch noch jene Embleme von Atomic Energy Commissions, auf welchen man Elektronen um den Kern kreisen sieht. Jaja, auch diese Embleme lassen an Idiotie nichts zu wünschen übrig. Aber wer glaubt schon dem hier tätigen Schreiberling. Mal sehen, was [Landau/’Lifschitz] dazu sagen, Bd. III, Abschnitt 1, erster Absatz:

Bei dieser Bewegung müßten die Elektronen, wie bei jeder beschleunigten Bewegung von Ladungen, ununterbrochen elektromagnetische Wellen aussenden. Durch Strahlung müßten sie ihre Energie verlieren, was letzten Endes dazu führen müßte, daß sie in den Kern stürzen. Nach der klassischen Elektrodynamik wäre ein Atom also instabil; das entspricht in keiner Weise der Wirklichkeit.

Das Elektron in Bild 16-2 ist in seinem G rundzustand . Das H-Atom mußte so behutsam in den Raum „gelegt“ werden, damit das Elektron nicht aufwacht (angeregte H-Atome können natürlich strahlen). Aber auch Rutherfords Gold­atome befanden sich im Tiefschlaf. Ein wenig gesündigt haben wir beim Proton. Wir haben es uns kurzerhand weiterhin als klassisches Kügelchen vorgestellt. Aber es ist ein legitimes Vorgehen, sich den Weg in die Quantenphysik in klei­

Bild 16-2: H-Atom im Grundzustand

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E r s t e S c h r it t e 289

ne Schritte aufzuteilen: schwere Teilchen zuletzt. Daß das Atom als Ganzes wiederum ein Schwerpunkt-Feldklumpen ist, behandelt man besser später.

Fazit: es gibt s ta tio n äre Zustände, solche, welche sich zeitlich nicht verän­dern und nicht strahlen. Wie sich ein Elektron schlafen legen kann, das hängt vom Sofa ab, nämlich von der Form des Potentials. Hier war es das Coulomb- Potential des Protons. In der Mechanik reduziert sich Statik auf das Lösen von 0 = ra r = —gradF(r) , d.h. auf die Suche nach dem Minimum von V. Quanten-Statik ist viel komplizierter, weil zur Bestimmung der Schlaf-Formen eine partielle Dgl zu lösen sein wird. Bei elektromagnetischen Feldern ist es al­lerdings ebenso: vom Form-Bestimmungs-Typ sind auch die beliebig biestigen Probleme der Elektrostatik oder der Magnetostatik. Statik ist dennoch nur ein kümmerlicher Spezialfall (eines jeden Gebietes). In der Natur (in der Physik) bewegt sich etwas. Quanten-Dynamik ist das eigentliche und viel interessantere (aber auch schwierigere) Anliegen.

Das Proton trägt die positive Elementarladung e. Das Atom als Ganzes ist elektrisch neutral. Es ist also recht verführerisch, in der schraffierten Wolke von Bild 16-2 eine Ladungsdichte g(r) mit f g = — e zu erblicken. Sobald man aber dafür den Nachweis antreten will, bekommt man es entweder mit Meßprozeß-Details zu tun (siehe unten) oder man muß weitere Teilchen in die Quantenmechanik des Systems einbeziehen. Fatal wäre, wenn jemand einen Teil der Wolke mit einem anderen Teil wechselwirken lassen und die elektro­statische Energie ausrechnen wollte. Das wird falsch2. Man darf Ladungs- Wahrscheinlichkeitsdichte sagen (siehe später). Aber „Wolke“ ist gar nicht so übel: eine aus ganz neuer Physik.

E xperim ent 2: ein E lek tron te ilt sich

Wir Menschen sind zwar ausgedehnt, aber es gelingt uns nicht, ein Bein bei Oma zu lassen und den Kopf in der Uni. Mittels Brückenpfeiler ein Auto zu zerteilen, das könnte zur Not gehen. Ein Elektron macht so etwas ohne Wehklagen, ein Feldklumpen Licht übrigens auch. Thomson schoß 1927 einzelne Elektronen durch eine dünne Folie: deren Atomkerne waren die Brückenpfeiler. Davisson und Germer ließen Elektronen schräg gegen ein Waschbrett ballern (gegen ei­ne Kristalloberfläche, ein atomares Waschbrett also). Aus diesem Experiment werden wir so gut wie alle erforderlichen Schlüsse ziehen, auch quantitative.

2 Vorgriff: Energie der Wolke = = - I P (IP = 13.6 eV), bestehend aus kineti­scher = IP und potentieller Energie $\i>\2V = - 2 P. Das sind ^-Bildungen. Dieelektrostatische Energie der Verteilung g = -e \tp \2 wäre hingegen eine V^-Bildung und würde (abzüglich Proton allein) -11/8 P geben. — Übrigens, Bild 16-2 illustriert ^ und nicht |V>|2. Sobald wir zur inneren Struktur mehr wissen, können wir die ^-Phase per Farbgebung hinzufügen oder mittels winziger Zeiger an jedem Punkt.

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Zur Erklärung dessen, was in Bild 16-3 geschieht, ist vorweg eine Erkenntnis nützlich, die man sich am besten erst später aus der Schrödinger-Gleichung per Rechnung her leitet. Wenn ein Teilchen keine Potentiale spürt (keine Schlafmul­de hat), dann verbreitert sich sein Feldklumpen ganz von allein, das W ellenpa­ket zerfließt. Das Elektron mag nach Austritt aus einem Heizdraht und nach Beschleunigung auf eine bestimmte (bekannte) Energie noch recht gut lokalisiert sein. Aber am Kristall-Waschbrett kommt die Wolke des (einen!) Elektrons bereits auf breiter FYont daher. Vom Kristall entfernt sich das Elektron wie eine Wasserwelle von einer Wellblechwand. Die Teilwellen interferieren. Was sich dann der Fotoplatte nähert, das ist ein Elektron in einem mehr-buckligen Zu­stand (hilfreiches Wort!). Je nach Laune wandeln wir übrigens das Experiment etwas ab. Davisson-Germer’s Zählrohre sind bereits durch die Körner der Foto­platte ersetzt. Das eigentlich räumliche Kristallgitter s e i waschbrettförmig, damit wir eben denken können. Das Wellblech sei einfach ein gegebenes pe­riodisches Potential, unten Null, nach oben hin stärker werdend. Daraufhin erwartet man wohl, daß Streifen auf der Fotoplatte erscheinen (Fragezeichen). Langsam, langsam. Was die bösen Fotokörner dem Elektron ab verlangen, das ist grauenhaft und wird erst im übernächsten Abschnitt aufgegriffen.

Das Teilchenfeld h a t S tru k tu r: ip £ C

Wenn sich Teile des Elektron-Feldes überlagern (addieren) können, um sodann Interferenz zu zeigen, dann muß dieses Feld in irgendeinem Sinne eine Welle sein können, d.h. etwas, was periodisch vom Argument k r — u t abhängt. Wir erinnern uns, was Schall und Licht sind. Schall kann interferieren:

k l = ( k , T ] , 0 ) , % 2 = ( f c , - ! ? , 0 ) , f c l + f c a = ( M , 0 ) , t l — h l = ( 0 , J J , 0 ) ,

cos (^kir - üütj + cos ( k z r - üütj = 2 cos (kx - ut) cos (rjy) . (16.2)

Überlagerung zweier leicht verkippter Wellen nach rechts gibt eine y-modulierte Rechts-Welle. Links von der Verkippungsursache möge eine ebenwellige Luft­dichte ~ cos( k r —ojt) Vorgelegen haben. Jetzt kommt das Problem. Zu einem einfachen in k -Richtung fliegenden Elektron-Feld ist eine solche „Welligkeit vorher“ nie beobachtet worden3, Betonung auf „solche“. Wenn sich z.B. der

3 Eine Fotoplatte, in den linken Strahl gehalten, schwärzt sich gleichmäßig.

Heizdraht

Kristall

' Fotoplatte

Bild 16-3: Ein gestreutes Elektron interferiert mit sich selbst

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E r s t e S c h r it t e 291

Kugelklumpen aus Bild 16-2 nach rechts bewegt, dann sollte wenigstens das ungewellt bleiben, was man als Ladungsdichte (Gefahrenzeichen) ansprechen möchte. Die folgende Zeile zeigt den Weg:

l = c 2 + s2 = \c + is | 2 = I e!( * I2 = \ i)(f , t)\2 . (16.3)

Welligkeit in der Phase, aber nichts davon in der Ladungs(wahrscheinlichkeits)- d ich te-e |^ |2. Von hier an halten wir daran fest, daß allgemein das Teilchen- Feld komplexe Werte hat. Es ist sozusagen „zweikomponentig“, denn man kann ja die Kunstzahl i auch als Matrix schreiben:

- > ) , ( • * t r / ) .

Das ist allerdings unpraktisch. Übrigens konnten auch die elektromagnetischen Felder zu einem ip = E +\cB kombiniert werden. Erst in meßbaren Größen darf kein i mehr erscheinen. Frage 1. in (16.1) ist beantwortet.

Nun sind wir darauf gespannt, ob und wie wohl zwei verkippte solche e-hoch- i-Wellen interferieren. Mit den beiden k -Vektoren aus (16.2) folgt

eiÄir-iW« + eifar-iW« = eite-iW«+iW + eiÄ*-iW«MW = 2 ei(te- « 0 cosfay) . (16.4)

Hurra. Die Kosinus-Modulation gibt dem Feld Nullstellen. Der Abstand zwei­er Nullinien ist 7r / 77. Also kann man 77 messen. Die Idealisierung, auf welche die Rechnung (16.4) zutrifft, wird üblicherweise das D oppelspaltexperim ent genannt. Die überlagerten beiden Wellen können nämlich von zwei parallelen Linien (Spaltabstand a) auf einer zum Schirm parallelen Ebene (große Entfer­nung £) ausgegangen und erst später quasi eben geworden sein (malen!). Die Komponenten z.B. von k\ stehen dann im Verhältnis der genannten Längen: k/rj = 2£/a. Kennt man a, so auch k. Bei der Rückkehr vom Doppelspalt zu Davisson-Germer, d.h. bei Übergang zu den vielen „Spalten“ am Wellblech von Bild 16-3, passiert nichts qualitativ Neues mehr. Kurz: aus der Gitterkon­stanten des Kristalls und aus dem Bild am Schirm gewinnt man k = | k |. Die Richtung von k v o r Erreichen des Kristalls ist natürlich die Flugrichtung des Teilchens.

Zur Beschleunigungsphase links im Bild 16-3 weiß man, welche Energie E das noch fast punktförmige (noch klassische) Elektron mitbekommen hat. Aus E = p2/(2m) läßt sich auf seinen Impuls p schließen. Nun kann man verschiedene E hersteilen und eine lange Meßreihe verfolgen, stets mit p in der ersten Spalte und k in der zweiten. Was mag dabei auffallen? Experimenteller Befund:

p = h k , h = 1.05 ... • 10”34Js . (16.5)

Je höher die Energie des Teilchens, um so kürzer seine Wellenlänge A = 2 n / k . Darum also rufen Leute an den Beschleunigungsanlagen nach immer höhe­rer Energie, weil sie dann mit dem „Teilchen-Licht“ immer kleinere Objekte

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auf lösen können. Die Beziehung (16.5) gilt natürlich nur, wenn das Teilchen in einem elk r -Zustand ist. Wir werden noch sehen, daß ihm genau dann auch ein bestimmter Impuls p zugeordnet werden kann (hk nämlich).

Bei quantenmechanischen Vorgängen ist es mitunter wichtig (und mitunter gar nicht so einfach), das System zu benennen. Es besteht aus den quantenmecha­nisch zu behandelnden Teilchen, aus Potentialen (den klassisch vorgegebenen Kräften also) und ggf. Anfangsbedingungen. N i c h t hinzu gehört der Meß­apparat, welcher dem Teilchen Übles aufzwingt (der nächste Abschnitt kommt ja gleich). Systeme sind in Zuständen welche sich im allgemeinen mit der Zeit t verändern. So ist es auch bei meiner Tochter. S uperposition heißt, daß man Teile des Feldes eines Teilchens, wenn sie übereinander laufen, ein­fach addieren darf. Etwas gefährlich ist der oft zu lesende Spruch, mit tpi und %/)2 sei auch tß = aipi + ßip2 ein Zustand. Genauer bitte: wenn die ip2 mögliche Systemzustände sind, dann ist auch die Linearkombination ein m ö g l i c h e r Zustand, sofern man ihn nachträglich erneut norm iert. Nor­mieren heißt f ip*ip = 1 zu verlangen. Mehr dazu steht unter (16.8) und alles in (16.29), (16.30).

Frage ist nicht A ntw ort

Wir sind immer noch bei Bild 16-3. Rechts fliegt also ein aus Wolkenfetzen bestehendes ausgedehntes Elektron durch den Raum und ist dabei ganz glück­lich. Die zerfetzte Wolke trägt insgesamt noch immer die Elementarladung -e . Aber nun trifft sie auf einen Schirm aus Fotokörnern und jedes dieser Körner stellt eine sehr unanständige Frage „Elektron, bist Du da?“. Um sich schwärzen zu können, braucht ein Korn die ganze Ladung -e . Ja oder Nein! Nun kann einem das arme Elektron leid tun. Es ist weder da noch dort, sondern eben ausgedehnt. Es kann nicht reden, um seinen Zustand zu erklären. Naja, also sagt es halt bei irgendeinem Korn ja, damit wenigstens eines zufriedengestellt ist. Frage ^ Antwort. Der Frage A entspricht eine makroskopische Apparatur und dieser ein Operator (?!). Die Antwort a, der Meßwert, ist hingegen eine ganz konkrete reelle Zahl. Eigentlich sind es am Schirm zwei Operatoren „Hast Du meine x-Koordinate, hast Du meine ^/-Koordinate“, und die sporadische Antwort ist ein Zahlen-Paar. Am besten fokussieren wir das Elektron noch auf die Papierebene von Bild 16-3. Der Schirm ist dann eine Linie und a ein sporadischer y -Wert. Eindimensional denkt es sich leichter.

Die Quelle im Davisson-Germer-Experiment möge jede Minute ein Elektron auf die Reise schicken. Am Abend waren wir ungeduldig, haben nach 10 Minuten die Fotoplatte durch eine neue ersetzt und die alte entwickelt. Sie zeigt 10 schwarze Punkte, willkürlich verteilt. Enttäuscht gehen wir zu Bett. Aber am nächsten Morgen ist etwas Wunderbares zu sehen. Die 500 Punkte haben sich zu parallelen schwarzen Streifen gruppiert. Jetzt, ja jetzt können wir die Größe tj ablesen — oder auch noch bis nächste Woche warten, der größeren Genauigkeit wegen. Die Frage 5. in (16.1) hat eine erste Antwort bekommen.

Es ist eine sehr nützliche Anstrengung, zu jedem Teilgebiet der Physik in we­

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nigen Worten sagen zu wollen „was es ist“. Speziell zur Quantenmechanik sind wir jetzt dazu in der Lage. In einer groben Weise sind wir zum ersten Male „durch“. Was in der folgenden Gleichung (16.6) zu lesen steht, ist zum einen die Zusammenfassung des Bisherigen. Zum anderen sind aber auch ein paar Neuigkeiten eingearbeitet. (16.6) ist also auch ein Ausblick, eine längliche Überschrift sozusagen. Wenn man die Formeln zur rechten erst einmal ignoriert (einem späteren Rückblick vorbehält), dann folgt nun eineQuantenmechanik in Worten :

Ein quantenmechanisches System ist in einem Zustand.Eine Bewegungsgleichung, gegebene Potentiale enthal­tend, regiert die zeitliche Veränderung des Zustandes, gibt aber auch seine möglichen statischen Formen.

Die Frage (makroskopisch klass. Meßapparat, Observa- ble, A ) ist im allgemeinen etwas anderes als die Ant­wort (Meßwert, a ). Bei (bezüglich Zustand) unpäßli­cher Frage kann man nur noch eine Wahrscheinlich­keit d a f ü r angeben (berechnen und per vielfacher Experiment-Wiederholung messen), daß ein bestimmter reeller Meßwert erhalten wird.

Physikalisch-anschaulich zerfallen obige Aussagen in zwei sehr unterschiedliche Strukturen. Über dem horizontalen Strich ist die Rede von der eindeutigen und vollständigen Zukunftsregie eines Feldes, einer Art Elektrodynamik. Warum nur genügt das nicht — eine über 50 Jahre verdrängte Frage, welche heu­te wieder aktuell zu werden scheint. Unter dem Strich steht DAS Mysterium der Quantentheorie. Es teilt die Physiker in zwei Lager. Die einen sagen, so ist es und fertig (Kopenhagener Schule). Wer heute noch nach „verborgenen Parametern“ sucht, der habe nichts verstanden. Im anderen Lager wird er­wogen, daß die Bewegungsgleichung auch das Verhalten des Meßapparates als Vielteilchen-Quantensystem restlos erfaßt (Everett-Postulat). Die untere Hälf­te gelte, sagt Bell, nur FAPP: for all practical purposes (mehr hierzu in den Zitaten am Kapitelende).

Eigenartigerweise hat der überwältigende Erfolg der Quantentheorie (eine Über­einstimmung von Experiment mit analytischem Resultat nach der anderen) fast ausschließlich nur mit der oberen Hälfte zu tun (mit dem Lösen der Schrödinger- Gleichung): Atomspektren, chemische Bindung, Bänder im Festkörper, Tunnel­effekt, Phononen, Magnetismus, statistische Physik, Kerne und so fort. Ob nun „Krückstock“ oder nicht, die untere Hälfte wird uns jetzt entscheidend helfen, unsere Worte-Quantenmechanik in Formelsprache zu übersetzen.

Meßwerte sind die Eigenwerte von A

Es wird jetzt wirklich unausweichlich, Erfindungen zu machen (und erst nach­träglich zu testen). In (16.6), untere Hälfte, ist von unpäßlichen Fragen die

V a r i a b l e , £ )

e ci hiß = H 'ip H ip = E(p

(16.6)

A(fa = (Ufa

P« = IJV ^I2

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2 9 4 K a p i t e l 16: Q u a n t e n t h e o r i e

Rede. Vielleicht gibt es auch päßliche. Dazu haben wir unverzüglich eine Idee: wenn man durch Potentiale das Elektron auf y — a an der Fotoplatte fokussiert, dann wird mit Sicherheit das Fotokorn bei y — a geschwärzt: Messung von Y gibt Meßwert a mit Wahrscheinlichkeit 1 . Zustand und Frage können also zueinander passen. Wenn passend, wollen wir einen Zustand mit ip (statt tp) bezeichnen. Sollte ein Leistungskurs bis hierher Vordringen, dann mögen dem Lehrer allerlei Geschichten aus dem täglichen Leben einfallen. Ah, Schüler X hat mal wieder seinen Grundzustand erreicht: da wackelt nichts mehr. Die Nachbarin Y lärmt wieder, man sollte es ihr mit Photokörnern stopfen. Würden Sie zu meiner Frage bitte endlich einen Eigenzustand annehmen?! Der Alltag läßt sich auch manipulieren, z.B. dadurch, daß ein Befragter nur ein Gerät mit Ja - und Nein-Knopf bedienen darf. Es können auch 3 Knöpfe sein, oder ein Klavier. Dem Wolkenfetzen-Elektron von Bild 16-3 steht ein Klavier mit unendlich vielen infinitesimal dünnen Tasten zur Verfügung.Ein Operator A sei gegeben. Wir variieren Zustände tp (in Gedanken und experimentell) so lange, bis ein solcher „paßt“, bis also im wiederholten Ex­periment A-Messung stets ein und denselben Meßwert a ergibt. Diesen zu A passenden und a gebenden Zustand (pa nennen wir E igenzustand von A zum M eßw ert a . Jetzt tasten wir in unseren Erinnerungen herum, ob wir nicht eine Struktur kennen, welche einem Operator zugleich Werte und je dazu gehörige Funktionen zuordnet. Natürlich, derartiges kennen wir. Es ist das Eigenwertproblem. (J J) hat Eigenwerte +1 und - 1 , und die je zugehörigen Eigenvektoren sind bzw. Auch im Funktionenraum kennen wir z.B.

die Eigenfunktionen elkr des Laplace-Operators A mit Eigenwerten - k 2 (siehe Fourier-Transformation und Diffusionsgleichung).Versuchsweise, aber völlig allgemein, postulieren wir nun, daß die möglichen Meßwerte bei A-Messung aus

I-------1A(fau(x) = a(fiau(x) (16-7)

zu erhalten seien. Der Pfeil soll deutlich machen, worauf (auf welche Abhängig­keit) A wirkt. Die Indizes a, v können erst n a c h Lösung von Aip = a(p angebracht werden. Der Index v = 1,. . . ,7 7 ist nur dann erforderlich, wenn es zu einem Eigenwert a mehr als eine Lösung gibt. 77 heißt E n ta rtungsg rad von a. Als Lösung wird nur eine „normierbare“ Funktion anerkannt, und als andere Lösung nur eine zu bisherigen Lösungen „orthogonale“. Wenn A Matrix ist, sind uns solcherlei Worte aus Kapitel 4 (Hauptachsentransformation) wohl- bekannt. Bei der Variablen x ist natürlich an die Koordinate in ID gedacht. Aber man darf, und das ist ein sehr angenehmer Umstand, sich x auch als In­dex für Vektorkomponenten denken (Aip = Ajk<pk), oder als r in 3D (oder als Variablen-Satz r , er für ein Teilchen mit Spin).Eigenvektoren mit endlicher Anzahl von Komponenten sind selbstverständ­lich normierbar. Die Eigenwerte liegen „diskret“. Aber bei unendlich vielen Komponenten ist die Normier bar keit eine echte Forderung. Sie verwirft nicht- normierbare Vektoren. Bei Eigenfunktionen (kontinuierlicher Komponenten­index) ist es ebenso. Die Eigenwerte a können in jeder erdenklichen Weise

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E r s t e S c h r it t e 295

auf der a-Achse angeordnet sein. Sie können diskret bleiben (Drehimpuls), halbseitig kontinuierlich liegen (Energie eines freies Teilchens), Lücken bilden (Energiebänder) oder auch artig die ganze Achse ausfüllen (Ort und Impuls). Die Anordnung der Eigenwerte auf einer Achse nennt man das S pek trum des Operators A .

Wahrscheinlichkeit = Betragsquadrat

In diesem Unterabschnitt erleichtern wir uns das Leben ein wenig, indem wir nur Operatoren A zulassen, deren Eigenwerte a diskret liegen und nicht entartet sind. A(pa = a(pa sei gelöst, alle a, ipa also bekannt. Zu Wahrscheinlichkeiten beim Würfeln war in Kapitel 14 alles gesagt. Ist ein System in einem Eigenzu­stand ^ = (pa von A, dann wird a mit Wahrscheinlichkeit 1 gemessen. Interes­santer ist der Fall ip ^ ipa (ip ist in keinem der ipa). Bei Davisson-Germer wur­den die Streifen auf der Platte dort besonders schwarz, wo besonders viel Wolke auftraf. Irgendwie sollte die Wahrscheinlichkeit für a damit Zusammenhängen „wieviel Anteil“ ^ »in Richtung“ von ipa hat. Anteil, Anteil — so könn­te man bei einem Vektor ip reden und seine Projektionen auf Basisvektoren meinen. Vielleicht sollten wir ip entwickeln nach den (aufspannen durch die) A-Eigenfunktionen p a. Diese bilden, wie wir wissen, jedenfalls im Vektorfall ein VONS. Die a-ten Koeffizienten einer solchen Entwicklung sind im allgemei­nen komplex und darum nicht direkt mit der gesuchten Wahrscheinlichkeit Pa identifizierbar. Überdies muß die Summe über alle Pa eine 1 geben. Aber das Koeffizienten-Betragsquadrat hat eine Chance. Mal sehen:

1p = ^2ca(pa , Po = |c0|2 - (16.8)a

W e n n wir im Funktionenraum ein Skalarprodukt definieren, mit diesem die Basis per (p%*(pa = ha orthonormieren (können) u n d a u c h den System­zustand ip gemäß \j)* • ip = 1 normieren, dann funktioniert (16.8) tatsächlich, denn dann ist

1 = lj>* • i/) = ^ 4 c a(pt • lCa|2 = Pa » (16.9)6,a a a

und der Interpretation von |ca|2 als Wahrscheinlichkeit, a zu erhalten, steht nichts im Wege. Ob auch die Natur mitspielt, das muß sich natürlich erst noch erweisen.

E xperim ent 3: ein P h o to n

Newton soll geglaubt haben, daß das Licht ein Strahl von kleinen Körnchen sei. Vermutlich hat man darüber im vorigen Jahrhundert gelächelt: „es ist doch ein Feld!“. Heute wissen wir, daß beide, Elektron und Photon, Feldklumpen sind, welche beim Meßprozeß Portionen-Charakter zeigen. Photon und Elektron sind nahe Verwandte.

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296 K a p i t e l 16: Q u a n t e n t h e o r i e

Es ist etwas sehr Schönes, was die Quantenexperimente zutage gefördert har benr eine unification. Es gibt überhaupt nur Felder, Quantenfelder nämlich. Das Elektron kann am Zählrohr nur seine ganze Ladung —e abgeben. Das Photon, eine elektromagnetische (e.m.) Welle mit Frequenz w, kann am Zähl­rohr nur eine ganze Energieportion hw abgeben. Es ist nur eine Kuriosität der menschlichen Historie, daß wir von zwei extrem verschiedenen Seiten gekommen sind, bei Teilchen vom Körnchen-Glauben, beim Lichtquant von der klassischen Feldvorstellung.

Wir streifen diese Dinge hier nur kurz, weil man aufgrund der Polarisierung vone.m. Wellen die etwas waghalsige Erfindung (16.8) sehr schön experimentell bestätigen kann. Im Bild 16-4 läuft eine e.m. Welle nach rechts (x-Achse) auf ein Nicolsches Prisma zu. Sie ist in einer bestimmten Richtung e polarisiert, was sich bestens experimentell so einrichten läßt, e liegt in der y z -Ebene. Für Begrenzung der Welle in y - und ^-Richtung sorgen geeignete Randbedingungen. Das Prisma zerlegt in den in ^-Richtung polarisierten und den in ^-Richtung (d.h. senkrecht zur Bildebene) polarisierten Anteil. Der erstere geht durch, der zweite wird nach oben gelenkt. Die einlaufende Welle habe genau die Energie hw (Feld-Energie siehe Kapitel 11). Die unpäßlich fragenden Subjekte sind photo multiplier, denn sie sind nur zufrieden, wenn sie die ganze Portion hw zu schlucken bekommen. Gibt nämlich der rechte Zähler ein Signal, dann tut es der obere nicht und umgekehrt.

Bild 16-4: Ein Photon unter Antwort-Zwang

Wie beim Davisson-Germer Experiment wird die Sache erst nach 500-facher Wiederholung spannend. Der Einheitsvektor e = (0, cos(a), sin(a)) ist be­kannt. Die Entwicklung (16.8) hat jetzt nur zwei Koeffizienten: cQben = cos(a) und Cdurch = sin(a). Nun raten Sie mal, wie der experimentelle Befund aussieht:

-foben := COS (üf) , -Pdurch = sin2(ü;) , -Poben + - durch = I • (16.10)

Perfekt! Zur Begründung von (16.8) läßt sich also das Verhalten von Photonen zu Rate ziehen. Allerdings haben dann die armen erstmals-Lernenden arg an der Ungeheuerlichkeit „Elektron ähnlich Photon“ zu kauen. Analoges gilt zu der Versuchung, mit der diskreten Spin-Variablen des Elektrons zu beginnen. Ja­ja, wir hadern mit der gängigen einführenden Literatur zur Quantenmechanik. Dort findet sich auch gern allerlei Philosophisches, Historisches und Pseudoan­schauliches zur Unschärferelation. Wir kennen sie aus dem Fourier-Kapitel 12: A k Ax > \ . Na und? So wenig Bedeutung, wie diese Ungleichung innerhalb der Elektrodynamik hat, so wenig hat sie auch in der Teilchen-Feld-Dynamik.

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E r s t e S c h r it t e 297

„H erle itung“ der Schrödinger-G leichung

Die Bewegungsgleichung der Quantenmechanik kann man natürlich nicht wirk­lich herleiten (woraus denn?). Aber es gibt einen heuristischen Weg, der einen wahren Erfinder vom Stuhl reißt. Wir reihen sechs Gedanken aneinander, und dann steht die Schrödinger-Gleichung auf dem Papier.

1. Die uns bekannten Bewegungsgleichungen für Felder (Diffusionsgleichung, zweite und vierte Maxwell-Gleichung) enthalten nur erste Zeitableitungen. Ist also zur Zeit t = 0 alles über einen Feldklumpen bekannt, dann liegt seine Zu­kunft bereits fest. Eine Momentaufnahme genügt. Auch für ip (eines Teilchens zunächst) soll derartiges gelten. Also schreiben wir

ip(r,dt) = ip(r, 0) + dt-//// = ip{r,0) + dt'U'ip(r, 0) (16.11)

auf. HU ist eine Funktion von r , welche irgendwie aus ip(r ,0) bestimmbar sein muß. Wir dürfen also rechts in (16.11) sagen, daß lffl durch Anwendung eines Operators aus ip(r,0) hervorgehe. H wirkt auf die r -Abhängigkeit.

2. Aus der Interferenz von Anteilen ^ i, eines Teilchenfeldes schließen wir, daß jeder Anteil seine eigene Zukunftsregie hat: ipj(r,dt) = ^>(^,0) + dt 'Hipj ir,0) (j = 1,2). Mit \p = xp 1 + ^ 2 hat also auch Hip = Hipi + Wfo zu gelten. % muß folglich ein linearer Operator sein. In (16.11) schaffen wir den Term ip(r,0) nach links und teilen durch dt. Zwischenresultat:

\hlp = Hip , 'H ist ein linearer Operator . (16.12)

\p ist komplexwertig, das unbekannte % ebenfalls. Also durften wir einen Faktor ih abspalten und dadurch den Operator H ein wenig umdefinieren.

3. Auch die Antwort einer Bewegungsgleichung hängt von der Fragestellung ab. Angeregt durch unser H-Atom-Bild 16-1 (und wie schon bei der Diffu­sionsgleichung) fragen wir, ob (16.12) formstabile Lösungen erlaube, d.h. sol­che, die im Laufe der Zeit ihre r -Abhängigkeit behalten. Wir setzen also an (Separationsansatz) — und in (16.12) ein —

4>(r,t) = x(t)>p(7) ihx<p = x'H-lP , = " £

ihX = £x (r> X = e~*£ t ) , (16.13)

Die beiden Brüche in der oberen Zeile rechts zeigen, daß der linke Bruch (und ebenso der rechte) weder von r noch von t abhängen kann (eine Folge der speziellen Fragestellung). Die Konstante wurde mit £ bezeichnet. Formstabile Lösungen gibt es, falls Hip = £<p Lösungen hat.

4. Ein Quantensystem (in zeitunabhängigem Potential) strahlt so lange Energie ab, bis es einschläft. In einem stationären Zustand höherer Energie (oben im Doppelbett) kann es zwar vergleichsweise lange verweilen. Dort befindet es sich aber nur in einem labilen Gleichgewicht (Sattel). Also schießen wir dem System

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2 9 8 K a p i t e l 16: Q u a n t e n t h e o r i e

von Zeit zu Zeit ein „schwarzes Stäubchen“ in die Nase, um es aufzuwecken4. Nun ist sichergestellt, daß es den Grundzustand erreicht. Es muß wohl stets einen solchen energetisch tiefsten Zustand geben, denn sonst bräuchten wir kei­ne Kraftwerke: ein Stäubchengewehr würde genügen. Der Grundzustand muß ein Eigenzustand zur Energie-Frage sein. Energie ist Meßgröße, Observable, also entspricht ihr ein Operator. Er wird traditionell H am ilto n -O p era to r genannt und mit H bezeichnet: Hipo = Eopo. Weil Grundzustand liefernd, spielt H unter den Observablen eine besondere Rolle.

Der Grundzustand strahlt nicht, ist formstabil und eine der Lösungen ip von(16.13). Weil mit Latein am Ende, blicken wir nun auf eine ganze Reihe weiterer Experimente mit dem Befund, daß ein System in a l l e n JT-Eigenzuständen <pn nicht-strahlend und formstabil is t5. Mit Hipn = Enipn gilt also auch %<pn = £nipn 6. Die Zuordnung En zu Sn sollte unabhängig vom speziellen System sein (Prinzip der Einfachheit):

£n = £{En) , H = £ ( H ) = 5 2 jj, £M (0) • (16.14)V

Die Taylor-Reihe zeige, wie man sich generell eine Funktion von einem Operator definiert.

5. Ein Quantensystem bestehe aus zwei weit entfernten Teilen, welche keine Notiz mehr voneinander nehmen. Dann ist einerseits H = H\ + H2 (H\ wirke nur im linken Teil, H2 nur im rechten). Andererseits muß auch der Form­Operator % additiv zerfallen, % = %\ + %2 > und es folgt

€(HX + H2) = €{HX) + S{H2) rv U = E(H) = A • H . (16.15)

6. Welchen Wert nun der in (16.15) verbliebene Zahlenfaktor A hat, tschja, dazu müssen wir die Natur befragen. Sie ist ja eigentlich schon mannigfaltig befragt, nämlich in der klassischen Mechanik. Quantenmechanik muß Newton als Grenzfall enthalten. Wenn man die zugehörige Rechnung (siehe unten) unter Offenhalten des Zahlenwertes von A durchführt, dann folgt A = 1. Fertig:

ihxp = H ip . (16.16)

Die Fragen 2. und 3. aus (16.1) sind beantwortet. Damit ist die Erfindung im wesentlichen abgeschlossen. Das ist sie, die Quantenmechanik, siehe auch

4 Eine winzige Erschütterung genügt, um eine Ameise, die genau in der Mitte eines ideal glatten Sattels sitzt, ins Gleiten zu bringen. Die Erschütterung darf nicht gerade genau in Pferderücken-Richtung verlaufen: „schwarz“ heißt, alle Freiheitsgrade ansprechend. Wird auch das Strahlungsfeld quantisiert, dann sorgt dieses bereits für „spontane Emission“ — notfalls von Gravitationswellen (s.a. nächste Fußnote).

5 Es ist so im Mechanik-Teil der Quantentheorie. Erst wenn man auch die e.m. Felder quantisiert, werden Übergänge zu tieferen </?„ möglich. Bei einem solchen Übergang geht es übrigens ganz gemächlich zu auf der Zeitachse. Das Märchen vom „Quantensprung“ ist eine weitere dieser gängigen Lügen.

6 Ein linearer Operator liegt fest, wenn bekannt ist, wie er auf alle Elemente eines VONS wirkt. Kennt man die Sn, so kennt man H. Dies war Vorgriff auf den Abschnitt zum Hilbert- Raum.

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E r s t e S c h r it t e 299

(16.6). Vielleicht erscheint sie vorerst noch als ein heilloses Durcheinander von Argumenten, Denkweisen und noch nicht im Detail untersuchten Formeln. Bei­spiele und Anwendungen fehlen. So kann das nicht bleiben. Als erstes nehmen wir diese 12 Seiten und schaffen sie zu einem Patentanwalt. Der nimmt den Auftrag an: nächste Woche wiederkommen. In welchen juristischen Jargon er die Sache dann übersetzt haben wird, das steht im Abschnitt Postulate.

Von den offengebliebenen Fragen notieren wir uns vorsichtshalber einige. Gibt es erlaubte/unerlaubte Operatoren? Wie ist das Skalarprodukt zu definie­ren? (siehe folgender Abschnitt). Bleibt die Norm ip* mip = 1 im Laufe der Zeit erhalten? Wie sieht der Hamilton-Operator H für konkrete Systeme aus, wie der Operator des Ortes, des Impulses und überhaupt aller Observablen?

Auf eine spezielle Frage sei die Antwort sofort gegeben. Sie wird mitunter von Studenten geäußert, welche schon mittendrin stecken: woher \pl Woher bekommen wir die Anfangsbedingung ip(r,0), zu welcher dann die Bewegungs­gleichung (16.16) alle Auskunft bereithält? Dazu denken wir an die Mechanik zurück: woher bekamen wir dort r (0) und r(0), woraufhin dann Newton wuß­te, was er zu tun hat? Wir nehmen einen Massenpunkt zwischen die Finger, warten bis er sich ausgezappelt hat und werfen ihn (Kräfte von Finger auf Mas­se wirken lassend, d.h. Newton ausnutzend) bei r(0) mit r(0) davon. Nun ist er im gewünschten Zustand gleichförmiger Bewegung. Völlig analog hierzu ist auch in der Quantenmechanik zu antworten:

Woher tp ? — System aufstellen, warten bis es im Grundzustand ist, Potentiale s o verändern, daß sich ( .zu einem bestimmten Zeitpunkt t\ aufgrund der Schrö- ' * 'dinger-Gleichung ein gewünschter Zustand \p(t{) ergibt.

Ein Zustand ip ist also reproduzierbar (wenigstens im Prinzip), d.h. beliebig oft erneut herstellbar. Sein Wahrscheinlichkeitsgehalt ist folglich meßbar, ganz im Sinne von Kapitel 14. Übrigens ist der Informationsträger %p auch aus Mes­sungen rekonstruierbar (aus vielen und zu verschiedenen, ggf. nicht kommu- tierenden Operatoren). In mindestens diesem Sinne ist xp „wirklich“, objektiv vorhanden, tatsächlich da — so wirklich wie ein elektromagnetisches Feld.

Der H ilbert-R aum

Dieser Abschnitt kann eventuell fürs erste übersprungen werden. Wir gönnen uns etwas Erholung vom ständigen Rätselraten über die Natur. Kennern der Teile I und II (Kapitel 1, 4, 12) sei die Freude bereitet, zu sehen, „wozu das da­mals alles gut war.“ Daß sich umgekehrt auch die mehr mathematischen Struk­turen der Quantenmechanik bereits bei anderer Natur-Mathematik finden, ist weiter kein Wunder: es gibt nur eine.Zu einem gegebenen Quantensystem bilden alle seine möglichen Zustände einen Raum. Er heißt Hilbert-Raum, kurz HR. Er hat Elemente (die Zustände eben), ein Skalarprodukt, eine Norm-Definition, und Operatoren rotieren (und strecken) in ihm herum. Der endlich-dimensionale HR ist nichts weiter als der

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bekannte Vektorraum, allerdings mit komplexwertigen Komponenten. Abge­sehen von dieser Raffinesse ist lediglich Bekanntes über Vektoren und Matri­zen zusammenzustellen. Danach läßt sich zwanglos alles Wesentliche in den unendlich-dimensionalen HR hinüberretten. Und das ist eine feine Sache.

Endlich viele K om ponenten: diskreter Fall. Vektoren ^ > • • • mögen n komplexe Komponenten haben. Damit das Skalarprodukt die reelle Norm als Spezialfall enthält, definieren wir es mit c.c.-Sternchen:

n n

<P*X != 5Z VjXj = V ' W x W) = V5* • X = X • V5’ . (16.18)j = 1 (7=1

wobei rechts aus dem Index ein Funktionsargument er wurde (eine d iskrete Variable) und daraufhin der Vektorpfeil entfallen konnte. Ansonsten ist es bei Funktionen ja üblich, sich das Argument nur zu denken, ip heißt normiert genau dann, wenn ip*mip = 1 ist. Ein Operator B heißt linear genau dann, wenn B(aip + ßx) = aBip + ß B x gilt (für beliebige zwei Elemente x des HR). Folglich ist B , sofern linear, eine Matrix aus n x n komplexwertigen Elementen.Als Observable können wir nur Matrizen A gebrauchen, deren Eigenwertglei­chung A(p = aip nur reelle Eigenwerte a liefert und deren zugehörige Eigen­funktionen ipa zu verschiedenen Eigenwerten a, b automatisch orthogonal sind (letzteres wegen (16.9)), somit ein VONS bilden. Wir unterstellen all dies und fragen danach, was dann die A’s wohl für Matrizen sein müssen. Man lese als eine einzige lange Zeile:

ipl • Aipa = V t» a:pa = aSab = (a5aby = (65^)* = (<£* • A<pb)*

= ( [ A V ] . ^ ) * = ^ . A r V« A = At * =: . (16.19)

Und dazu sagt man, A sei herm itesch. Zuletzt hatten wir das linke mit dem rechten Ende der Gleichungskette verglichen und bemerkt, daß sie für alle a, b zu gelten hat (2 Operatoren sind gleich r sie bei Anwendung auf alle Ele­mente des Raumes gleiches geben. Bei linearen Operatoren genügt Basis). Der Kreuz-Index f steht für T* oder auch denn Sternen und Transponieren sind vertauschbare Manipulationen. Ist eine Matrix B nicht hermitesch (d.h. B 7 i?t), dann nennt man B t die hermitesch-adjungierte Matrix (oder den hermitesch-adjungierten Operator). In (16.19) haben wir den dicken Boiler stehen gelassen, weil dann im Funktionenfall gar nichts mehr zu tun sein wird.Der Rückschluß ist hübsch. Ist A hermitesch, dann folgen obige Voraussetzun­gen:

a<P*a»<Pa=‘P*a» Aipa = (AVo)* • <Pa = (A<PaY • <P*a = “V a * Va rv a ist reell , 0 = • (Aipa - aipa) = (b - a) ((pl • ipa) rv bei a ^ b sind die </?’s orthogonal . (16.20)

Bei a = b sind s orthogonalisier b a r (wie in Kapitel 4, Abschnitt 4.3). Hier­mit ist klar, daß die (pau ein VONS bilden. „ON“ steht für die

O rthonorm ierungsrela tion : ip*av • ip^ = 6ab öUß (16.21)

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E r s t e S c h r it t e 301

Jede hermitesche Matrix A generiert eine (ihre) Basis des HR. Bezüglich einer Basis kann man entwickeln. Es gilt der

Entw icklungssatz : ip = ^ 2 cai/<pav r \ cav = , (16.22)a v

wobei wir rp von links mit ip*av skalar multipliziert hatten. Hat ip Norm 1, so hat auch der Satz der Koeffizienten die Norm 1 :

1 = %!>* • rj, = 5 2 C*„ ciß <p*av •<pilt = 5 2 M 2 • (16.23)avbp av

Zur Orthonormierungsrelation (16.21) (Summe über Variable gibt Kronecker der Indizes) gibt es eine Art Umkehrung (Summe über Indizes gibt Kronecker der Variablen),

&(*) = 5 2 °av = 5 2 rv [ ] =S,<T <T )E ^ ( ff') ^ “ '(ff). av

d.h. dieV ollständ igkeitsre la tion : '%2<Pw(a‘' ) <Pai/(o') = 8 ^ a . (16.24)

avBis auf ein paar Sternchen war es wirklich nur Vektorrechnung. Das ein­fachste VONS ist (pa(<r) = Sa<T (das sind die ea (a = 1,2,3)). (16.21): {P*amiPb = E . Üaaha = Öab ( = ea eb) . (16.22): ca^aa (3 = dj e j ) .V,(ö‘) = E a ca/a(ff) (o = aj f j ) - Ein Hilbert-Vektor h mit Komponen­ten rp(<r)=: (<r\h) bezüglich der Kronecker-Basis hat also die Komponenten cai/ = : (au\h) bezüglich der anderen Basis ipav (x ) = : (x\au).U nendlich viele K om ponenten, kontinuierlich mit x numeriert: Funktio- nen-Fall. Die Summe über diskrete Indizes ist durch ein Integral über x zu ersetzen. Der Produkt-Boiler verweist jetzt auf ein voranzustellendes f dx. Alle Boiler-Gleichungen bleiben richtig. Übung: (16.18) bis (16.24) mit Jdx und bollerfrei schreiben. Auch Matrix-Anwendung enthielt eine cr-Summe. Wenn man die Elemente einer Matrix A im kontinuierlichen Fall mit K(x,y) bezeichnet, dann haben wir insgesamt

<P*»X = f dx <p*(x)x(x) , M = j d y K{x,y)i>(y) . (16.25)

Wer (x\A\y) statt K(x,y) schreibt, behält den Bezug zu einem konkreten Ope­rator im Auge („Dirac-Notation“, s.a. (16.28)). Zwei Umstände sind neu. Er­stens müssen die Integrale in (16.25) existieren. Normierbarkeit ist jetzt eine echte Einschränkung. Die Vollständigkeitsrelation lautet nun

5 2 V*av(y) <Pau(x) = S(y - x) . (16.26)av

Der Leser, welcher natürlich ein Analogdenker ist, möchte bitte (16.26) selbst herleiten. Zweitens können nun Eigenwerte und Entartungsindizes kontinuier­lich liegen. Die entsprechende Summe ersetzt sich dann durch Integral — woraufhin für diesen Fall (16.26) noch einmal hergeleitet werde.

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Im Funktionenfall ist 6(x — a) die triviale Basis (und a ihr Index). Zu dieser Basis gibt (16.22) ca = ip(a) . Und (16.21), (16.24) lauten Jdx 6 (x -a)6(x -b) = 6(a - b) bzw. f da ö(x' - a) ö(x — a) = ö(x' - x ) .

Fertig. Ein Operator ist hermitesch genau dann, wenn sein Kern K(x,y) = K(x ,y )T* = K(y,x)* erfüllt. Seine Eigenfunktionen bilden ein VONS. Jeder lineare Operator hat seinen Kern. Der Kern von dx ist K(x,y) = S'(;x — y ). Der Kern des Translationsoperators Ta ist K(x,y) = 6(x + a - y). Der Kern des Paritätsoperators P ist K(x,y) = ö(x+y) . Wie wirkt also P auf eine Funktion? Er dreht ihr im Argument das x-Vor Zeichen um. Ist dx hermitesch? Nein, denn beim Transponieren wechselt 8* das Vorzeichen (aber idx ist hermitesch). Ist P hermitesch? Ja. Ist Ta hermitesch? Nein, aber Ta 4- T_a und i (Ta - T_a) sind es. Woher nur kommt uns das alles so bekannt vor? Von der Fourier- Transformation (insbesondere Bild 12-5. (16.23) ist Parsevals Theorem (12.18), (12.24), (12.48)). Bemängelte doch ein Kritiker der ersten Auflage, sie enthalte keine Quantenmechanik. Nanu. Davon wimmelte es darin.

Letzte Frage: ein B mit bekannter Wirkungsweise ist gegeben, wie erhalte ich seinen Kern? Dann ist auch das Resultat \a v der ß-Anwendung auf alle Elemente einer Basis <pau bekannt:

Xav(x) •= B ( fal/(x) = J d z K(x ,z) ipav(z) .

Multiplizieren wir dies mit ip*al/{y) , summieren über a, v und nutzen die Vollständigkeitsrelation aus, dann folgt

K(x,y) = ’5 2 x w ( x )<Ptav(y) = (x\B\av^ (au\y) = (x |ß |ä ^ . (16.27)au

Mehr, als bisher vor kam, gibt es zur Dirac-Stenografie eigentlich gar nicht zu sagen:

V* Index (Variable) = : /variable | Index := f"6. Angaben zur Spezifi- \T Index \ kation des Zustandes ^ /

A (Variable | Index) =: ^Variable | „abstrakter Operator“ Ä | Index^

und \any)(any\ = 1 , (16.28)

wobei über any zu summieren (integrieren) ist. Man benutze die Dirac-Nota- tion nur dann, wenn wirklich sinnvoll — und der Anschaulichkeit wegen so selten wie möglich: wir leben in 3D.

Sieben Postulate

I.

Die vollständige Information über ein Quantensystem ist in einer einwertigen Funktion ^ (x , £) € C enthalten (der Informationsträger), x ist ein Satz von Variablen, je eine für jeden Freiheitsgrad. In der Regel darf man x = 1 ,2 ,... schreiben mit 1 := Variablensatz des Teilchens 1 und so fort.

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E r s t e S c h r it t e 303

I I .

Jeder Observablen ist ein linearer hermitescher Operator A zugeordnet. Eine Tabelle solcher Zuordnungen ist Bestandteil dieses Postulates:

klass. Größe Name in der Q. Buchstabe Raum WirkungsweiseOrt (ID)

Impuls (ID)Ort

ImpulsXV

$ (x )i>(x)

X = x p = j d .

Impuls (3D) Impuls ? r ) P = f vDrehimpuls Drehimpuls L i> (r) L = r x p = r x j V

— Parität (3D) P ^ ( r ) P 'ipC r) = /ip(—r ) / * - \— Spin (1. Komp.) (TX 2-kom-

ponentig i )Energie Hamilton-Op. H z.B.:

^ ( r )z.B.:

H m - £ * + V i r , t )

I I I .

Mögliche Meßwerte sind die Eigenwerte von A , zu erhalten durch Lösen von A(pai/ = aipav unter Forderung nach Einwertigkeit (s. I.) und Normier bar keit (s. IV).(Warnung: nach einer Messung mit Resultat a ist das System im allgemeinen n i c h t im Zustand <pa , siehe [Landau/’L i j ’schitz, III], Abschnitt 7. Ausnahme ist Ortsmessung. Nebel­kammerspuren gibt es.)

I V .

Man normiere die Eigenzustände von A gemäß

J dx = Saif6ßj/ , 8(a — b) 8ßl/ ,

bzw. 8ab 6 ( ß - u ) , ö(a - b) ö(n - v) , (16.29)

je nachdem, ob ein Index in einem diskreten oder kontinuierlichen Bereich des A-Spektrums liegt. Den tatsächlichen Zustand ip des Systems normiere man stets auf Eins:

J d x |^ ( x ) |2 = 1 . (16.30)

Anmerkung: einem Deltafunktions-normierten Eigenzustand ipa (a kontinuierlich) darf der Systemzustand ^ beliebig nahekommen. Erst seine etwaige tf-Normierung würde mit (16.31) in Konflikt geraten (z.B. P ~ |tf|2 geben). (16.30) ist per Einbettung, periodische Randbedin­gungen etc. stets erreichbar.

V .

Die Wahrscheinlichkeit für Erhalt eines diskret liegenden Meßwertes a u n d die Wahrscheinlichkeitsdichte für kontinuierlich liegende Meßwerte a folgen der gleichen Formel

P M ) = £ | Co„|2 = £v v

Liegt v kontinuierlich, so ist Yhv *n (16-31) durch Jdu zu ersetzen.

/ dx <p*av(x)ip(x, t) (16.31)

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V I .

Die Bewegungsgleichung der Quantenmechanik ist

i hip = Hi/> , = (16.16)

wobei der Operator H der Tabelle in II. zu entnehmen ist. (16.16) gilt auch dann, wenn H von der Zeit abhängt (etwa wegen F (f,£ ), siehe Tabelle).

V I I .

Pauli—P rinzip : Unter Vertauschung der Variablensätze zweier identischer Teilchen ist

V>(1,2,...) = (16.32)

zu verlangen: negatives Vorzeichen für Fermionen, positives für Bosonen.

Beim ersten Überfliegen dessen, was der Anwalt hier geschneidert hat, sind wir recht zufrieden. Einige unserer Formulierungen waren offenbar bereits in Ordnung. Die Tabelle im Postulat II. antwortet auf eine unserer restlichen Fra­gen. Aber woher mögen die Details in die Tabelle gekommen sein. Sie gehen sicherlich auf erneute heuristische Überlegungen zurück (nächster Abschnitt). Es gibt Operatoren, welche kein klassisches Gegenstück haben. Wie schön, daß der Vektor-Fall (ax) dabei ist. In V. ist die Entartungsmöglichkeit berücksich­tigt. Die Wahrscheinlichkeit, a zu erhalten, setzt sich additiv aus rj Anteilen zusammen: richtig, gute Arbeit. Sind nämlich alle Eigenwerte a verschieden, gibt es keine Ylv- Rücken aber zwei a ’s aufeinander, dann erhält man das kombinierte a mit Wahrscheinlichkeit = Summe der ehemaligen P ’s. Ob mit den Normierungen in IV. alles gut geht, wird noch zu studieren sein. Unsere Trennung (16.6) in zwei Strukturen ist nicht mehr zu sehen. Naja, das hat der Anwalt wohl nicht ganz verstanden. Aber das Postulat VII, was ist denn das? Hat er doch glatt (Frechheit!) bei einem gewissen Herrn Pauli angerufen. Hier sind garantiert noch einmal die Befunde von Experimenten im Spiel. Und aus der Realität rückschließen wollen Juristen meist leider nicht (teilbar mögen Gewalten sein, aber nicht Vernunft).

Wer erstmals die Maxwell-Gleichungen erblickt, der beginnt mit ersten kleinen Untersuchungen auf Stimmigkeit. So haben wir es in Kapitel 11 getan. Und so tun wir es jetzt mit den Postulaten.

1. T e s t : Zur Forderung nach Einwertigkeit in Postulat I. Wir lassen einen Operator vom Himmel fallen, Lz : = (h/\)d<p (ip = Polarwinkel, ein ebenes Ringelrum-Problem)7, und fragen nach seinen Eigenfunktionen x(^)- Die Idee X ~ (m € C, unbekannt) liegt auf der Hand. Wenn der Winkel (p über 27r läuft, muß falls einwertig, wieder die alten Werte ab (p = 0 annehmen.

7 L z ist die dritte Komponente des in der Tabelle angegebenen Drehimpulses, wenn man sie auf Polar koordinaten umrechnet. Ist ein Elektron an einen Kreisring (jR) gebunden, dann hat das System den Hamilton-Operator H = L*/(20) und die Energie-Eigenwerte E = h2m 2/{29 ) .

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E r s t e S c h r it t e 305

e° = e im2ir rx m = ± 1 ,± 2 ,... . Der Drehimpuls A = Lz hat ein diskretes Spektrum a = hm — aufgrund der Forderung nach Einwertigkeit.2. T est: Zur Forderung nach Normier bar keit in Postulat III. Der einfachste Hamiltonoperator aus Tabelle ist H = - d l (ID, V = 0, Vorfaktor 1 gesetzt). Ansatz (p ~ eXx gibt E = -A 2, aber das Normierungsintegral f dx e2Xx existiert nicht für reelle A. Also A = ifc, (p ~ elkx, E = k2. Das kontinuierliche Spek­trum eines freien Teilchens ist nach unten beschränkt (sonst könnten wir ja die Kraftwerke abschaffen).3. T est: Die in (16.31) angegebene Wahrscheinlichkeit(sdichte) muß bei Über­summation (bzw. Integration) Eins geben. Wir üben den Fall kontinuierli­cher o :

= d a ^ 2 dxdyrp*(x)<pau(x)<p*av(y)rp(y) =I da P(a,t) J * J dx\ip\2 = 1. (16.33)

= Ida Y l dbY l C cö» j dx vlAx)Vbß(x) =v n

In der oberen Zeile wurde die Vollständigkeitsrelation benutzt. In der unteren Zeile sind wir von rechts nach links gegangen, haben r/> entwickelt und Ortho- normierung benutzt.4. T est: Wie die Bewegungsgleichung dafür sorgt, daß die Norm (16.30) eins b l e i b t , wenn das System mit (16.16) allein und sich selbst überlassen ist:

dt Jdx M2 = Jdx + V>v) = ^ J d x ( - [tfV’JV + = 0 ,(16.34)

weil H hermitesch ist.5. T est : Phasenfaktoren. Eine bestimmte Frage wurde ständig verdrängt (es überläuft uns siedend heiß). Die Eigenwertgleichung A y av = cupav läßt einen komplexwertigen Vorfaktor unbestimmt. Er darf sogar von der Zeit t abhängen (aber nicht von r , weil A auf r -Abhängigkeit wirkt). Die Normierung (16.29) legt aber nur dessen Betrag fest. Also darf man allen unseren (palf einen beliebi­gen Faktor el1&W anhängen. Soso. Wehe, es hängen physikalische Aussagen von diesem Phasenfaktor ab. Die Koeffizienten cav enthalten ihn, aber in Wahr­scheinlichkeiten (16.31) fallt er heraus: a ’s ohne i, P ’s ohne i. Na also!! Bei Suche nach stationären Zuständen (wie in (16.13), aber zu H = H) behält tp den Vorfaktor e~*Et: auch dieser fallt in a ,P heraus. Aber auch beim Lösen von H<p(r) = E<p(r) bleibt etwas, nämlich ein konstanter Phasenfaktor. Jetzt haben wir wohl Farbe zu bekennen und zu sagen: Zustände, welche sich nur um einen konstanten Phasenfaktor unterscheiden, sind g l e i c h . Bei Rechnungen wähle man eine bestimmte Phase (und bleibe dann dabei).

Die wichtigsten Operatoren

Wir fallen noch einmal zurück in heuristische Betrachtungen (einmal mehr sol­che, wie sie in Lehrbüchern nur schwerlich zu finden sein dürften). Die Angaben in der Tabelle zu Postulat II. verlangen nach „Herleitung“.

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O rt X (ID ) : Die Meßwerte a des ID Ortes sollten kontinuierlich auf der ganzen reellen Achse liegen (die Photo-,,Linie“ fragt überall). Extreme Sicher­heit (a zu erhalten) sollte bei extremer Lokalisierung des Zustandes eintreten: <pa(x) = S(x - a) (bereits richtig normiert). Ein linearer Operator (hier X) liegt fest, wenn bekannt ist, wie er auf alle Elemente einer Basis wirkt, hier X6(x — a) = aö(x — a) . Und nun überintegrieren wir diese Gleichung mit beliebigem Gewicht ip(a) :

J d a ^(a) X S(x — a) = J d a ip(a) aö(x - a) rx X ^(x) = xip(x) . (16.35)

Damit ist die Wirkungsweise von X erhalten worden (die Eigenwertgleichung ist hingegen (x - a)(pa(x) = 0 und gibt (pa(x) = C • ö(x - a) ). Um die W ahr­scheinlichkeitsdichte für O rtsm essung zu erhalten, bestücken wir (16.31) mit (pa(x) = 6(x — a) :

P(a) = \ J d x S(x — a)ift(x)2

die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen in (a,6) nachzuweisen

= |V>(o)|2 , (16.36)

= f dx \rp(x)\2 .Ja

Diese Weisheit (oft am Beginn anderer Abhandlungen stehend) haben wir unshier eigentlich erst jetzt erarbeitet. Die Verallgemeinerung auf 3D ist harmlos

_iund lautet: R ip = r ^ , P(r) — |^ ( r ) |2 und (p-^(r) = ö(r — a ) .Im puls p (ID ) : Bei Deutung der linken Hälfte von Bild 16-3 (links vom Well­blech, links vom Doppelspalt) hatten wir uns durchgerungen bis zu Zuständen <pq(x) ~ elkx, gehörig zu scharfem Impuls q = hk (wir schreiben q statt p, weil p für den gesuchten Operator vergeben ist). „Scharfer Impuls“, das heißt inzwi­schen, daß wir zu Eigenwert q die Eigenzustände kennen: pelkx = hkelkx. Wie beim Ort ist nun nur noch gescheit überzuintegrieren, diesmal mit beliebiger Fourier-Transformierter:

J ^ ^ peikx = f ^ ^ hke i kx = j d* J ^ ^ eikx

rv p ij)(x) = t 9x ip(x) . (16.37)

Da beliebig, kann man ^(x) beidseitig weglassen. Übrig bleibt die in der Tabelle angegebene Operator-Identität. Auf 3D umzusteigen, die Impuls­Eigenfunktionen richtig, nämlich auf ö(q' — q) , zu normieren und die Wahr­scheinlichkeitsdichte P(q) zu notieren, das erklären wir jetzt als außerhalb die­ser Abhandlung liegend.

_iP o ten tia l V '(r) : Das ist die Funktion eines Operators R , in welcher bereitsseine Wirkungsweise R — r eingearbeitet wurde. Folglich hat V die Eigen­funktionen 6(r — a) zu Eigenwerten V(a). Der Operator V wirkt also auf beliebiges indem er es mit V(r) multipliziert. Etwas billig, zugegeben, aberV wird allseits immer so stiefmütterlich behandelt.

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E r s t e S c h r it t e 307

K inetische Energie T ( I D ) : Auch diese ist Funktion eines Operators, nämlich p2/(2m). Zumindest ist diese Sicht eine sehr naheliegende Erfindung (erneute Erinnerung an Davisson-Germer):

= Eigenwerte = ^ . (16.38)

Der Buchstabe k rechts in (16.38) verweist natürlich darauf, daß er in den T-Eigenfunktionen per eikx als Zählindex verwendet wurde. T hat positiv­halbseitiges kontinuierliches Spektrum, in 3D ebenfalls. Zum Drehimpuls ver­weisen wir schlapp auf die Tabelle. Daß der Hamilton-Operator additiv aus T und V zusammengesetzt werden darf, das ist eigentlich eine erneute Mutpro­be. Der Leser lasse sich Argumente einfallen. D E R H am ilto n -O p era to rH , mit welchem die gesamte nicht-relativistische Quantenmechanik auskommt (wozu „Quantisierungsregeln“, wenn sie nur eine einzige Anwendung haben?),enthält nicht nur V = q<j> (in realitas sind die F ’s so gut wie immer elektro-

_istatische Potentiale), sondern auch das Vektorpotential A eines Magnetfeldes. Z ita t :

H = 2m ■ (16.39)Für Systeme mit mehreren Teilchen bekommt obiges H einen Teilchen-spezifi­schen Index (m, q, r ebenfalls). Der Hamilton-Operator des gesamten Systems ist dann eine Summe solcher indizierter W s plus Wechselwirkungs-Potentiale V(i, j) zwischen den Teilchen. Aber „philosophisch“ ist solcherlei nichts Neues.

Grenzfall N ew ton

„Newton gilt (im Grenzfall) für die Mitte des Teilchens“, haben wir in Erinne­rung. „Mitte“ dürfte mittlerer Ortsmeßwert heißen. Zum mittleren Meßwert a (an einem System im Zustand ip, darum als Index angehängt) läßt sich eine sehr allgemeine Aussage gewinnen. Wir bedienen wieder den Fall kontinuierlich liegender a ’s:

(0)v, J J d a a P(a, t) = J d a ^ J d y dx ipav(y) V'* (y, t) <p*av (x) A ip(x, t)

J= J d x ip*(x,t) Aip(x,t) =: (A)^ . (16.40)

Den reellen Faktor a hatten wir an geschoben, per a(p*av = (A(pau)* in A verwandelt und dann im x-Integral Hermitezität von A ausgenutzt. Das in der zweiten Zeile entstandene Sandwich nennt man E rw artungsw ert von A. Der Index ip wird meist weggelassen — aber wehe dem, der ihn dann nicht im Hinterkopf behält.Die Zeit t war in (16.40) nur Parameter. Aber nun differenzieren wir danach, benutzen die Bewegungsgleichung und erhalten E hrenfests Theorem :

d t ( A ) ^ y J d x x p * A ' i p + J d x ' i p * A ' i p + J d x \ p * Ä i p

1=1= - (HA - A H )+ + (AU . (16.41)

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308 K a p it e l 16: Q u a n t e n t h e o r ie

Der letzte Term berücksichtigt den seltenen Fall, daß sich der Operator mit der Zeit ändert wie etwa V(r, t ) . Aber z.B. X weiß von t nichts: X = x = 0. Eine Operator-Kombination A B — B A = : [A,B] nennt man K om m utator. Wer ihn umformt („ausrechnet“), denkt oder schreibt sich am besten ein allgemeines Element ip des Raumes rechts daneben.Und damit folgt nun Newton. Auf daß man mehr sieht, bleiben wir eindimensio­nal und betrachten ein System mit H = - + V(x ) . Etwas Rechnerei gibtdie Kommutatoren [H,x] = Hx - xH = J^p und [ H,p] = H p - p H = ihVf . Und mit diesen kommen wir an bei

m (x)m = ^ (Hx - xH) = {p)

m ( x ) " = (p)' = ( -V ' (x ) ) = (K(x)) ^ K((x)) . (16.42)

Die Mitte ist (x). Newton für die Mitte hätte m (x )mm = K((x)) bedeutet. Das ist nicht herausgekommen. Das Resultat (16.42) ist trotzdem wunderschön. Es zeigt, in welchem Grenzfall alles gut geht, nämlich im Lokalisierungs-Grenzfall: Breite A x von ip klein gegen Längen, auf welchen K(x) merklich variiert. Es gibt einen gesunden Spezialfall, zu welchem das ^ Zeichen in (16.42) entfällt: der harmonische Oszillator hat K(x) = —kx und folglich (—kx) = —k {x). Jaja, die Wellenfunktion ip(x, t) treibt verrücktes Zeug, aber (x) schwingt eisern harmonisch hin und her.Der Meilenstein (16.42) sollte unbedingt noch erreicht werden mit dieser „er­sten Hälfte einer Einführung“. Es ist recht klar, was nun ansteht: Beispiele, Anwendungen, Erarbeitung und Ausarbeitung der gesamten zugehörigen Phy­sik. Hannover (da ohne Hochenergie-Beschleuniger) ist ganz nicht-relativistisch quantenmechanisch (und quanten-statistisch). Aber ehe Hannover verstanden ist, da fließt noch viel Wasser die Leine hinab.

Als diese Seiten entstanden, war von vornherein an Leser mit sehr unterschied­licher Vorbildung gedacht. Voraussetzung ist allemal ein brennendes Interesse daran, wie die Natur ist. Sehr verehrte Hausfrauen und Rentner, Ihnen waren die verschiedenen „Bilder“, die Umgangssprache und die Alltagsbezüge gewid­met. Mit Formeln wurde es eigentlich erst beim Hilbert-Raum schlimm und in den letzten beiden Abschnitten.Ein Lehrer am Gymnasium wird sich hier bestens zurechtfinden (falls etwa nicht: hinsetzen und arbeiten!). Vielleicht bringt es ihn auf Ideen für schöne w a h r e Märchen. Die jungen Leute sind gar nicht so. Sie wollen es wissen, möglichst sofort (so wie Unmögliches erledigt wird, Wunder dauern etwas länger).Ein erstes Mal (Quantenphysik) gibt es auch beim Studium, da, wo sich die Gei­ster scheiden 8. Nicht selten steigen die Studierenden leichten Fußes in Forma­lismen herum, rechnen alle Übungen, und alles scheint in Ordnung. Wirklich?

8 Literatur gibt es zur Quantenmechanik wie Sand am Meer. [Landau/Lifschitz,

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E r s t e S c h r it t e 309

Es gibt da jene wichtige (keineswegs boshaft gemeinte) Weisheit zum Studium: Was ich wirklich verstanden habe, das kann ich auch erklären, mir selbst, mei­ner kleinen Schwester (wenn sie will) und — und nun sind wir wieder bei den Hausfrauen.

W. Heisenberg [Der Teil und das Ganze, dtv Taschenbuch No. 903, 9. Aufl. München 1985] :

Einstein war dann etwas beunruhigt, aber schon am nächsten Morgen hatte er beim Frühstück ein neues Gedankenexperiment bereit, komplizierter als das Vorhergehende, das nun die Ungültigkeit der Unbestimmtheitsrelation wirklich demonstrieren sollte. Diesem Ver­such ging es freilich am Abend nicht besser als dem ersten, und nachdem dieses Spiel einige Tage fortgesetzt worden war, sagte Einsteins Freund Paul Ehrenfest, Physiker aus Leyden in Holland: „Einstein, ich schäme mich für dich; denn du argumentierst gegen die neue Quan­tentheorie jetzt genauso, wie deine Gegner gegen die Relativitätstheorie.“ Aber auch diese freundschaftliche Mahnung konnte Einstein nicht überzeugen.Wieder wurde mir klar, wie unendlich schwer es ist, die Vorstellungen aufzugeben, die bisher für uns die Grundlage des Denkens und der wissenschaftlichen Arbeit gebildet haben. Einstein hatte seine Lebensarbeit daran gesetzt, jene objektive Welt der physikalischen Vorgänge zu erforschen, die dort draußen in Raum und Zeit, unabhängig von uns, nach festen Gesetzen abläuft. Die mathematischen Symbole der theoretischen Physik sollten diese objektive Welt abbilden und damit Voraussagen über ihr zukünftiges Verhalten ermöglichen. Nun wurde behauptet, daß es, wenn man bis zu den Atomen hinabsteigt, eine solche objektive Welt in Raum und Zeit gar nicht gibt und daß die mathematischen Symbole der theoretischen Physik nur das Mögliche, nicht das Faktische, abbilden. Einstein war nicht bereit, sich — wie er es empfand — den Boden unter den Füßen wegziehen zu lassen. Auch später im Leben, als die Quantentheorie längst zu einem festen Bestandteil der Physik geworden war, hat Einstein seinen Standpunkt nicht ändern können. Er wollte die Quantentheorie zwar als eine vorüber­gehende, aber nicht endgültige Klärung der atomaren Erscheinungen gelten lassen. „Gott würfelt nicht“, das war ein Grundsatz, der für Einstein unerschütterlich feststand, an dem er nicht rütteln lassen wollte. Bohr konnte darauf nur antworten: „Aber es kann doch nicht unsere Aufgabe sein, Gott vorzuschreiben, wie Er die Welt regieren soll.“

R. Penrose [Computerdenken (Originaltitel The Emperor’s New Mind),Spektrum-Verlag Heidelberg 1991, § 6 ] :

Wenn wir ^ als Beschreibung der „Wirklichkeit“ auffassen, zeigt sich nichts von dem Indeter­minismus, der angeblich ein Wesenszug der Quantentheorie ist - solange ^ der deterministi­schen Schrödinger-Entwicklung gehorcht. Diesen Entwicklungsvorgang wollen wir U nennen. Doch jedesmal, wenn wir „eine Messung ausführen“ und Quanteneffekte auf die klassische Ebene vergrößern, ändern wir die Regeln. Dann verwenden wir nicht U, sondern wenden statt dessen ein völlig anderes Verfahren an, das ich R nenne: Wir bilden Absolutquadra­te von Quantenamplituden, um klassische Wahrscheinlichkeiten zu erhalten! Es ist somit ausschließlich das Verfahren R, welches Unbestimmtheiten und Wahrscheinlichkeiten in die Quantentheorie einführt.Der deterministische Prozeß U scheint derjenige Teil der Quantentheorie zu sein, der die Physi­ker bei ihrer Abeit vor allem interessiert; doch die Philosophen sind mehr von R fasziniert, der nicht-deterministischen Reduktion des Zustandsvektors (oder, wie man manchmal anschauli­cher sagt, vom Kollaps der Wellenfunktion). Ob wir nun R einfach als eine Veränderung des

III] ist für Beginner wohl zu schwer. Eine hübsch kurze Einführung (S.412-432) geben [Margenau/Murphy] in Bd. I. Alt geworden, aber gut geblieben ist [Schiff], quantum me- chanics. Es solle aber nicht Englisch sein: [Schwabl, 1] oder (etwas älter) [Becker/Sauter , II]. — „Aber das ist doch eine Theorie der Elektrizität ?!“ — Sehr wohl, und im Band II wird die Sache richtig gemacht mit den Elektronen, welche sich (a) quantenmechanisch verhalten und (b) die Coulomb-Wechselwirkung im Hamilton-Operator stehen haben.

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310 K a p it e l 16: Q u a n t e n t h e o r ie

zugänglichen „Wissens“ über ein System betrachten oder (wie ich) als etwas „Wirkliches“ - in jedem Fall stehen wir vor zwei völlig verschiedenen mathematischen Methoden, die zeitli­che Veränderung des Zustandsvektors eines physikalischen Systems zu beschreiben. Denn U ist vollkommen deterministisch, während R ein Wahrscheinlichkeitsgesetz ist; U erhält die komplexzahlige Quantenüberlagerung aufrecht, aber R verletzt sie kraß; U wirkt auf konti­nuierliche Weise, aber R ist geradezu skandalös diskontinuierlich. Aus den Standard verfahren der Quantenmechanik geht überhaupt nicht hervor, wie R etwa als ein komplizierter Einzelfall von U „herzuleiten“ wäre. Es handelt sich einfach um ein von U verschiedenes Verfahren, das die andere „Hälfte“ der Interpretation für den Quantenformalismus liefert. Der gesamte Nicht-Determinismus der Theorie stammt von R und nicht von U. Sowohl U als auch R sind für all die wunderbaren Übereinstimmungen erforderlich, welche die Quantentheorie mit den Beobachtungstatsachen aufweist.

M. Tegmark und J. A. Wheeler [100 Jahre Quantentheorie, in Spektrum der Wissenschaft, April 2001] :

rechtfertigen diese Schlussfolgerungen die seit langem geübte Praxis, das Lehrbuch- Postulat vom Kollaps der Wellenfunktion als pragmatisches Rezept - nach der Devise „Halt den Mund und rechne“ - zu benutzen: berechne Wahrscheinlichkeiten so, als würde die Wel­lenfunktion kollabieren, wenn das Objekt beobachtet wird. Obigeich von Everetts Stand­punkt aus die Wellenfunktion streng genommen niemals kollabiert, stimmen die Dekohärenz- Forscher im Allgemeinen darin überein, daß die Dekohärenz eine Wirkung hat, die einem Kollaps zum Verwechseln ähnlich sieht.... es an der Zeit ist, die Lehrbücher der Quantenmechanik zu aktualisieren. Obzwar diese Bücher in einem der ersten Kapitel unweigerlich den nicht-unitären Kollaps als fundamen­tales Postulat anführen, zeigt die Umfrage, dass heute viele Physiker - zumindest auf dem brandneuen Gebiet der Quantencomputer - dieses Postulat nicht mehr ernst nehmen. Der Begriff Kollaps wird zweifellos seinen Nutzen als Rechenrezept behalten. Aber ein warnender Kommentar, der verdeutlicht, daß es sich dabei wahrscheinlich nicht um einen fundamentalen Vorgang handelt, der die Schrödinger-Gleichung verletzt, könnte klugen Studenten stunden­langes Grübeln ersparen.

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Teil IV

• •

Übungsaufgaben

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• •Übungsaufgaben

Dieser Teil IV weist den Weg in die Wirklichkeit. Er ist kein Anhang. Hat man alle Übungsaufgaben selbständig lösen können, dann ist hinreichend si­cher, daß der Stoff der Teile I und II recht gut verstanden wurde. Umgekehrt aber bietet bestes Verständnis des Stoffes der Teile I und II noch keinerlei Gewähr dafür, sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Wir denken dabei z.B. an einen Fahrschüler, der seine Theorie-Stunden bewältigt hat. Er weiß, wie man einkuppelt, aber er kann es noch nicht im Schlafe — und so steht er denn mitten im Berufsverkehr friedlich auf der Kreuzung. Wieviel Erfahrungen mag wohl ein Bergsteiger, „der alles weiß“, zu sammeln haben: Einschätzen von Schwierigkeit und Gefahr, Haushalten mit den eigenen Reserven, Verhalten un­ter Streß, Atemnot und Schneeblindheit. Einerseits gibt es also hier vieles (das Entscheidende?) zu lernen, auch und besonders über sich selbst. Andererseits ist Helfen kaum noch möglich. So sind denn nachfolgend nur Übungsaufgaben aneinander gereiht.

Die Aufgaben sind „echt“: sie standen so auf Übungs-Blättern der Studienjahre 1985/86 und 1986/87, waren wöchentlich von den bis zu 200 Teilnehmern des einjährigen Kurses zu bearbeiten (zu Hause, d.h. allein) und wurden korrigiert. Ausnahmen bilden die Blätter 15 und 16. Sie fielen den üblichen Rücksichten zum Ende bzw. Anfang eines Semesters zum Opfer. Sie sind hier zwar „künst­lich“ eingefügt, enthalten aber „echte“ Aufgaben, also solche, die einmal gestellt wurden.

Die Haus-Übungen sind Bestandteil eines Trainingsprogramms. Seine ande­ren Bestandteile sind: Hören der Vorlesung (alleiniges Bücher-Studium ist zu langsam), die Nacharbeit derselben (eigenes Script! — wie auch immer es ausfallt), Zu-Rate-Ziehen von Büchern und die wöchentliche Übungsstunde (am Ort ist sie 2-stündig und plenar). Wenn dieses Trainingsprogramm Er­folg haben soll, dann muß man alle Aufgaben lösen. Sie beschwören also ein Mindest-Engagement in Sachen Kreativität. Wieviel Denk- und Rechenfehler dabei zu beklagen sind, ist anfangs eine weit weniger wichtige Frage: man wird besser! Wir wollen uns einen Studenten vorstellen, der diese Worte bitter ernst nimmt und die einschlägige Passage im Vorwort durchaus begriffen hat, der aber dennoch scheitert. Er leidet unter wachsenden depressiven Gefühlen oder sogar unter Mißerfolg bei der Klausur am Ende des Semesters. Woran könnte das liegen? Die Gründe mögen so verschieden sein wie die Menschen. Aber es besteht eine große Wahrscheinlichkeit dafür, daß es etwas mit G eduld oder mit Selbständigkeit zu tun hat (mindestens eines der unten aufgeführten „11 Gebote“ wird also mißachtet).

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314 ÜBUNGSAUFGABEN

Geduld heißt, daß man sich selbst Zeit gibt und Stück für Stück vorgeht. Meist versteht man die z.B. dritte Frage in einer Aufgabe erst, nachdem die ersten bei­den im Detail, d.h. in Formelsprache beantwortet sind. Physik ist so „schwer“, weil es so schwer ist, sich zu überwinden, ins Detail zu gehen. Hat man erst einmal ernsthaft angefangen, dann gesellt sich das Interesse gern hinzu: „es packt einen“. Natürlich spielt hier auch der am Ende von Kapitel 13 erwähnte „Hinterkopf“ seine Rolle. Man muß ihm eine Chance geben. Am Abend vor Ultimo „packt“ nichts mehr.

Selbständigkeit ist ein delikates Thema. Es gibt Scharlatane (unter Studenten der höheren Semester) und die sagen: „Ja, ja, das kann man gar nicht allein schaffen. Wir haben es auch nicht gekonnt. Ihr müßt euch in Gruppen zusam­menschließen“. Nun ist hieran richtig, daß der Mensch nicht gern allein sei. Der Austausch der Gedanken und Gefühle ist wichtig, sehr menschlich (und menschenwürdig!). Aber was mag dabei herauskommen, wenn sich angehende Pianisten zum Üben zusammenfinden? Die „Musik“ entsteht, wenn man sich selbst ans Klavier (ans Papier) setzt — weit weg von Gutachtern jeglicher Art. Und so wächst auch die Freude an der Musik. Man hat wenig Zeit im ersten Semester. Sofern die allseits gewünschten „Kleingruppen“ dazu führen, daß für das, worauf es ankommt, keine Zeit bleibt, dann sind sie fehl am Platze. Wenn Sie Ihrem armen Kameraden helfen wollen, dann müssen Sie ihm verra­ten, wie es in Ihnen zugeht, wie Sie auf die erste gute Idee gekommen sind. Ihm statt dessen das Resultat Ihrer Überlegungen mitzuteilen („aah, so einfach war das“), ist ein Vergehen — und wenn Sie sich noch so schön aufgeblasen dabei Vorkommen.

Jede Aufgabe endet mit einer Ziffer in eckigen Klammern. Dabei handelt es sich um eine Punktwertung. Sie bezieht sich mehr auf Mühe und Wichtigkeit und weniger auf den Schwierigkeitsgrad des „Kletterfelsens“. Man suche nicht nach einem Teil V mit den zugehörigen „Lösungen“ der Aufgaben. Ihre Lösung ist die Lösung. Oder möchten Sie den Kletterfelsen dadurch entwerten, daß Sie überall kleine Schilder anbringen, wo linke Hand und rechter Zeh einen Halt finden?

Nein, Sie wünschen sich nur eine Bestätigung Ihrer Resultate. Auch diese kann man sich meist mit großer Sicherheit selbst verschaffen, nämlich über Dimensi­onsprobe, Spezial- und Grenzfälle und indem man sich ein Bild davon macht, was das Resultat eigentlich aussagt, und indem man die Rechnung zurück ver­folgt und kurzzuschließen versucht. Wären Resultate angegeben, dann entfiele die Notwendigkeit, dies zu tun.

Dieser letzte Gedanke, der ist richtig — aber er hat kein Herz. Und er trifft die Falschen. Ein real existierender Bergsteiger will wohl zuvor den Felsen wenigstens gesehen haben. Und so sind (in der dritten Auflage) eben doch allerlei „Fähnchen“ angebracht und in (( ))-Form den Aufgaben nachgestellt worden.

Das Für und Wider von Ratschlägen wurde schon im Vorwort erwogen. Die folgenden elf wurden den damaligen Studienanfängern als Kopie ausgehändigt. Zuhören ist manchmal schwer zu vermeiden, aber lesen muß man nicht:

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315

1. Der Tisch ist fast leer. Niemand stört. Das Radio ist aus. Etwas zu begreifen braucht seine Zeit.

2. Griffbereit liegen: unliniertes Papier (DIN A4, gelocht für Hefter) Blei­stift, Minenspitzer, Plastikradierer, durchsichtiges Lineal-Dreieck und nur Minimum an Hilfsmitteln (Vorlesungsausarbeitung, mathematisches Ta­schenbuch).

3. Problemstellung-Detail-Studium: jedes Wort bewerten. Was passiert qualitativ? Kann das Problem (nur) eine Lösung haben? Wie könnte die Lösung aussehen? Hierbei füllt sich ein Schmierzettel mit Skizzen, Worten und Formeln.

4. Nur einmal gründlich (statt viermal flüchtig) das Problem angehen; die „trivialen“ Zwischenschritte mit zu Papier bringen: „Fußgängermethode“; alles, was durch den Bleistift geht, sollte galgensicher sein; saubere, große Skizzen.

5. Schreibt man einigermaßen klein, so entsteht schon auf einem Blatt viel Übersicht.

6. Text in Stichworten, Zwischen-Überschriften, Zwischen-Zusammenfas- sungen bei längeren Rechnungen, Seiten numerieren, wichtige Gleichun­gen numerieren.

7. Gleichheitszeichen-Verbinden und Unter klammern. Abkürzungen aller Art sind rentabel: nur Mut! Wird ein länglicher Ausdruck vereinfacht und umgeformt, so empfiehlt sich Einkreisen des Ausdruckes, der gerade in die neue Gleichungszeile übernommen wird. Auch bei Kürzungen will man nachträglich noch sehen, was passiert war.

8. Ergebnis: ist es physikalisch vernünftig? Enthält es die denkbaren Spezi­alfälle richtig? Dimensionsprobe u.a.

9. Suche nach eleganterem, kürzerem, klarerem Weg. Neue Darstellung. Formulierung so, daß die Schritte gerade noch im Kopf nachvollziehbar sind. Dabei läßt sich meist der Stoff von z.B. vier Seiten auf nur einer Seite unter bringen.

10. Bei zu schwerem Problem: wirklich bis dorthin gehen, wo es nicht weiter­geht; Schwierigkeiten benennen. Vielleicht ist wenigstens ein vereinfachtes Problem oder ein Spezialfall lösbar? Sind Näherungen möglich?

11. Wenn man etwas verstanden hat und es sich gut aufgeschrieben hat, dann ist man stolz und hebt es auf (im „Leitz-Ordner des Lebens“).

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316 ÜBUNGSAUFGABEN

Übungs-Blatt 1

1) Ein Tourist erklettert die Cheops-Pyramide (Höhe h, quadratische Grund­fläche 2h • 2h), und zwar geradenwegs von Punkt 1 nach Punkt 2 (welcher auf halber Höhe liegt) und von dort zum Gipfel 3. Er kehrt dann von 3 direkt nach 1 zurück.Bei gleichmäßig 22 m/Min. benötigt er für den Rund­kurs 28 Minuten. Wie hoch ist die Pyramide? [3]

(( In Komponentendarstellung seien die Ortsvektoren der drei Punkte notiert, dann ri2 gebildet usw. Zu Zahlenwerten geht man erst so spät wie möglich über. Trigonometrie ist zu diesem Übungs-Blatt weder bekannt noch nützlich noch erlaubt. Laut Lexikon sind es 145m. Kommastellen wären gelogen! Auf wieviel % genau mögen wohl die Ausgangsdaten sein?? Auch von ca. 150m darf man reden. ))

2) Ein Luftballon mit bekannter Auftriebskraft A und Fadenlänge £ ist bei ri = (—£, 0,0) befestigt und soll mit einem zweiten Faden durch eine Öse bei r 3 = (^ 0,0) zur Erde gezogen werden. Um zu begreifen, weshalb dabei stets der linke Faden reißt, errechnen wir die Einheitsvektoren ep, e/r, in deren Richtung die Fadenkräfte F und K am Ballon-Fußpunkt 2 (momentane Höhe h) angreifen. ~ep und e# drücke man restlos durch das dimensionsloseVerhältnis A := h/£ aus. _ „ , _ ~± n T

Welchen Betrag F hat die Kraft F ? ImGrenzfall geringer Höhe h vereinfacht sich un­sere F-Formel, und wir sehen, was los ist. [6]

F -»> A ^ • F wird bei h 0 beliebig groß ))

3) Das Wasser eines Flusses möge überall mit gleicher Geschwindigkeit u = (0,u,0) strömen. Ein Fisch will geradenwegs (d.h. auf der skizzierten x- Achse) das gegenüberliegende Ufer erreichen.

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B l a t t 2 3 1 7

Mit welcher Geschwindigkeit V kommt er voran, wenn er relativ zu Wasser mit Geschwindigkeit v schwimmt? Aber auch wenn er schief zur Strömung vor­ankommen will (x-Achse als Fisch- Bahn beibehalten; m, u2, u$ als be­kannt ansehen), läßt sich V angeben.[3] _________ _

( ( . . . , V = U I + y / v 2 - u l - u l ))

Übungs-Blatt 2

1) Auf der Rückfahrt vom Flughafen bleiben wir mit 120 km/h genau unter einer startenden Maschine, während ihr Schatten (bei Sonnenlicht-Einfall unter 7r/4) mit 170 km/h über die Straße gleitet. Welche Geschwindigkeit v hat das Flugzeug? Wieviel Meter gewinnt es pro Sekunde an Höhe? [3]

(( 2D Problem; erst Formel, Zahlen zuletzt; Trigonometrie ist hier besonders streng verboten; Projektionen worauf?? v = 130km/h, V2 = 14m/s ))

2) In der xf/-Halbebene 0 < x, in f/-Richtung und im Abstand g („Stoßparame­ter“) zur y -Achse, fliegt ein Teilchen (Masse m) mit Geschwindigkeit v gegen eine harte Kugel (R , Mitte = Ursprung, R > g) und wird dort elastisch reflektiert.

Wo ( R = ?) trifft es die Kugel? Wir „erfühlen“ das Refle- xions’gesetz’ und formulieren es vektoriell und koordinaten­unabhängig. Welche Geschwindigkeit u (in Komponenten) hat m nach dem Stoß? (günstige Abkürzung g2/ R 2 =: A)

Zu jedem Ort r eines Teilchens kann man den „Drehimpuls“L := r x (mv) bilden, wenn bei r seine Geschwindigkeitv bekannt ist. Wir errechnen L explizit an drei Stellen: bei (g, -5R,0), unmittelbar vor Reflexion und unmittelbar danach — und wundern uns. (Bis hierher keine Trigono­metrie!)

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318 ÜBUNGSAUFGABEN

Zur Kontrolle des u-Resultates überlegen wir uns (je anschaulich direkt), bei welchem Stoßparameter g (a) u in x-Richtung zeigt, (b) zwei gleiche positive Komponenten hat, und sehen dann jeweils nach, ob es auch unsere u -Formel richtig macht. [6 ]

( ( u R = - v R , . .. , u = v (2y/X — X2' , 2A - 1 , 0), drei mal L = mvg'e 3. Eine Probe besteht stets aus zwei Teilen. Zu (b) beispielsweise sehe ich erstens (nach etwas malen), daß g / R = cos(7r/8) ergo X = c2 ist, und zweitens durch Einsetzen in die w-Formel, daß tatsächlich per 2sc = sin(7r/4) = cos(7r/4) = c2 - s 2 die beiden u-Komponenten gleich werden. ))

3) Zeigen Sie, daß zwei Vektoren orthogonal sein müssen, wenn ihre Summe und Differenz gleichen Betrag haben; vereinfachen Sie (a+ b )•[( b + c) x (a + c)]; drücken Sie die 1. Komponente von a x (b x c) explizit durch a -, 6 -, c - Komponenten aus und vergleichen Sie mit bi(a c) - c\{a b ); vereinfachen Sie (a x b ) • [(a x c) x ( b x c)] und führen Sie den Sinussatz für ein ebenes Dreieck auf Vektorrechnungs-Weisheiten zurück. [3]

( ( . . . , 2 a ( 6 x c ) , . . . , [ ( a x 6 ) c ] 2 , „Sinus? Kreuzprodukt!“ Gleichheit von Beträgen ))

Übungs-Blatt 3

1) Um ein Magnetfeld B zu ermitteln, das in einem Raumbereich V überall gleiche Stärke und Richtung habe (es ist „homogen“ in V und « 0 außer­halb), wurden schnelle Teilchen (Ladung q) mit bekannter Geschwindigkeit v hindurch geschossen. Aus der geringen Ablenkung wurde rückgeschlossenauf die im Bereich V wirksame Kraft K =: qk .

Da v - und k -Kenntnis nur auf den zu v senkrechten Anteil B± schließen lassen (B± =?), wurden die Teilchen mit der glei­chen Geschwindigkeit v auch noch in k - Richtung geschickt. Zu der dann wirkenden Kraft G = : qg wurde nur der Betrag no­tiert: g = \ k ( \ bekannt und ^ 1 , B v po­sitiv). Hiermit erhalten wir schöne Formelnfür J3j|, B und B , welche nur A, k und v enthalten.

Welches Feld B ergibt sich zu speziell A = y/T , v = (1 , 1, 0) c/\/S* und k = (1 , —1, 0) cBo/V? ? (c ist die Lichtgeschwindigkeit und v = c /2 .)

Um das Geschehen in einem günstigeren Koordinatensystem zu beschreiben, legen wir / 3 in B - und / 2 in (— k )-Richtung, ergänzen um f 1 zu einem Rechts-VONS (Skizze!), schreiben diese drei neuen Einheitsvektoren in die Zeilen einer Matrix und bilden zur Probe deren Determinante. Welche neuen

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B l a t t 4 3 1 9

Komponenten (t/1? v'2, v'z) =: v' hat v im / - System? Wenn wir nun v ' x B ' bilden, müßte k ' herauskommen. Ist das der Fall? [8 ]

(( B = ( k x v + yf\ 2 - 1' k v ) / v 2 , speziell: B = (1, 1, ypÜ ) B o / y / S . U.a. ist f i = (1, 1, -%/21) /2 , v ' = (1, 0, ljc/v/ß1, k ' = (0, - 1, 0)J3oc/2, und das folgt auch per x ))

2 ) Die drei Orte ri = (9 , 0, 0 )m, r 2 = (9 , - 1 , 1 )m und 7*3 = ( 1 , 2 , 2 )m legen eine Ebene fest. Welche Gleichung (N = ?) hat sie? [1]

((Är = (l,2,2)m))

3) Ein Auto fährt mit konstanter Geschwindigkeit v auf der Landstraße y = —a und wirft den Schatten einer Hausecke bei r = 0 auf eine halbkreisförmige Mauer (Radius R , siehe Skizze, Lichtgeschwindigkeit « 0 0 ).

Welchen Ortsvektor r ( t ) hat der Schattenrand? [3]

(( Vektor = sein Betrag mal ? Obacht: wenn das Auto zu t = 0 die y-Achse erreicht,bleibt die Zeit t während des Vorgangs negativ. r ( t ) = ))Nenner selber!

Übungs-Blatt 4

1) Es sollen Vektorfunktionen r (t) angegeben werden, deren zugehörige Bahn­kurven (bzw. Kurvenstücke) die skizzierte Gestalt haben.

Welchen Ortsvektor r(t) hat (nun räumliches Problem) die punktförmige Gondel eines Riesenrades, das auf einer sich drehenden Karussell-Scheibe montiert ist? [4]((Für Erfinder! Viele Lösungen sind möglich, z.B. zur zweiten Figur: R(t) (cos(u) t ) ,

sin(urt), 0) mit R(t) = i? + acos(3w£). Vorletzte: die liegende Acht verschieben, dann Radius modulieren. Die Lösung zum Riesenrad ist in Übung 5/1 angegeben. ))

2) Ein Ballon (B ) durchfliegt den Koordinaten-Ursprung zur Zeit to mit kon­stanter Geschwindigkeit w, während ein Feuerwerkskörper (F) mit v = const zu t = 0 durch fo eilt. Nützliche Abkürzungen sind w : = u — v und cl : = r o + u • t o .

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320 ÜBUNGSAUFGABEN

Die Ortsvektoren rß(t) und rp(t) kann man sofort aufschreiben. Zu wel­chem Zeitpunkt t\ haben B und F ih­ren kleinsten Abstand d(to) , nämlich welchen? Wie gefährlich es hätte wer­den können, zeigt der Abstand b der beiden Geraden. Wir ermitteln 6 auf zwei Weisen:

(a) Gleichung der zu v parallelen Ebene, in der B fliegt; jene der zu u parallelen Ebene, in der F fliegt; Ebenen-Abstand.

(b) Suche nach dem kleinstmöglichen Abstand d(to), d.h. nach der gefähr­lichsten Startzeit des Ballons.(Die beiden Resultate sehen recht verschieden aus. Natürlich läßt sich zeigen, daß sie übereinstimmen!) [6]

(( t i = a w / w 2 , d(to) = |a x w \ / w , b = ro • (u x v ) / |w x v | ))

3) Das Wachstum einer Bakterien-Kultur wurde in der Form t/to = f(N/No) dokumentiert, wobei to eine bekannte feste Zeit ist und No die Bakterien- Anzahl zur Zeit t = 0. Solange die Zunahme A N ihrer Anzahl noch relativ klein war, wurde t = to • SAN/N q ermittelt. Ansonsten ergab sich f ( x - y ) = f (x) + f(y)- Aus diesen (!) Angaben gewinnen wir f ' ( x ), notieren, wie sich allgemein eine kleine Zunahme dN durch das zugehörige Zeitintervall dt ausdrückt, und skizzieren den Verlauf von t/to über N/No. [3](( Es geht hier darum, den Differentialquotienten verstanden zu haben. f ( x ) bleibt

unbekannte Funktion mit gewissen Eigenschaften, die zur Beantwortung der Fragen ausreichen. „Höhere“ Vorkenntnisse sollen also nicht eingebracht werden. Der Text gibt etwas her über /(I + e) . Liegt nicht die Umformung x + s = x - ( 1 + f ) irgendwie nahe?! ... Für f ( x ) ergibt sich eine einfache x-Potenz. Da der Anstieg bei jedem x somit bekannt ist, bereitet eine f ( x )~Skizze kein Problem. ))

Übungs-Blatt 5

1) Von einem Riesenrad (i?,u;), mon­tiert auf Karussell (fi), kann man sich bekanntlich (siehe Übung 4/1) mit r (t) = R • (sC, sS , 1 - c) durch den Raum fahren lassen, wobei 5 := sin (ut) , c := cos(art), S := sin (Qt) und C := cos (Qt). Startposition

• • • • • •

Wenn man zuerst r , r bildet und daraus v = \r \ und a = \r |, so kann man den einfachen Ausdrücken für v und a direkt ansehen (!), zu welchem (frühe­sten) Zeitpunkt und wo (Ortsvektor) welche maximale Geschwindigkeit er­reicht wird (Resultat plausibel?!) und wo und unter welchen Umständen (Fallunterscheidung) welche größte Beschleunigung zu erleiden ist.

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B l a t t 6 321

Die Verhältnisse am höchsten Punkt werden etwas deutlicher, wenn wir dort den Krümmungsradius q ermitteln sowie den Tangenten-Einheitsvektor t und die Binormale b angeben (geeignete Skizze!). Wenn wir Q = lj und t = (w 4- t ) /lj setzen und r -C n zur näherungsweisen Vereinfachung von r (t) ausnutzen, dann können wir auch die Bahnkurve y über x der Gondel in Gipfel-Nähe erhalten und skizzieren.

Schließlich müßte es doch möglich sein, die Winkelgeschwindigkeit der Gon­del als Q 4- Lj(t) direkt aufzuschreiben und ihr Kreuzprodukt mit dem Abstand r - R e 3 zum Achsen-Schnittpunkt zu bilden. Ergibt sich das gewünschte Resultat? [9]

(( vmax = R y / u 2 + fi2 ; 10 = Ruj/y/u) 2 + 4t i2' ; (uS, -wC, ü) x R ( s C , s S , — c) = . . . = r ))

2) Ein neuartiges Bremssystem für Magnetschienenbahnen wird vom Patent­amt zurückgewiesen. Nicht nur wurde der zugehörige Geschwindigkeits- Verlauf

^ _ ar _______ 1 4 - ßr 4 - ß r3 4 - t / cqs(t)_______t t ( 1 4 - t 2 )/cos(t) 4 - yfP • y/2t + t3 4 - 1 / r '

(r := ut, 0 ^ t, 0 ^ ß < 1) höchst laienhaft zu Papier gebracht; es wird nach starker Vereinfachung obiger Formel und Skizzieren des v-t-Verlaufs auch noch ein ernsthafter Mangel des Bremssystems deutlich. Selbst wenn letzterer durch geeignete Wahl des Parameters ß eliminiert werden kann, bleibt für die Insassen der Bahn bei a = 200 m und uj = 0.4/s (woraus man u(0 ) = ? in km/h erhält) eine viel zu hohe maximale Bremsbeschleunigung auszuhalten (welche? in Vielfachen von g « 10m/s2). [3]

(( ß = 0 behebt das Hin-und-her, aber bei v(0) « 300km/h wird |v|max = . . . « 2p, oh! ))

3) Ein geladenes Teilchen (Masse m, z(0) = 0, x(0) = -vo, vo > 0, ID Pro­blem) gerät in einen Kondensator, der gerade aufgeladen wird:

K(t) = ( mKt , 0 , 0 ) , x(t) = ?

Wann (t\ = ?) wird die Geschwin­digkeit des Teilchens Null?Dimensionsprobe! [1](( Weil . .. (laut sagen!), braucht der z(£)-Ansatz einen £w,ev,el-Term. t \ = y/2vo/K .

Bewegungsgl. rx Kt ist Beschleunigung, k = Weg/Zeit3, vo = Weg/Zeit rx t \ ist Zeit ))

Übungs-Blatt 6

1) Eine Masse m hängt an einer (masselosen) Feder (/c,£). Die Höhe h(t), bei der ihr oberes Ende am Haken eines Krans befestigt ist, hängt in bekannter Weise von der Zeit t ab; ID Problem.

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322 Ü BUNGS AUFGABEN

Welcher Bewegungsgleichung folgt die ^-Koordinate von m? Zu t < 0 befinde sich m bei z = 0 in Ruhe und folglich der Haken bei Höhe ho = ? Dann aber (0 < t) wird er mit

h(t) = ho + a u 2t2

(tü2 != —) nach oben gezogen.

Wir lösen die Bewegungsgleichung mittels Ansatz. Mit welcher ^-Potenz startet m ? Wann (t\ = ?) wird erstmals welche größte Federlänge i \ er­reicht? Eigentlich müßte bei t\ die Beschleunigung z am kleinsten/größten sein — ist das der Fall? Welchen Wert hat dann z ? [5]

(( Klausur 5) mit Lösung als Vorübung?! Eindeutigkeits-Problem einrahmen! Weshalb darf kein +C £4 in den Ansatz? Zu a = 0 wärs einfach. Statt solcher „technischer“ Ansatz-Gedanken kann man auch physikalisch argumentieren, wie sich wohl z ( t) ver­halten wird (und muß). Start mit t 4 . Zu t \ (logisch) wird V maximal, nämlich 4aw2 ))

2) Wenn ein Komet K. (Masse m ) ausschließlich die Gravitationskraft der Sonne S. (Masse M, punktförmig, ruhend) spürt und der kürzeste K .-S - Abstand ro sowie der größte, n , bekannt sind, dann liefern uns die Erhal­tungssätze die Geschwindigkeit vo am S.-nächsten Punkt und v\ am fernsten Punkt. Auch der kleinste Krümmungsradius q der K.-Bahn läßt sich leicht erhalten.

Komet Halley’s lange Reise durch unser Sonnensystem.Mit diesen Worten, dem Bild und seinen Daten machte am 16. 11. 1985 die Han­noversche Allgemeine Zeitung (HAZ) auf das Ereignis aufmerksam. Der Komet war damals mit Fernglas am Nachthimmel aus­zumachen.

Welche Werte für vo, v\, q ergeben sich mit r 0 = 0,5 AE, n = 35 AE ? ( 1 AE = Astro­nomische Einheit = Erde-S.-Abstand = 15 • 107 km, 7 M = 39 (AE)3 /Jah r2).

Wenn wir die Umlaufzeit T ganz grob dadurch abschätzen, daß wir K. die konstante Geschwindigkeit (vo + t>i)/2 unterstellen, mit der er zweimal die Strecke r\ 4 - ro zurückzulegen habe, dann steht dieses T-Resultat in ziemli­chem Widerspruch zur HAZ — (in Worten:) warum? [5]

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B l a t t 7 3 2 3

((vo = 12,4 AE/Jahr, vi = 0,18AE/Jahr, q = 1AE, T « 11 (? )« 76Jahre (HAZ). v-Mittel unrealistisch, weil der Kerl die meiste Zeit mit « vi weit weg verbringt. ))

3) Eine an der Westwand eines Schlafzimmers stehende quaderförmige (mit

seitlich ins Zimmer (d.h. nach Osten) abgekippt, von einem Tritt in Rich­tung Wand um 7r/4 gedreht, sodann behutsam über die Längskante aufge- kippt und schließlich durch einen weiteren 7r/4-Tritt in ihre Ausgangsposi­tion befördert.

Währenddessen bemerkt der Hausfreund, daß eine Ecke seines Gehäuses keine Ortsveränderung erfährt. Er ordnet den 5 Drehungen Matrizen

Z><5) zu, errechnet sich (bezogen auf sein kommodenfestes Ko­ordinatensystem) zu jeder Situation die Komponenten des Ortsvektors der Zimmerlampe (ursprünglich r = (%/?, v^ ,2 )m ) und bildet schließlich (zur Kontrolle und in der richtigen Reihenfolge) das Produkt der 5 D ’s. [4]

(( Z.B. D(4) = £>t2,-,r/2 = und = m • Produkt: Di5) links!))

Gucklöchern versehene) Kommode wird während einer ehelichen Ausein­andersetzung zuerst in Richtung Norden aufgerichtet (siehe Skizze), dann

Übungs-Blatt 7

1) Viermal Energieerhaltung:

(a) Aus welcher Höhe H muß man einen Stein (m, Anfangsgeschwindigkeit Null) fallenlassen, damit er eine entspannte vertikale Feder («, i) auf eine bestimmte gegebene Länge h komprimiert? Wel­che maximale Geschwindigkeit vq erreicht er?

(b) Masse m zwischen zwei ent­spannten Federn (je /c, t) in Ruhe. Wenn man nun m losläßt, möge sie bis z = - £ nach unten schwingen, rv

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324 Ü b u n g s a u f g a b e n

(c) Aus Höhe h startend, glei­tet eine Masse m reibungs­frei in eine Kreisbahn (R ). Mit welcher Geschwindigkeit durchläuft sie den höchsten Punkt des Kreises?

(d) In großer Höhe h wird ein Stein (m) fallenge­lassen. Zu jeder momentanen Höhe z können wir leicht seine Geschwindigkeit v angeben, die er dort gerade hat. Wenn wir hiermit mv bil­den, kommt sicherlich die Gravitationskraft wie­der heraus — !? [5]

(( (a) vo = yjKjrn (£ - h - m g / n ) ,

( d )v = ,

m v = . . . = + AbaT fd3" > denn —z = v nim m t zu))

2) Nach Festlegung eines Fixstern-festen Koordinatensystems 'ej werden die Terraner vom Interplanetaren Rat (IR) aufgefordert, Achse und Winkelge­schwindigkeit ihres Planeten anzugeben. Hinieden wird sofort ein erdfestes System f j gewählt, welches zu t = 0 mit dem e —System zusammenfällt und von dem aus die zeitliche Veränderung der e ’s (= Spalten von D) beobachtet wird:

c cos(cjt) s sin(cot)

Wir bestimmen die fehlenden Daten und berechnen zur Probe det(D) und Sp(D). Welche Gestalt nimmt D zu cot = 7r/2 an? Dieser Spezialfall genügt,um einen Vektor b auf der Drehachse zu bestimmen. Probe: ist b auch zu allen Zeiten Eigenvektor von D ?

Einer groben Skizze entnimmt man leicht einen (einfachen) zu d := b /b senkrechten Einheitsvektor g . Die bekannte Beziehung d -(Dg x g) = sin (ut) sagt uns nun, ob wir das Vorzeichen von d etwa noch ändern müssen, u = ? Wie sich nun D gemäß Dq DDq aus einfacheren Drehungen (Dq = ? , D = ?) zusammensetzen läßt, das wird dem IR ebenfalls noch mit geteilt. [5]

/ v ? ) )

3) Wenn man zwei Federn («i, und £2 ) aneinander lötet (Masse der Lötstelle rno = 0), dann sollte das entstehende Gebilde wie eine „Ersatz- Feder“ mit £ = t \ 4- £2 und k = ? funktionieren. Wir zeigen dies auf zwei Weisen:

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B l a t t 8 325

(a) ausgehend davon, daß zu jeder Position x des Endes der rechten Feder sich stets sofort die Position y der Lötstelle einstellt, bei welcher die potentielle Energie V (z, y) minimal wird;

(b) durch Aufschreiben der zwei Bewegungsgleichungen für eine am Ende befestigte Masse m und eine Masse m o der Lötstelle, mo -» 0 und Eliminieren von y. [4]

(( « = 1/k^1/«, • bei (b) ist ausm x = -(??) (x - £ i - £ 2 ) abzulesen ))

Übungs-Blatt 8

1) An einer Masse m sind zwei gleiche masselose Federn («, £) befestigt, je deren anderes Ende, wie skizziert, an geraden Drähten reibungsfrei gleiten kann. Der Abstand a ist bekannt; Erdanziehung in -^/-Richtung; 2D Problem. Die gesamte auf m wirkende Kraft K hängt von der Position r ab und läßt sich in der Form K ( r ) = K q — H r aufschreiben: H = ?, K q = ? [3]

(( K 0 = ( \ n ( a + £) , - m g + k ( cl - £) ) , s.a. Übung 9/2 ))

2) In einem Metall beobachtet man die Stromdichte (14,12, Q)jo, wenn im Inne­ren das elektrische Feld (l,0,0)i?o herrscht. Jedoch ergibt sich (12,21,0).;'o zu (0, l,0)£o (Skizze!) und ferner (0,0,5)jo zu (0,0, l)i?o- Hieraus läßt sich der Leitfahigkeitstensor a ermitteln oder besser gleich der durch a = : Hao (cr0 := j o / E o ) definierte dimensionslose Tensor H.Um ein besseres Koordinatensystem zu finden, betrachten wir eine Drehung D um die z-Achse (mit zunächst beliebigem Winkel). Welche Gestalt H' bekommt dann unsere dimensionslose Leitfähigkeit? Der Winkel <p [bzw. c := cos(y?)] läßt sich nun so festlegen, daß die Nicht-Diagonal-Elemente von H ' verschwinden. [Zu sin(2</?) = 24/25 ist übrigens c entweder ±4/5 oder ±3/5.]Welche Diagonalelemente hat dann H 1 ? Wie sieht nun D konkret aus? Sind die D-Zeilen Eigenvektoren von H ? — nämlich je zu welchem Eigenwert? In welche Richtung (e, „Hauptachse“) muß man also das elektrische Feld

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326 Ü b u n g s a u f g a b e n

Eoe legen, damit welche Stromdichte j mit welchem maximalen Betrag beobachtet wird? [5] rr/ _ /o „

(( H — diag (30,5,5), e — (3,4,0)/5 , - • •, | |max — 30 jo ))

3) Ein Teilchen der Masse m und Ladung q bewegt sich in einem Hochvakuum­Raumbereich, in dem überall das gleiche Magnetfeld B herrscht. Was lernt man, wenn man die Bewegungsgleichung in Richtung Energiesatz- Herleitung behandelt? Welche Gleichungen bestimmen v\ (t) und V2 (t) ein­deutig, wenn B = (0,0,2?) und v(0) = (0, vo,0) ? (qB/m = : tu). Wir erhalten v (t) mittels Ansatz, schreiben r (t) direkt darunter und legen hier­bei auftretende Konstanten so fest, daß r (0) = 0. Skizze! Radius der Bahn? [3] (( Man lernt, daß T = const« ergo v = const« bleibt: kein Effekt von B . Eindeutiges

Problem aus 2 Dgln und 2 Anfangsbedingungen einrahmen! . . . , R = mvo/( qB) ))

Übungs-Blatt 9

1) H = J j , I — ~ i j - Zu jedem dieser zwei symmetrischen Matrix-Operatoren bestimme man die zwei Eigenwerte Ai, A2 , die je zu­gehörigen Eigenvektoren / 1? / 2 ( / 1 1 / 2 ?)> schreibe sie in die Zeilen einer Drehmatrix D und bilde zur Probe DH DT bzw. D ID T. Ohne erneut zu rechnen (!): welche Eigenwerte haben J = ^ und K = ^ ^ ?

Bei e —> 0 werden die Matrizen S = Q ^ und T = ^ x gleich;was passiert in diesem Limes mit den beiden Paaren von Eigenwerten und zugehörigen Eigenvektoren? Man zeige, daß eine Drehmatrix im allgemei­nen nur A = +1 als reellen Eigenwert hat (zuerst am Beispiel DXtV, dann allgemein). [6]

(( Matrix I hat f\ — \ zu EW Ai = 0 und / 2 = § zu EW A2 = 4 .

Gleiche EW, aber die Eigenvektoren von 5, T „wissen“ noch von ihrer Herkunft. ))

2) Zur Zeit t = 0 fliegt eine Masse m mit Geschwindigkeit r (0) = ^ ^ )durch den Ursprung (r(0) = 0). Ihre Zukunft wird sodann durch die New- tonsche Bewegungsgleichung

festgelegt. Es handelt sich übrigens genau um das 2D Problem von Übung 8/1. Nur wurde mit rait = ?o + rneu eine Translation des Koordinatensy­stems so vorgenommen, daß nun der Ursprung die Gleichgewichtslage der Masse ist.Wir übertragen zunächst alle obigen Angaben in ein gedrehtes System [D =

: ) , Drehwinkel <p noch unbekannt], legen y? so fest, daß H ' diago­nal, und notieren die Diagonalelemente von H 1 sowie die Drehmatrix-Zeilen

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B la t t 10 3 2 7

/ ij f 2 * Nun sehen wir nach, ob sich diese Resultate auch strikt nach „Fahrplan“ zur Hauptachsen-Transformation ergeben. Schließlich lösen wir (im gedrehten System) die Bewegungsgleichung und transformieren zurück: r(t) = ? Skizze der Bahnkurve! [6]

( ( . . , r n x 1 — —j n Q x ' , m y ' — —\ n 2 y ' . Null-Anfangsbedin­gungen außer y'(O) = vo . Lösen und r = D T r '-Bilden harmlos ))

3) Durch masselose Drähte sind drei Kugeln starr miteinander verbunden:

m\ =: m bei r\ = (1 , —1, 0) a 7722 = 4m/3 bei = ( - 3 /4 , 0, 0 ) a ms = 6m bei r 3 = (0 , 1/6, 0 )a .

Wo liegt der Schwerpunkt R dieses Systems? Welchen Trägheitstensor I hat es? Unter Hinweis auf eine der obigen Übungen können wir sofort die in der xy-Ebene liegenden zwei Hauptachsen skizzieren und (an ihnen) die zugehörigen Haupt-Trägheitsmomente ( := /-Eigenwerte) notieren. [3](( An der Diagonalen nach rechts oben steht 30raa2/12 und an der anderen 5ma2/12 ))

Übungs-Blatt 10

1) Die Intensität I einer Spektrallinie wurde als Funktion der Licht-Frequenz v = l / T = cc?/27t in Absorption gemessen. Dabei ergab sich I = Iq • / ( y~^Q ) mit den folgenden verläßlichen Werten der Funktion f{x):

m = 2 , / ( i) = i , m = 2 , / ( 3 ) = 3 .

Der Experimentator weiß ferner, daß es sich (nach Abzug einer Konstan­ten) um eine Lorentz-Kurve bestimmter Breite, Höhe und Zentrierung han­delt. „Vier nichtlineare Gleichungen für vier Unbekannte“, murmelt er er­schrocken. Aber dann fällt ihm ein einleuchtendes Symmetrie-Argument ein. Wie sieht also das Bildungsgesetz der Funktion f (x) explizit aus? Man skizziere Sättigungsgerade, Meßpunkte und qualitativ die Lorentz-Kurve.ß] ((4—6 / [2 + ( i —l)2] ))

2) In einer Neonröhre habe ein Proton (Masse m) gerade so viel Energie, wie notwendig ist, um das Zentrum einer positiven Raumladung mit Potential V{x) = Vo - ot • x 2 zu erreichen. Bekannt ist auch z(0) = -a . x(t) = ?

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328 Ü b u n g s a u f g a b e n

Man skizziere x über t. Natürlich führte hier Energiesatz-Ausnutzung di­rekt und schnell zum Ziel (tun!). Aber auch über Bewegungsgleichung (?!), Anfangsbedingungen und Ansatzlösung muß sich das gleiche x(t) erhalten lassen. [3] ^ _ _a ex p ^y ^^ j^ - ? 1 ))

3) Wenn man ein Elektron an der Hand nimmt und im oberen Teil der skizzier­ten Schaltung einmal im Kreis an den Ausgangspunkt zurück führt, dann müssen sich alle Potential-Unterschiede zu Null addiert haben:

1 Qx + R h - 1 Qz = 0 .C l ^ c3

Zum unteren Teil gilt eine analoge Glei­chung. Qj (t) ist die Ladung auf der Plus- Seite des j-ten Kondensators:

•OM = •Am Anfang sei £Ji(0) = 0 2 (0 ) =: Qq und Q3 (0) = 2Qq. Wegen 7 x4 - 7 2 = h erhalten wir schnell eine für alle Zeiten gültige Be­ziehung zwischen den Q’s und schließlich:

5 ,= (S) ■ ■ H=-Der Einfachheit halber setzen wir nun 2C\ = 2 C2 = C3 =: C und lösen das Problem: Q (t) = ? [5]

(( H = (Matrix aus Einsen und Dreien) / R C . Eleganter Weg: Q (t ) = a(t) • erster H -

Eigenvektor 4 b(t) • zweiter und Dgln für a, b lösen. Q ( t ) = J Qo • exp [ wovon? ] ))

Übungs-Blatt 1 1

1 ) Die skizzierte masselose Feder (k,£) drückt gegen ein Lineal (Länge b, mas­selos), das an der Wand lehnt und seinerseits eine Masse m beschleunigt; keine Reibung; die Lineal-Enden bleiben auf der z - bzw. z-Achse; Feder genau bei Höhe £ befestigt; x(0) = 0, z(0) = a.

Welcher Bewegungsgleichung folgt m, und welche Lösung x(t) hat sie? [3]

( ( Leider, leider bekommt man die Bewe­gungsgleichung am einfachsten über V(x). Nein, bitte erst einmal direkt über Kräfte versuchen! . . . , x(t) = ach(ut) ))

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B l a t t 12 329

2) Auf der z-Achse bewegt sich ein Teilchen (m) im Potential

V(x) = na2f ( - ) mit f (s) := — = 7 — ^ 2 = d» ( ■ w i \ a ) Jy 1 l + ch(s) (e* + l )2 \e* + l j

Sind die letzten zwei Gleichheitszeichen berechtigt? Man skizziere / über s. Wir entwickeln / um s = 0 bis (mit) zum s2-Term, und zwar (a) ausgehend vom ersten Ausdruck und (b) durch Entwickeln der Klammer im letzten. In dieser Näherung können wir der Bewegungsgleichung ansehen, mit welcher Kreisfrequenz u das Teilchen kleine Schwingungen (x -C a) ausführt. [4]

((u = ly/n/m ))

3) Reihe als Ansatz. Zu der anharmonischen Schwingung

x = ^ —x 2 - ^2~xz , z ( 0 ) = a , £ ( 0 ) = 0 ,CL CL

sollen die Koeffizienten cq bis c± in x = Co 4- c\t 4- c%t2 4- 03t3 4- c\t* + ... bestimmt werden.Wenn wir die Reihe zuerst in die Anfangsbedingungen einsetzen und sodann x bilden, dann können wir auf der rechten Seite der Bewegungsgleichung ziemlich faul werden. Das z-Resultat bis mit t4 läßt erraten, wie die ge­schlossene Form für x(t) aussieht (Probe!). Wir bilden und skizzieren noch das Potential V(x) der obigen Kraft (m := 1), geben die Energie E des Teilchens an — und verstehen nun das seltsame Verhalten von x(t) bei t -> 0 0 . [4](( Nicht wahr, wenn 1 - ( )2 + ( )4 + ... auf dem Papier steht, dann ratet es sich

leicht. Es ist übrigens allemal ein wenig aufregend, wenn sich ein spezielles anharmo­nisches Problem in Strenge lösen läßt, hier allerdings nur zu spezieller Anfangsbedin­gung. Man ist somit nicht ausschließlich auf das in Mechanik-Lehrbüchern behandelte Näherungsverfahren angewiesen. ))

Übungs-Blatt 12

1) Störungsrechnung erster Ordnung.Ein Meteorit (m) nähert sich der Erde (M,R) mit so großer Geschwin­digkeit (i(0) = - vq, x(0) = a), daß seine kinetische Energie im Bereich R < x < a stets viel größer als die durchlaufene Potential-Differenz bleibt (F(z)-Skizze!). Wir erkennen, daß die Gravitationskonstante 7 als der klei­ne Parameter angesehen werden kann, lösen die aus Energiesatz folgende Bewegungsgleichung x = ... in nullter und erster Ordnung und erhalten— korrekt bis auf 0 ( y 2) — die Lösung x ( t ) . Dimensionsprobe! [4]

(( x(t) - a - v o t + 7 [ vo t / a + ln ( l - vo t / a ) ] M / vq + 0 ( 7?) ))

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1130 Ü b u n g s a u f g a b e n

2) Um die folgenden fünf Integrale auszuwerten, genügen elementare Umfor­mungen und Symmetrie-Argumente.

Ji = j dx ^arctan (5sh(z)) 4- 2e ln(4

— ( 2 x {x - 2)2 Jo \ 1 + — 3)2 x2 - 2x 4- 2

= I (^C0S ^ s*n2 (i^)r

J a = lim /«-►+0 J£

" d * *, e e 4 - r

J 5 = lim * • ln ( [ de — ^ . [4] T —t+o 21n(T) \ J 0 e£/ T 4-1 / (( Jn = 6 - n ))

3) Welche Arbeit A = Jq°cIx K ( x) haben die Männer zu verrichten, um das skizzierte Boot zu Wasser zu lassen?

Das Boot habe Masse M und über seine gesamte Länge L den gleichen Querschnitt. Die Randkurve sei 2 a y 4- y2

/ w = s ' l i WBekannt sei auch die Dichte g (= Masse pro Volumen) des Wassers. Ferner gelte M = gabL • 8/3. Als erstes erhalten wir K (x ), sodann die maximale Eintauchtiefe xq und schließlich A. [4] (Keine Integraltafel benutzen?!)

( ( A = M g a fln(3)))

Übungs-Blatt 13

1) Vertikal über einer ideal reflektierenden Glasplatte springt eine Metallkugel verlustfrei zwischen z = 0 und Höhe h. Welche (zeitlich) mittlere Höhe z hat die Kugel, welche Höhen-Schwankung Az und welche mittlere kinetische und potentielle Energie? [2]

(( A z = 2/i/\/451 ,2 T = V . Zu V ~ z k läßt sich der „Virialsatz“ 2T = k V herleiten. ))

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B l a t t 14 331

2 ) Am 1.4.1990 wurde erstmals ein stabförmiger Himmelskörper entdeckt. Er erstreckt sich auf der z-Achse von 0 bis L, ist als oo dünn idealisierbar und hat konstante lineare Massendichte er(z) = : ao = M/L. Welches Potential V(r) durchfliegt sein Trabant (ra) ?

Nach expliziter Berechnung von V(r) interessie­ren wir uns für den Grenzfall eines nach oben hin sehr langen Stabes (L —> oo), während die ra- Koordinaten 2 und yjx2 4- y2' = : g im Endlichen bleiben. Da der führende F-Term ( := V&) nicht von r abhängt, dürfen wir ihn subtrahieren. Wir erhalten ein nur noch von y/g2 + z2' - z , aber nicht mehr von L abhängendes Potential.

Längs welcher Kurven in der zx -Ebene hat das Po­tential den gleichen Wert? Skizze!

Wie nimmt es zu, wenn man sich (g -» 0) bei fester Höhe 2 dem Stab nähert? Mit welcher g- Potenz nimmt also der _L-zum-Stab-Anteil der An­ziehungskraft zu?„Aber dies kann doch unmöglich für negative 2 auch noch gelten!“ — son­dern dann . . . ?Schließlich entfernen wir uns genau auf der 2 -Achse nach unten vom Stab­ende: V(z) -> ? Welche V-Asymptotik bei g = 0, z -» 0 0 hat hingegen plausiblerweise ein Stab endlicher Länge? [7]

( ( Ist eine Funktion konstant, so muß es bereits ihr Argument sein, nicht wahr?! So gibt denn const = 777100 ln( y / z 2 + g2 - z) Paraboloide als Äquipotentialflächen. V ( e 0, z > 0) 27m<7o ln(^) + 0(1) , ... . Letzte Frage: fm M / \ z \ ))

3) Ein Kometenschwarm hat die Erde sehr rasch bis zum Stillstand abgebremst: 2 (0 ) = a, i(0) = 0. Wieviel Tage bleiben uns noch bis zum Untergang in der Sonne? [3]

a — 1,5 • 1 0 1 1 m ,MSonne = 2 .1030kg,7 = 6 ,7 • IO- 1 1 m3 /s 2 kg

(( 65 Tage — was man da noch alles erledigen kann! ))

Übungs-Blatt 14

1) Nahverkehr. Mit billigem Nachtstrom wird eine Feder («, £) auf Länge a ge­dehnt. Am Morgen zieht sie dann einen Nahverkehrszug auf der skizzierten

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332 ÜBUNGSAUFGABEN

elliptischen Schiene C von Punkt 1 auf Punkt 2.

Die dabei verrichtete Arbeit soll explizit als Kurvenintegral ausgewertet werden. Die Fra­ge nach der vom Zug zurück­gelegten Wegstrecke führt auf ein übles Integral; aber wir können nachsehen, ob es zu t — a und zu t — 0 den richti­gen Weg liefert. [5]

(( Natürlich wird bereits vorher notiert, was herauskommen muß. Aber auch nach Fahr­plan folgt A — . . . — |/c(a - t ) 2 und Weg= J ^ 2dt y/a2s2 + P c 2' , an/2 bzw. a ))

2) Ein Gewässer konstanter Tiefe h mit homogener Dichte g von Wasserflöhen pro Volumen ströme mit Geschwindigkeit u ( r ) = b • (y,x, 0). Im skizzierten Viertel-Kreisbogen C hat jemand ein Netz ausgelegt (das ansonsten vertikal im Wasser bis zum Boden hängt). Welche Bedeutung hat für ihn die Größe

J := | J d r x u (r )

Nach Skizzieren einiger re­präsentativer u-Pfeile, die Strömung illustrierend, be­rechne man J explizit aus obiger Definition. [3]

(( ghJ = Anzahl Wasserflöhe pro Zeit im Netz. Nach Fahrplan: J = bR2 ))

3) Um die Gravitationsanziehung einer Raumsonde (Masse m) durch den Saturn-Ring auszu­rechnen, idealisieren wir ihn als ebenen Kreisring (Radien R\ und R 2) mit konstanter Massendichte er und schreiben zunächst das Potential V(r) als Flächenintegral sowohl in kartesischen als auch in Polar­koordinaten möglichst explizit auf.Da beide Integrale etwas bösartig aussehen, ziehen wir uns auf Betrachtung der z-Achse zurück: V(0,0, z) = ? if(0 ,0 ,z) = ? Welche Asymptotik bei z -> 0 0 muß V haben? Hat es sie? Wie verhält sich V(0,0, z) im Falle einer Scheibe ( # 1 = 0 ) bei z -> ± 0 ? (Ebenso — bis auf Faktoren — verhält

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B l a t t 15 3 3 3

sich übrigens das elektrische Potential an einer Kondensatorplatte.) [5]((Zu F(0, 0,z) gewinnen die Polarkoordinaten: « -Integral trivial. R\ = 0, z ->• 0 gibt

V ->• 7m(7o27r [|z| - R 2 + 0 ( z 2) \ . Leute! i rgendwas ->• 0 heißt in aller Regel, daß mindestens der asymptotisch führende Term am Leben bleiben soll. Man will etwas lernen. „V —> 0“ wäre hier besonders blind gewesen. Wir lernen: die Kraft an der Scheibe (und das elektrische Feld an einer Kondensatorplatte) ist unabhängig von z ! ))

Übungs-Blatt 15

1) Eine kreisrunde Herdplatte (Radius R) werde inhomogen so geheizt, daß die pro Zeit und Fläche abgestrahlte Energie I (= Intensität = ^-Komponente der Energiestromdichte auf der Platte) quadratisch mit dem Abstand d vom Punkt ro = (a, 0,0) abnimmt:

1(7) = Io • (1 - A • d2)

(r := ( x , y ) , 2D Problem) .

Wieviel Energie pro Zeit (Lei­stung P) verliert die Platte durch Strahlung? Wir formulieren das Problem wieder zunächst sowohl in kartesischen als auch in Polar­koordinaten und entscheiden erst dann. [4]

2) Wo liegt der Schwerpunkt (R =?) des skizzierten Viertels einer Halb­kugel, wenn es aus einem Material besteht, dessen Massendichte gemäß

e(r) = 0 o - ( l - a | ; ) ( 0 < a < 1)

in z-Richtung ein wenig abnimmt? [4]

(( Es ist hier rentabel, Masse M zusammen mit M ßi, M R 2 und M R 3 formal als 4-komponentigen Spaltenvektor zu schreiben und ebenso den Integranden. R = ( 1 - 8a/15 , 1 - 16a/157r, 1 - 16a/157r ) • 3Ä/(8 - 3a) ))

3) Nebelkammer. Ein geladenes Teilchen (m, q) startet mit u(0) = (0, vo,0 ) in ein Medium, in dem es die Reibungskraft — 7 m v erfährt und in dem das Magnetfeld B = (0,0, B) herrscht (qB/m =: uS).Wieviel kinetische Energie pro Zeit verliert es?

(( P = Jo 7rß2 (1 - XR2/2 - Aa2) ))

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334 ÜBUNGSAUFGABEN

Aus dem Paar von Bewegungsgleichungen für v\, i>2 gewinnen wir eine für u := _vi. H- iv2 (sowie u(0) = ?), lösen diese und erhalten aus der Lösung i>i(£) und i>2 (£). Die entstehende Spiralbahn r(t) möge im Ursprung beginnen. In welchem Zusammenhang steht dann ihr Zentrum f (oo) mit den Integralen

roo rooJ\ := / dt e-7* sm(ujt) , J2 := / dt e-7* cos(u;£) ?

Jo JoMan werte nun J<i auf drei Weisen aus: (a) mittels partieller Integrationen,(b) per Kosinus-Reihe, tn -» ( -0 7)n und Aufsummation, (c) über J2 + i Jiund Euler-Formel. [7] „ . „ , _

(( T = - 7mv , u = ivoe , r (00) = vo ( J \ , J2) ))

Die Bahnkurve des Teilchens ist vorn auf dem Bucheinband zu sehen.

Übungs-Blatt 16

1) Welche Funktion von e gehört je an die gepunkteten Stellen?

S(x) = lim .. . e“ lxl/e v y e-H-0

£(r) = lim . . . t f ( r - £ ) v y e-H-o v J

ö(r) = limo . . . rn - e_r/£ n = ?, ?, - 1 , 0 , 1 , 2 , . . . )

Die Massendichte ^(r) = er • 8(y)Q(x) eines dünnen ebenen Bleches, das die rechte zz-Halbebene ausfüllt, hat in Kugelkoordinaten die Gestalt g = /(r,t?) • 6(<p), nämlich mit welcher Funktion /(r,tf) ? [3](( Drittes <5, 3D: 1 = A • 47r f£°dr r n+2e~v £ existiert auch noch zu n = - 2 aber bei

n = — 3 nicht mehr. „Daß 3D, stand nicht im Text!“ — „Ja, aber SIE bringen doch die Welt in Ordnung!“ Zu / : y in Kugelkoord. im linken S einsetzen, dann vereinfachen ))

2) Eine aus Höhe h fallende Masse m (2 (0 ) = h, i(0) = 0) erfährt einen Kraftstoß nach oben:

K 3{ t ) = ' y 5 ( t - y / h / g ) , < > < 7 •

Es soll z(t) ermittelt und für einige typische 7 - Werte als Funktion von t skizziert werden. [2 ](( Newton mit *-abh. Kraft — „und Stammfunktion direkt darunter !“ [x0(x)]' = ? ) )

3) Eine Streichholzschachtel (m) mit Anfangsgeschwindigkeit v q gleitet gerad­linig (z-Achse) über eine Tischplatte. Jeder der Parameter a, ß, 7 (je ^ 0) in der Reibungskraft

K\(v) = —m • (a + ßv + 7 V2)

möge durch geeignete Behandlung von Tisch und Luft zum Verschwinden gebracht werden können. Wir studieren der Reihe nach folgende Spezialfälle:

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B l a t t 17 335

(a) ß = 7 = 0 , (b) a = 7 = 0 , (c) a = ß = 0 ,(d) nur 7 = 0 , (e) nur ct = 0 ,

ermitteln je die Geschwindigkeit als Funktion der Zeit (i>a(£)> ^b(t), . . . ) und fragen je, ob v bereits zu einer endlichen Zeit Null wird. Wie erhält man aus i>d (via ß -» 0 ) wieder i>a und wie aus ve wieder vc ? [6 ](( Manchmal hilft ein „reziproker Ansatz“ weiter. Man setzt also v(t) =: 1 /u( t ) , gewinnt

aus der Bewegungsgleichung eine Dgl für u , bestimmt sich u(0) und löst ...Diese Übung diene zum „Aufwärmen“. Sie steht noch vor dem Stoff von Kapitel 7. Übrigens haben wir per v = : u + const auch den allgemeinen Fall „(f) alle drei Parameter ^ 0“ im Griff. Und es bleibt fraglich, ob der Weg über Fall (5) (Kap. 7) hier überhaupt Vorteile bietet.Zu den Resultaten: Ja, Nein, Nein, Ja, Nein, v* = vq/ ^ 1 + t>o7 /ß ) eßt ~ *>o7 f ß ] ))

Übungs-Blatt 17

Der skizzierte ID harmonische Oszillator startet mit z(0 ) = 0 und i(0) = vo. Seine Feder ist in chemischer Auflösung begriffen:« = «o/ ( l + at)2.

Wir führen die dimensionslose Zeit r = 1 + at als neue Variable ein, schrei­ben die allgemeine Lösung der Bewegungsgleichung auf und passen an die Anfangsbedingungen an. Dabei denken wir uns zunächst die Differenz D i — 1/4 - Ko/ma2 positiv (a groß, y/l? =: w). Welche Gestalt bekommt x(t) zu w -» 0 und welche, wenn D < 0 ? [4]

(( Eine der Dgl-Fallstudien paßt hier. Bei w 0 wird x ( t ) zu ( vo /a) y / l + at ' ln(l+atf) ))

2) Ein LKW fährt mit konstanter Schubkraft K und erfährt die Reibungskraft - R - v . Er hat Sand geladen, den er durch ein Loch mit konstanter Rate T verliert: m — mo — T t .

Wie läßt sich die Bewegungsgleichung für v(t) (durch Übergang zu geeigneter dimensionsloser neuer Variabler x) auf die folgende Form bringen?

y' - n • y /x = - a / x ( 0 < n = ? , 0 < a = ?)

Die allgemeine Lösung y(x\C\a ,n) dieser Dgl soll nun auf mehrere Weisen erhalten werden:

i)

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336 ÜBUNGSAUFGABEN

(a) durch Separation der Variablen

(b) als Spezialfall der bekannten Lösung von y' + Py — Q

(c) über neue Variable r, x =: exp(r)

(d) mit Potenzansatz für die homogene Dgl und Raten einer speziellen Lösung der inhomogenen

(e) über neue Funktion u, y =: a /n + exp(u)

(f) über die durch y =: xn -u definierte neue Funktion u und anschließend neue Variable r = - l / x n.

Unterwegs hatten wir den Freien Fall auf dem Papier (nämlich wo? — notfalls Vorzeichen der Variablen umkehren) sowie die Dgl (RQ = ...) für ein .RC-Glied unter Gleichspannung (nämlich wo?). Auch der ID har­monische Oszillator läßt sich einbeziehen: irgendwo stand nämlich die Dgl w’(t) — nw(r) = — a, aus der wir leicht eine lineare Dgl mit w" und w (aber nicht w1) erhalten können; zu welcher führt dann r =: \ujt ?

Erst jetzt interessiert uns wieder das LKW-Problem. Sei i>(0) = vo: v(t) = ? Zu K = 0 und T -> 0 müßte doch das u-Resultat in die Lösung von rriQV = —Rv übergehen; ist dies der Fall? [9]

(( n = R / T . .. , (a) bis (f) halten sich gut aneinander fest. Zur letzen Frage: setze T = R / N und schiele nach der e-hoch-Formel des Computers: (5.20). Hübsch, nicht? ))

3) Selektion. Dereinst (t = 0) gab es ebenso viele weiße (z(0) = zo) wie schwarze Schafe (y(0) = zo). Sie vermehrten sich gemäß

x = a - x — c - x • (x + y) y = b . y - c -y - ( x + y) , a > b > 2 c x q ,

im Einklang mit der Umwelt. Hierin ist a—c*(x+2/) die Differenz aus Gebur­tenrate und Sterberate. Dieser Überschuß ist ~ Futtervorrat angenommen, welcher wiederum linear mit der Tierezahl x + y abnimmt. Die schwarzen Schafe haben eine geringfügig höhere Sterberate: Hitzschlag-Anfälligkeit, darum b < a. Welche Zukunft x(t) = ? y(t) = ? hat dieses Ökosystem?

Welche Grenzwerte werden bei t -» oo erreicht, und wie stand es um das Verhältnis x /y zu Urzeiten (£ —> —oo) ? [5]

(( Neue Funktionen u und v mittels x =: exp(a£ - cu) und y =: exp(6J - cv). Nach dt (u — v) =? kann die erste Integrationskonstante A eingeführt werden. Dgl für u allein: ecu ü = eat + ebte~cA. Bei deren Lösung: zweite Integrationskonstante B .>1 = 0 und B — B (x o t a )b)c) folgen aus den Anfangsbedingungen. Die schwarzen Schafe sterben aus, und zu Urzeiten gab es noch keine weißen.Das Problem hat zwei Zeitskalen, eine kurze, l / a , nach welcher eine Quasi-Sättigung bei x « y « a/ (2c) eintritt, und eine lange, l/ (a - b ) , nach welcher sich die geringen Vorteile der überlebenden Art durchsetzen. — Um den Langzeiteffekt im Resultat zu erkennen, schreibt man es am besten so :

i(t) = l / [ ( ...... ) e~at + c/o + (c/6) e- *“- 6'' ] , y( t) = e - (°~ b)tx( t) .

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B l a t t 18 337

Übungs-Blatt 18

1) Ein pessimistisches Weltmodell. Die Anzahl N(t) der Erdenbürger [derzeit N (0) = No] wird regiert durch die Dgl N = ( G - S) • AT, wobei Geburtenrate G und Sterberate S komplizierte Funktionen aller möglichen Umweltein­flüsse sind. Wir wollen annehmen, daß G — Go eine Konstante sei und daß die Sterberate S(t) linear mit einer „Vorratsgröße“ V(t) (Rohstoffe, be­baubares Land, Luftsauerstoff) Zusammenhänge: S = So - ot • (V — Vo), Vo = V'(O). Die Vorräte seien nicht regenerierbar: V = —ß • N . Diese etwas drastische (?) Annahme dient dazu, das Modell hinreichend leicht analy­tisch lösbar zu halten (man kann jedoch zu — ß N auch noch eine Konstante addieren, d.h. eine Vorrats-Wachstums-Rate einbauen und weitgehend ana- lytisch durchhalten).Mittels geeigneter Zeitskala t — und mit u (t ) : = A • N t v(r) : = B- (Vo — V) gebe man (A = ?, B = ?, 7 = ?) dem Modell die folgende angenehme Formulierung:

u' — v.* (rj — v) , v1 — u ; u(0) = 1 , i>(0) = 0 . (*)

Um das Dgl-System (*) zu lösen, überführe man es in eine Dgl für v(r) und schaue dann in die „Trickkiste“ (Kap. 7). Man skizziere V ( t ), N ( t ) und interessiere sich für die fernere Zukunft. [8]

(( Resultat: N = N o u ^ t ) , u ( t ) = 4a;2 exp(u>r)/[u; + 77 + (u; — 77) • exp(u>r)]2

mit uj := y /2 + tj2' , rj — (Go - So) / 7 und 7 = y/ctßNo ))

Konrad Lorenz und K. L. Mündl [Noah würde Segel setzen (Seewald 1984)] :„Einer meiner Bekannten, er ist türkischer Herkunft und Professor für Nationalökonomie in San Francisco, hat einmal den lapidaren Ausspruch getan, es gebe unter den Gefahren, die die heutige Menschheit bedrohen, keine, die nicht letzten Endes aus der Übervölkerung entstehe, und auch keine, die anders als durch Erziehung zu lösen sei.“

2) Ein Festkörper, der den rechten Halbraum ausfüllt (0 < z), habe die Tem­peratur

T (r ) = To- [ f - a r c t a n Q l ) ] .

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338 Ü b u n g s a u f g a b e n

Welche Form und Lage haben die Flächen gleicher Temperatur? Man skiz­ziere deren Schnittlinien mit der zy-Ebene (sowie den T -Verlauf entlang der positiven z-Achse) und bilde grad T. Wie verändern sich Richtung und Betrag des Temperaturgradienten entlang der y-Achse und entlang der Ge­raden y — x, z = 0 ? [4](( Rand berührende Kugeln. Zur letzten Frage: gradT = - e2 aTb-mal Lorentz-Kurve ))

3) Wirbelfreie Strömungen:

(a) Zu welcher Wahl der Koeffizienten ist die Meeresströmung v — (ax + [ß + 7 ]2/> [ß — l \ x + a y, 0) wirbelfrei? Wir schreiben v auch in der Form S r + A r auf (S = S T = ? A = —AT = ?; a ,ß , 7 beliebig) und hiervon den zweiten Term als u) x r , u) = ? Zu S bilden wir die Spur und bestimmen und addieren die zwei Eigenwerte.

(b) Zu welchem Zahlenwert von a ist (azr — r2es)/r 5 wirbelfrei? (Ur­sprung ausgenommen)

(c) Kann die 3D radiale Strömung v — g(r) • r Wirbel haben? Sei nun speziell </(f) = a • x (0 < a). Kann man das Resultat verstehen? (u-Pfeile, Argumente)

(d) Eine Strömung u( r ) mit der Wirbelstärke a • ö(x)~es soll realisiert werden. Selbst wenn wir dazu zwei u-Komponenten Null setzen, ist das Resultat nicht eindeutig: man skizziere zwei verschiedene solche Strömungen. [5]

(( (a) A+ + A_ = 2 a , (b) a = 3, (c) Ja, (d) v$ = 0 und dann z.B. v\ — 0, v2 = ot6(x) ))

Übungs-Blatt 19

1) Quellenfreie Strömungen (Magnetfelder):

(a) Zu welcher Wahl der Koeffizienten ist die Meeresströmung v = (ax + [ß+ 7 ]2/j [ß~7]x+ay, 0) quellenfrei? Wie sieht die Strömung aus, wenn nur 7 bzw. nur ß von Null verschieden ist? (je Skizze mit typischen Pfeilen in der zy-Ebene)

(b) Zu welchem Zahlenwert von a ist (azr - r2~es)/r5 quellenfrei? (Es handelt sich übrigens um das Magnetfeld einer sehr kleinen, sehr stark stromdurchflossenen Spule am Ursprung. Es ist außerhalb derselben auch wirbelfrei: vgl. Übung 18/3.)

(c) Durch die poröse Oberfläche eines vertikalen Rohres (R) in der (ru­henden) Nordsee strömt pro Zeit überall gleich viel Wasser, so daß bei g = R (q := y/x2 + y2' ) die Geschwindigkeit v(R) = vo~ee vorliegt. v(q) = ? (R < q)

(d) Kann eine zirkulare Strömung v = f ( e , z) • ( - sin(0), cos(<p), 0) Quellen haben? (g, <p, 2 sind Zylinderkoordinaten) [5]

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B l a t t 19 339

(( (a)/? = 0 : zirkular, 7 = 0 : Stauchströmung, (b)a = 3 (vgl.l8/3b), (c) eevoR/ß , (d)Nein))

2) Zweimal Kontinuitätsgleichung:

(a) Ein Gas aus N Teilchen ist in einer Ku­gel (Ro) eingeschlossen. Deren Radius wird nun ab Zeit t = 0 mit konstan­ter Geschwindigkeit v vergrößert: R(t) =Ro + vt. Dabei bleibe die Teilchendichte #(£) unabhängig vom Ort r. Wie hängt folglich die Teilchen-Stromdichte jf(r,£) von Ort und Zeit ab?

(b) Ein Kubikmeter ruhender Luft wird ständig von einem reinen Ton (cj) durchdrungen (fc), der in großer Entfernung erzeugt wird: Teilchen­dichte g (r , t) = £ 0 + £ 1 * cos( k r — ut).Welche Teilchen-Stromdichte 7 ( r , t ) liegt vor? [6 ]

(( g, q, Kontin.gl., jf gescheit ansetzen! (a) r 3Nv/(4nR(t)4) , (b) k ( u / k 2)gi cos(...) ))

3) Ein gasförmiger Himmelskörper habe kugelsymmetrische Massendichte g(r). Das (ebenfalls kugelsymmetrische) Gravitationspotential V(r) können wir als Volumenintegral soweit ausrechnen, daß es nur noch ein gewöhnliches Integral über r' (oder zwei solche) enthält. Für den Fall, daß V(r) experi­mentell ermittelt wurde und g(r) gesucht wird, können wir übrigens unseren V-£-Zusammenhang nach g(r) auflösen.

Wir gehen nun dem Verdacht nach, das Quellenfeld von K könne etwas mit g(r) zu tun haben. Dazu schreiben wir zuerst auf, welche Kraft K sich allgemein aus einem Zentralpotential V(r) ergibt, stellen den K - g -Zusammenhang her und errechnen schließlich das Quellenfeld von K . (Kein Wunder übrigens, daß sich ein negatives Quellenfeld ergab, eine Senke, eine „Feldlinien-Endpunkt-Dichte“, denn K zeigte ja nach innen).

Sie haben soeben — unter Kugelsymmetrie — die erste Maxwell-Glei­chung erhalten. Wodurch ersetzen Sie —7 m, wenn Sie von Gravitations- zuCoulomb-Kraft übergehen? rv div E — ? [6 ]

(( Zur Auflösung nach g ( r ) : drV(r) bilden, • r2 , erneut dr . . . ., div K = mg(r) ))

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340 ÜBUNGSAUFGABEN

Übungs-Blatt 20

1) Eine positive Ladung q ist kugelsymmetrisch um den Ursprung verteilt. Das elektrostatische Potential der Anordnung sei

(a) Man skizziere das Potential über der r-Halbachse, gebe z u r < l/y/Q* und zu l/y/Q* r Näherungsausdrücke für (j> an, und berechne A0. Nun soll A( l / r ) = -An6(r) dadurch hergeleitet werden, daß man ei­nerseits (j) und andererseits A0 im Limes großer Q betrachtet.

(b) Durch welche Ladungsdichte g(r) wird also (Q wieder endlich) das Po­tentialgebirge erzeugt? Man berechne zur Probe f d 3r g{r). [5]

(( Eine andere Abrundung statt (8.48). (a) r 0: <f> endlich, r groß: <p « Coulomb, A<f> = _ e-nr2( f/ eo)(^/7r)3/ 2 jst Darstellung von ~(q /£o )ö( r ) , (b) g = soA0, / = ... = q ))

2) In einem Raumbereich inmitten des Gartenteiches wird eine seltsame Win­kelgeschwindigkeit der Wasserflöhe beobachtet, u> = a • (y,x, 0) = : w / 2, während sie sich translatorisch nur aufwärts/abwärts bewegen: u ( f ) ~ e3 ,

zu verrichten._Ein anderer sieht sich die Wasserflöhe an und interessiert sich für J2 = f s df • w = ? (und denkt dann noch lange über den erhaltenen «/i“*/2 ~Zusammenhang nach). [4](( 2 Dgln für v3 sind abzuarbeiten a la (3.25). Geom. Objekt: 2 Ebenen X aufeinander.

3) Auf dem Messegelände steht ein 100km hohes Glasrohr. Die enthaltene Luft habe raumzeit-unabhängige Temperatur T und sei in halbwegs guter Näherung ein „ideales Gas“. Wegen 100 < 6000 sehen wir die Erdanziehung als konstant an. Die Position z0(t) eines Kolbens am unteren Ende wird nun so langsam verändert, daß keine Schallwellen entstehen und sich jede Luftschicht jederzeit im Gleichgewicht befindet.

u(0) = 0.

Welche Strömung u( r ) liegt vor? Welches geometrische Objekt bilden die Punkte ruhenden Wassers?

Ein Fisch durchschwimmt die skiz­zierte Rechteck-Kurve C in entge­gengesetzter Richtung und hat (we­gen Reibung - R v ) die Arbeit

Ji = a h R 2 = J2. Vielleicht gilt das auch allgemein? Und man findet Stokes’ Satz ))

Teilchendichte g(r,t) = ? Teilchen-Stromdichte jf(r,£) = ?

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B l a t t 21 341

In welchem Zusammenhang miteinander stehen also überall im Rohr (und zu jeder Zeit) die drei Felder g, jf, v ? [3]

'(( Translation der Barometrischen um zo{t) , . . . , jf = zoßo exp(-a[z-zo]). Hier, anders­wo und überhaupt: weshalb haben Sie einer (eventuell parametrisch wovon abhängen­den) Integrationskonstanten welchen Wert gegeben?! Geht es um Natur, so sind die Gründe oft anschaulich-physikalische. Man braucht sich derer nicht zu schämen. ))

Übungs-Blatt 21

1) Gaußens Integralsatz soll nachgeprüft werden (durch explizite Berechnung beider Seiten) am Beispiel des skizzierten Würfelvolumens V mit Kan­tenlänge a , in welchem das folgende elektrische Feld vorliegt (R < a):

E = ee-ß 9{q - R) .

(Zu a = Q/2neoh ist dies das Feld eines Zylinder-Kondensators, des­sen zweites, negativ geladenes Blech unendlich weit entfernt ist.) [3]

(( div E = ? Zweimal und unabhängig voneinander ergibt sich nun aair/2 ))

2) Elektrostatik zu gegebener Ladungsdichte. In einer Gasentladungsröhre ha­be sich eine zeitunabhängige, überall endliche, zylindersymmetrische Raum­ladungsdichte ql ausgebildet: ql{q) = : £oJ( q) ( f bekannt, q = Zylinderko­ordinate).

(a) Wir lösen die erste Maxwell-Gleichung direkt mittels Ansatz für E. Das Resultat enthält ein gewöhnliches Integral.

(b) Wenn man die erste Maxwell-Gleichung über ein Zylindervolumen (Rjh) integriert und dann Gauß ausnutzt (sowie die Symmetrie desProblems), dann erhält man ebenfalls \E | in Abhängigkeit von g.

(c) Auch für das elektrostatische Potential (j>(g) stellen wir eine Formel bereit (zwei Integrale über /) .

(d) In Zylinderkoordinaten hat der Laplace-Operator den ^-Anteil A = d2 + (l/g)de; kurze Herleitung?

(e) - £ OA0 = ?(f) Der Zylinder-Kondensator (Ladung - Q bei R\, +Q bei R 2, Höhe h)

ist Spezialfall, nämlich zu f(g) = ?

(g) Wie sehen E(g),(j)(g) im Spezialfall (f) aus, welche Spannung U herrscht zwischen den Blechen, und welche Kapazität C = Q/U hat der Kondensator?

Page 354: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

342 ÜBUNGSAUFGABEN

(h) Wie kommt zu R 2 — Ri —► 0 die Kapazität des Plattenkondensators wieder heraus? [9]

(( (a) ... nämlich f ‘ de' e‘f { e ‘) , (c) 4>(s) = - /„ > ' • • • JocV ' . . . f ( e "),(d) am besten schlicht kartesisch, d.h. per Anwendungen von dx, dy , (e) . .. = Ql ,(g) . . . , C = eo27rh/ \n(R2/Ri ) , (h) C eoF/d, denn h2nRi = F ))

3) (a) f d?r B -rot A — fJv Jv Js

(b) Wenn man die Diffusionsgleichung über ein Volumen V integriert undGauß benutzt, inwiefern ist die dabei entstandene Gleichung plausibel?[21 _

(( (a) ... = ... + §s d f A x B , (b) A = div grad und Gaußens Satz.Bringt man nun J ins Spiel, so folgt die integrale Kontinuitätsgleichung ))

Übungs-Blatt 22

1) Ein gerader, 0 0 langer Kupferdraht wurde in gleichen Abständen erhitzt. Zur Zeit t = 0 hat er nun die Temperatur

T(x , 0) = T\ + To • sin (kx) .

Wenn man zunächst T(x,dt) auswertet und ein wenig über „Zeitschritt für Zeitschritt“ nachdenkt, dann wird klar, daß dieses Temperatur-Gebirge ei­ne besonders einfache Zukunft hat. Ein entsprechender Ansatz führt auf T(x,t).In analoger Weise läßt sich auch ein kugelsymmetrisches Temperaturprofil T(r, 0) (in einem 3D 0 0 ausgedehnten, homogenen und isotropen Medium) so vorgeben, daß sich im Laufe der Zeit lediglich die Amplitude ändert („Se­paration“). Man kann es erraten oder auch errechnen. T(r,t) = ? [5](( T (x ,d t ) = T(x, 0) + dt d 2 T(x, 0) = ... zeigt, daß sich nur ein Vorfaktor mit der Zeit

verändert......... Welche Version von Ar ist die einzig wahre?!! Der ortsabhängigeAnteil von T(r, t) ist der einer stehenden Kugelwelle. „Was ist eine Kugelwelle“ — Etwas der Form (unbedingt 1 f r ) mal (meist) trigonometrische Funktion von r ))

2) Um die Wärmeleitung eines homo­genen Materials (Länge a) zu un­tersuchen, wird es zwischen zwei Eisenblöcke gebracht, die ständig auf Temperatur T\ gehalten wer­den.

Bei Start (t = 0) und im Intervall0 < x < a ist die Temperatur- Verteilung bekannt:

T(x , 0) = Ti + 2 To sin (kx) • [1 - cos(foc)] , k := —CL

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B l a t t 23 343

Falls es gelingt, T(x, 0) — Ti als LK von trigonometrischen Funktionen zu schreiben, dann hat jeder Anteil seine eigene Zukunft (so als wäre der jeweils andere gar nicht da): T(x,t) = ?Zu welcher Zeit t\ wird der Temperaturgradient am linken Ende [d.h. T ,x(0,t)\ maximal? [3] ((tl = ,„ (4 ) /(3 ^ ) ))

3) Schall

(a) ID Blitz und Donner: n(x,0) = h(x), n(x,0) = voh'(x). h(x) sei eine bekannte Funktion, nämlich der vom „Blitz“ verursachte lokale Doppelhöcker; vo/cs =: ß . n(x,t) = ?

(b) Wind. Wenn irgendein Schall n(x,t) in ruhender Luft die ID Wellen­gleichung löst, welche Gleichung erfüllt dann die in bewegter Luft (vl) zu beobachtende Dichteabweichung m(xjt) = n(x — VLt,t) ? Wie sieht deren allgemeine Lösung aus? Zu v i = cs werden sowohl Gleichung als auch allgemeine Lösung besonders einfach.

(c) Schall-Reflexion an einer Wand bei x = 0. Welcher Zusammenhang (Herleitung!) zwischen den Funktionen / , g in der allgemeinen Lösung der Wellengleichung ist zu fordern?

(d) Kugelwellen: Welche allgemeine Lösung der Form n(r, t) hat die Wel­lengleichung? [7]

(( (a) allg. Lösung bekannt. „Nur noch“ f (x ) , g(x) sind anzupassen, (b) Zu vl = cs wird die Lösung zu f ( x — 2cst) + g (x ) , (c) Welche (mit n zusammenhängende) Größe verschwindet am Rand identisch? (d) erst Lösungshinweis zu 22/1 lesen! ))

Übungs-Blatt 23

1) Zirkular um die z -Achse strömt Ladung, und zwar mit bekannter Abhängig­keit vom Achsenabstand g:

j ( f ) = ev ■ e0c2 • w(t>) .

_kDas Magnetfeld B dieser „unregelmäßig gewickelten dicken Spule“ können wir mittels Ansatz erhalten und durch ein gewöhnliches Integral über w ausdrücken. (Ansatz?!: wie müßte wohl eine Wasserströmung aussehen, damit die skizzierten Pfeile die Winkelgeschwindigkeiten von Korkstückchen sind?). Auch ein (quellenfreies) Vektorpotential A erhalten wir in ähnlicher Weise, und zwar ebenfalls als Integral.

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344 Ü b u n g s a u f g a b e n

Erst jetzt interessiert uns der Spezialfall einer sehr dünnen Spule: w(g) =a • 8(g — R). Schließlich drücken wir | B |innen durch den Strom I aus, der den Draht (104 Windungen pro Meter Höhe) durchfließt. [6](( y4 = ~e<p “ f£dß' q' f°?dg" w ( q " ) . Dünne Spule: B = ~e$a9(R - g ) . \ B |; = a =

104I / (eoc2 lm) . — Jetzt möge der Strom I ~ t zeitlich anwachsen. Dann ist B ~ e3

nicht mehr Null. Per rot E = —B gibt es auch ein Feld E (Eisblockströmung), und man kann am Spulendraht eine Spannung U = \ E |- Drahtlänge abgreifen. ))

2) Der einfachste Sender. Im rechten Halbraum fliegt eine ebene elektroma­gnetische Welle (cj, Eo) nach rechts und im linken nach links. Beide sind in z-Richtung polarisiert und haben gleiche Frequenz und Amplitude (und an der Platte gleiche Phase). Es herrscht totales Vakuum, ausgenommen die y z -Ebene, die aus einem 0 0 großen, 0 0 dünnen Metallblech besteht. Zu wel­cher Ladungs- und Stromdichte sind alle vier Maxwell-Gleichungen erfüllt? [5] _ -

(( Um ja keinen <J(x)-Anteil in g oder J zu verpassen, schreiben wir E in der Form ’ezEo • (9(x) • . .. + [1 - 0(x)] • . . . ) auf, B ebenfalls, und halten uns dann sehr am Papier fest. Alles geht gut: jT = — (Vorfaktor selber!) e3 S(x) cos ( wovon?) ))

3) Das elektrische FeldE = ß3 • Eo • e • cos (kx — ut)

soll hergestellt werden, und zwar im gesamten rechten Halbraum 0 < x. Für welche Stromdichte 7(x, t) ist zu sorgen? (Eo, a, k, w sind voneinander unabhängige, bekannte Konstante.)Zur 7 -Realisierung wird vorgeschlagen, den rechten Halbraum mit einemMedium (Metall) zu erfüllen, welches J automatisch als Antwort auf Eausbildet: 7 = <7 • E. Allerdings geht das nur, wenn w und k in einem bestimmten (welchem?) Zusammenhang stehen. Ferner: welche Leitfähig­keit a muß das Metall haben? Wie hängt die Phasengeschwindigkeit vph von der Frequenz u ab? Welche Grenzwerte für er und vph erwarten Sie beiol —y 0 aus welchen anschaulichen Gründen? Haben Ihre Resultate diese

Eigenschaft. [7] j = a E erzwingt u2 = c2(k2 - a2) und a = c22eoak/u . Zu a - > 0 wird E ungedämpft. Wir erwarten also j - > 0 und vph = u / k —y c . Die angegebenen Resultate erfüllen beides prompt. ))

Übungs-Blatt 24

1) Interferenz. Eine ebene Lichtwelle, polarisiert in 2/-Richtung, fliegt nach rechts. Eine zweite mit gleicher Am­plitude, Frequenz, Pha­se und Polarisation fliegt nach unten.

Page 357: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

B l a t t 25 345

An welchen Stellen auf der Geraden z = x (y = 0) bleibt es dunkel? Kann man sogar geometrische Objekte ermitteln, bestehend aus Raumpunkten, an denen es stets dunkel bleibt? In Worten: welche Auswirkung auf der z — x - Geraden hat Verdrehung der Polarisationsrichtung der zweiten Welle? [2]

(( Dunkel auf Ebenen (1,0,1) • r = (2n + l ) i r /k ))

2) Welche Fourier-Koeffizienten Cn hat die Funktion }{x) = <

h für a < x < L — a 0 für — a < x < a L-periodisch sonst

und folglich welche reellen Koeffizienten /o , an und bn ?Nun skizzieren wir über x den ersten und den zweiten Term (fo~ und a\- Term) der reellen Fourier-Reihe, addieren grob-qualitativ die beiden Kurven grafisch und erkennen die richtige Tendenz. [3]

(( Mit der Lösung hierzu beginnt Übung 25/1 ))

3) Ein Wechselstrom Iw(t) = Schaltung).

Zuerst werde der Verlauf von I(t) über der Zeitachse skiz­ziert.

Mit welcher Stärke ist in I(t) ein harmonischer Wechsel­strom der Kreisfrequenz 6cj enthalten? [3]

Iq • sin(ut) wird gleichgerichtet (Graetz-

(Um diese Stärke zu messen, könnte man den 6cj-Strom durch eine Fre- quenzfilterschaltung ausblenden oder auch die Strahlung analysieren, die eine mit I(t) gespeiste Antenne aussendet.)

(( mit Stärke 03 = —4/o /(357r) ))

Übungs-Blatt 25

1) Für die Funktion von Übung 24/2 erhielten wir (Abkürzung k := 2tt/L) die Fourier-Reihe

f (x) = h — ^ h — — ~ sin(nka) cos(nkx) . (*)n= 1

Page 358: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

346 ÜBUNGSAUFGABEN

(a) Wenn wir innerhalb des Periodizitäts-Intervalls für Fläche 1 sorgen (rv a = ?) und dann h —> oo betrachten, so vereinfacht sich die Reihe (*) ein wenig (nämlich wie?) und beschreibt offenbar die periodisch wiederholte Deltafunktion Ylu 8(x—Ll2—vL). Für letztere können wir leicht erneut die Fourier-Koeffizienten (co, Cn, an) direkt ausrechnen. Kommt so die gleiche Reihe heraus?

(b) Wir haben die zu (*) führende Funktion „vergessen“ und wollen nun aus (*) ihren Wert bei x = 0 ermitteln.

(c) Die Temperatur eines homogenen Mediums sei zu t = 0 gemäß T(x, 0) = Ti + f (x) verteilt (,,/i = T0“). Können Sie T(x,t) gleich hinschreiben?

(d) Wie mag wohl der Temperaturgradient an der Stelle x = a im Laufe der Zeit abnehmen: T'(a, t) = ? Zur Auswertung der Summe setzen wir a = L/4 und betrachten den Start (t klein rx /)• [6]

(( (a) a = (L — l//i)/2 , co = 1/L, an = (2/L)cos(n7r),(b) Vorschlag: 1/ n) sin(nA;a) =: S ( a ) , S'(a) = k cos(nfca) = zwei geo­

metrische Reihen = - 7r/L, a -► +0 erlaubt f 1 ^(0) = 7r/2 rv S(a) = ?(c) ja, da pflanzt sich doch nur ein exp(-£)(nA;)2t) vor den Kosinus.(d) Weil t klein, erneut £ ^ T'(L/4, t klein) = | T o / y / D n t ‘ ~ t“ 1/2 ))

2) Die Fourier-Transformierten / der folgenden vier Funktionen (je 0 < a) sol­len erhalten werden. Aus jedem / sollte nun auch rückwärts wieder / zu erhalten sein:

(c) f (x) = yja/\x\' (d) räumlich: f ( r ) = - • e ar [6]r

[ challenge : (e) f (x) = ln (l + a2/ x 2) ]

((Z.B. (c) : J(k) = y/a f d x e lk*/ y / \ x f , Euler: / = y/cT f d x cos(kx)/ y/Jxf = 2yfa f£ °d x co s (k x ) / y /F . x -► x/|fc|: / = 2v^a/|A:|' f d x cos(x) /y /F = ^/2a7r/|fc|‘ (Br.’99, Nr.13) — eine Fourier-forminvariante Funktion! Rückkehr darum analog. Aber woher wußte es [Bronstein]? f£°dx cos(x) /y /F = 2 f j ° d t cos( t2) = f£°d t elt + c.c. = \Ar/2' per Subst. t = (1 + i)u /\/21, Wegverbiegung und f £ ° d u e ~ u2 = 0 P /2 ))

3) Einen ID gedämpften harmonischen Oszillatpr mit zeitlich periodischer Kraft konnten wir bekanntlich mittels Fourier-Reihe bequem behandeln. Wie sehen nun Ansatz, Weg und (schließlich reell geschriebene) Lösung im Falle nicht-periodischer Kraft K (t) aus?

Um Vertrauen in diese recht allgemeine Lösung zu gewinnen, lassen wir die Feder schlapp werden (k —> 0), betrachten den Kraftstoß K(t) = m • A • 6(t), rechnen x(t) [oder besser gleich x(t)] explizit aus und machen klar, daß dies das erwartete Resultat ist. [4]

(( . . . , x(t) = X0(t)e“7t war erwartet, weil K / m = v ist und 9 Stammfunktion von 8 ))

(a) f (x) = exp(-a |x |) (b) x • 0(x + a)6(a - x

Page 359: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

B l a t t 26 347

Übungs-Blatt 26

1) Ein homogenes Medium wurde an einer Kugeloberfläche (R ) kurzzeitig sehr stark aufgeheizt:

T( r , 0 ) = Ti + A • S(r - R) .

Mittels Fourier-Transformation von T(r , t ) — T\ =: A • f ( r , t ) bezüglich r läßt sich die Wärmeleitungsgleichung leicht lösen ( / (£,£) = ?) und T ( r , t) als Integral angeben. Mit welcher Potenz in der Zeit t klingt T(0,t) - T\ in ferner Zukunft wieder ab? [4]

(( T( 0, t) - Ti = A (2ä/tt) f£°dk k sin(A;Ä)e“Dfc2t. Zu großem t kommt Beitrag nur von kleinen k , also Sinus-)> k R . Nun k —► k/y/F rx Integral ~ t-3/2 ))

2) Die partielle Dgl ß +£q—v2A q = 0 enthält die Wellengleichung (£ —> 0) und die Diffusionsgleichung (£ —> oo) als Spezialfälle. Man gebe eine Herleitung dieser Gleichung („Luft in Watte“, £ = ?) und versuche, ihr Anfangswert­problem zu lösen — gerade so weit, daß eine qualitative Aussage über das zeitliche Verhalten langwelliger bzw. kurzwelliger Anteile in ß(r, t) möglich wird. [4]

((Mit Reibung - R v führt Newton auf J + (R / m ) J + ( p , ( g o ) / m ) g T a d g = 0. Nun Kontin.gl.: £ = R / m . Die einfache Dgl 2. Ordnung für q ( k , t) können Sie lösen. Im t-Vorfaktor der Exponenten braucht nun y / \ 2 - 4v2k2' eine Unterscheidung der k ))

3) Wie folgt aus den Fourier-transformierten Maxwell-Gleichungen die Fou- rier-transformierte Kontinuitätsgleichung? Wie sehen die „Unterwelt- Maxwell-Gleichungen“ im Magnetostatik-Spezialfall aus? Wenn wir sie in diesem Spezialfall lösen und sodann „in die Oberwelt auftauchen“, dann er­gibt sich die bekannte Darstellung des Magnetfeldes B ( r ) als Integral über j { r ' ) . [4]

(( Lösen in Unterwelt per i k x vierte Maxwell-Gl.: i k x(i k x B ) = \ k x J / ( c 2e o ) ,

iA; B = 0 rx k2 B = \ k x J / ( c 2e o ) . Später i k x als Vx aus Integral ziehen ))

Page 360: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

348 Zw e i K l a u s u r e n

KLAUSUR gegen Ende eines Wintersemesters

( Zeit: 2 volle Stunden. Bei Erreichen von 9 Punkten wurde der Klausurerfolg garantiert. )

1) Ein von a aus mit c gestarteter Licht blitz hat ein ku­gelförmiges Zelt (Mitte = Ursprung) tangential berührt — nämlich wo: r = ?

2) Das Rad (Radius R) einer Straßenbahn (Geschwindigkeit vo) rollt auf der x - Achse nach rechts — mit welcher Winkelgeschwindigkeit u) ? Der Ursprung hat

zur Zeit t — 0 einen Farbpunkt (auf Rad) hinterlassen. Welchen Ortsvektor r (t) und welche Geschwindigkeit v (t) hat der Farbpunkt ? Wie startet seine erste Komponente: führender Term von x(t) bei u t < 1 ? — Die Erde ist eine Scheibe. Wenn sie sich mit Q, um die z -Achse dreht, ist obiges r (t) abzuwandeln, nämlich in r mit(<) = ? ( i )

Um die Erde (M, R , Mitte = Ursprung) ist ein Faden ge­wickelt. An seinem Ende bei (0,0, R) hängt ein Stein (m).Der Stein wird mit großem vo nach oben geworfen. Welche Geschwindigkeit vi hat er, wenn der Faden erstmals parallel zur x-Achse geworden ist ? (J )

4) Wenn ein Teilchen (m ) in einem Potential fliegt, dessen Vorfaktor zeitlich variiert,V ( r , t ) = f ( t ) • W'(r), dann kann aus der Bewegungsgleichung (= ?) keine

Energieerhaltung mehr folgen. Stattdessen ist ( T + / W )* = ?\ 2 J

5) Bis zur Zeit t = 0 liegen Feder (£, k =: mcj2,Haken bei x = t ) und Teilchen (m) ganz ruhig

auf der x-Achse: £(0) = 0, x(0) = 0. Aber ab dann wird der Haken mit Zhaken = t + 2£sh(o;£) bewegt.ID Problem. Bewegungsgleichung ? Der Ansatz braucht nur zwei Terme, einen trigonometrischen und einen hyperbolischen. Lösung x(t) = ?

6) Die Gleichung r H r = 8 x y + 6 y 2 = 2 beschreibt ein geometrisches Objekt in der x-y-Ebene. Matrix H = ? Deren Eigenwerte ? Zugehörige Eigenvektoren

f i , /2 ? Zusammen mit f z — (0,0,1) soll ein normiertes Rechtssystem entstehen. Drehmatrix D ? Gleichung des Objektes im / -System ? Skizze des Objektes ! (J )

7) Mit N = a N + ß y / W will eine Bank Leute ohne Kapital gewinnen: N(0) =0 . N = 2/wleviel 7 führt zur Lösung des Problems. Am Anfang spielt ß die

entscheidende Rolle: N = c • t x + O(^) mit c, A, p = ? Aber am Ende ( t ->• oo, N (t ) -► ? führender Term) wird klar, daß die Bank nur ein kleines Startkapital spendiert hat. Vi)

8) Zwischen y-z-Ebene und der parallelen Ebene durch x = a herrscht das homogene Magnetfeld B = (0,B,0). Ein geladenes schnelles Teilchen (m, q) trifft diesen

Bereich bei t = 0 mit (vo,0,0) und verläßt ihn bei t \ « a / v o . In Störungsrechnung bis (mit) erster Ordnung in B (bzw. u := q B / m ) soll die Austrittsgeschwindigkeit v ( t i ) ermittelt werden. v i /

9) J = .“s. f/* cos2(™) “ [ln (frf)] = ? ®10) Ein dünner Stab liegt auf der z-Achse: Enden bei 0 und bei L . o(x) = —— —

sei seine lineare Massendichte. Welche Gesamtmasse M hat er ? x

E 31

3)

©

Page 361: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

m it L ö s u n g e n 349

LOSUNGEN zur Klausur im Wintersemester

1) a + \ ~c = r , r_Lc rx a c + Ac2 = 0 , X = - 4 a c = positiv

_ a cr = a -------r- cc2

ODER : r ist (zu c) der _L-Anteil von a :a\\ = a e mit e := c /c , r = a — a\\ = a — ( a e ) e

2) lü = v o /R , r = ( vot - R s , 0, R - R c ) , v = (vo - Ruoc, 0, R u s )

s := sin(a;t)) , x = vot - R (ut - (u t )3/6 + ...) = (u t )3R / 6

vot - Rs\n(ujt) =: [ ] , r mit = ( [ ] cos (Qt) , [ ] sin (Qt) , R - Rc ) .

3) Winkel ir abgerollt, Fadenlänge ttR , Abstand y / R 2 + (ttR ) 2'

m 2 y m M _ m ^2 ynyM

4 ) m v = —f V W II v , ( J V 2 J = - f W = - ( f W ) ' + f W , (T + f W ) ' = } W .

5) m x = K ^ i + 2£sh(ut) — x — £) | x = —u 2x + w22£sh(u)t) , x(0) = 0 , x(0) = 0

x = Asin(o;t) + #sh(o;t) , x(0) = u ( A + B) = 0 , A = —B , x =

- A lü2s + B u 2sh = - lü2As - lü 2 B s h u j 22£sh , B = £ , x(t) =^sh(a

6 ) f f = ( ” e ) ’ ~i 6 1 A | = - 6) - 16 = (A — 3)2 - 25 , Ai = - 2 , A 2 = 8

( 4 ö ) ( s ) = 0 ^ i = ( - l ) ^ ’ ( * - 2 ) ( l ) = 0 ,

/2/v/ö1 -l/v/51 0

)■

/ 2/vo -l/VW 0\D = I l/v/? 2/V ? 0 j , r ' H ' r ' = - 2 i ' 2 + 8y' 2 = 2 , (2y' ) 2 = 1 + x '2 .

f 2

7) JV = y2 , 5 = f v + f . äf(°) = o

f l2

’ y = “ f + f e* ‘ * ^ = ( a )Anfang: JV = ( ~ ) ( [f.l] + \ [ f .«]“ +■• •) = \ ß * t 2 + O {t3) ,

Ende: N -* (ß / a ) 2 eat (( N = N 0eat — 2N0eat/ 2 + Wo mit W0 = ß 2/ « 2 : die Bank zweigt sich sogar ständig noch etwas ab, verdammt. ))

8) v = u v x e 2 , v (0) = (vo, 0,0) , uj klein rx

V(0) = 0 , V(O)(0 ) = (v o ,0 ,0 ) V(i) = u V(o) x e 2 , V(i)(0) = 0

v (o) = v 0ei , wÜ(o) x e 2 =wvoe3 , V(X) = u v o t e s , v(ti) = (vo , 0 , ua) .

9) Bruch = / 2— *4 ’x = ~ f 2 - 2 ( l - 1 = 2 - , arctan = 2 -1 - ( 1 - 5 ( ! ) ) e 8 e

Bruch - arctan = 4 , J = 4 f dx cos2(7rx) = 4 4 ^ = 8 . J 1 2

“ > M ~ £ * ■ & ; - hdx (*0- - = <70 L / dx dx

1 + x 7 ‘‘0ln ( l + x ) = <7q L ln(2) .

Page 362: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

350 Z w e i K l a u s u r e n

KLAUSUR gegen Ende eines Sommersemesters

( Zeit: 2 volle Stunden. Bei Erreichen von 8 Punkten wurde der Klausurerfolg garantiert. )

1) Eine Rakete (m) soll ab (a, 0) auf der Geraden parallelzur y-Achse nach oo fliegen. Gegen die Anziehung durch

einen Stern (M) am Ursprung ist Arbeit A zu verrichten. DasKurvenintegral für A soll explizit ausgewertet werden. Q3)

2) Eine Reibungskraft nimmt mit der Zeit zu. In dimensionslosen Variablen: v = -(1 + v)ch(t). Welche allgemeine Lösung erhält man (a) mittels Tren­

nung der Variablen und (b) per Raten einer speziellen Lösung vspez und Lösen der homogenen Dgl ? Q y

3) Ein Heidebauer hat Freude an seinem langen Graben, welcher sich | | über die positive x-Achse erstreckt und am Ursprung verschlossen ist ~~ I x (ID Problem, Grabenbreite und Wasserhöhe konstant), denn es ist

divv = — y ö ( x — a) + 2 7 ö(x — 2a) . v (x ) = ? (V)

4) Um A - = - 47r£(r) nachzuweisen, wurde das 1/r-Potential wie folgt modifiziert:X ( r ) = 1/r für e < r , und Null für r < e . Was ist nun zu tun ? Q y

5) Das elektrische Feld E = r - 2 r 2 £3 ) soll h e rg e s t e 111 werden — in einem größeren Raumbereich um den Ursprung. Alle vier Maxwell-Gleichungen

sind zu befragen, um die mindestens beteiligten Felder 0 , B , jf zu ergründen. (7 )

6) Welche Kapazität C hat ein Zylinderkondensator (R 2 > R i ) der Höhe h ?(Was sich auf Ü-Blättern findet, gilt natürlich als wohlbekannt.) Q y

Ein Kugelkondensator (R 2 > R 1) entlädt sich über ein Medium mit Leitfähigkeit a ( t ) . Noch bevor Q(t) genauer bekannt ist,kann man schon das Feld E ( r , t ) im Zwischenraum aufschrei­ben, den Strom Is durch jede Kugelfläche S und (mit I s - J - Zusammenhang im Hinterkopf) sogar die Stromdichte J (r, t ) .

Welche rechte Seite bekommt die vierte Maxwell-Gleichung ? Sei lun (eine Zeit lang) speziell Q(t) = Qo - cd . a( t) = ? ( 3)

-Q(t )8) Eine ebene Lichtwelle fliegt durch den Raum. Zur Zeit t = 0 wird auf der x-Achse

das Feld E = ^ E o cos(y/b'x/ a) wahrgenommen. Eine bei (0,a, 0) festgehaltene Ladung q spürt die Kraft q~ezEo cos(2 — u>t) . Leider wurde u nicht gemessen. Dennochist das volle Feld E ( r , t) der Welle rekonstruierbar: uj = ? (J )

9) Eine ID Temperatur-Stufe „schmilzt ab“: T ( x , 0) = To9(x)e ex (e = +0).T ( x , t ) = ? Nun soll dxT ( x , t ) gebildet und £ —>0 und Integral ausgeführt werden.

10) Das Raum-Zeit-Integral für die 4D Fourier-Transformierte G(k,u>) der Funktion G(r, t) = e-c r 6 ( t — soll explizit ausgewertet werden.

11) In der „Oberwelt“ ist folgendes bekannt: Aus den Maxwell-Gleichungen, um­zuschreiben auf Gin. für Potentiale, folgt mittels Lorentz-Bedingung die inho­

mogene Wellengleichung für alle 4 Potentiale. Diese Herleitung soll ganz in der 4D Fourier-Unterwelt gelingen. Qi/

E 32

Page 363: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

m it L ö s u n g e n 351

• •

LOSUNGEN zur Klausur im Sommersemester

1 ) C : r ( t ) = (a,at) , £i = 0 , t i = oo , r = (0,a) , A = J d r • ,

2 ) (a) y" ^ = -ch(t) , ln(l + v) = j4 - sh(<) , eA =: C , u = -1 + Ce_,h<1)(b) i’spez = — 1 ( das sieht man ) , hom : v = —(sh(<))* v , i'hom - e-sh^ .

3 ) v = (/, 0,0) , / ' = ... , / = C - 7 9(x - a) + 279(x - 2 a ) , C = 0 wg. Rand .

4) x = i f l ( r- e ) , Ax = iÖ(r -«) = i<5'(r - c)r r r r

J d3r i ö'(r - e) = 4 n J dr rö ' ( r - e) = -47r (part. Int .-Schnellmethode) .

5 ) E = a (^zx , z y , z 2 - 2r2 j , div E = a (z + z + 2z - 4z) = 0

rot E = a - 4y - y , x + 4 x , Oj = 5a ( - y , z, 0) = - B , B = 5 ta (y, —x, 0) .

im Kopf: divB = 0 ; J = eoc2rotB = £oc25taV x (y, - £ , 0) = -lOeoc2 a t <33 .—»• a -j. ö

6 ) E = — e e mit a = ----- - (Blick auf gelöste Übung, oder erneut mit 1. Int.Max )Q 2'K£Qlt

rv <t> = * ln(f>) , C = ^ , U = ( -Differenz = aln ( , C = ^7re° 1U J ln ( f f )

7) E = Q Q ^ c , , Conti : l s = - Q , J = e r , 4. Max , r.h.s.: 47reo r2 # 47rr2

- Q e r , Q e r n aeo+ ' = 0 » .? = <7# , <7(t) = -eoc2 47rr2 c2 47reo r2 ’ ’ Q Qo - atf

8 ) E = E o c o s ( k r - w t + (p) , £?o cos(fcia: + y?) ^ ^3^0cos 2

y? = 0 , An = ---- , #0 = #063 , foa - u t = 2 - u t rx fa = -a ______| aTransversalität: £3 = 0 , u — c y j k 2 + fcf = 3 c / a .

9 ) f (A, 0) = To f°°dx e~lkx e~ex = , T(a, t ) = ^ - fdk eifcxe~tDfc2 1Jo £ + 1« 27T J e + ik

r { x , t ) = ^ J dk eik* e~tDk* = e -a'2/(4,D) ( mittels (12.41) ) .

10) G = JtFrJdt e- i _l_e_er(5 ( * - £ ) = Jd3r re-i‘t ei“re',!’"

= i J ° ° d r r e ^ ' e - ’" j ' du e- “-“ = ^ f ° ° d r (eK?-1)" - ei(¥+fc)-) e"*r

= ± ? ____l____+ I L J ____ U J ! ________1_________ .2k \ k - u)/c - \ e k + w /c + ie J (k - lj/ c - ie) (k + w/c + ie)

1 1 ) Die homogenen Maxwell-Gleichungen entfallen zugunsten von

E = iw A - i k <j> , B = i k x A ; i k (io; A — i k <j>) =—ifc x(ifc x ,4) = i k ( i k A ) + k2 A = J ( i w A k </>) eo eoc2 c2

~* \U) üJ2 — i .Lorentz-Bed.: i k A = —0 rx [— - + k2 } (0 , c i4 ) = — ( c ß , J ) .

C C C £ q

Page 364: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

352 P e r s p e k t iv is c h e B il d e r

Die letzte Übungsaufgabe — mit Lösung — beantwortet die Frage, wie man räumliche Figuren auf die Papierebene bannt. Auch diese Aufgabe ist „echt“, wurde im Winter 1991/92 als Übung 10 gestellt und führt auf unsere Anfangsgründe im Kapitel 2 zurück.

Darstellende Geometrie

Das perspektivische Bild einer Landschaft erhält man dadurch, daß man jeden ihrer Punkte r geradlinig mit einem „Auge“ bei a := (a , - 6 , c) (a,6,c > 0) verbindet1 und die dabei2 mit der xz -Ebene (= : „Bildschirm“) entstehenden Schnittpunkte markiert. Welche Bildschirm-Koordinaten £ und tj bekommt ein Punkt r = ( x , y , z ) der Landschaft?

)* Parameterdarstellung der Verbindungsgeraden? Es fliegt übrigens etwas von r aus zum Auge hin: Photonen (bitte nicht umgekehrt denken).

)2 bei welchem Parameter wert?

Zugvögel ziehen mit v nach Norden, d.h. in ^/-Richtung. rn(0) = (xn,yn,zn) . rn(t) = ? Alle Vögel entschwinden am Bildschirm in einem Punkt, dem Fluchtpunkt. Welche Koordinaten , rjoo hat er?

Lösung

r (r) = r -j- (a — r) t mit O ^ r ^ l ; y(r) = y — (b -f y) r = 0

ro = T-y— ; r(r0) = ( x + (a - x )r0 , 0 , z + (c- z)t0 ) . o + y \ /ai a — x c — zAlso : £ = x + y — — , r) = z + y —— . (*)

b + y b + yt d — jß

rn(t) - (x„ , yn + v t , zn ) , £n(t) = x„ + (yn + vt) — --- -7— -> a ,0 + yn + vtQ __ £

T)n{t) = Zn + {yn + vt)-— --- -7—- C , Uoo , J?oo) = ( O , C) .b -f yn + vt

Als spezielle Zugvogel-Bahn läuft die y-Achse am Schirm durch Ursprung und Fluchtpunkt.

Das Resultat (*) läßt sich leicht einem Computer anvertrauen. Darstellende Geometrie ist also ganz einfach und eignet sich im Übrigen bestens für die Schule. Ein perfekt perspektivisches Bildchen ist vorn auf dem Bucheinband zu sehen. Dabei befindet sich das Auge bei a = 3 L, b = 5 L, c = 2 L, und L ist die Buchbreite. Es zeigt die in der X2/-Ebene liegende Bahn eines geladenen Teilchens im homogenen Magnetfeld (^-Richtung) in einer Wilsonschen Nebel­kammer, wobei die Reibungskraft als - R v angenommen wurde (siehe Übung 15/3 ). Wenn man diesen kleinen Ausschnitt Physik vorbereitet, ausarbeitet, auf den Punkt bringt und auch noch tief über den Nebel nachdenkt, dann er­geben sich alle Kapitel dieses Buches — und mehr. Die Welt ist einfach.

Page 365: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

Literatur

Im Text wurde nur sehr sparsam auf Literatur verwiesen. „Selber!“ war das Leitmotiv. Die am linken Rand stehenden Schlagwörter erscheinen auf den rechts angegebenen Seiten.

[A bramovitz/Stegun ]

[Becker/Sanier]

[Berkeley]

[Boume/Kendall]

[Brenig]

[Bronstein]

Abramovitz, M., Stegun, I. A.: Pocketbook of Mathematical Functions (H. Deutsch, Thun, Frankfurt/M 1984)

81

284, 309Becker, R., Sauter, F.:Theorie der Elektrizität, 3 Bände (Teubner, Stuttgart, Bd.l: 1973, Bd.2: 1970)

Berkeley Physik Kurs 8, 253(Vieweg, Wiesbaden) 258Bd. 1: Kittel et al.: Mechanik, 5. Auflage (1991) Bd. 2: Purcell, E. M.: Elektrizität

und Magnetismus, 4. Auflage (1989)Bd. 3: Crawford, Fr. S. jr.: Schwingungen

und Wellen, 3. Auflage (1989)Bd. 4: Wichmann, E. H.: Quantenphysik,

3. Auflage (1989)Bd. 5: Reif, F.: Statistische Physik,

3. Auflage (1990)Bd. 6: Portis/Young: Physik und Experiment,

2. Auflage (1980)

Bourne, D. E., Kendall, P. C.: Vektoranalysis,2. Auflage (Teubner, Stuttgart 1988)

151, 171

Brenig, W.: 259, 262Statistische Theorie der Wärme (Springer, Berlin, Heidelberg) Gleichgewichtsphänomene, 3. Auflage (1992)

Bronstein, I. N., Semendjajew, K. A., 105, 106Musiol, G., Mühlig, H.: 113, 183Taschenbuch der Mathematik, 246, 2515. Auflage der Neubearbeitung 346 (H. Deutsch, Thun, Frankfurt/M 2000)

[Eimer] Eimer, F.-J.: 140, 144Differentialgleichungen der Physik (H. Deutsch, Thun, Frankfurt/M 1997)

Page 366: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

354 L it e r a t u r

[Feynman]

[Fließbach]

[ Gradstein/Ryshik ]

[Großmann]

[Jackson]

[Jänich]

[Joos]

[Kamke]

[Kittel]

[Landau/Lifschitz]

Feynman, R. P., Leighton, R. B., Sands, M.: 178 The Feynman Lectures on Physics (Addison-Wesley, Redwood City)Vol. I (1963, 1989),Vol. II (1964, 1989),Vol. III (1965, 1989)

Fließbach, T.: 102, 210Lehrbuch zur Theoretischen Physik Bd. 2: Elektrodynamik3. Auflage (Spektrum, Heidelberg, Berlin 2000)

Gradstein, I. S., Ryshik, I. M.: 105, 223Summen-, Produkt- und IntegraltafelnBd. 1 u. 2 (H. Deutsch, Thun, Frankfurt/M 1981)

Großmann, S.: 19, 171Mathematischer Einführungskurs für die Physik, 6. Auflage (Teubner, Stuttgart 1991)

Jackson, J. D.: 210, 284Klassische Elektrodynamik,2. Auflage (de Gruyter, Berlin 1983)

Jänich, K.: 185, 186, 187Analysis für Physiker und Ingenieure2. Auflage (Springer, Berlin, Heidelberg 1988)

Joos, G.: 185Lehrbuch der Theoretischen Physik15. Auflage (Aula-Verlag, Wiesbaden 1989)

Kamke, E.: 146Differentialgleichungen,Lösungsmethoden und Lösungen,Bd. 1: Gewöhnliche Differentialgleichungen10. Auflage (Teubner, Stuttgart 1983)

Kittel, Ch., Krömer, H.: 263Physik der Wärme,3. Auflage (Oldenbourg, München 1989)

Landau, L. D., Lifschitz, J. M.: 143, 159, 210Lehrbuch der theoretischen Physik 246, 284, 288 (H. Deutsch, Thun, Frankfurt/M ) 303, 309Bd. I: Mechanik. 14. Auflage (1997)Bd. II: Klassische Feldtheorie. 12. Auflage (1991) Bd. III: Quantenmechanik. 8. Auflage (1988)Bd. IV: Quantenelektrodynamik. 7. Auflage (1991) Bd. V: Statistische Physik, Teil 1. 8. Auflage (1991)

Page 367: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

355

[Lang/Pucker]

[Margenau/Murphy ]

[Mathews/Walker]

[Mitter]

[Nolting]

[Schiff]

[Schwabl]

[Sommerfeld]

[Walter]

Bd. VI: Hydrodynamik. 5. Auflage (1991)Bd. VII: Elastizitätstheorie. 7. Auflage (1991)Bd. VIII: Elektrodynamik der Kontinua.

5. Auflage (1990)Bd. IX: Statistische Physik, Teil 2: Theorie des

kondensierten Zustandes. 4. Auflage (1992) Bd. X: Physikalische Kinetik, 2.Auflage (1992)

Lang, C. B., Pucker, N.: 102, 144Mathematische Methoden in der Physik (Spektrum, Heidelberg, Berlin 1998)

Margenau, H., Murphy, G. M.: 125, 309Die Mathematik für Physik und Chemie Bd. 1 (H. Deutsch, Thun, Frankfurt/M 1965)

Mathews, J., Walker, R. L.: 220, 185Mathematical Methods of Physics,2. Auflage (Addison-Wesley, Redwood City 1970)

Mitter, H.: 210Elektrodynamik, 2. Auflage (Bibliographisches Institut, Mannheim 1990)

Nolting, W.: 52Grundkurs Theoretische Physik,Bd. 1, Klassische Mechanik,5. Auflage (Springer, Berlin, Heidelberg 1999)

Schiff, L. I.: 309Quantum Mechanics,3. Auflage (McGraw-Hill, Auckland 1968)

Schwabl, F.: 309Quantenmechanik, QM I5. Auflage (Springer, Berlin, Heidelberg 1998)

Sommerfeld, A.: 199, 246Vorlesungen über Theoretische Physik,(als sechsbändiges Taschenbuch bei H. Deutsch, Thun, Frankfurt/M 1977)

Walter, W.: 129Einführung in die Theorie der Distributionen3. Auflage (BI-Wissenschaftsverlag, Mannheim 1994)

Page 368: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

Index

Ableitung, 32 Addition von Matrizen, 57 Addition von Vektoren, 6, 10 Addition von Winkel­

geschwindigkeiten, 32 additive Materialeigenschaft, 40 allgemeine Lösung, 137, 144

der ID Wellengleichung, 193, 231

der Diffusionsgleichung, 230 allgemeiner linearer

Zusammenhang, 65, 228 analytische Funktion, 184 Anfangsbedingungen, 41 anisotropes Potentialminimum, 67 Ansatz, 43, 84, 138, 139, 200 antizyklisch, 21 aperiodischer Fall, 87, 139 Äquipotentialfläche, 74, 152 Arbeit, 13, 47, 112, 117 Arcus Sinus, 80 Arcus Tangens, 80, 90 Area sinus hyperbolicus, 86 arithmetisches Mittel, 107, 256 Asymptotik, 76, 85 Ausbreitungsvektor, 204

barometrische Höhenformel, 87, 195 Basis, 27, 56, 216, 243 Beschleunigung, 36

Erd-, 42 Betrag einer komplexen Zahl, 93 Betrag eines Vektors, 4, 6, 10 Bewegungsgleichung, 41-44, 136-147,

188Newtons, 39-46, 84, 110, 188,

192, 194-195, 250 relativistische, 279

Binormale, 37 Boltzmann-Konstante, 260

Box-Operator, 205 Brachistochrone, 245

Cauchy-Riemannsche Dgln, 185 Cauchys Theorem, 184, 223 Coulomb-Eichung, 172 Coulomb-Feld, 155, 199 Coulomb-Potential, 155, 169, 199,

233

D’Alembert-Operator, 205 Deltafunktion, 128

allgemeine Darstellung, 131 Darstellungen der, 130 definierende Eigenschaft, 129 Formeln zur, 131

Determinante, 23 Jacobi-, 126 Kreuzprodukt als, 24 Spatprodukt als, 23

Dgl-System, 143Differentialgleichung (Dgl), 41, 84,

95, 103, 136-147 allgemeine implizite, 136partielle, 136, 189-194, 197

Differentialquotient, 33 Differenzieren, 32

Kettenregel, 34 Produktregel, 34

Diffusionsgleichung, 188 Lösung der, 230

Diffusionskonstante, 155 Dimension, 6, 9, 78, 100, 130 Dirac-Notation, 217, 302 Divergenz, 159-164 Drehachse, 60 Drehimpuls, 45 Drehmatrix, 56-63 Drehmoment, 45

356

Page 369: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

357

Drehsinn, 8 Drehspiegelung, 60, 64 Druck, 82, 87, 188, 195, 263 Dyadisches Produkt, 62 Dynamo, 18

e hoch eins, 83, 84 e-Funktion, 81-87 e-Reihe, 84ebene elektromagnetische Welle, 204 ebene Welle, 25 Ebenengleichung, 25 effektives Potential, 52 Ehrenfests Theorem, 307 Eichfreiheit, 172, 201 Eichinvarianz, 172 Eigenfunktion, 135, 191, 217, 227,

228Eigenvektor, 61, 72 Eigenwert, 61, 72-74, 191, 293 Eigenwertproblem, 61, 72-74, 250 Eigenzeit, 278 Eigenzustand, 294 Einbettung, 77, 131, 167 einfach zusammenhängend, 119, 170 Einheitskreis, 93 Einheitsmatrix, 24 Einheitsvektor, 6

Tangenten-, 37 elektrisches Feld, 12, 41, 154, 179,

197Elektrostatik, 173, 198, 232 Ellipse, 30 Energie, 47

Feld-, 207 mittlere, 108, 264

Energiedichte, 189, 208 Energieerhaltung, 47, 53, 208 Energiesatz, 53, 142, 208 Energiestromdichte, 154, 208 Ensemble, 259

kanonisches, 265 mikrokanonisches, 265

Entartung, 72, 294 Entropie, 259entwickeln, 26, 88, 92, 134, 191, 216,

224

Erdanziehungskraft, 26, 42 Erwartungswert, 234, 256, 307 Euler-Lagrange-Gleichung, 247 Eulersche Formel, 90

Fahrstrahl, 52Faltungsintegral, 214, 218, 227 Feder (ideale), 48 Fehlerbalken, 256 Feld, 151-174

elektrisches, 12, 39, 41, 154, 179, 197

Kraft-, 4Magnet-, 17, 41, 165, 180, 197 Quellen-, 161 Tensor-, 151 Wirbel-, 158

Feldenergie, 207 Feldlinien, 161 Fernwirkungstheorie, 174 Flächenelement, 120, 127 Flächenintegral, 119 Flächensatz, 46 Fluchtpunkt, 352 Fourier-Koeffizienten, 212, 214 Fourier-Reihe, 211-219 Fourier-Transformation, 219

Forminvarianz unter, 222 räumliche, 224

Fourier-Transformierte, 220 freie Indizes, 17 Freier Fall, 42 Funktion, 76

analytische, 184 Gauß-, 222, 239, 242, 258 Greensche, 145, 169 Umkehr-, 79

Funktional, 234, 241 Funktionaldeterminante, 127 Funktionentheorie, 115, 183

Galilei-Transformation, 272 Gauß-Funktion, 222, 239, 242, 258 Gauß-System, 206 Gaußscher Integralsatz, 176 Geometrische Reihe, 88 Gerade

Page 370: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

358 I n d e x

Parameterdarstellung, 28 Vektorgleichung, 25

Gerade, Parameterdarstellung, 352 Geschwindigkeitsaddition, 7 Gleichungssystem, lineares, 72 Gradient, 35, 47, 152, 154 Gravitationspotential, 50, 110, 117,

124, 133Greensche Funktion, 134, 145, 169,

227Griechisches Alphabet, 10 Grundzustand, 250, 288 Gruppengeschwindigkeit, 233, 237

Hamilton-Operator, 298, 307 harmonischer Oszillator, 44, 81, 82,

108, 137, 139, 217, 226, 250 Hauptachse, 56, 68-70 Hauptachsentransformation, 71-74 Hauptdiagonale, 59 Hauptnormale, 37 Hauptwert, 80, 131 Hauptwertintegral, 131 hermitesch, 300 Hilbert-Raum, 299 homogen

Der Raum ist, 272 Die Zeit ist, 272 Ein Medium ist, 67, 189, 230

homogene Dgl, 137, 197 homogenes lineares

Gleichungssystem, 72 Huygenssches Prinzip, 199 Hyperbelfunktionen, 86, 89, 91 hyperbolischer Kosinus, Sinus, 86,

89

i, 73, 90, 93 Imaginärteil, 93 Impuls, 45 Inertialsystem, 271 Inhomogenität, 137 inkonsistent, 95 Integral, 99-135

Faltungs-, 214, 218, 227 Flächen-, 119 gewöhnliches, 99

Hauptwert-, 131 Kurven-, 117 Oberflächen-, 121 Substitution, 101, 113 unbestimmtes, 105 uneigentliches, 106 Volumen-, 123

Integralgleichung, 227 Integralsätze, 176 Integraltafeln, 105 Integrand, 99Integration einer Reihe, 89 Integrationsgrenzen, 99 inverse Matrix, 60 isotrop

Der Raum ist, 272 Ein Medium ist, 66, 230

Jacobi-Determinante, 126

Kapazität, 179 Kepler, 46 Kern, 214, 229 Kettenregel, 34 Kinematik, 28 kinetische Energie, 47 Kirchhoffsche

Verzweigungsregel, 178 Kommutator, 308 komplexe Zahlen, 93 Kondensator, 179 konform, 185konjugiert komplex, 73, 93 Konsistenzbetrachtung, 201 Kontinuitätsgleichung, 162,189, 199,

207 integrale, 178

Konvergenz, 84, 87 konvergenzerzeugender

Faktor, 130, 213 Kopplungskonstante, 40, 43 Kosinus, 15, 90

hyperbolischer, 86 Kräfteaddition, 7 Kreisbewegung, 29, 37 Kreisfläche, 114 Kreisfrequenz, 29, 139, 204

Page 371: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

359

Kreisumfang, 118 Kreuzprodukt, 17

in Komponenten, 20 Kronecker-Symbol, 17 krummlinige Koordinaten, 125-127 Krümmungsradius, 37 Kugelkoordinaten, 125 Kugeloberfläche, 123, 126 Kugelvolumen, 121, 124 Kurvenintegral, 117

Ladung, 40, 124, 155, 167 Ladungsdichte, 124, 133, 168, 197

einer Punktladung, 133 Lagrange-Funktion, 247, 251 Lagrangescher Multiplikator, 249 Längenkontraktion, 276 Laplace-Gleichung, 173 Laplace-Operator, 165-173

Greensche Funktion des, 169 in Kugelkoordinaten, 166

Laplacescher Dämon, 54 Leitfähigkeit, 66, 154, 192

komplexe, 230 Leitfähigkeitstensor, 66, 230 l’Hospitalsche Regel, 97 Licht, 202-204 Lichtgeschwindigkeit, 203 Limes, 33, 85, 97, 168, 255, 272 linear unabhängig, 27, 137 lineare Massen Verteilung, 108 linearer Operator, 35, 57, 101, 137,

152linearer Zusammenhang, 65, 228-

230Linearkombination (LK), 26, 35,137,

138Logarithmus, 85, 89 lokal, 48, 67, 122, 152, 163, 174, 214 Lorentz-Kraft, 39 Lorentz-Kurve, 78, 80 Lorentz-Transformation, 276

Maßellipsoid, 74 Maßsysteme, 206Magnetfeld, 17, 39, 41, 165, 180, 197 Magnetostatik, 173, 198

Masse, 40, 109, 124 Massendichte, 108, 124 Massenpunkt, 40 Matrix, 24

Dreh-, 57 Einheits-, 24 inverse, 60 transponierte, 59

Matrixaddition, 57 Matrixanwendung, 57 Matrixmultiplikation, 58 Maxwell-Gleichungen, 169, 173,175,

197-210 Fourier-transformierte, 231 im Vakuum, 205 integrale, 201

Maxwell-Verteilung, 262 Mechanik, 39 mehrdeutig, 77 Mittelung, 107, 256 mittlere Energie, 108, 264 mittlere Geschwindigkeit, 66 mittlerer Funktionswert, 107 mittlerer Ort, 108 momentane Drehachse, 31 Multiplikation von Matrizen, 58 Multiplikation von Vektoren, 11

Nabla, 153in Kugelkoordinaten, 153 mal Nabla, 164

Nahwirkungstheorie, 174 natürliche Einheiten, 207 Newton(s Bewegungsgleichung), 39,

110, 197 Normalenvektor, 121 nullte Näherung, 94 Nullvektor, 6

O (...), 33, 92, 95, 97 Oberflächenintegral, 121 Ohms Regel, 67, 230 Operator, 35, 305

Box-, 205 Differential-, 35 Hamilton-, 298, 307 Integral als linearer, 101

Page 372: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

360 I n d e x

Laplace-, 165-173 linearer, 35Matrix als linearer, 57 Nabla-, 153Translations-, 194, 227, 229 Zeitentwicklungs-, 231

Ordnung einer Dgl, 41, 136 Orthogonalitätsrelationen, 60 Ortsoperator, 135 Ortsvektor, 4

Parameterdarstellung einer Geraden, 28

Parsevals Theorem, 215, 224 Partialbruchzerlegung, 113 partielle Differentialgleichung, 136,

189-194, 197 partielle Integration, 113

räumliche, 180 Pauli-Prinzip, 264, 304 Periode, 29perspektivische Bilder, 352 phänomenologisch, 67, 230 Phasenfaktor, 93Phasengeschwindigkeit, 233, 235, 237Pol, 76, 185Polarisationsvektor, 3Polar koordinaten, 120Potential, 47, 112

Coulomb-, 155, 169, 199, 233 effektives, 52 einer Feder, 49Gravitations-, 50, 110, 117, 124,

133retardiertes, 209 Skalar-, 155, 201 Vektor-, 170, 172, 201

Potenzreihe, 84, 87-92 Poynting-Vektor, 208 Produktregel, 34 Pseudovektor, 64 Pythagoras, 11

Quabla, 205 Quellen, 161 Quellenfeld, 161

Raum winkel, 15

Raumwinkelelement, 126 Realteil, 93 Rechtssystem, 19, 60 Reduktion der Ordnung, 142 Reihe, 84

Fourier-, 211-219 geometrische, 88 Integration einer, 89 Potenz-, 84, 87-92 Taylor-, 91

Rekursionsformel, 84 Residuensatz, 185 Resonanz, 219Responsefunktion, 66, 214, 218 retardierte Potentiale, 209 Richtungsableitung, 152 Rotation, 155-159 Ruhmasse, 278

Saite, 194Sarrussche Regel, 24 Sättigung, 77 Schall, 25, 192, 195 Schallgeschwindigkeit, 194, 196 Schallwelle, 25, 234 Schraubenlinie, 30 Schrödinger-Gleichung, 190, 297 Schwankung, 108, 238, 256

relative, 257, 258 Schwarzsche Ungleichung, 15 Schwerpunkt, 70, 109, 116, 124 Separationsansatz, 189, 297, 342 Sl-System, 155, 206 singuläre Lösung einer Dgl, 137, 143 Sinus, 15, 81, 90

hyperbolischer, 86, 89 Skalar, 64Skalarpotential, 155, 201 Skalarprodukt, 11, 13

in Komponenten, 16 von Funktionen, 135, 216, 301

Spaltenindex, 24 Spannung, 67, 155 Spektrum, 235, 295 Spur, 59, 73, 161Stammfunktion, 48, 103, 104, 111 starrer Körper, 31, 69

Page 373: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

361

Steinerscher Satz, 109 Stokesscher Integralsatz, 177 Störungsrechnung, 94-96, 329 Strom, 67, 122, 133, 180 Stromdichte, 66, 122, 151, 161, 188,

197, 230 einer Punktladung, 133 Energie-, 154, 208

Stufenfunktion, 131, 186 Substitution, 101, 113 Summenkonvention, 16, 217 Superposition, 109, 145, 193, 205,

234, 292

Tangens, 78, 90 Tangenteneinheitsvektor, 37 Taylor-Reihe, 91 Temperatur, 189, 263, 267 Tensor, 64-71

antisymmetrischer, 69, 157 Leitfähigkeits-, 66, 230 Stufe eines, 64 symmetrischer, 68, 71, 157 Trägheits-, 69, 124

Tensortransformation, 64 Testfunktion, 242 totale Ableitung, 36, 195, 247 Trägheitsmoment, 109 Trägheitstensor, 69, 124 Translation, 26 Translationsinvarianz, 229 Translationsoperator, 194, 227, 229 transponiert, 59Trennung der Variablen, 112, 142 trial functions, 242 Trigonometrie, 22

Additionstheorem der, 22, 93

Überlichtgeschwindigkeit, 203 Umkehrfunktion, 79, 85 Umkehrpunkt, 50 uneigentliches Integral, 106 unification, 198 Unschärfe, 238 Unschärferelation, 237

Variation, 244 zweite, 245

Variation der Konstanten, 141 Variationsrechnung, 241-252 Vektor, 5, 63, 64

Ausbreitungs-, 204 Einheits-, 6 Komponenten eines, 8 Normalen-, 121 Null-, 6 Orts-, 4Polarisations-, 204 Poynting-, 208 Pseudo-, 64 Verschiebungs-, 4 Wellen-, 204

Vektoraddition, 6, 10 Vektordefinition, 5, 63 Vektorfunktion, 28

Differenzieren einer, 36 Vektorgleichung, 24 Vektorpotential, 170, 172, 201

eines homogenenMagnetfeldes, 172

Vektorprodukt, 17 Vektorraum, 27 Verschiebungsvektor, 4 Vierervektor, 283 Vollständigkeitsrelation, 217, 301 Volumenintegral, 123 VONS, 26, 56, 216, 224

Wahrscheinlichkeit, 254, 295 Wahrscheinlichkeitsdichte, 260, 306 Wärmeleitfähigkeit, 155 Wärmeleitung, 189 Wellengleichung, 192, 205

allgemeine Lösung in ID, 193,231

Wellenpaket, 290 Wellenvektor, 204 Widerstand, 67 Winkel, 14

Raum-, 15 Winkelgeschwindigkeit, 30

’s-Addition, 32 als Tensor, 69

Wirkungsintegral, 246

Page 374: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

362 I n d e x

Zeilenindex, 24 Zeitentwicklungsoperator, 231 Zentralkraft, 46 Zentralpotential, 50 Zentrifugalbarriere, 52 zirkulare Strömung, 158, 175 Zustandssumme, 267 Zwillingsparadoxon, 277 zyklisch, 21Zylinderkoordinaten, 125

Besondere Zeichen:

=: (definiert rechte Seite), 9:= (definiert linke Seite), 12

(proportional zu), 14*—r (genau dann, wenn), 15rv (daraus folgt, daß), 27= (identisch gleich), 43* (konjugiert komplex), 73

V V (... wirkt nur auf . . . ) , 159

Einige Lebensdaten:

Pythagoras 570 - 496 v.Chr.Galileo Galilei 1564 - 1642

Johannes Kepler 1571 - 1630Isaak Newton 1643 - 1727

Leonhard Euler 1707 - 1783Joseph Louis Lagrange 1736 - 1813

Pierre Simon Laplace 1749 - 1827Jean Baptiste Joseph Fourier 1768 - 1830

Carl Friedrich Gauß 1777 - 1855Augustin Louis Baron Cauchy 1789 - 1857

George Green 1793 - 1841William Rowan Hamilton 1805 - 1865

Charles Darwin 1809 - 1882George Gabriel Stokes 1819 - 1903James Clark Maxwell 1831 - 1879

Hendrik Antoon Lorentz 1853 - 1928Max Planck 1858 - 1947

David Hilbert 1862 - 1943Albert Einstein 1879 - 1955

Max Born 1882 - 1970Nils Bohr 1885 - 1962

Erwin Schrödinger 1887 - 1961Wolfgang Pauli 1900 - 1958

Werner Heisenberg 1901 - 1976Enrico Fermi 1901 - 1954

Paul Dirac 1902 - 1984Konrad Lorenz 1903 - 1989

Lew Dawidowitsch Landau 1908 - 1968Richard Feynman 1918 - 1988

Page 375: Schulz H. Physik Mit Bleistift (4ed., Harri Deutsch, 2001)

Verzeichnis einiger Text st eilen,in welchen weithin übliche Denkweisen kritisiert werden:

„D ie B o sh e iten “

Was auf den vergangenen dreihundert sechzig Seiten zu lesen steht, ist mitunter recht delikat. An einigen Stellen wird nämlich von weitverbreiteten Ansichten und Bezeichnungen abgewichen, absichtsvoll natürlich und teils mit ironischem oder gar grollendem Unterton. Es versteht sich, daß durch diesen Umstand bitte keine Peinlichkeiten entstehen möchten (mit etwas Phantasie kann man sich exotische Situationen ausmalen, etwa während jemand gerade das dx nicht bzw. gerade doch an das Integralzeichen schreibt oder das Huygenssche Prinzip aus dem Hut zaubert). Also ist es wohl (unter anderem) ein Gebot der Fairneß, diese „bösen“ Passagen artig aufzulisten.

Wie man a x b nicht ausrechnet S. 22, 24dx statt ^ S. 36Ist Newton Definition der Kraft? S. 39, 41Das Wort „Gesetz“ hat in Physikbüchern nichts zu suchen S. 46, 67actio / reactio S. 54Ohms Sündenregister S. 67Knick, Sprung, mehrdeutig, einwertig S. 77Nur ein Logarithmus S. 86sh, ch statt sinh, cosh S. 86i = ?? S. 94L’Hospital wozu? S. 97Jdx... (dx nach links!) S. 101Das Ende des unbestimmten Integrals S. 105Ein häufiger Integralmißbrauch S. 111, 112S(x) ohne limes e —»• 0 S. 131Kein Integral bei div-rot-Definition S. 152, 181Die e0 begleitende Umnachtung S. 155Der Unwert der integralen Maxwell-Gleichungen S. 180, 202Kein Huygenssches Prinzip S. 199v > c _ S. 203Maxwell in Materie S. 210Gruppengeschwindigkeit „ist“ nicht u'(k) S. 237Warnung vor Ax • Ak & \ S. 239kß = 1 und T in Joule S. 260, 263p . V = N T und E = |iVT sind immer falsch S. 264Einstein-Widerleger kontra Einheit der Physik S. 285„Atom-Modelle“ in Schulbüchern S. 286Kleingruppen? S. 314Argumente von sin, cos, ln, ... stets in Klammern S. 15 ff.