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Druckversion der Seite http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=15100 literaturkritik.de » Nr. 12, Dezember 2010 » Schwerpunkt: Verlage und Literaturkritik im Internet » Literaturkritik im Internet Selbstprofilierung im Internet durch Literaturkritik Von Simone Schwalm Sie sprießen wie Pilze aus dem Boden: Rezensionen von Laien- und Profi-Kritikern werden online in Massen geboten. Dabei fällen die Verfasser dieser Kritiken nicht nur Urteile über Literatur. Auch Musik, abendliche Ausgeh-Angebote, Mobilfunkgeräte und Waschmaschinen werden in Hinblick auf ihre Massentauglichkeit „rezensiert“. Dem Markt der Waren steht ein Markt der Meinungen zur Seite. Zahllose Foren, Blogs, soziale Netzwerke und Online-Händler bieten die Möglichkeit, Miss- oder Gefallen aller Welt mitzuteilen und gegebenenfalls Kaufentscheidungen mit zu beeinflussen. In Bezug auf den literarischen Markt gestaltet sich dies mindestens ebenso vielfältig und zunächst unübersichtlich wie in allen anderen Bereichen. Doch vor dem Zeitalter des Internets wurden kaum Verbrauchermeinungen über Waschmaschinen oder ähnliches publiziert. Die Literaturkritik dient nun als Vorbild für die Bewertung anderer Produkte. Dabei wird der Begriff der „Rezension“ aus dem Bereich des Buch-Betriebs auf andere Bereiche übertragen, vor allem durch das Online-Versandhaus Amazon . Literaturkritik im Internet Literaturkritik weist eine lange Tradition auf. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich jene Art der Buchbesprechungen, die als Vorläufer der gegenwärtigen Rezensionen in den Feuilletons angesehen werden kann. Das neue Medium Internet ermöglichte eine weitere Entwicklung: Das Verfassen von literaturkritischen Rezensionen ist nicht mehr nur professionellen Kritikern vorbehalten. Neben den literaturkritisch profilierten Printmedien, die ihre Rezensionen mittlerweile meist auch online veröffentlichen, melden sich zunehmend die so genannten ‚Laienkritiker‘ zu Wort. Nicht nur Online- Buchhandlungen locken ihre Kunden zur Meinungskundgabe, etwa mit kostenlosen Leseexemplaren vor offiziellem Erscheinungstermin wie beispielsweise auf www.vorablesen.de oder der Vergabe eines Titels wie ‚Top-Rezensent‘ bei Amazon . Vor allem Einzel- und Sammelblogs sowie Rezensionsforen, die im Stil journalistischer Magazine gestaltet sind, entsprechen einem grenzenlosen Mitteilungsbedürfnis über persönliche Abneigung oder Begeisterung. Dies scheint auf den ersten Blick nicht sonderlich problematisch – schließlich ist eine demokratische Meinungsvielfalt positiv konnotiert. Doch wer fundierte Kritiken sucht, sieht aufgrund dieses Wustes aus Bewertungslust und (Selbst-)Darstellungsehrgeiz den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Die Vielzahl der urteilenden Menschen ist ebenso unüberschaubar wie die Menge an gedruckten Werken, die meist knapp in den Buchkritik-Foren abgehandelt werden. Während das Publizieren im Internet noch vor rund 15 Jahren eine Beschäftigung einiger weniger darstellte, ist es heute keine Ausnahmeerscheinung mehr. Auch Cornelie Müller-Gödecke, ausgebildete Lehrerin, die für eine Software-Firma Webseiten gestaltet, gehört zu ihnen. Sie war bereits „fast von Anfang an dabei“ und vertritt auf einer ihrer Webseiten, www.avantart.de , die Ansicht, dass bei den massenhaften Hompages und Internetauftritten „allzuoft die Qualität auf der Strecke geblieben“ sei oder „Inhalte fehlen“ und hofft, dass dagegen ihre Seiten „Berechtigung“ haben. Neben ihren Meinungsäußerungen zu Aspekten des alltäglichen Lebens in ihren Blogs findet sich auch Literaturkritisches, mit deren Veröffentlichungen sie 2003 begann. Auf lesen.avantart.com präsentiert Müller-Gödecke „ganz private Lese-Erlebnisse“, „Kritik am literarischen Alltag“, rezensiert Werke, von denen „abzuraten“ ist, und verfasst „Buch- Empfehlungen“. Dagegen finden sich auf buchbestattung.de nur kritische Töne. Hier schreibt sie „über verunglückte Bücher, verunglückte Leser, schlechte Bücher, schlechtes Marketing“ und ihr Geschmackssache : ausgedruckt bei literaturkritik.de http://literaturkritik.de/public/druckfassung_rez.php?rez_id=15100 1 de 4 19/10/2011 16:58

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literaturkritik.de » Nr. 12, Dezember 2010 » Schwerpunkt: Verlage und Literaturkritik im Internet » Literaturkritik im Internet

Selbstprofilierung im Internet durch Literaturkritik

Von Simone Schwalm

Sie sprießen wie Pilze aus dem Boden: Rezensionen von Laien- und Profi-Kritikern werden online inMassen geboten. Dabei fällen die Verfasser dieser Kritiken nicht nur Urteile über Literatur. AuchMusik, abendliche Ausgeh-Angebote, Mobilfunkgeräte und Waschmaschinen werden in Hinblick aufihre Massentauglichkeit „rezensiert“. Dem Markt der Waren steht ein Markt der Meinungen zur Seite.Zahllose Foren, Blogs, soziale Netzwerke und Online-Händler bieten die Möglichkeit, Miss- oderGefallen aller Welt mitzuteilen und gegebenenfalls Kaufentscheidungen mit zu beeinflussen.

In Bezug auf den literarischen Markt gestaltet sich dies mindestens ebenso vielfältig und zunächstunübersichtlich wie in allen anderen Bereichen. Doch vor dem Zeitalter des Internets wurden kaumVerbrauchermeinungen über Waschmaschinen oder ähnliches publiziert. Die Literaturkritik dient nunals Vorbild für die Bewertung anderer Produkte. Dabei wird der Begriff der „Rezension“ aus demBereich des Buch-Betriebs auf andere Bereiche übertragen, vor allem durch das Online-VersandhausAmazon.

Literaturkritik im Internet

Literaturkritik weist eine lange Tradition auf. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich jene Art derBuchbesprechungen, die als Vorläufer der gegenwärtigen Rezensionen in den Feuilletons angesehenwerden kann. Das neue Medium Internet ermöglichte eine weitere Entwicklung: Das Verfassen vonliteraturkritischen Rezensionen ist nicht mehr nur professionellen Kritikern vorbehalten. Neben denliteraturkritisch profilierten Printmedien, die ihre Rezensionen mittlerweile meist auch onlineveröffentlichen, melden sich zunehmend die so genannten ‚Laienkritiker‘ zu Wort. Nicht nur Online-Buchhandlungen locken ihre Kunden zur Meinungskundgabe, etwa mit kostenlosen Leseexemplarenvor offiziellem Erscheinungstermin wie beispielsweise auf www.vorablesen.de oder der Vergabe einesTitels wie ‚Top-Rezensent‘ bei Amazon. Vor allem Einzel- und Sammelblogs sowie Rezensionsforen,die im Stil journalistischer Magazine gestaltet sind, entsprechen einem grenzenlosenMitteilungsbedürfnis über persönliche Abneigung oder Begeisterung.

Dies scheint auf den ersten Blick nicht sonderlich problematisch – schließlich ist eine demokratischeMeinungsvielfalt positiv konnotiert. Doch wer fundierte Kritiken sucht, sieht aufgrund dieses Wustesaus Bewertungslust und (Selbst-)Darstellungsehrgeiz den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. DieVielzahl der urteilenden Menschen ist ebenso unüberschaubar wie die Menge an gedruckten Werken,die meist knapp in den Buchkritik-Foren abgehandelt werden. Während das Publizieren im Internetnoch vor rund 15 Jahren eine Beschäftigung einiger weniger darstellte, ist es heute keineAusnahmeerscheinung mehr.

Auch Cornelie Müller-Gödecke, ausgebildete Lehrerin, die für eine Software-Firma Webseitengestaltet, gehört zu ihnen. Sie war bereits „fast von Anfang an dabei“ und vertritt auf einer ihrerWebseiten, www.avantart.de, die Ansicht, dass bei den massenhaften Hompages undInternetauftritten „allzuoft die Qualität auf der Strecke geblieben“ sei oder „Inhalte fehlen“ und hofft,dass dagegen ihre Seiten „Berechtigung“ haben. Neben ihren Meinungsäußerungen zu Aspekten desalltäglichen Lebens in ihren Blogs findet sich auch Literaturkritisches, mit deren Veröffentlichungen sie2003 begann. Auf lesen.avantart.com präsentiert Müller-Gödecke „ganz private Lese-Erlebnisse“,„Kritik am literarischen Alltag“, rezensiert Werke, von denen „abzuraten“ ist, und verfasst „Buch-Empfehlungen“. Dagegen finden sich auf buchbestattung.de nur kritische Töne. Hier schreibt sie„über verunglückte Bücher, verunglückte Leser, schlechte Bücher, schlechtes Marketing“ und ihr

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„Unbehagen an der ‚Buchkultur‘ überhaupt“. Auf weiteren Seiten, die sie als Homepage, Blogs oderWebseiten ins Internet stellt, beschäftigt sie sich mit Kunst, Kultur, Sprachen, Reisen und Politik.

Neben ihr seien noch einige weitere Beispiele genannt für Privatpersonen, die im Internet ihreMeinung, unter anderem zu Büchern, publizieren. Sie sind keine extremen Ausnahmeerscheinungenin den Weiten des Netzes und gleichzeitig auch keine ‚exemplarischen Fälle‘. Doch sie sindrepräsentativ für einen bestimmten Typus von ‚Internet-Usern‘, die nicht nur selbst nach Informationenund Bewertungen suchen, sondern ihre Meinung durch Online-Veröffentlichungen selbst kundtun.Dabei geht es häufig nicht um ein ganz bestimmtes Ziel, sondern um schlichtes Mitteilungsbedürfnis,das sie mit ihrer Meinung über gelesene Bücher zum Ausdruck bringen, wie etwa Martin Weiß aufseinem Blog www.buch-ratschlag.de. Dies ist sein einziger Internetauftritt. Auch auf dem Blogdiestrickendeleseratte.blogspot.com einer gewissen Yvonne, von der man nicht mehr erfährt als ihrenVornamen sowie etwas über ihre Freude am Lesen und Stricken, gibt es wie bei Weiß keineVerlinkungen zu weiteren Seiten der Verfasser. Ihre Persönlichkeiten treten hinter ihrenBuchbesprechungen zurück. Dies scheint die Regel zu sein.

Immer häufiger finden sich dagegen auch Internetauftritte einzelner Personen, die einen hohen Gradan Selbstprofilierungstendenzen aufweisen und ansonsten ohne klar erkennbare Zielsetzung sind.Obwohl ihre Anzahl geringer zu sein scheint als die derjenigen, die nur mit einer oder zwei Seiten imNetz vertreten sind, lassen sie sich nicht mehr als Ausnahmeerscheinungen beschreiben. Sierepräsentieren längst einen weiteren Typus der Online-Darsteller, die zu jenen Mitteilungslüsternengehören, die sich selbst als Experten bezeichnen und auf ihren Seiten versuchen,literaturinteressierte Leser von einer angeblichen Professionalität zu überzeugen. Sie besitzen meisteine eigene Homepage, mehrere Blogs und beteiligen sich rege am Meinungsaustausch mit anderenBücher-Besprechern. All die Seiten, auf denen sie sich präsentieren, verweisen aufeinander und sinduntereinander verlinkt. Im Folgenden wird diese Art der gehäuften Internetpräsenz am Beispiel zweierHerren genauer unter die Lupe genommen, besonders im Hinblick auf ihre literaturkritischenVeröffentlichungen, die sie für ihre Selbstdarstellung zu funktionalisieren scheinen.

‚Beispielhafte‘ Internetpräsenz?!

Da gibt es beispielsweise Dr. Marius Fränzel, einen promovierten Literaturwissenschaftler. AufNachfrage hin betont er, kein Laie, aber auch kein Literaturkritiker zu sein. Er sei „ein Leser, der überseine Lektüre schreibt“, die sowohl Neuerscheinungen als auch längst kanonisierte Werke umfasst.Die Buchbesprechungen des 49-Jährigen finden sich vor allem auf seinen eigenen Blogs.bonaventura.musagetes.de etwa besteht seit 2005 und enthält mehr als 400 Beiträge, unter anderemKritiken zu Kategorien wie „Belletristik“, „Bildbänden“, „Bilderbüchern“, „Comics“ sowie „Hör- undSachbüchern“. Der Blog begleitet Fränzels eigene, private Lektüre, die „auch schlechte Bücher“einbeziehe, Verrisse sind jedoch in der Minderzahl.

Auf dieser Seite stehen auch so genannte „Shortlists“. Eine trägt den vielversprechenden Titel „10Bücher, über die Sie beruhigt mitreden können, ohne sie gelesen zu haben“. Im Blick auf RobertMusils „Der Mann ohne Eigenschaften“ glaubt Fränzel zu wissen: Dieses Buch habe von den anderenauch keiner gelesen. Der Literaturwissenschaftler rät: „Sagen Sie: In dem Fall liegt Reich-Ranickiaber mal daneben!“ Zu Herman Melvilles „Moby-Dick“ erteilt Fränzel seinen Lesern den Rat, „diesenÜbersetzer-Streit, den es da mal gegeben hat“, zu erwähnen. An dieser Stelle sei die Frage gestattet,inwieweit sich derartige ‚Tipps‘ mit Fränzels eigenem literaturwissenschaftlichem Anspruchvereinbaren lassen. Oder soll dies einfach nur witzig sein? Möglicherweise als Ironie mit Ansätzen zurKulturkritik, gegen jene Laienkritik gerichtet, von der oben die Rede war? Dann müsste Fränzel dieseIronie jedoch deutlicher beziehungsweise eindeutiger machen.

Ähnlich undurchsichtig ist der Internetauftritt Oliver Gassners, der sein Studium der Germanistik undAnglistik „mit dem Magister sowie dem 1. und 2. Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien“abschloss. Auf seiner Homepage oliver-gassner.de beschreibt er sich selbst als Autor, Journalist undTrainer und weist eine noch höhere Internetpräsenz als Fränzel auf. Trainieren will er beispielsweiseAutoren für die Blog-Erstellung, wofür er auf buecherbrett.org Anleitung gibt. Daneben ist er andiversen Literaturforen beteiligt, widmet sich allerdings im Gegensatz zu den vergangenen Jahren

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inzwischen zunehmend administrativen Aufgaben, anstatt selbst zu kritisieren. Eine der wenigenAusnahmen ist hier zu finden: www.youtube.com. In flapsig-spontaner Manier bespricht Gassner hier„5 Bücher in 10 Minuten“, hantiert wild und ziellos mit dem Buch in seiner Hand herum und amüsiertsich prächtig über seinen eigenen Humor. Da fragt man sich: Stellt sich diese Art der Laienkritikbewusst selbst zur Schau? Karikiert sie das, was sie selbst vielleicht nicht sein will? Immerhinarbeitete Gassner viele Jahre als freier Journalist mit dem Schwerpunkt Kunst, Literatur undKulturpolitik für regionale Printmedien im Bodenseeraum und ist aktuell in den Bereichen PR,Marketing, Social Media, kultureller Organisation sowie digitales Arbeiten tätig. Man könnteannehmen, dass er weiß, was er tut, und sich seine professionelle Selbstdarstellung auf Seiten wiewww.carpe.com, www.carpelibrum.de und literaturwelt.de nicht durch fragwürdige Präsentationenselbst zunichte machen will. Vielleicht gehört das dazu, wenn man im Netz eine möglichst breiteLeserschaft ansprechen will. Doch wünscht sich diese wirklich Masse statt Klasse?

Fränzels Internetauftritte sind überschaubarer. Auf seinem Blog goethe.musagetes.de bedient derLiteraturwissenschaftler seine Leser vor allem mit Verrissen über (literatur-)wissenschaftlicheSekundärliteratur zu Johann Wolfgang von Goethe. Die ‚Fliegenden Goethe-Blätter‘ erscheinen inunregelmäßigen Abständen und seien „höchst subjektive Überlegungen, Kritiken, Betrachtungen undAnmerkungen“. Doch Fränzel veröffentlicht nicht nur auf Seiten, die er selbst ins Netz gestellt hat. Beiwww.stabiso.de handelt es sich um eine Seite, die auf Kooperation mit der Stadtbibliothek Solingenund der Solinger Morgenpost (Rheinische Post) basiert. Fränzel veröffentlicht hier wöchentlich einenBeitrag, seine literarischen Auseinandersetzungen sind nur Empfehlungen. Sehr selten beteiligt ersich auch an blog.literaturwelt.de, einem gemeinsamen Weblog verschiedener Blogger. Eine Zeit langschrieb er zudem für buch.germanblogs.de und erhielt dafür nach eigener Aussage sogar einHonorar, doch „seit die nicht mehr bezahlen, bediene ich diese Seite auch nicht mehr“.

Mit dieser so ganz ‚un-literaturkritischen‘ Art der Literaturkritik versucht Fränzel aus gutem Grundnicht (mehr), Geld zu verdienen. Denn das Rezensenten-Dasein im Netz ist, mehr noch als in denPrintmedien, eine unlukrative Tätigkeit. Doch zur Selbstprofilierung und Förderung des eigenenprofessionellen Status scheint sich die Literaturkritik auch im Internet zu lohnen. Durch diverseVerlinkungen von eigenen Seiten, Vernetzungen und Empfehlungen der ‚User‘ untereinander bildensich kleinere und größere Fangemeinden von ‚Bloggern‘, die ganz im twitter-Stil ihren Vorbildern als‚Follower‘ folgen und ihre Meinungen als glaubwürdig sowie in kommerzieller Hinsicht einflussreicheinschätzen. Als ‚Bonaventura‘ – in Anlehnung an das Verfasser-Pseudonym des Romans„Nachtwachen“ – twittert auch der Solinger Freiberufler und hat bereits 111 ‚Follower‘. FränzelsSelbstdarstellung im Internet hilft ihm als Freiberufler jedoch nur bedingt. Zumindest könne er aberdurch seine Online-Präsentationen einen kompetenten Umgang mit Blog- beziehungsweiseCMS-Software demonstrieren. Der Literaturwissenschaftler gestaltet Webseiten, unterrichtetLiteratur im Bereich der Erwachsenenbildung, hält Vorträge über Literatur oder rezitiert ‚Klassiker‘ wieJohann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Heinrich Heine, Gustave Flaubert, ChristianMorgenstern, Rainer Maria Rilke und Theodor Fontane.

Ähnlich finanziert sich auch Oliver Gassner. Als Webmaster designt er Homepages, leitet Kurse fürKreatives Schreiben an Schulen und an der Volkshochschule, ist in der Werbung und im Marketingtätig und unterrichtet als Universitätsdozent Business English. Da haben wir sie wieder: die Masse.Angesichts dieser Masse an beruflichen Standbeinen muss man sich fragen, ob dieseSelbstdarstellung noch realistisch ist. Kann sich ein einzelner Mensch mit so vielen Dingen zugleichauf anspruchsvollem Niveau beschäftigen? Aber vielleicht sollte man diese Frage nicht stellen undstattdessen eher auf die ernüchternde Situation eines Freiberuflers blicken, der all diese Tätigkeitenbraucht, um finanziell überleben zu können. Auf Nachfrage, auch hinsichtlich der Funktion seinerzahlreichen Internetauftritte, reagierte Gassner nicht.

Fränzel wiederum scheint sich selbst nicht ganz im Klaren darüber zu sein, was er mit seinenInternetauftritten, besonders den literaturkritischen, bezweckt – jedenfalls konnte oder wollte er daraufkeine Antwort geben. Der Namen seiner Homepage allerdings lässt Schlüsse auf Fränzels Motivationzu, über seine Lektüre zu schreiben. Er erklärt deren Namen – www.musagetes.de – mit einemHinweis auf die griechische Mythologie: Musagetes ist der Beiname Apollons als ‚Führer der Musen‘.Vielleicht will er ja seine Leser durch das unüberschaubare Feld der Literatur führen und ihnen dabei

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professionell zur Seite stehen – unter anderem eben mit Ratschlägen, wie man über Bücher sprechenkann, ohne sie dabei lesen zu müssen. Vielleicht verfolgt Fränzel mit seinen Publikationen allerdingsdoch kein so hehres Ziel – schließlich „interessiert ihn auch nicht“, welchen Stellenwert Literaturkritikim Netz hat. Zur Frage der Selbstprofilierung im Internet über Literaturkritik auf sozialen Netzwerkenund Blogs hat der Literaturwissenschaftler ebenso keine Meinung. Und fügt sich damit in die Reihederer ein, die ihre Meinung zu jeglicher Art von Literatur im Netz abgeben – ohne zu wissen, warum.Frei nach dem Motto: „Wer schreibt, der bleibt.“

Cornelie Müller-Gödecke dagegen begründet ganz eindeutig die Vielzahl ihrer Webseiten und Blogs.Nach eigenen Angaben nutzt sie die Möglichkeiten des Internets, „um der Musik und der Kunst imAllgemeinen ein Forum zu schaffen, das nicht nach Marktanteilen schielen muss“. Die über50-Jährige, die ihr genaues Alter nicht verraten möchte, schreibt online, „um nicht immer umVeröffentlichung betteln zu müssen“, und „aus Neugier um die technischen Mittel, die das Internet sobietet“.

Bleibt noch die Frage, welches Urteil man sich über diese Art von Buchbesprechungen bilden sollte.Literatur scheint bei einigen Selbstprofilierungs-Versuchen jedenfalls nicht mehr im Vordergrund zustehen. Sie dient viel mehr häufig nur noch der Selbstdarstellung der jeweiligen Rezensenten. DasMedium Internet wird unter dem Etikett ‚Literaturkritik‘ damit auch zur unreflektierten Profilierunggenutzt. So verhält es sich mit diesen hervorsprießenden Beurteilungen wohl wie mit Pilzen: Sie sindeben Geschmackssache.

http://literaturkritik.de/public/druckfassung_rez.php?rez_id=15100 Stand: 14.12.2010 - 17:50:57Lesungen: 2515

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