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2 | 2015 Seelenpflege in Heilpädagogik und Sozialtherapie Ich-Sinn und Spiegelneurone Kinder psychisch kranker Eltern Schulbegleitung Jahresbericht der Konferenz

Seelenp ege · überwältigenden Empfindungen auslösen. Sich gegen den Ekel zu wehren, den Gerü-che hervorrufen, ist dagegen unmöglich. Andererseits führen uns auch angenehme

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Seelenpflegein Heilpädagogik

und Sozialtherapie

Ich-Sinn und Spiegelneurone

Kinder psychisch kranker Eltern

Schulbegleitung

Jahresbericht der Konferenz

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Editorial

Angeblich ist jeder 11. Deutsche gefühlsblind,

zwar nicht gefühllos, aber er resp. sie kann weder die eigenen Gefühle noch die anderer Menschen «lesen», meldete «Die Welt» vor einiger Zeit. Das Thema «Empathie», das Bernd Kal-witz hier aufgreift, kann man daher durchaus aktuell finden. Es spielt auch eine Rolle in Karel Zimmermanns Beitrag über die Situation von Kindern psychisch kranker Eltern. Über die Befra-gung zur Schulbegleitung an Heilpädagogischen Schulen auf anthroposophischer Grundlage berichtet Bernhard Schmalen-bach und greift damit ein notwendiges Kapitel der Entwicklung

unserer Organisationen auf. Elisa Herr hat einen Besuch im Atelier der Troxler-Werkstätten Wuppertal gemacht und stellt einige Bilder aus der dortigen Kunstwerkstatt vor. Wie jedes Jahr berichten wir über die Arbeit der Konferenz für Heilpäda-gogik und Sozialtherapie auch dieses Jahr und die dort gegen-wärtig lebenden Fragen. Übrigens: Besuchen Sie uns doch auf seelenpflege.info, wo Sie auch die früheren Hefte unserer Zeitschrift lesen können. Und auf khsdornach.org gibt es jetzt eine Ausstellung mit allen Pro-grammen der Internationalen Tagungen für Heilpädagogik und Sozialtherapie seit 1962. Wir wünschen Ihnen eine gewinnbringende Lektüre.

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Inhalt

Herausgeber:Konferenz für Heilpädagogik und SozialtherapieMedizinische Sektionder Freien Hochschule fürGeisteswissenschaften am GoetheanumDornach (Schweiz)Redaktion:Rüdiger GrimmBernhard SchmalenbachGabriele Scholtes

Seite 16

Seite 6 Seite 18

Seite 27

Ich-Sinn und SpiegelneuroneAuf der Suche nach den Grundlagen der EmpathieBernd Kalwitz

Das Wunder des anderenSebastian Jüngel im Gespräch mit Michael Dackweiler

Kinder psychisch kranker Eltern Erfahrungen aus der heilpädagogischen Tagesklinik der Kinder- und Jugendpsychiatrie Karel Zimmermann

Wenn sich hier die funktionelle Trennung zwischen Wahrnehmung und Motorik aufhebt, indem die Spiegelneuronen an beiden Prozessen ausschlaggebend beteiligt sind, wäre angesichts der beschriebenen Phänomene auch neurobiologisch eine fundamentale Neubewertung der Beziehung zwischen Bewegung und Bewusstsein vorstellbar.

Kinder psychisch kranker Eltern verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit. Sie stecken in einer besonderen Lebenslage und haben schon viel erleben müssen, was für ihr Alter nicht angemessen ist und ihre seelische Entwicklung beeinträchtigt.

Jahresbericht der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie

Wie sieht er den Generationswechsel? Vorsichtig und zuversichtlich zugleich. Die nächste Generation solle Räume vorfi nden, in denen sie sich frei und möglichst authentisch bewegen könne. «Nicht: Wir sagen euch, wie man Rudolf Steiner verstehen kann ...»

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Seite 31 Seite 53

Seite 54

Kunst schafft BrückenEin Besuch im Atelier der Troxler-WerkstättenElisa Herr

Schulbegleitung an Heilpädagogischen Schulen auf anthroposophischer Grundlage Erste Ergebnisse einer BefragungBernhard Schmalenbach

Rezensionen

ImpressumDie Erhebung bestätigt, dass Schulbegleitung auch in heilpädagogischen Waldorfschulen an Bedeutung erheblich zugenommen hat.

Seite 48

Georg Paulmichl: Bis die Ohren und Augen aufgehen. Frühe Texte und Bilder

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Ich-Sinn und Spiegelneurone

Auf der Suche nach den Grundlagen der Empathie

Von Bernd Kalwitz

Empathiefähigkeit ist die Schlüsselkompetenz sozialer und pädagogischer Tätigkeiten. Die Gabe, sich intuitiv in andere Menschen einfühlen zu können, kann als die Grundlage jeglicher professionellen Beziehung gelten, sei sie pädagogisch, therapeutisch oder kollegial. Die Magie dieses Prozesses aber machen wir uns selten bewusst: Welch bemerkenswerter Zauber, dass wir unmittelbar, ohne auch nur im Geringsten nachdenken zu müssen, als eige-nes, inneres Erlebnis wahrnehmen, welche Vorstellungen und Gefühle sich in der Seele eines anderen Menschen gerade abspielen. Das Ausserordentliche dieses Vorganges wird uns oft erst dann bewusst, wenn er gestört ist, etwa wenn sich im Verlauf der Pubertät bei Jugendlichen, im Zuge der Umbauvorgänge in ihrem Gehirn die Fähigkeit, Stimmen (vgl. Dia-mond et al. 1983) und Gesichter (vgl. Mann et al. 1979) zu erkennen sowie deren Ausdruck zu deuten, um fast ein Drittel vermindert. Menschen mit dem Autismus Spektrum Syndrom fehlt dieses intuitive Vermögen oft ganz. Die Bedeutung von Empathie tritt uns etwa auch in kollegialen Konfliktsituationen vor Augen, wenn Antipathie oder Angst um die eigene Situation tiefe Blindheit ausbreiten über die einfühlende zwischenmenschliche Wahrnehmung.Bei der Forschung in diesem Feld begegnet uns eine Zeitsignatur, die Rudolf Steiner oft dargestellt hat: Es wird den Menschen aufgrund ihrer sich verän-dernden inneren Konstitution immer weniger möglich sein, auf gesunde Art Glück zu empfinden, solange es irgendwo noch andere Menschen gibt, die unglücklich sind.1 Diese Entwicklung gilt es bewusst zu ergreifen, damit sie sich in heilsamer Weise auswirken kann. Dazu gehört als wichtigste Zeitforde-rung die Arbeit an der individuellen Durchdringung unserer Gefühlswelt mit

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Bewusstseinkräften (vgl. Kalwitz 2008), von der es abhängen wird, was aus unserer Zivilisation erwachsen kann. Das grosse aktuelle Interesse an allem, was mit innerer Achtsamkeit zu tun hat, zeigt sicher die wachsende Sensibilität vieler Menschen für diesen Bereich ihres Seelenlebens. Um die volle Bedeutung des Phänomens zu erah-nen, mit dem man es bei der Empathie zu tun hat, lohnt es sich, verschiedene Blick-winkel zu vergleichen, aus denen heraus man sich ihm bisher genähert hat.

Die Entdeckung der Empathie

Der Begriff «Empathy» wurde seit Langem bereits vereinzelt in philosophischen und psychologischen Schriften verwendet, beispielsweise von dem englischen Experimen-talpsychologen E.B. Titchener, als er 1909 das deutsche Wort «Einfühlungsvermögen» im Werk des «Psychologisten» Theodor Lipps übersetzen wollte (vgl. Titchener 1909). Die britische Journalistin Rebecca West führte dann den Begriff in ihrem 1928 erschie-nenen, faszinierenden Buch «Strange Necessity» in den allgemeinen Sprachgebrauch ein (vgl. West 1928, S. 102ff.), allerdings mit einer etwas zwiespältigen Konnotation und vorwiegend zur Beschreibung künstlerischer Prozesse. Als der US-amerikanische Psychologe Carl Rogers (1902-1987) dann Mitte letzten Jahrhunderts bei der jungen Generation Fähigkeiten bemerkte, die ihm neu erschie-nen und die er mit dem Wort «Empathy» bezeichnete, nahm er zunächst deren bedroh-liche Dimension für die Betroffenen wahr (vgl. z.B. Rogers 1975). In der wachsenden Sensibilität für die Gefühle anderer sah er eine aussergewöhnliche Herausforderung für die von ihm untersuchten jungen Menschen, die sie oft verunsicherte und über-forderte. Er erkannte aber sofort, dass diese neu entdeckte Seelenfähigkeit trotz ihrer Risiken bewusst ergriffen werden müsse, da sie künftig die entscheidende Grundlage jeder Beziehungsfähigkeit werden würde:«Wenn ich wahrhaft offen bin für die Art, wie eine andere Person das Leben erfährt, (…) wenn ich seine oder ihre Welt in meine hineinnehme, riskiere ich, das Leben in seiner oder ihrer Art zu sehen (…) und innerlich verändert zu werden (…) und wir alle schrecken vor Veränderung zurück. Da wir alle die Veränderung so sehr fürchten, ten-dieren wir dazu, die Welt der anderen Person nur auf unsere Art zu sehen, nicht in seiner oder ihrer. Dann analysieren und evaluieren wir sie. Das ist die menschliche Natur. Wir verstehen ihre Welt nicht. Aber wenn der Therapeut versteht, wie es sich wirklich anfühlt, in der Welt des anderen zu sein, ohne sie analysieren oder bewerten zu wollen, dann kann die Beziehung zwischen Therapeut und Klient in diesem Klima wirklich aufblühen» (Rogers 1957, S. 95ff.).Der empathische Seelenprozess, wie Rogers ihn beobachtete, bestand aus vier Schritten:

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- der Hinwendung zum Gegenüber- dem eigenen inneren Miterleben der Innenwelt des Gegenübers- der Rückkehr zu sich selbst- der Bewusstwerdung dessen, was im Miterleben der Innenwelt des Gegenübers wahrgenommen wurde.Ganz ähnlich beschrieb Rudolf Steiner ein halbes Jahrhundert zuvor den von ihm postulierten Ich-Sinn. Er charakterisierte dessen Wahrnehmungsart als vibrierendes Wechselspiel zwischen Öffnung und Abgrenzung. Wenn wir uns einem anderen Men-schen zuwenden, «schlafen» wir quasi in ihn hinein, während sein Inneres auf uns Eindruck macht. Dieses fremde Innenleben innerhalb unseres Selbst erlebt unsere eigene Innerlichkeit dann wie eine Attacke und grenzt sich dagegen ab. Anschlies-send erinnert sie sich an die Eindrücke, die das Innere des anderen Menschen in uns hinterlassen hat, wie an ein eigenes inneres Erlebnis (vgl. Steiner 1992, S. 125ff.).

Gedanken und Gefühle

Empathie umfasst sowohl Aspekte des Fühlens wie aber auch des Denkens. Die Fähigkeit, Vorstellungsperspektiven anderer Menschen innerlich übernehmen und nachvollziehen zu können, nennt die Kognitionswissenschaft «Theory of mind (ToM)». Spätestens ab dem dritten Lebensjahr erwartet man von einem Kind, dass es realisiert, inwiefern andere möglicherweise nicht dasselbe wissen wie es selbst. Die Entwicklung dieser Fähigkeit wird durch den sogenannten «False-Belief-Test» geprüft. Dieser Test schafft eine Situation, in der zwei Kinder z.B. mit einer Murmel spielen und zusehen, wie diese in einer Dose versteckt wird. Dann geht eines der Kinder hinaus. Das Testkind bleibt und verfolgt, wie ein Erwachsener die Murmel aus der Dose nimmt und in einen Kasten legt. Wenn das abwesende Kind wieder hereinkommt, erwartet ein Testkind mit guter ToM, dass das Kind in der Dose nach der Murmel suchen wird, denn es hat die Veränderung des Versteckes nicht gesehen. Kinder ohne ToM hingegen gehen von ihrem eigenen Wissen aus und erwarten, dass das Kind im Kasten suchen wird.In ganz besonderer Weise sind wir bei der Empathie aber mit der Welt unserer Gefühle konfrontiert, die uns in ihrer geheimnisvollen traumähnlichen Wirklichkeit an der Grenze des Bewusstseins noch viel grössere Rätsel aufgeben als unsere Gedanken (vgl. z.B. Steiner 1992). Wie von unseren Träumen tauchen auch von unseren Gefühlen nur minimale Anteile in unserem Tagesbewusstsein auf: der grösste Teil liegt wie bei einem Eisberg unter der Wasseroberfläche verborgen. Wir wissen nicht, woher sie wirk-lich kommen, und wie sie sich im nächsten Moment verändern werden. Wir können sie nicht willentlich hervorbringen, und wir haben keine Macht, sie zu halten, wenn sie sich

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verflüchtigen. Und wenn sie gegenwärtig sind, üben sie manchmal eine so gewaltige Wirkung in unserem Bewusstsein aus, dass sie unser Denken vollständig überwältigen.Unsere Gedankenwelt kann uns erscheinen wie Ideen, die immer schon vorher irgend-wie feststanden und derer wir uns, wie einer ausser uns bestehenden Gesetzmäs-sigkeit, aktuell nur gerade bewusst geworden sind. Mit unserem Willen andererseits scheint etwas Zukünftiges in uns hineinzuwirken.Unsere Gefühle dagegen entstehen stets im gegenwärtigen Augenblick unseres See-lenlebens. Das Spannungsfeld der Polaritäten von Anziehung und Abstossung, Sympa-thie und Antipathie, wie Rudolf Steiner es als Wesen des Astralleibes beschrieben hat, beherrscht ihre Welt. Die rätselhafte, dem eigentlichen Zeitablauf entgegengesetzte Pro-zessrichtung der Ereignisse in unserem Astralleib zeigt sich in der Erscheinungsform der Gefühle. In ihnen blicken wir auf geheimnisvolle Art durch die Augen unserer noch nicht gelebten Biographie auf unsere Vergangenheit. Sobald wir sie mit Gedanken durchdrin-gen wollen, verändern oder zerstören wir sie wie Traumbilder, die wir in Begriffe fassen wollen und die unter diesem Zugriff zerrinnen (Steiner 1987, S. 270ff.).Als leibliche Grundlage unserer Fähigkeit, mit Emotionen umzugehen, wird seit langem das Limbische System angesehen, ein Netzwerk von Nervenkernen in der Tiefe des Gehirns. Es befindet sich weit unterhalb des Grosshirns, dessen Funktion bekanntlich für unser Wachbewusstsein unverzichtbar ist, ganz benachbart den Hirn-strukturen, die unser Schlafen und Wachen steuern. Funktionsstörungen des Lim-bischen Systems haben schwerwiegende Folgen für unser Gefühlsleben. Organisch finden wir hier das von Steiner beschriebene Verhältnis unseres Gefühlslebens zum Bewusstsein abgebildet. Wenn während der Pubertät die Grosshirnrinde zunehmend (aber nie komplett) Einfluss gewinnt auf die hormongetriebenen limbischen Prozesse, können wir an den damit einhergehenden Veränderungen im Verhalten der Jugend-lichen regelmässig beobachten (vgl. Kalwitz 2014), wie die Bewusstseinskräfte unser Gefühlsleben schrittweise durchdringen.Welche Art Emotionalität hier gemeint ist, kann uns die Tatsache verdeutlichen, dass unsere Riechnerven und das Rhinencephalon (das Riechhirn) Teile des limbischen Systems sind. Geruchseindrücke erreichen das limbische System ungefiltert über nur einen Synapsensprung und lösen unmittelbar Gefühle in uns aus. Von unangenehmen Bildern oder Klängen können wir uns meist so weit distanzieren, dass sie keine uns überwältigenden Empfindungen auslösen. Sich gegen den Ekel zu wehren, den Gerü-che hervorrufen, ist dagegen unmöglich. Andererseits führen uns auch angenehme Gerüche oft unterhalb der Bewusstseinsschwelle an der Nase herum, angefangen bei Duftsprays in Gebrauchtwagen, die unsere Kauflust steigern sollen, bis hin zu sexuell anregenden Lockstoffen in Kosmetika.

Beiträge

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Die Entdeckung der Spiegelneuronen

Während die Funktionsweise des Limbischen Systems seit Langem im Wesentlichen bekannt ist, wurde 1991 von Giacomo Rizzolatti in Parma eine Entdeckung gemacht, die von so tiefgreifender Bedeutung ist, dass wir ihre Tragweite trotz der inzwischen schon sehr weitgehenden Interpretationen (vgl. z.B. Bauer 2006) wohl noch gar nicht absehen können. Rizzolatti hatte bei Versuchen mit einer speziellen Affenart (den Makaken) festgestellt, dass es in ihren für die Handlungsplanung wichtigen Rinden-feldern des Grosshirnmantels Nervenzellen gibt, die nicht nur dann Impulse abge-ben, wenn sie eine Handlung auslösen, sondern auch dann, wenn diese Handlung bei anderen beobachtet wird. Die Nervenzellen spiegeln diese Handlung sozusagen im Beobachter, und zwar in denselben Hirnarealen, in denen diese Handlung auch gesteuert werden würde. So entsteht im Beobachter ein Vorgang, den man als Simu-lation bezeichnen könnte (vgl. Rizzolatti & Craighero 2005).Die Arbeitsgruppe von Rizzolatti hatte noch nicht mit den bildgebenden Methoden der Funktionsscanner geforscht, deren bunte suggestive Bilder der Neurobiologie bald darauf ihren populärwissenschaftlichen Höhenflug beschert haben. Sie hatte in müh-samer Kleinarbeit einzelne Nervenzellen mit winzigen Nadeln punktiert und ihre elek-trischen Spannungsschwankungen abgeleitet. Die Ergebnisse waren daher nicht so anschaulich wie Hirnscans und ihre Auswertung entsprechend anspruchsvoller, aber die Schlussfolgerungen, die sie nahelegten, umso überzeugender. Die inzwischen als Buch vorliegende Darstellung ihres Forschungsweges ist ein faszinierender Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte (vgl. Rizzolatti & Sinigaglia 2008).Als Rizzolatti seine verblüffenden Entdeckungen 1991 veröffentlichen wollte, lehnte die Zeitschrift «Nature» die Arbeit ab, da ihr die Ergebnisse uninteressant erschienen (Rizzolatti & Fabbri-Destro 2010). Erst ein Jahr später erkannte man die Bedeutung dessen, was man da vor sich hatte (vgl. di Pellegrino et al. 1992). Die von Rizzolatti gefundenen Spiegelneuronen bei Affen befinden sich im «prämotorischen Cortex». In dieser Steuerungsebene werden komplette Handlungen codiert und an die nach-geschalteten Felder des motorischen Cortex weitergeleitet. Diese setzen die Stimula-tionsmuster dann in einzelne Bewegungen um und vermitteln die entsprechenden Impulse an die Muskeln. Wenn das Tier also bei einem ihm ähnlich lebenden Wesen eine Handlung beobachtete und spiegelte, konnte es sie in den Bedeutungszusam-menhang einordnen, den diese Handlung in seinem eigenen Lebenszusammenhang hätte, und sie damit quasi «verstehen». Das Beugen der Finger, obwohl stets vom glei-chen Bewegungsmuster ausgelöst, kann abhängig vom Kontext so z.B. «nach einer Nuss greifen» oder auch «kratzen» bedeuten. Dies konnten die Affen gut unterschei-

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den, weil es eben nicht die Bewegungs-, sondern die Handlungsebene im Gehirn ist, in der sich die beobachteten Spiegelneuronen befanden. Die Unterscheidung funkti-onierte sogar dann, wenn die Tiere den Ablauf der beobachteten Aktion nur zum Teil verfolgen konnten, indem einiges davon verdeckt geschah.

Spiegelneuronen beim Menschen

Spiegelneuronen im menschlichen Gehirn konnten bisher nur äusserst selten direkt nachgewiesen und erforscht werden, da die Punktion von Nervenzellen bei Menschen nur bei Gehirnoperationen möglich ist. Nach ersten Versuchen 2004 (vgl. Mukamel et al. 2010) ist dies 2010 dann allerdings dennoch gelungen, wenn auch nur im Frontal- und Temporallappen (vgl. Tremblay 2004). Die bei den Affen so intensiv untersuchten prämotorischen Hirnfelder waren den forschenden Neurochirurgen bisher nicht zugänglich. Die durch Punktion gewonnenen Messungen wurden dann mit Befunden im EEG2 und fNMR3 verglichen, was immerhin teilweise gelang (vgl. Press et al. 2012). Seitdem glaubt man, menschliche Spiegelneuronensysteme auch mit letzteren, ein-facher zu praktizierenden Methoden beobachten zu können. Diese Untersuchungen zeigen, dass beim Menschen der mit den Spiegelungen aufgerufene Hintergrund noch viel umfangreicher ist als bei den Affen. War es bei den Affen z.B. der Bedeutungszusammenhang «nach einer Nuss greifen», so ordnen Menschen die Handlung als «Hunger stillen» ein. Ja, mehr noch: die Unter-suchungen legen mehr und mehr nahe, dass es bei Menschen Interpretationsfelder in den Scheitel- und Schläfenlappen gibt, die durch Verschaltungen mit dem limbischen System in den Spiegelungen auch die emotionale Bedeutung der Handlungen wahr-nehmen. Wenn wir ein z.B. furchterfülltes Gesicht sehen, werden Spiegelneuronen in all denjenigen Zentren aktiviert, mit denen wir selbst eine angstvolle Mimik codieren würden. Und an diesem neurologischen Abbild «erkennen» die genannten «interpre-tierenden» Spiegelsysteme, welches Gefühl hinter diesen mimischen Bewegungen steckt, weil sie selbst diese Muster aktivieren würden, wenn wir uns fürchteten. Zwar wurden bisher valide Untersuchungen fast nur an elementaren Gefühlen wie Ekel und Furcht durchgeführt (vgl. Wicker et al. 2003). Doch schon jetzt spricht vieles dafür, dass wir in der Funktion der Spiegelsysteme die organische Grundlage der Empathie-fähigkeit vor uns haben. Die Spiegelung vollzieht sich zutiefst unbewusst erst das Ergebnis, die emotionale oder gedankliche Deutung der Wahrnehmung, kann uns bewusst werden, wenn wir darauf achten. Sobald wir allerdings versuchen, die intui-tiv gedeuteten Signale bewusst zu interpretieren, geraten wir auch in Unsicherheiten und Zweifel, so wie Rudolf Steiner es für Gefühle beschrieb, die ins Bewusstsein der Vorstellungswelt gehoben werden (vgl. Steiner 1987).

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Spiegelneuronen und Nachahmung

Die Spiegelung ruft beim Beobachter immer eine latente Bereitschaft zur Spie-gelhandlung hervor, die sich in der Muskelspannung nachweisen lässt (vgl. Ulich 1974). Manchmal ist diese so intensiv, dass die Imitation tatsächlich sichtbar auf-tritt. Beobachten Sie einmal jemanden, der sieht, wie ein anderer sich massiv ekelt: fast immer hat man den Eindruck, auch der Beobachter selbst ist zutiefst angewi-dert. Auch in feineren sozialen Prozessen kann diese Resonanz auftreten, indem die gespiegelte Mimik selbst wieder zum Ausgangspunkt einer Reaktion beim Gegenüber wird. Dadurch können sich Resonanzen hochschaukeln wie bei der berühmten Brücke von Tacoma Narrows,4 die schliesslich spektakulär auseinander gerissen wurde. Bei Kindern ist diese bis in eine eigene Handlung durchschlagende Spiegelung allgegen-wärtig, sie bildet die Grundlage der Nachahmung als Voraussetzung für das Lernen. Bei Erwachsenen ist die Tendenz zur Handlungsimitation von Mensch zu Mensch und auch situationsabhängig unterschiedlich intensiv ausgebildet. In einer starken Ausprägung kann sie ebenso zum Problem werden, wie andererseits eine zu geringe Spiegelungsintensität.

Störungen der Spiegelsysteme

Forschungen legen Zusammenhänge zwischen einer Störung der Spiegelsysteme und den Symptomen des Autismus (vgl. University Of California 2005 & Carlisle 2007) sowie mangelndem Nachahmungslernen bei Kindern (Iacoboni & Dapretto 2006) nahe. Allerdings gibt es hier noch sehr viel mehr Klärungsbedarf, als es manche, eher von Phantasie geprägte populäre Veröffentlichungen erkennen lassen. Beispielsweise ist die Funktion der Spiegelneurone für die Makaken selbst tatsächlich noch völlig ungeklärt, da diese überhaupt niemals durch Nachahmung lernen (vgl. Ferrari et al. 2006). Und wenngleich auch die Schlussfolgerung verlockend nahe liegt, reichen die Untersuchungen für eine gültige Herleitung des Autismus aus Funktionsstörungen der Spiegelneuronen noch längst nicht aus (vgl. Kilner & Lemon 2013). Dies liegt vor allem daran, dass es beim Menschen weiterhin kaum möglich ist, Spiegelneurone direkt zu beobachten und die Grundlage aller Befunde daher unsicher bleibt (Dinstein et al. 2007).Trotz offener Fragen bleibt ein Blick auf den Stand der Forschung lohnenswert. Wir verstehen die seelische Innenseite des Bewusstseins umso besser, je mehr wir die leiblichen Grundlagen kennenlernen, die unser Seelenleben ermöglichen. Dies illus-triert das folgende Zitat Rudolf Steiners, in dem er auf die Bedeutung des Studiums

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leiblicher Vorgänge für das Verständnis des Seelisch-Geistigen hinweist: «Wie aber kommt man zu einem solchen Verständnis? Zu einem solchen Verständnis kommt man eben dadurch, dass man ein grösseres und immer grösseres Verständnis entwickelt für das Mysterium der menschlichen Organisation überhaupt» (Steiner 1995, S. 35).So kann sich uns viel vom Geheimnis der Entstehung unseres irdischen Wachbewusst-seins enthüllen, wenn wir tiefer in die Nervenfunktionen und ihre Stoffwechselgesten eintauchen (vgl. Schad 2014). Im Hinblick auf ein Verständnis der Wirkungsweisen und Entwicklungsbedingungen von Empathie ergeben sich viele Hinweise durch eine Betrachtung ihrer organischen Grundlagen. Rudolf Steiner führt über das Wahrneh-mungsorgan des Ich-Sinnes aus, es sei «so gestaltet, dass sein Ausgangspunkt im Haupte liegt, aber das ganze Gebiet des übrigen Leibes, insofern es vom Haupte abhängig ist, Organ bildet für die Ich-Wahrnehmung des anderen. Wirklich, der ganze Mensch als Wahrnehmungsorgan gefasst, insofern er hier sinnlich-physisch gestaltet ist, ist Wahrnehmungsorgan für das Ich des anderen. Dies ist das grösste Wahrneh-mungsorgan, das wir haben, und wir sind selbst als physischer Mensch das grösste Wahrnehmungsorgan, das wir haben» (Steiner 1992, S. 240).Wenn Kilner und Lemon zusammenfassend über die Erkenntnisse aus der Spiegel-neuronen-Forschung schreiben, an ihnen würde deutlich, dass wir «für das Verständ-nis unseres Gegenübers unser gesamtes zentrales und peripheres Bewegungssystem benötigen» (Kilner & Lemon 2013: Übersetzung durch den Verfasser), so kommt das der Aussage Steiners vor 90 Jahren schon ziemlich nahe. Die Beziehung der Spiegelsysteme zum Bewusstsein sowie zur Imitation können uns darüber hinaus auf Resonanzphänomene zwischen Gehirn, Körper und Umwelt auf-merksam machen (vgl. Scheurle 2013), die auch im Rahmen der Forschungen zum Konzept des «Embodiment» in jüngster Zeit immer stärker in den Fokus genommen werden (vgl. Fuchs & Schlimme 2009).Macht man sich bewusst, was Rudolf Steiner (vgl. Steiner 1960, S. 120ff.) und Karl König (vgl. König 1978) noch ohne Kenntnis der Spiegelneuronen zur Bedeutung der Bewegung als «Nachahmung der Umwelt» und somit als Grundlage, die Welt zu ver-stehen erarbeitet haben, und berücksichtigt man das rätselhafte Postulat Steiners, es gäbe eigentlich keine motorischen, sondern nur sensitive Nerven, so könnte sich aus der Entdeckung der Spiegelneuronen noch eine ganz andere Forschungsfrage ergeben. Wenn sich hier die funktionelle Trennung zwischen Wahrnehmung und Motorik aufhebt, indem die Spiegelneuronen an beiden Prozessen ausschlaggebend beteiligt sind, wäre angesichts der beschriebenen Phänomene auch neurobiologisch eine fundamentale Neubewertung der Beziehung zwischen Bewegung und Bewusstsein vorstellbar.

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Anmerkungen(1) Siehe z.B. Steiner R. (1969). Der Tod als Lebenswandlung, GA 182. S.138-145, Rudolf Steiner Verlag / Dornach ders. (1969). Die soziale Frage als Bewusstseinsfrage, GA 190. S.55, Rudolf Steiner Verlag / Dornach ders. (1968). Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben, GA 184, S 59, Rudolf Steiner Verlag / Dornach.(2) Elektro-Enzephalogramm: Ableitung von Hirnstromkurven.(3) funktionelle Nuklear-Magnet-Resonanz: Hirnscans, die die Resonanz atomarer Energiezustände auf den Einfluss starker Magnetfelder messen und daraus die Aktivität einzelner Hirnareale berech-nen sowie bildlich darstellen können.(4) «Gallopin Gertie»: 1940 geriet diese Brücke über den Puget Sound durch Wind in eine solch heftige Resonanzschwingung, dass sie nach 45 Minuten peitschenartiger Wellenbewegung zerbrach und einstürzte.

LiteraturBauer, J. (2006): Warum ich fühle, was du fühlst. Hoffmann und Campe, Hamburg.Carlisle, P.C. (2007): Mirror neuron system and autism. In: Progress in Autism Research, Chapter 6, 151-166.Diamond, R.; Carey, S.; Back, K. J. (1983): Genetic influences on the development of spatial skills during early adolescence. Cognition, 13 (2), 167-185.Dinstein, I.; Hasson, U.; Rubin, N.; Heeger, D.J. (2007): Brain areas selective for both observed and executed movements. J. Neurophysiol. 98, S. 1415–1427.di Pellegrino, G. et al.(1992): Understanding motor events: a neurophysiological study. Expermental Brain Research. Band 91, S. 176–180.Ferrari, P. F.; Visalberghi, E.; Paukner, A.; Fogassi, L.; Ruggiero, A.; Suomi, SJ. et al.(2006): «Neonatal Imitation in Rhesus Macaques». PLoS Biology 4 (9): S. 302-312.Fuchs, T.; Schlimme, J.; (2009): Embodiment and psychopathology: a phenomenological perspec-tive. Current Opinion in Psychiatry: Volume 22 – Issue 6 – S. 570–575.Iacoboni, M.; Dapretto, M.; (2006): The mirror neuron system and the consequences of its dysfunc-tion. Nature Reviews Neuroscience 7, S. 942-951.Journal of Consulting Psychology, 21, S. 95-103. Kalwitz, B. (2008): Ich-Organisation und Wesensglieder. In: Grimm, R. & Kaschubowski, G. (Hg.) Kom-pendium anthroposophischer Heilpädagogik (S. 152-183). Ernst Reinhardt Verlag, München-Basel.

Beiträge

Dr. med. Bernd Kalwitz, Jahrgang 1956, langjährige Einrichtungs- und Seminarleitung der sozialtherapeutischen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Vogthof in Ammersbek bei Hamburg, heute stellvertretende Schulleitung der Fachschule Nord in Kiel und Dozent an der Fachhochschule Ottersberg; Schularzt der Rudolf Steiner Schule Bergstedt/Hamburg.

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Das Wunder des anderen

Sebastian Jüngel im Gespräch mit Michael Dackweiler

phie bei Frank Teichmann, besuchte das Pries-terseminar der Christengemeinschaft in Stuttgart und wurde anthroposophischer Sozialtherapeut. Seine erworbenen Fähigkeiten brachte er in Funktionen wie Geschäftsführung, Personal-arbeit, Gestaltung des religiösen Lebens und Selbstverwaltung ein. Er wurde Dozent für Heiler-ziehungspfleger und engagierte sich in nationa-len und internationalen Gremien der anthropo-sophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie. 21 Jahre lang führte er mit seiner Frau eine Grossfamilie – mit drei eigenen Kindern, zehn Menschen mit Behinderung, Mitarbeitenden und Auszubildenden. «Ich wusste nicht, dass damit ein Fruchtkorb entsteht», sagt er uner-wartet bildhaft. «Ich habe viel Blut und Wasser geschwitzt», sagt er auch. Nach 33 Jahren in der anthroposophischen Sozialtherapie bündelt er seit 2012 seine Erfahrungen im Coachingange-bot der Iona-Werkstatt, damit andere lernen, eine gute Beziehung zu sich selbst zu finden und um sich das seelische Rüstzeug für den Ar-beitsalltag anzueignen.

Das Symptom kann Anlass zur tieferen Begeg-nung sein

Wie blickt er auf brennende Fragen in der anth-roposophischen Heilpädagogik und Sozialthe-rapie? Beginnen wir mit der Inklusion. Michael

Wieviel Individualität will sich eine Gesell-schaft leisten, wieviel Individualität meines Gegenübers halte ich selber aus? So könnte ein Fazit des Gesprächs mit Michael Dackweiler ausfallen. Denn gefragt, was für ihn die zurzeit grössten Probleme in der anthroposophischen Sozialtherapie sind, antwortet er aus drei Blick-richtungen: Problem und Chance zugleich seien seit je die «Begegnung mit der unaussprechli-chen Andersheit des so besonders anderen», durch äussere Vorgaben «Dienstleistungspake-te» schnüren zu müssen und die eigene «innere Sicherheit». Doch selbst die Last von aussen weiss Dackweiler noch in eine Perspektive zu verwandeln: «Eine wirkliche Professionalisie-rung» – wie sie das Schnüren von Dienstleis-tungspaketen fordert – «führt mich zu den Sym-ptomen», also näher an den anderen Menschen heran, wenn ich nicht «in meinem Problem, im Dienstleistungspaket steckenbleibe». Das Gespräch über die Situation und die Aus-sichten der anthroposophischen Sozialtherapie zeigt also, wie wichtig das eigene Verhältnis zu den Aufgaben der Zeit ist. 1953 in Bad Godes-berg geboren, wurde Michael Dackweiler in den Dorfgemeinschaften Lehenhof und Lautenbach gross; später, 1994, baute er die Dorfgemein-schaft Tennental mit auf. Auf dem Weg dorthin wurde er Krankenpfleger, studierte Anthroposo-

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Dackweiler bewertet das Anliegen absolut po-sitiv. Werde der Gedanke jedoch ideologisiert, werde Inklusion nur für ausgewählte Menschen («Vorzeigebehinderte») angewendet, dann kön-ne sie nicht funktionieren, zumal die Gesellschaft nicht darauf vorbereitet sei – «das ist ein Jahr-hundertprojekt». Leicht werden Kinder und Ju-gendliche mit Behinderung in Schulen gemobbt, wehrt ein Arbeitgeber ab, dass er niemanden einstelle, der weniger leistet. Es brauche also für eine wirklich und breit gelebte Inklusion einen «kompletten gesellschaftlichen Umschwung». Die UN-Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen treibe diesen not-wendigen Paradigmenwechsel an.Und die Akademisierung der Ausbildung? «Hier ist viel geleistet worden – recht spät, aber end-lich angegangen.» Er schätzt den Einsatz von Rüdiger Grimm und die von ihm mit herausge-gebene Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie. «Wir sind auf dem Weg», so Dackweiler, «uns als Men-schen zu erleben, die ein Angebot machen, eine Frage formulieren», statt, wie er selbst einst, davon auszugehen, ohnehin das richtige Kon-zept zu haben. Bei allem steht für Dackweiler eines im Mittelpunkt: das Symptom. Es ist der Anlass, genauer hinzuschauen und mit Hilfe der Anthroposophie tiefer nachzuspüren: seinem Wesen und dem des Symptomträgers und «was es bedeutet, dass ich ihm gegenüberstehe». Da-mit ist eine grosse Lebensdramatik verbunden: «Die Not, die durch das Leben mit Symptomen besteht, ist ausserordentlich gross, sie mitzu-tragen, zu wenden, kein Kinderspiel.»

Raum für individuelle Entwicklung

Wie sieht er den Generationswechsel? Vorsich-tig und zuversichtlich zugleich. Die nächste Generation solle Räume vorfinden, in denen sie sich frei und möglichst authentisch bewe-gen könne. «Nicht: Wir sagen euch, wie man Rudolf Steiner verstehen kann.» Doch er scheut

sich auch nicht, dem Nachwuchs nahezulegen: «Sucht eine lebendige Beziehung zu Rudolf Stei-ner; lest ihn, nehmt ihn aber nicht historisch.» Der Bezugspunkt ist das eigene Erleben: «Nicht wissen, was man über den Engel wissen kann, sondern mit dem Engel in eine Beziehung tre-ten.» Offen sein für das, «was kommt». Die Metapher des Raums wählt Dackweiler auch für die Iona-Werkstatt: «Sie wurde eingerichtet, um Raum zu schaffen. Raum für individuelle Ent-wicklung und soziale Kompetenz.» Denn die Arbeit in der Sozialtherapie hänge nicht zuletzt davon ab, «Berge mehr zu lieben als Flachlandradeln» und «Probleme zu Chancen» machen zu wollen.Michael Dackweiler nimmt bei all seinen Aus-führungen kein Blatt vor den Mund und bekräf-tigt, dass er mir nichts sage, was ich nicht auch zitieren könne. Ich erlebe, wie ihm wichtig ist, dass eine Begegnung von Mensch zu Mensch stattfindet, ohne Filter und als Sozialtherapeut auf Grundlage der Selbstschulung. Damit hat er den Bogen zum Anfang gespannt: Immer geht es darum, dem Wunder des anderen Raum zu schaffen und es zuzulassen.

Sebastian Jüngel ist freier Journalist und Redak-teur der Wochenschrift ‹Das Goetheanum›

Michael Dackweiler in der Gemeinschaft AltenschlirfFoto: Ulrike Härtel

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Kinder psychisch kranker Eltern

Erfahrungen aus der heilpädagogischen Tagesklinik der Kinder- und Jugend-psychiatrie

Von Karel Zimmermann

In teilstationären heilpädagogischen Einrichtungen und kinderpsychiat-rischen Tageskliniken haben wir vor allem die Versorgung der Kinder und Jugendlichen im Blick. Ihre Eltern sind unsere Auftragsgeber, wir sind auf eine gute Zusammenarbeit angewiesen. Zuweilen ist diese Zusammenarbeit sehr schwierig, es gibt Entwicklungshemmnisse, die sich nur mühsam identifizie-ren und benennen lassen. Dies ist besonders der Fall, wenn ein oder beide Elternteile unter einer psychischen Erkrankung leiden. Hierbei handelt es sich nicht um seltene Ausnahmen:«In kinder- und jugendpsychiatrischen Inanspruchnahmepopulationen lebt bis zur Hälfte der psychisch kranken Kinder beziehungsweise Jugendlichen bei einem psychisch kranken Elternteil» (Mattejat 2008, S. 413). Es stellt sich daher die Frage, wie wir die sich daraus ergebenen Probleme der Kinder besser verstehen können, und wie wir auch die Eltern wirksam unter-stützen können, die in ihrer Elternschaft offensichtlich vor grossen Schwierig-keiten stehen. Kinder psychisch kranker Eltern wachsen von der Konzeption an dauerhaft in einer besonderen Lebensumgebung auf. Die Eltern sind die prägenden Per-sonen, von denen die Kinder Denken, Fühlen und Wollen lernen. Sie unterste-hen, wie alle Kinder, dem von Steiner formulierten «pädagogischen Gesetz», über das er im Heilpädagogischen Kurs u. a. sagt: «Das eigene Ich des Erzie-hers muss auf den Astralleib des Kindes wirken können. Und jetzt werden Sie innerlich sogar erschrecken, denn hier steht das Geistselbst des Erziehers, von dem Sie glauben werden, dass es nicht entwickelt ist. Das muss auf das Ich des Kindes wirken. Aber das Gesetz ist so. Und ich werde Ihnen zeigen, inwiefern tatsächlich nicht bloss im Idealerzieher, sondern oftmals im aller-

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schlechtesten Erzieher das Geistselbst des Erziehers, das ihm selber gar nicht zum Bewusstsein kommt, auf das Ich des Kindes wirkt» (Steiner 2001, S. 34). Auch psy-chisch kranke Eltern können «gute Eltern» sein, wenn sie offen mit ihrer Erkrankung umgehen und für ausreichend Unterstützung für sich und ihre Familie sorgen. Dafür brauchen sie aber auch das Verständnis ihrer Umwelt, besonders ihrer Erziehungs-partner aus dem professionellen Bereich. In diesem Artikel beschäftige ich mich mit folgenden Fragen: Wie ist die Situation von Kindern psychisch kranker Eltern? Welche Behandlung und Unterstützung brauchen sie? Was muss die Elternarbeit leisten? Darüber hinaus stelle ich «Kinderfachbücher» und Elterntrainings vor.

Wie wirkt sich die psychische Erkrankung der Eltern auf die Bindung und Eltern-Kind-Interaktion aus?

Für die Entwicklung des Selbst des Kindes sind die frühen Beziehungserfahrungen mit den Eltern prägend. Der von Kohut 1973 postulierte «Glanz im Auge der Mutter» als notwendige Entwicklungsvoraussetzung ist ein Bild für die Bedingungen, unter denen eine sichere Bindung an die Eltern entstehen kann. Im Sinne der Bindungstheorie von Bowlby (1958) baut der Säugling im ersten Lebensjahr eine starke emotionale Bin-dung zur Hauptbezugsperson auf, welche ihm in Bedrohungssituationen Sicherheit gibt. Von diesem «sicheren emotionalen Hafen» aus kann er explorieren und sich die Umwelt zu eigen machen. Die Untersuchungen von Ainsworth (1978) zur Qualität der «Feinfühligkeit» zeigten zudem, dass Säuglinge sich an eine Person binden, die ihre Signale ohne Verzerrung durch eigene Bedürfnisse oder Wünsche richtig interpretie-ren und prompt beantworten kann. Durch die soziale Interaktion mit den Eltern lernen Kinder ab den ersten Lebensmonaten, Affekte zu unterscheiden, zu verstehen und zu kontrollieren sowie die eigene Aufmerk-samkeit zu steuern, bis sie, meist im vierten Lebensjahr, die Fähigkeit der «Mentalisie-rung» grundlegend erworben haben, also die «Fähigkeit, das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer Menschen durch Zuschreibung mentaler Zustände zu interpretieren» (Fonagy et al. 2004). Zugewandte und erziehungsfähige Eltern vermitteln ihren Kindern diese Fähigkeiten, indem sie deren affektive Äusserungen «spiegeln», also entgegen-nehmen, kommentieren, in Mimik, Gestik und Handlungen umsetzen und ihrem Kind verbale Ausdrucksmöglichkeiten für Gefühle vermitteln. Kinder lernen so, dass in ihnen selbst wie in anderen Menschen mentale Vorgänge stattfinden, die nicht unmittelbar mit der beobachtbaren Wirklichkeit deckungsgleich sind, aber die Grundlage ihres Han-delns darstellen. Auf diese Weise können Kinder z. B. «so tun als ob» spielen, zwischen Vorstellung und Wirklichkeit unterscheiden, bei anderen Personen falsche Ansichten identifizieren und die eigenen Emotionen regulieren lernen.

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Eltern mit einer psychischen Erkrankung haben oft Schwierigkeiten, diese Entwick-lungsprozesse bei ihren Kindern in einer produktiven Weise zu stimulieren. Sie lassen emotionale Verfügbarkeit und Empathie («Feinfühligkeit») vermissen, reagie-ren verzögert oder gar nicht auf kindliche Signale. Dabei kann das passive Verhalten mit überfürsorglichem oder bevormundendem Verhalten verknüpft sein. Bei vielen Eltern mit psychischen Erkrankungen ist das Verhalten «vielmehr durch ihre eige-nen Bedürfnisse gesteuert und die Eltern äussern sich den Kindern gegenüber ver-mehrt negativ und feindselig bzw. abweisend und entwertend» (Lenz 2012, S. 16). Eingeschränkte Interaktion und reduzierter sprachlicher Austausch verzögern die Entwicklung der «Mentalisierungsfähigkeiten». Kinder, die kaum angeleitet werden, ihre Emotionen zu erkennen, zu benennen und zu kontrollieren, können Verhaltens-muster mit ähnlichen Einschränkungen im Sozialverhalten entwickeln, wie sie bei Kindern mit Autismus auftreten. Insgesamt ist die häusliche Atmosphäre der betroffenen Familien gekennzeichnet durch geringeren Schutz, weniger Hülle und Begrenzung sowie einem Mangel an Voraussagbarkeit und Sicherheit. «Im Krankheitsverlauf kann es darüber hinaus zu stark wechselndem und damit für die Kinder unberechenbarem Interaktionsverhalten der Eltern kommen» (Lenz 2012, S. 17).

Das Erleben der Kinder

Kinder halten in den ersten Jahren, eigentlich bis zur Grundschulzeit, ihre Eltern und die Bedingungen ihres Aufwachsens selbstverständlich für «normal» – ihnen fehlt der Vergleich, ausserdem sind die Kinder ihren Eltern gegenüber loyal. Sie lernen ihr Denken, Fühlen und Handeln ja vor allem durch ihre Eltern und müssen sich wegen dieser Abhängigkeit auf diese einrichten. Wenn sie entdecken, dass ihre Eltern oder ein Elternteil anders sind, suchen sie nach Erklärungen. Eltern haben die Möglichkeit, ihre Kinder über ihre eigene psychische Erkrankung aufzuklären. «Eine alters- und entwicklungsgemässe Aufklärung der Kinder über die Erkrankung und Behandlung des Elternteils stellt einen der wichtigsten Faktoren dar, um Kinder stark zu machen» (Lenz 2012 S. 104). In ihrem Elterntraining formulieren Miriam Müller und Olga Propp die Bedeutung der Kommunikation über die Erkrankung innerhalb der Familie in sehr deutlicher Weise:«Warum ist es gut, mit meinem Kind über meine Krankheit zu sprechen? Eine ver-ständliche und dem Alter angemessene Krankheitsinformation stärkt Kinder und fördert ihre Widerstandskraft. Sie können sich krankheitsbedingte Belastungen und Situationen besser erklären und können ein Verständnis dafür entwickeln, was in der Familie und bei dem erkrankten Elternteil vor sich geht» (Müller/Propp 2011, S. 7).

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Viele Eltern möchten dies aber nicht oder sind aufgrund ihrer Erkrankung nicht in der Lage, offen darüber zu sprechen. Die wahrnehmbaren Unterschiede im Verhalten ihrer Eltern im Vergleich zu anderen führen dann bei den Kindern zu einer Desorientie-rung. Sie bemerken die Besonderheiten, bekommen aber keine Erklärung. Oft fühlen sich die Kinder für die Schwierigkeiten in der Familie verantwortlich und entwickeln Schuldgefühle. Eine Aufklärung kann hier «… sehr entlastend sein und Schuldgefühle reduzieren, da Kinder häufig dazu neigen, Symptome und Situationen, für die sie keine Erklärung haben, auf sich zu beziehen» (Müller/Propp 2011, S. 7). Wenn die Kinder beängstigende und beschämende Zustände in der Familie erleben und diese nicht einordnen können, entwickeln sie möglicherweise ängstliche und depressive Verarbeitungsmechanismen. Fragen die Kinder nach und erhalten explizit oder nur in Andeutungen ein Verbot, das Thema weiter anzusprechen, muss man von einer Tabuisierung sprechen. Die Kinder, die loyal zu ihren Eltern sein möchten, führen dieses «Schweigegebot» dann unhinterfragt aus. Dies führt zunächst vordergründig zu einer Entlastung, stört aber die Entwicklung des Kohärenzgefühls: «Eine angemes-sene Aufklärung über die Erkrankung kann Kinder ausserdem davor schützen, dass diffuse Krankheitsvorstellungen bei ihnen Angst, Verunsicherung und Hoffnungslo-sigkeit auslösen. Kinder, die insgesamt ein Vertrauen darin entwickeln, dass Dinge, die in ihrer Umwelt passieren, vorhersehbar und vor allem erklärbar sind, entwickeln ein Kohärenzgefühl, was als wesentlicher Faktor für die psychische Gesundheit von Kindern verstanden wird» (Müller/Propp 2011, S. 7). Die Beachtung der «Schweige-gebote» lässt das Kind in einer isolierten Position in der Familie, aber auch die Familie als Ganzes muss sich zur Wahrung des «Familiengeheimnisses» von anderen Familien abschotten. Offene Kommunikation und die Pflege sozialer Beziehungen als Lernmög-lichkeit für das Kind werden stark eingeschränkt. Gleichzeitig findet das Kind keine Entlastung für seine seelischen Nöte – eine Situation ständiger Überforderung. In der Folge können Trauer und Wut das Verhalten des Kindes prägen, es zeigt «Verhaltens-störungen» und wird dann vielleicht als sogenannter «Indexpatient», stellvertretend für seine Familie, einer kinderpsychologischen Behandlung zugeführt, als der Teil der Familie, der sich am wenigsten dagegen wehren kann.

Parentifizierung

Eine Familie mit einem psychisch kranken Elternteil ist eine Familie, in der die Erwach-senen besondere Bedürfnisse haben, z. B. in hohem Masse nach Verständnis, Schutz und Entlastung. Diese können oft nicht angemessen auf der Erwachsenenebene befriedigt werden. Durch die Isolation der Familie ist der Weg, Hilfe von aussen zu suchen, verstellt; es entstehen Versorgungslücken, die auf der Kindesebene signali-

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siert werden. Das Kind lernt somit die Lücke auszufüllen, die von den Eltern gelassen wird. Dies wird vom Kind nicht unbedingt als Bedrohung erlebt, sondern kann auch durchaus für seinen Selbstwert bedeutsam sein. Es kann jedoch dadurch weniger Kind sein, möglicherweise wird es in Form einer Rollenumkehr zum Versorger seiner Eltern. Es sieht seine Eltern dann nicht mehr als Beschützer und Vorbilder, sondern als (problematische) Partner. Das Kind lernt, sich seine Versorgungs- und Lernumgebung selber zu gestalten und entwickelt eine «Pseudoautonomie», die ihm die vertrauens-volle Zusammenarbeit mit erwachsenen Autoritäten ausserhalb des Familiensystems, mit Lehrer(innen) und Betreuer(innen) stark erschwert. Neben der Situation, in der ein Kind auf Kosten seiner eigenen Entwicklung für die materiellen Bedürfnisse der Familie Energie aufbringen muss, gibt es noch eine schwerer wiegende Form der Einbindung. Dann wird das Kind zum Beruhiger und Aufmunterer, zum Tröster und Gesprächspartner für reine Erwachsenenbelange, die seine emotionalen Verarbei-tungsmöglichkeiten überfordern.

Sozioökonomische Benachteiligung

Die Kinder leiden, zumindest im statistischen Mittel, unter einer sozioökonomischen Benachteiligung. Ein psychisch krankes Elternteil kann die Familie meist nicht unein-geschränkt versorgen – emotional nicht, aber auch finanziell nicht. Das Leiden unter einer psychischen Erkrankung bringt es häufig mit sich, dass die Eltern aufgrund der geringeren Leistungsfähigkeit einen niedrigeren Ausbildungs- und Berufsstatus erlan-gen. Häufigere Ausfallzeiten bedrohen u. a. den Arbeitsplatz. In der Folge bedeutet dies für die Familie, dass sie im Durchschnitt stärker von Armut bedroht ist. Dies wirkt sich auf die Wohnverhältnisse aus, die geringere Spiel-, Lern- und Rückzugsmög-lichkeiten bieten, in einer Wohngegend mit einer wenig förderlichen Sozialstruktur. Zudem setzt die mangelnde Ausstattung an Kleidung, Spielzeug und Schulmaterial die Kinder der Diskriminierung und Ausgrenzung in der Gleichaltrigengruppe aus.

Vulnerabilität als Summe der Risiko-Faktoren

Die Anhäufung von Faktoren, die den Selbstwert der Kinder herabsetzen und Risiken für ihre Entwicklung bedeuten, führt zu einer Verletzlichkeit und Gefährdung, einer sogenannten «erhöhten Vulnerabilität». Hier wirken genetische Faktoren und Umwelt-faktoren zusammen. Diese erhöhte Gefährdung bezieht sich auf die Wahrscheinlich-keit, selbst eine psychische Störung zu entwickeln. Aber hinzu kommt, dass Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil durch weitere Faktoren gefährdet sind. Bei ihnen besteht eine «… zwei bis fünffach erhöhte Wahrscheinlichkeit für Vernachlässi-gung, Misshandlung und sexuellen Missbrauch» (Mattejat 2008, S. 415).

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Wie bewältigen Kinder psychisch kranker Eltern diese Situation?

Wir erleben bei Kindern psychisch kranker Eltern verschiedene sog. Coping-, d.h. Bewältigungsstrategien. Abhängig von den Fähigkeiten und Möglichkeiten des Kindes, seinen «Ressourcen», werden unterschiedliche Strategien gewählt (nach Zobel 2006): Es gibt sogenannte resiliente Kinder, die trotz der Erkrankung ihrer Eltern selbst gesund bleiben, sich zu helfen wissen und Lebensfreude entwickeln. Diesen Kindern gelingt eine Kompensation, wir werden sie in unserem Arbeitsfeld kaum kennen lernen. Wie haben sie das geschafft? Sie sehen ihre schwierigen Lebens- umstände als Herausforderung und die Verantwortung für die Belastungen bei den Erwachsenen, fühlen sich also nicht schuldig für die familiären Schwierigkeiten. Diese Kinder nutzen häufig Humor als Selbstdistanzierung und entwickeln ein eigenstän-diges tragfähiges Wertesystem. Sie stützen sich auf die positive Rückmeldung aus ihrem weiteren, vor allem dem schulischen Umfeld, zeigen sich dort kreativ, initiativ und nutzen ihre Talente. Um sich zu stabilisieren, etablieren sie Hobbys und Gemein-schaftsaktivitäten mit Gleichaltrigen und pflegen damit ihre soziale Einbindung. Sie haben oft einen guten Freund oder eine gute Freundin, die sie entlasten und verfügen über ein familiäres und ausserfamiliäres Hilfenetzwerk. Ein wichtiger Ort für Selbst-bestätigung kann die Schule sein. Dort fühlen sich die Kinder oft wohl und akzeptiert. Unsere Leistungen werden in Anspruch genommen, wenn die Bemühungen der Kinder fehllaufen und das familiäre System die Kinder nicht mehr trägt. Sie fallen in ihren Rollen z.B. als «der Held/die Heldin» auf, der oder die alles versteht und alle Erwar-tungen erfüllt. Eine Behandlung wird dann in Anspruch genommen, wenn sich die Kräfte des Kindes verbraucht haben und es eine Art «Erschöpfungsdepression» entwickelt. Dann gibt es auch «den Sündenbock», der sich und andere in Schwierigkeiten bringt, um intensiven Kontakt und Aufmerksamkeit zu erleben und die Situation unter Kon-trolle zu bringen. Sie begegnen uns als «das verlorene Kind», welches durch seine Hilflosigkeit uns engagierte Helfer auf den Plan ruft, «den Clown», der kaum Verbind-lichkeit und Nähe ertragen kann und alles lächerlich finden und Erwachsene entwer-ten muss, wie auch «den Friedensstifter», der Konflikte nicht aushält und zwischen allen vermittelt.

Welche Behandlung brauchen die Kinder?

Da es den Kindern psychisch kranker Eltern verständlicherweise schwerfällt, die bisher erlernten Strategien beiseite zu lassen und zu Institutionen und ihren Mitarbeiter(inne)n Beziehung und Vertrauen aufzubauen, braucht es Zeit, Geschick und Beharrlichkeit auf Seiten der sie betreuenden Erwachsenen. Eine innere Haltung

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ist notwendig, die im Bewusstsein der Logik und Notwendigkeit der sehr herausfor-dernden Verhaltensweisen Ruhe und Gelassenheit bewahrt, wie Rudolf Steiner sie im Heilpädagogischen Kurs beschreibt: «… solange man damit Sympathie oder Antipa-thie hat, wenn es in gelindem Masse auftritt, solange man in Erregung kommen kann dabei, so lange kann man eigentlich noch nicht wirksam erziehen. Erst dann, wenn man es so weit gebracht hat, dass einem eine solche Erscheinung zum objektiven Bild wird, dass man sie mit einer gewissen Gelassenheit als objektives Bild nimmt und nichts anderes dafür empfindet als Mitleid, dann ist die im astralischen Leib befindliche Seelenverfassung da, die in richtiger Weise den Erzieher neben das Kind hinstellt» (Steiner 2001, S. 35). Entsprechend bildet schon die Gestaltung des Grup-penalltags die grundlegende heilpädagogische Massnahme, die dem Kind Sicherheit, Kontrollierbarkeit, Normalität und Beziehung vermittelt. Diese lassen das Kind in der Institution und bei sich «ankommen» und geben ihm eine kleine Gelegenheit zum Nachreifen und Nachholen dessen, was im ersten Anlauf schief gelaufen ist. Im Sinne Karl Königs pflegen wir die basalen («unteren«) Sinne, um Inkarnation, Bin-dung und Mentalisierung einen Schutzraum anzubieten. Tastsinn und Lebenssinn «… sind das Fundament, auf das wir die Selbstverständlichkeit unserer alltäglichen Exi-stenz aufrichten; sie geben der Seele die Verankerung im Erdendasein, in welchem sie selbst ein Fremdling ist» (König 1995).Das tägliche Aufgehobensein in der Kindergruppe, die immer wiederkehrenden Ritu-ale und zeitlichen Abläufe bedeuten eine Pflege des Lebenssinns, Aktivitäten, wie das Vorlesen, die Mahlzeiten, Pausen, Besprechungen und Feiern. Der Lebenssinn vermittelt Wohlbehagen: In seinem Spektrum bewegt sich das Ich täglich zwischen den Extremzuständen von Furcht und Scham, welche sich durch polare vegetative Pro-zesse manifestieren: die Furcht durch ein Zurückweichen des Blutes, Starre und Kälte hinterlassend, die Scham durch das Hineinschiessen des Blutes ins Gesicht. Beide Zustände bedeuten eine Überwältigung des Geistes durch den Stoffwechsel. Durch die atmenden Gesten des Gruppenalltags – sich binden und sich lösen, sich zurück-ziehen und sich verabreden und einlassen – übt sich das Kind täglich, bis seine Affektregulation wieder beherrschbar wird und das Ich sich in der produktiven Mitte zu sich findet, in der ein soziales Miteinander möglich wird. Weitere heilpädagogische Massnahmen finden sich im Bereich Handwerk und Gestalten, der einen Bezug zum Tastsinn hat: «Der Tastsinn vermittelt Gottgefühl und Lebenssicherheit». Was wir in die Hand nehmen, begreifen wir, die Berührung mit der Stoffwelt gibt uns Sicherheit und wenn uns das fehlt, merken wir: «das Herz lässt uns ängstlich werden, wenn der Anker der Tastempfindung und damit das Gottgefühl sich aus der Sinnessphäre der Haut heraushebt» (König 1995). Die Kinder finden die Mitte zwischen Grandiosi-tätsphantasien und Versagensängsten, wenn sie das Werkzeug in die Hand nehmen

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können und Kraft und Geschick am Werkstoff auslassen können. Was zuvor verrückt war, findet einen Anker in der Realität; die Kinder gehen «in die Welt», um zu sich zu kommen. Sie haben Gelegenheit, herauszufinden, ob sie das Holz gespalten, den Holzbackofen auf Temperatur, das Brot gebacken bekommen – oder nicht. Ebenso gehören zu unseren Therapieangeboten auch Kunst- und Musiktherapie, Reitthera-pie, Schwimmen und Klettern.Diese neuen Erfahrungen müssen angeschaut, benannt, reflektiert, geordnet und abgespeichert werden. Im «Kindertreff» genannten sozialen Kompetenztraining geschieht dies in der Kleingruppe, in psychotherapeutischen Spielstunden und Gesprächsangeboten im Einzelsetting. Dies alles sind mehr oder weniger heilpäda-gogische bzw. kinder- und jugendpsychiatrische «Standards», die auch für Kinder mit anderen Störungsbildern sinnvoll sind, genauso wie für das Familiensystem die Elterngespräche und das pädagogische Elterntraining (Triple P).

Kinderfachbücher

Speziell an Kinder psychisch kranker Eltern aber richtet sich eine Reihe von «Kinder-fachbüchern». Im Zusammenhang mit dieser Form der Psychoedukation der Kinder stellt sich die Frage, was Kinder über die Erkrankung ihrer Eltern wissen sollen. In Anbetracht der oben dargestellten Folgen von Desorientierung und Tabuisierung stellt sich nicht die Alternative, die Kinder im Ungewissen zu lassen. Kinder müssen die krankheitsbedingten Symptome verstehen und einordnen können. Nur so kann eine Reduktion der Schuldgefühle gelingen. Genauso wie bei Erwachsenen geben konkrete Krankheitsvorstellungen Halt und Orientierung. Zudem profitiert die Eltern-Kind-Beziehung von Ehrlichkeit und Offenheit. Hier können für die Eltern und Kinder die Kinderfachbücher eine Hilfe sein. Ein Beispiel:Im Buch «Sonnige Traurigtage» von Schirin Homeier wird in einer Mischung aus Bil-derbuch und gut gestalteten Fachinformationen eine einfühlsame und kindgerechte Darstellung der Situation gegeben, in der sich ein Kind psychisch kranker Eltern wie-derfindet. In der Inhaltsbeschreibung heisst es: «In letzter Zeit ist mit Mama etwas anders: sie ist so kraftlos und niedergeschlagen. Auf diese ‹Traurigtage› reagiert Mona wie viele Kinder psychisch kranker Eltern: Sie unterdrückt Gefühle von Wut oder Trau-rigkeit, übernimmt immer mehr Verantwortung und sehnt sich nach glücklichen «Son-nigtagen». Erst als sich Mona einer Bezugsperson anvertraut, erfährt sie, dass ihre Mutter unter einer psychischen Krankheit leidet und fachkundige Hilfe benötigt. Im Anschluss wendet sich Mona mit wesentlichen Fragen direkt an das Leserkind: «Was ist eine psychische Erkrankung? Bin ich schuld daran? Wer kann Mama oder Papa helfen? Mit wem kann ich reden» (Homeier, 2012).

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Im Sinne der Psychoedukation liefert das Buch Erklärungen für Krankheit und Thera-pie einer psychischen Erkrankung und bietet in einer altersgemässen Darstellung für Schulkinder Hilfe zur Selbsthilfe, z. B. Notfallpläne für akute psychische Krisen der Eltern. Die Kinder erlernen stabilisierende Routinen und wissen, wo sie hingehen und wen sie anrufen müssen. Für die erwachsenen Leser bietet das Buch Erklärungen für Bewältigungsmuster der Kinder auf dem aktuellen Stand der Fachdiskussion sowie Informationen zu Beratungsstellen, Literatur und Links. Es eignet sich damit auch als Ratgeber für andere Bezugspersonen. Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Kin-derfachbüchern. Eine sehr gute Zusammenstellung hat Dr. Gerlind Palmer zum «Main-zer Aktionstag der seelischen Gesundheit» erstellt.1

Was muss Elternarbeit leisten?

Elternarbeit ist meist die wirksamste nichtmedikamentöse Massnahme in der teilsta-tionären Kinderpsychiatrie. In allen Fällen, bei denen diese nicht möglich ist, muss die Institution den Schutz der Kinder anbahnen. Wesentlich ist die Einbindung der Eltern als Auftraggeber und Co-Therapeuten. Diese Rolle und Funktion muss durch regelmässige ärztliche / psychologische Gespräche benannt, aufrechterhalten und aufgefrischt werden. Schon bei der ersten Hospitation wird dies als Voraussetzung für die teilstationäre Behandlung herausgestellt. Die Beziehung zwischen der Tagesklinik und den Eltern wird durch einen Hausbesuch und Einladung der Eltern zu Hospitati-onen gepflegt. Natürlich ist dies oft mit Widerständen verbunden, die durch vertrau-ensbildende Gespräche aufgelöst werden müssen. Die Eltern haben regelmässige Gespräche mit der fallführenden Psychotherapeutin, in denen über das Kind, aber auch über die familiäre Situation, gesprochen werden kann. Vom Sozialdienst der Klinik findet eine Beratung über Hilfen zur Erziehung und den Möglichkeiten, Leis-tungen des Jugendamtes in Anspruch zu nehmen, statt, wobei immer wieder klarge-stellt werden muss, dass der oder die Mitarbeiter(in) des Sozialdienstes nicht für das Jugendamt, sondern für die Klinik arbeitet und im Sinne der Eltern und Kinder berät, da oft sehr grosse Vorbehalte bestehen und die Angst gegenwärtig ist, das Sorgerecht zu verlieren. Die Klinikschule führt eine Beratung der Eltern zur Schulsituation durch und hilft ggf. bei der Suche nach einer anderen Schule.Eine wesentliche Hilfe für psychisch kranke Eltern stellt die Elternsprechstunde bei einer erfahrenen Oberärztin mit kinder-und jugendpsychiatrischer und erwachsenen-psychiatrischer Facharztausbildung dar. Sie oder er kann das Angebot eines erwachse-nenpsychiatrischen Konzils vermitteln und die Eltern bei der eigenen therapeutischen Versorgung unterstützen. Die Elternarbeit und das therapeutische Vorgehen werden

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in der Visite mit dieser Oberärztin abgesprochen. In manchen Fällen stehen die the-rapeutische Versorgung der Eltern und ein Hilfeplangespräch mit dem Jugendamt an erster Stelle, dann erst kann ein Elterntraining erfolgen.

Pädagogisches Elterntraining

Als obligatorisches Elterntraining hat sich das Triple P-Programm bewährt. Die Durch-führung dieses Trainings ist akkreditierten Trainern vorbehalten, welche von Triple P in Münster ausgebildet und durch regelmässige Fortbildungen und Zertifizierungen begleitet werden. Das Gruppenprogramm umfasst insgesamt acht Sitzungen und kann mit 5-6 Elternpaaren durchgeführt werden. Die acht Sitzungen setzen sich aus vier je zweistündigen Gruppensitzungen mit Videoausschnitten, Gruppenübungen und Rollenspielen und vier 30-minütigen Telefonkontakten zusammen. Die Telefonsit-zungen haben das Ziel, den Eltern individuelle Unterstützung bei der Umsetzung der Erziehungsstrategien zu geben, können aber auch im Rahmen von Einzelsitzungen mit den Eltern in der Klinik durchgeführt werden. Wenn es möglich ist, sollten beide Eltern am Triple P-Gruppenprogramm teilnehmen. Die Eltern werden während des gesamten Programms aktiv mit einbezogen und erledigen zwischen den Sitzungen Hausaufgaben, die die Lerneffekte aus den Elterngruppensitzungen festigen. Wir bieten das Elterntraining für die Eltern jüngerer Kinder als «Basis Triple P» und für die Eltern der Kinder ab 11 Jahren als «Teen Triple P» an, mit jeweils dem Alter der Kinder angemessenen Videos und Inhalten.

Für Eltern mit besonderem Trainingsbedarf: die Triple P-Ebene 5

Die Interventionen der fünften Ebene des Triple P-Systems wurden für Eltern entwi-ckelt, die nach der Teilnahme an einem Elterngruppentraining weiterhin Schwierig-keiten haben und z.B. vertiefende Übungen von Erziehungsstrategien brauchen, unter erziehungsrelevanten Partnerschaftskonflikten leiden oder Depressionen oder Stress-belastungen bewältigen wollen.Je nach Bedürfnis werden mittels verschiedener Module die Erziehungsfähigkeiten gefördert. Des Weiteren werden für Probleme, welche die Erziehung zusätzlich bela-sten, hilfreiche Bewältigungsstrategien vermittelt und eingeübt. Beim Modul «prak-tische Übungen» hilft der Trainer den Eltern, die positiven Erziehungsstrategien konkret umzusetzen und Wege zu finden, Hindernisse bei der Umsetzung zu überwin-den. Dabei lernen sie, sich selbst Ziele zu setzen, geeignete Strategien anzuwenden und mögliche Schwierigkeiten alleine zu meistern. Beim Modul «Partner-Unterstüt-

Beiträge

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zung» werden zusätzlich Kommunikationsfertigkeiten und die gegenseitige Unterstüt-zung in der Erziehung trainiert. Liegen depressive Verstimmungen, Ängste oder Stress vor, werden mittels des Moduls «Bewältigungsstrategien» ausserdem Problemlösefer-tigkeiten, Entspannungstechniken und Methoden der Stressbewältigung vermittelt.

Programme sind nur das Gerüst

Entscheidend bei der Durchführung dieses Programmes ist die wertschätzende und ressourcenorientierte Haltung der Trainer. Um die Teilnahme der Eltern sicherzustel-len, erfolgt bereits bei der Aufnahme eine Einladung. Dabei beschreiben wir Themen und Inhalte sowie den Ablauf des Trainings, denn Informiertheit und Motivation erhöhen die Erfolgsaussichten. Ein intensives Terminmanagement in Form von schrift-lichen und telefonischen Einladungen und Erinnerungen hilft denjenigen Eltern, die ihr Leben nicht so gut strukturieren können. Das Catering in Form von Kaffee, Säften und einer Auswahl an Keksen unterstreicht unsere wertschätzende und ressourcenori-entierte Haltung. Wir betonen im Training stets, dass die Eltern ihre Kinder am besten kennen und wir nur Vorschläge machen können und im Rahmen des Elterntrainings unser eigenes pädagogisches Arbeiten in der Tageklinik vorstellen. Mit viel Humor möchten wir den Eltern die Sorge nehmen, für ihr «Versagen» bei der Erziehung nun von uns «bestraft» oder «vorgeführt» zu werden.Die Durchführung des Elterntrainings während der Behandlung der Kinder in der Tagesklinik erzeugt einen Synergieeffekt: Die Eltern lassen sich auf das Elterntrai-ning ein, weil die Kinder von der Stimmung, den Aktivitäten und den Strukturen der Tagesklinik positiv berichten. Gleichzeitig sind die Kinder aber auch neugierig auf das Elterntraining, fragen nach Inhalten und sind zufrieden, dass auch ihre Eltern an der Behandlung teilnehmen und sich so konkret für ihre Genesung engagieren. Allerdings müssen wir uns auch manche kritische Nachfrage anhören: «… haben Sie das meinen Eltern beigebracht …?!»

Zentrale Botschaften des Elterntrainings

Wir ermutigen die Eltern stets, ihre Erziehungsverantwortung zu übernehmen und sich dabei Unterstützung zu holen. Wir vermitteln ihnen, dass sie zwar nicht perfekt sein können, aber dass sie lernen können, ihren Umgang mit Ärger in den Griff zu bekommen, mit ihren Ängsten umzugehen und depressive Verarbeitungsmuster abzubauen. Sie werden durch Kommunikationsübungen unterstützt, konstruktiv an ihrer Partnerschaft zu arbeiten.

Beiträge

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Für ein WIR

Um eine weitere wichtige Botschaft zu vermitteln, dass das Kind ein Recht hat, über die Erkrankung seiner Mutter oder seines Vaters aufgeklärt zu werden, greifen wir auf das von Miriam Müller und Olga Propp (2011) im Rahmen eines Forschungsprojekts entwickelte Modul für eine fünfte Sitzung zurück: «Triple P – Für ein WIR, Training für Eltern mit einer psychischen Erkrankung». Diese Ergänzung liefert den Eltern Infor-mationen über die Häufigkeit psychischer Erkrankungen, unterstreicht die Bedeutung und Aufklärung und Information für die Kinder, nimmt Befürchtungen und Vorbehalte der Eltern auf, mit ihren Kindern über ihre Erkrankung zu sprechen und bereitet in kleinen Schritten mit Übungen und Gruppendiskussionen die Eltern auf das Gespräch mit ihren Kindern vor. Darüber hinaus wird die Bedeutung von Schutzfaktoren für die Kinder innerhalb und ausserhalb der Familie erarbeitet und Beschäftigungs- und Betreuungsformen für die Kinder als Entlastung gesammelt. Nach der Sitzung sollen die Eltern gut auf ein altersgemässes Gespräch mit ihren Kindern vorbereitet sein. Eine gute Quelle für weiterführende Information und Vernetzung zum Thema «Kinder psychisch kranker Eltern» ist die Homepage von Katja Beeck: «Netz und Boden – Initi-ative für Kinder psychisch kranker Eltern.»2

Kinder psychisch kranker Eltern verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit. Sie stecken in einer besonderen Lebenslage und haben schon viel erleben müssen, was für ihr Alter nicht angemessen ist und ihre seelische Entwicklung beeinträchtigt. Ihre Behandlung ist aufwändig, denn die Verstrickungen sind vielfältig und die besondere Situation ihres familiären Systems erfordert viel Behutsamkeit, Ausdauer und Fach-personal. Aber der Aufwand lohnt, denn oft haben diese Kinder erstaunliche Ressour-cen entwickelt und können die tagesklinische Kindergruppe sehr bereichern. Zudem wird spürbar, dass sie es verstehen und schätzen, dass nicht nur sie selbst Teil der Behandlung sind. Unser Ziel ist, die Ressourcen der Kinder in Resilienz zu verwandeln.

Beiträge

Dr. paed. Karel Zimmermann, geb. 1967, verheiratet, drei Kinder.Ausbildung zum Heilpraktiker. Landwirtschaftsausbildung auf Deme-terhöfen. Ausbildung in Chirophonetik. Studium der Heilpädagogik, Diplom in Kunsttherapie, Promotion in Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zurzeit pädagogischer Leiter der kinderpsychiatrischen Tagesklinik der Uniklinik Köln, Lehrauftrag an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft.

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Anmerkungen(1) http://www.mainz.de/C1256D6E003D3E93/files/LitlisteKpkE.pdf/$FILE/LitlisteKpkE.pdf(2) www.netz-und-boden.de | www.mainz.de/C1256D6E003D3E93/files/LitlisteKpkE.

LiteraturFonagy, Peter, György Gergely, Elliot L Jurist und Mary Target (2004): Affektregulierung, Mentalisie-rung und die Entwicklung des Selbst, Klett-Cotta, Stuttgart.Homeier, Schirin & Schrappe, Andreas (2012): Flaschenpost nach irgendwo. Ein Kinderfachbuch für Kinder suchtkranker Eltern. 2. Aufl. Mabuse Verlag, Frankfurt a. M.Homeier, Schirin (2014): Sonnige Traurigtage, Illustriertes Kinderfachbuch für Kinder psychisch kranker Eltern. 6. Aufl. Mabuse Verlag, Frankfurt a. M.König, Karl (1975): Die ersten drei Jahre des Kindes. Bnd. 17 der Reihe: Menschenkunde und Erzie-hung, Schriften der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart.König, Karl (1995): Sinnesentwicklung und Leiberfahrung. Heilpädagogische Gesichtspunkte zur Sinneslehre Rudolf Steiners, 4. Auflage. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart.Lenz, Abert (2012): Psychisch kranke Eltern und ihre Kinder. Psychiatrie Verlag GmbH, Köln.Mattejat, Fritz u. Remschmidt, Helmut (2008): Kinder psychisch kranker Eltern. Deutsches Ärzteblatt Jg. 105 Heft 23, 06.Juni 2008, Köln.Müller, Miriam und Propp, Olga (2011): Für ein Wir. Sitzung 5 zum Triple P Elterntraining. Broschüre als PDF, Bezug über die Autorinnen.Niemeijer, Martin, Gastkemper, Michel u. Kamps, Frans (Hrsg.) (2011):Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen - Medizinisch-pädagogische Begleitung und Behandlung.Verlag am Goetheanum, Dornach, Schweiz.Steiner, Rudolf (2001): Heilpädagogischer Kurs. Rudolf Steiner Taschenbücher aus dem Gesamt-werk, GA 317. Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz.Zobel, Martin (2006): Kinder aus alkoholbelasteten Familien: Entwicklungsrisiken und -chancen. Band 2 der Reihe «Klinische Kinderpsychologie» (Hrsg. Franz Petermann). 2. Aufl. Hogrefe, Göttingen.

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Schulbegleitung an Heilpädagogischen Schulen auf anthroposophischer Grundlage

Erste Ergebnisse einer Befragung von Schulleiter/innen, Klassenlehrer/innen und Schulbegleiter/innen

Von Bernhard Schmalenbach

Das Thema Schulbegleitung hat in den vergangenen Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Insbesondere infolge der Ratifizierung der UN-Behin-dertenrechtskonvention mit dem in Art. 24 formulierten Recht auf Teilhabe an einem integrativen/inklusiven Bildungssystem verändert sich die Lernsi-tuation in den Klassen unter anderem dadurch, dass neben den Lehrerinnen und Lehrern Schulbegleiterinnen- und begleiter die Kinder in ihrer Teilnahme am Unterricht unterstützen. Damit bildet sich ein Arbeitsfeld heraus, das alle Akteure im pädagogischen Feld beeinflusst, in ähnlicher Weise wie in anderen Arbeitsfeldern – etwa der frühkindlichen Pädagogik oder der Arbeitsbegleitung – , indem Integrationshelfer, Arbeitsbegleiter oder Job-Coaches tätig werden. Schulbegleitung wird nach Dworschak für Kinder und Jugendliche vor-gesehen, «… die auf Grund besonderer Bedürfnisse im Kontext Lernen, Verhalten, Kommunikation, medizinischer Versorgung und/oder Alltags-bewältigung der besonderen und individuellen Unterstützung bei der Ver-richtung unterrichtlicher und ausserunterrichtlicher Tätigkeiten bedürfen» (Dworschak 2010, S. 133 zitiert nach Kissgen et al.). Schulbegleitung wird als Teil der Offenen Hilfen in der Sonderpädagogik finanziert (vgl. Schädler 2009, nach Kissgen et al., Franke et al.). Die Kostenübernahme kann im Rahmen der Eingliederungshilfe des SGB XII, der Einzelfallhilfe nach SGB VIII (§ 35) oder, bei einer medizinischen Indikation durch die Krankenkas-sen erfolgen (Kissgen et al., 2013). Praktikanten und Personen, welche den Bundesfreiwilligendienst oder ein Freiwilliges Soziales Jahr ableisten, werden nicht als Schulbegleiter/innen bezeichnet und auch nicht als solche bezahlt. Schulbegleiterinnen sind nicht nur im gemeinsamen Unterricht an allgemeinen Schulen, sondern auch im Rahmen von Förderschulen tätig.

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Für das hier in Rede stehende Tätigkeitsfeld liegt keine gesetzlich bestimmte Bezeich-nung vor; in der Fachliteratur werden die Begriffe Integrationshelfer/in, Integrati-onsbegleiter/in, Schulassistent/in, Lernbegleiter/in oder auch Einzelfallhelfer/in verwendet (Bacher, Pfaffenberger & Pöschko 2007, Dworschak 2010, Keil 2009, Nie-dermayer 2009, Rumpler 2004, nach Kissgen et al. 2013). Gleichwohl lassen sich vier zentrale Aufgabenbereiche charakterisieren (Kissgen, Franke, Ladinig, Mays und Carlitschek 2013, Niedermeyer 2009, Wilczek 2011, Keil 2009): 1. Begleitung der Schülerinnen und Schüler während des Unterrichtes und in den Pausen mit dem Ziel, die Teilnahme am Unterricht und die Integration in die Klasse zu gewährleisten.2. Ausführung von pflegerischen und pädagogischen Hilfestellungen im Schulalltag. Hierzu gehört die Unterstützung in der Aufmerksamkeitslenkung, die Durchführung von Hilfestellungen in der Aufnahme des Lernstoffes und bei alltagspraktischen Tätigkeiten.3. Unterstützung der sozialen Integration durch gezielte Förderung sozialer Lernpro- zesse und der Kommunikation mit den Mitschülern. 4. Anpassung von Lernangeboten, Einsatz von Medien und weiteren Hilfestellungen je nach individueller Bedürfnislage. Nach allgemeinem Verständnis gehört die Durchführung von pädagogisch-unterricht-lichen Tätigkeiten nicht zur Aufgabe von Schulbegleiterinnen und Schulbegleitern (vgl. Dworschak 2012, Masmeier 1998, VDS LV NRW 2006, nach Kissgen et al.). Gleichwohl wird eingeräumt, dass eine eindeutige Grenze zu den Aufgaben der Lehrerinnen und Lehrer schwer zu ziehen ist, zumal Schulbegleitern methodisch-didaktische Aufga-ben bei der individuellen Ausrichtung des Lernstoffes ebenso zukommen wie auch andere Aufgaben, welche gewöhnlich Lehrerinnen und Lehrer innehaben: etwa Unter-stützung in der Motivation, in der Aufmerksamkeitslenkung oder in der Einhaltung von Regeln. (vgl. Kissgen et al. 2013). Das Spektrum der Tätigkeiten ist denkbar weit. Nach Wilzek sind Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter «Beobachter und Sprach-rohr», «Vermittler und Dolmetscher», Orientierungshilfe, «Strukturgeber und Lenker der Aufmerksamkeit», «Schutz», «Coach beim sozialen Lernen» und «Krisenhelfer» (Wilczek 2011, S. 27 ff. Kissgen et al.).

Forschungsstand und Studienkonzeption

Bisher liegen keine Forschungen zur Schulbegleitung für Waldorfschulen und Heil-pädagogische Schulen auf anthroposophischer Grundlage vor. Die folgende Untersu-chung ist Teil einer Studie, welche von R. Kissgen und Kolleg/innen der Universität Siegen zur Situation der Schulbegleitung an Förderschulen (vgl. Kissgen et al. 2013) durchgeführt wurde. In dieser Studie wurden alle Förderschulen des Landes Nord-

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rhein Westfalen in Form von drei Befragungen einbezogen: einem Fragebogen für die Schulleitungen, einem Fragebogen für Klassenleiter/innen und einem Fragebo-gen für Schulbegleiter/innen. Sämtliche Fragebögen enthalten offene Fragen, Rating Skalen und Mehrfach-Wahlaufgaben. Der Fragebogen für die Schulleitungen umfasst 8 Fragen, der Fragebogen für die Klassenleitungen umfasst 18, und der Fragebogen für Schulbegleiterinnen 30 Fragen. Nach eingehenden Gesprächen mit der Siegener Forschungsgruppe, sowie mit Schulleiter/innen, Klassenlehrer/innen und Schul-begleiter/innen, wurden diese Fragebögen modifiziert, bzw. erweitert und an die Gesamtheit der Heilpädagogischen Schulen auf anthroposophischer Grundlage ver-sandt. Der Fragebogen für die Schulleitung umfasste 8 Fragen, der Fragebogen für die Lehrerinnen und Lehrer 20 Fragen, der Fragebogen für die Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter 33 Fragen. Im Folgenden werden wesentliche Ergebnisse dieser Befra-gung dargestellt. Eine vertiefende Interpretation der Arbeitsergebnisse sowie ein Ver-gleich mit den Ergebnissen der Studie an den Förderschulen in Nordrhein-Westfalen wird in einer späteren Publikation erfolgen.

Ausgewählte Ergebnisse der Befragung der Schulleiterinnen und Schulleiter

Im Jahr 2011/2012 wurden die Schulleitungen der heilpädagogischen Schulen auf anthroposophischer Grundlage angeschrieben. Von den 66 angeschriebenen Schulen antworteten 50 Schulen, was einer Rücklaufquote von 76,9 % entspricht. Angesichts der Tatsache, dass die übliche Rücklaufquote bei postalischen Fragenbögen und gezielten Erinnerungsaktionen zwischen 30 und 40 % liegt (vgl. Blasius & Reuband 1996), kann diese Quote als sehr befriedigend bewertet werden. In einer beträcht-lichen Anzahl dieser Schulen (18 = 36%) sind keine Schulbegleiter/innen tätig. Die Unterschiede beziehen sich hier auf die unterschiedliche Praxis in den Bundeslän-dern. So verfügen in Baden-Württemberg von 22 antwortenden Schulen 12 Schulen nicht über Schulbegleiter, während in Nordrhein Westfalen von neun antwortenden Schulen nur in einer, eine «Schule für Kranke» keine Schulbegleiter tätig sind. Bemer-kenswert ist der starke Anstieg der Inanspruchnahme von Schulbegleitung in den vergangenen 10 Jahren. So stieg die absolute Anzahl von 4 auf 346. Dies entspricht einem Anstieg um den Faktor von 86,5 (Abb. 1).

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Abb. 1: Inanspruchnahme von Schulbegleiter/innen an den 32 Schulen mit Schulbegleitung

In den Klassen der Förderschulen lernen im Durchschnitt 10 Schüler/innen. Das Verhält-nis von Schulbegleitern zu Schülern, Klassen und Lehrerstellen gestaltet sich wie folgt:

Tab. 1: Verhältnis der Anzahl der Schulbegleiter/innen zur Anzahl der Schülerinnen und Schüler (SuS), Klassen (KL) und Lehrerstellen (LS) im Schuljahr 2011/2012

Demnach kommen auf eine Klasse im Durchschnitt ein Schulbegleiter, die Zahl der Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter bildet die Hälfte der Zahl der Lehrerstellen. Schliesslich wurde erfasst, ob die Aufgaben der Schulbegleitung im Rahmen eines Konzeptes an der befragten Schule schriftlich verankert sind. Diese Frage beantwor-teten 28 der 32 Schulen, in denen Schulbegleiter/innen tätig sind, 4 von ihnen gaben an, die Aufgaben der Schulbegleitung schriftlich fi xiert zu haben. Somit wird die Tätig-keit der Schulbegleitung in den weitaus meisten Schulen (87,5%) nicht durch ein übergreifendes Konzept gestützt. Auf die Frage nach Wünschen und Anregungen zum Thema wurden folgende Bereiche genannt: das Bedürfnis nach Anregungen und Austausch bezüglich der Schulbe-

Abb. 1: Inanspruchnahme von Schulbegleiter/innen an den 32 Schulen mit Schulbegleitung

MittelwertSB pro Sus 0.15SB pro KL 1.01SB pro LS 0.50

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gleitung, Unterstützungsbedarf bei der Antragsstellung, die geringe Bezahlung der Schulbegleiterinnen, Vertretungsprobleme bei Krankheit und die Notwendigkeit der Evaluation von Schulbegleitung. Damit dokumentiert die vorliegende Studie, dass Schulbegleiter/innen zu einer bedeutsamen personellen Ressource geworden sind. Dies entspricht auch der Situ-ation an Förderschulen in Nordrhein-Westfalen, wie sie von Kissgen et al. (2013) erhoben worden ist. Demnach erhöhte sich die Anzahl der Schulbegleiter/innen im Zeitraum von 2000/2001 bis 2010/2011 von 75 Personen auf 2277 Personen und damit um mehr als das Dreissigfache. In einer Hochrechnung auf sämtliche Förder-schulen Nordrhein-Westfalens gehen Kissgen et al. von einer tatsächlichen Zahl von 3875 Schulbegleiter/innen im Schuljahr 2010/2011 aus. Die enorme Steigerung der Beanspruchung von Schulbegleitung in Nordrhein-Westfalen fällt dadurch insbeson-dere ins Gewicht, dass im gleichen Zeitraum die Anzahl der Schülerinnen und Schüler an Nordrhein-Westfalens laut Statistik des Ministeriums für Schule und Weiterbildung des Landes NRW annähernd gleich geblieben ist.1

Aus der Befragung lassen sich zunächst keine Gründe für den starken Anstieg der Inanspruchnahme nachvollziehen. Kissgen et al. (2013) diskutieren hier als mögliche Gründe den «zunehmenden Bekanntheitsgrad dieser Massnahme bei den Eltern oder auch ein schulisches Interesse an der Entlastung der Lehrkräfte» sowie «Änderungen im formalen Procedere der Beantragung». Der Frage nach den Gründen für die Bean-tragung von Schulbegleitung wird in der Befragung der Klassenleiterinnen und Klas-senleiter nachgegangen und auch, inwieweit die Schulbegleiter/innen als Entlastung wahrgenommen werden.

Ausgewählte Ergebnisse der Befragung der Klassenleiterinnen und Klassenleiter

Von den angeschriebenen Lehrer/innen antworteten 132 Personen, in deren Klassen eine Schulbegleitung tätig ist. Die Verteilung der Klassen mit Schulbegleitung zeigt einen deutlichen Schwerpunkt in der Mittelstufe, gefolgt von der Unterstufe. Die geringste Anzahl an Schulbegleiter/innen ist in der Oberstufe tätig. Tab. 2: Verteilung der Klassen mit Schulbegleitung auf die Stufen

Die Anzahl der Schüler in den von den Lehrer/innen geführten Klassen variiert zwi-schen 4 und 15 Schüler. Durchschnittlich besuchen 9 Kinder eine Klasse, in denen

Schulstufe Anzahl (Prozent)Unterstufe 42 (31,8 %)Mittelstufe 64 (48,5 %)Oberstufe 25 (19,1 %)

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eine Schulbegleiterin tätig ist. In etwa der Hälfte der Klassen mit Schulbegleitung wird ein Kind beschult, in einem Drittel der Klasse sind es zwei Kinder. In immerhin 26 Klassen sind drei und mehr Schulbegleiter/innen tätig. Die Zahl der durchschnitt-lichen Arbeitsstunden der Schulbegleiter/innen beträgt 26 Stunden in der Woche. Die Streubreite ist hier hoch, was die folgende Tabelle verdeutlicht: Tab. 3: Verteilung der Zeitstunden in der Klasse

In den meisten Fällen (72,8 %) wurde die Schulbegleitung sofort bewilligt, bis auf wenige Ausnahmen reichte ein weiterer Wiederholungsantrag aus. Von der Erstan-tragstellung bis zum Beginn der Arbeit der Schulbegleiter/innen vergingen in den meisten Fällen nicht mehr als zwei Monate; drei Viertel aller Anträge sind innerhalb von vier Monaten bearbeitet/bewilligt worden. Des Weiteren wurden die Lehrer/innen nach den Gründen für die Schulbegleitung befragt, wobei Mehrfachnennungen möglich waren.

1

< 10 19< 20 33< 30 52< 40 95gesamt 199

Abb. 2: Gründe für die Schulbegleitung

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Mehr als vier Fünftel aller Schüler bedürfen demnach Unterstützung sowohl im Bereich der emotional-sozialen Entwicklung und eine Unterstützung im Lern- und Arbeitspro-zess. Der höchste Bedarf liegt mit bei 88,9 % im Bereich der emotional-sozialen Ent-wicklung, im Bereich der Lernförderung bei 83,4 %. 73 % der Schüler bedürfen der Unterstützung im Bereich der alltagspraktischen Handlungen und 66,1 % im Aufbau von Kommunikation. Bei mehr als der Hälfte der Schüler, die eine Schulbegleitung erhalten, liegt eine schwerste Behinderung vor. Damit umgreift die Unterstützung der Schulbegleiterinnen ein grosses Spektrum an Bereichen, welche bei den meisten Schülerinnen und Schülern die Begleitung des Lernens, der Umgang mit den Emo-tionen, das soziale Verhalten, die Kommunikation und alltagspraktische Tätigkeiten umfasst. Dass dabei der Bereich der sozialen und emotionalen Entwicklung bei 98,9 % aller Schülerinnen eine Rolle spielt, ist auch deshalb besonders bemerkenswert, weil die meisten Schulen nicht in diesem Förderschwerpunkt tätig sind.2

Die Übernahme der Kosten gestaltete sich in der folgenden Weise:

Tab. 4: Übernahme der Kosten für die Massnahme

Knapp 60 % der Klassenlehrer/innen sind an dem Auswahlprozess der regelmässigen Schulbegleitung beteiligt, weitere 10 % sind dies in manchen Fällen. 58,5 % der Klas-senleiter/innen geben an, dass Gespräche zwischen ihnen, der Schulbegleitung und dem Träger der Schulbegleitung im Sinne eines runden Tisches stattfinden. Eine wei-tere Frage befasst sich mit der durchschnittlichen Zeit in der Woche für Tätigkeiten, welche auf die Schulbegleitung bezogen sind. Als Beispiele wurden hier Vorbereitung, Besprechungen und Koordination genannt. Als durchschnittliche Zeit werden hier eine Stunde und vierzig Minuten angegeben, was die meisten Lehrer/innen als etwas zu niedrig empfinden. Nur ein Fünftel der Lehrer ist der Ansicht, dass hier viel mehr Zeit aufgewendet werden müsste. Eine zentrale Frage betrifft die Einschätzung der Bedeutung der Schulbegleitung für die Arbeit der Klassenlehrer.

Kostenträger Anzahl

Sozialamt 71

Jugendamt 40

Krankenkasse 34

Keine Angabe 15

Gesamt 160

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Tab. 5: Stellen schulbegleitende Massnahmen eine Entlastung dar?

Damit gibt immerhin über ein Fünftel der Befragten an, dass die schulbegleitende Massnahme keine Entlastung für sie darstellt. Besonders ins Gewicht fällt ferner die äusserst geringe Zustimmung zu der Antwortmöglichkeit «stimme voll zu». Mithin sind zwar mehr als drei Viertel der Befragten der Ansicht, dass die Schulbegleitung für sie eine Entlastung darstellt, die Mehrzahl allerdings schränken dies ein durch die Wahl der tendenziellen Zustimmung «eher». Eine feinere Analyse zeigt, dass die empfundene Entlastung bei den Lehrkräften bei Klassen grösser ist, in denen mehr als 10 Schüler unterrichtet werden (p = 0,009, T-Test). Kein Unterschied ergibt sich jedoch, wenn man die Anzahl der Schulbegleiter pro Klasse oder die Anzahl der durch Schulbegleitung begleiteten Schüler betrachtet. Näheren Aufschluss über die Ambi-valenz in Bezug auf die Frage nach der Entlastung ergibt sich durch eine Betrachtung der offenen Fragen.

Auswirkungen auf die Beziehung zum Kind und Anregungen der Lehrer/innen

In einer der beiden abschliessenden offenen Fragen wurden die Klassenleiter/innen danach befragt, welche Auswirkungen die Schulbegleitung auf ihre eigene Beziehung zum Kind hat, welches durch die Schulbegleitung unterstützt wird. Hier antworteten 105 der 127 Lehrer/innen. Die hohe Zahl der Antworten und die Tatsache, dass die Lehrer oft in mehreren Sätzen und in sehr differenzierter Weise antworten, zeigt, dass dieses Thema erhebliche Resonanz findet. Zudem antworten die Lehrer/innen hier nicht einheitlich. Im Folgenden seien in einem ersten Auswertungsschritt vier Antwort-Typen charakterisiert, wobei die Antworten, welche eine Verbesserung der Beziehung nahelegen, die Mehrheit bilden. - Keine oder keine wesentlichen Auswirkungen auf die Beziehung. Etwa ein Fünftel der Lehrerinnen berichtet, dass die Schulbegleitung ihre Beziehung zu den Kindern nicht entscheidend verändere.- Beeinträchtigung der Beziehung. Die Antworten sind sehr vielfältig. Einige Lehrer/

Grad der Zustimmung Häufigkeit (Prozent)

stimme voll zu 3 (2,4)

stimme eher zu 96 (76,8)

stimme eher nicht zu 24 (19,2)

stimme gar nicht zu 2 (1,6)

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innen beschreiben die Gefahr, den Schüler ‹aus den Augen zu verlieren› oder ihrer - seits nicht von den Kindern wahrgenommen zu werden. Auch die Qualität des Bezugs wird genannt: sie wird weniger eindeutig und instabiler, die Autorität steht in Frage. Für die Schüler bedeutet dies dann eine Ungewissheit darüber, wer ‹das Sagen› hat. Einige Lehrer/innen beklagen, dass der Kontakt zwischen Kind und Schulbegleiter so eng wird, dass sie das Kind nicht mehr erreichen. Weitere Beeinträchtigungen entstehen, wenn das Kind ‹Lücken› zwischen der Schulbegleiter und dem Lehrer ‹ausnutzen› (14 Nennungen).- Verbesserung der Beziehung. Eindeutige Antworten in diese Richtung gibt mehr als die Hälfte der Lehrerinnen. Als weitere Charakterisierung werden am häufigsten die Begriffe Entspannung und Entlastung genannt. Oft findet sich auch der Hinweis, dass die Schulbegleiter den Lehrern in der Beziehung zu dem Kind mehr Distanz und damit einen grösseren Freiraum ermöglichen. In diese Kategorie fallen auch Ant- worten, in denen die Lehrer deutlich machen, dass sie überhaupt erst aufgrund der Präsenz des Schulbegleiters eine auf das Lernen hin orientierte Beziehung zu dem Kind aufbauen können, oder dass es ihnen dank der Schulbegleiter leichter fällt, eine Beziehung überhaupt aufzubauen. Das Kind seinerseits wird in die Lage ver- setzt, den Erwartungen des Lehrers im Hinblick auf das Lernen zu entsprechen. - Vor- und Nachteile. Ein weiterer Antworttypus kommt zu differenzierten Antworten. So wird darauf hingewiesen, dass einerseits die Beziehung in ihrer Intensität nach- lässt, andererseits aber Aufgabenstellungen im Unterricht möglich werden. Eine andere hier typische Antwort benennt die Beeinträchtigung des Kontaktes auf der einen, die Erleichterung über die Unterstützung auf der anderen Seite. Einige Lehrer berichten, dass die Beziehung zu dem Schüler zwar oberflächlicher geworden sei, dafür aber die Mitschülerinnen mehr zu ihrem Recht kommen. Eine weitere Stimme hebt die Entlastung hervor, sieht aber auch einer ‹Verflachung› in der pädagogischen Begleitung mangels entsprechender Ausbildung der Schulbegleiterin.Zusätzliche Bemerkungen an vielen Stellen führen dahin, die Anwesenheit der Schul-begleitung in der Klasse als Chance und Herausforderung zu verstehen, welche von Lehrer/innen kompensierende oder begleitende Schritte verlangen. So weisen einige Antworten auf die Bedeutung der Person der Schulbegleiterin und auf die Beziehung zwischen Lehrerin und Schulbegleiterin hin, sowie auf eine klare Rollendifferenzie-rung. Hinsichtlich des Kindes stellt sich für die Lehrer die Aufgabe, die Beziehung bewusster zu gestalten und zu reflektieren, Zeiten der Zuwendung und Begegnung bewusst einzurichten. Übereinstimmend ergibt sich das Bild, dass sich mit der Anwe-senheit von Schulbegleiterinnen, vor allem ab einer gewissen Anzahl, die Lernatmo-sphäre in der Klasse verändert.

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Schliesslich hatten die Klassenleiter/innen Gelegenheit, Wünsche oder Anregungen zum Thema Schulbegleitung zu formulieren. Hiervon machten 44 Personen Gebrauch. Die von ihnen benannten Punkte lassen sich verschiedenen Kategorien zuordnen, wobei das Gros der Bemerkungen die Forderung nach einer besseren Ausbildung und einer besseren Fortbildung der Schulbegleiterinnen (28 Nennungen) fordert. Die meisten Lehrer/innen beziehen sich hier auf pädagogische und heilpädagogische Kenntnisse, manche wünschen sich auch in den Grundlagen der Waldorfpädagogik und der anthroposophischen Heilpädagogik ausgebildete Schulbegleiter/innen. Die Themen Ausbildung und Fortbildung der Schulbegleiter/innen haben damit für die Lehrer/innen deutliche Priorität. Folgende Punkte wurden ebenfalls häufig benannt (je 10-12 Nennungen):- Forderung nach (mehr) zeitlichen Ressourcen für den Austausch mit den Schulbegleitern.- Forderung nach einer besseren Bezahlung der Schulbegleiter/innen.- Hinweise darauf, dass die Schulbegleitung für die Lehrerinnen eine sehr hilfreiche und oft notwendige Unterstützung darstellt und dass die Schulbegleiter/innen oft sehr engagierte Personen sind. Für diesen letzten Punkte seien einige Bemerkungen im Wortlaut zitiert: «Ich möchte sagen: Ich arbeite seit 13 Jahren mit Integrations-Helfern zusammen. Ihnen habe ich zu verdanken, dass der Unterricht ruhig und effizient für alle Schüler der Klasse verläuft.» Eine weitere Lehrerin schreibt: «In manchen Fällen ist die Hilfe absolut unverzichtbar.» Und schliesslich: «Die meist jungen Menschen bringen eigene Kom-petenzen und Fragen ein, die eine Bereicherung sind.» Ein Kontrapunkt bietet hierzu die folgende Einzel-Aussage, welche einen Konflikt mit dem Bild des Klassenlehrers in Zusammenhang mit der Schulbegleitung artikuliert: «… ideal wäre es für einen Klas-senlehrer, wenn er ohne Schulbegleiter(in) auskäme.»Kritisch führen einige Lehrer/innen an, dass die Schulbegleiter/innen nur für eine kurze Zeitdauer zur Verfügung stehen, was den Bedürfnissen der Schüler/innen nach stabilen Bindungen widerspricht. Ferner werden u.a. als problematische Punkte benannt: der hohe bürokratische Aufwand; das Problem der Vertretung bei Krank-heiten; die Tatsache, dass die Schulbegleiterinnen oft nicht von den Schulen ausge-wählt werden und die geringe Bezahlung.

Ausgewählte Ergebnisse der Befragung der Schulbegleiter und Schulbegleiter/innen

Zur Person der Schulbegleiter/innen

Auf die Befragung haben 187 Schulbegleiter/innen geantwortet, 74,9 % von ihnen Frauen, 24.6 % Männer. Das Durchschnittsalter der Schulbegleiter/innen ist 28 Jahre. Das Altersspektrum verteilt sich wie in der Abbildung 3 dargestellt.

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Abb. 3: Alter der Schulbegleiter/innen

Damit ist mehr als ein Viertel der Schulbegleiter 21 Jahre alt oder jünger. Nimmt man alle Schulbegleiter/innen zusammen, welche nicht älter als 25 Jahre sind, so ergibt sich ein Anteil von 44,1 %. Auf der anderen Seite ist knapp ein Viertel der Schulbeglei-ter/innen älter als 45 Jahre. 68,4 % der Schulbegleiter/innen verfügen über eine Berufsausbildung. Davon haben 26,7 % eine Qualifi kation in den Bereichen Pädagogik, Heilpädagogik und Soziale Arbeit. Medizinische und pflegerische Berufe wurden hier nicht mit einbezogen. Bei etwas über ein Viertel der Schulbegleiterinnen (25,4%) wurde eine berufliche Quali-fi kation verlangt.

Tätigkeit der Schulbegleitung

Unter den Schulbegleiter/innen betreuen 83 % einen Schüler, die verbleibenden betreuen zwei oder sogar drei Schüler. Zwei Drittel von ihnen (66,8%), arbeiten seit einem Jahr oder eine kürzere Zeit mit ihren Schülern. Für ihre Arbeit haben haben 72 % der Schulbegleiter/innen eine Einarbeitung erhal-ten, bei 28 % war dies nicht der Fall (Tab. 6).Demnach fi ndet die Einarbeitung in überwiegendem Masse durch die Lehrerinnen der Klasse statt. Eine gewichtige Rolle in der Einarbeitung kommt darüber hinaus anderen Schul-begleitern, den Eltern und immerhin zu einem Viertel den Eltern der Schüler/innen zu. Hinsichtlich der Zeit der Einarbeitung ergibt sich eine beachtliche Spanne, welche bei denen, die eine Einarbeitung bestätigt haben (164 von 187 Befragten), von 1-100

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Stunden reicht. Im Durchschnitt wurden die Schulbegleiter/innen 16 Stunden einge-arbeitet. Diejenigen Schulbegleiter, welche einen zweiten (N = 14) oder gar einen drit-ten Schüler begleiten (N = 3) und welche eine Einarbeitung erhalten haben, wurden durchschnittlich 7 bzw. 3 Stunden eingearbeitet.

Schülerinnen und Schüler

Mit den Antworten der Schulbegleiter/innen wurde die Situation von 229 Schüle-rinnen und Schüler erhoben, da einige der Schulbegleiter/innen mehr als einen Schü-ler unterstützen.Die Schüler/innen verteilen sich nicht gleichmässig auf die Schulstufen; der Schwer-punkt liegt in der Mittelstufe, was die Antworten der Klassenleiter unterstützt:

Tab. 7: Schulstufe der Schüler/innen

Schulinterne Tätigkeiten

Bei den schulinternen Tätigkeiten wurde nach der Teilnahme an Konferenzen und Fortbildungsveranstaltungen gefragt. Weniger als ein Fünftel der Schulbegleiter/innen nimmt regelmässig an Pädagogischen Konferenzen, Kinderkonferenzen und Fortbil-dungsveranstaltungen teil. Nimmt man hier die positiven (eher häufig, immer) und

Tab. 6: Von wem wurden die Schulbegleiterinnen eingearbeitet

Einarbeitung durch Anzahl Prozent

Lehrerinnen 151 92 andere Schulbegleiter 63 38,8 Eltern 57 34,7 Mitarbeitende der Träger 42 26,2Freiwillige/Praktikanten 22 13,4

Schulleitung 12 7,3Sonstige 8 4,8

Anzahl Prozent

Unterstufe 59 25,7Mittelstufe 106 46,2Oberstufe 64 27,9

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die negativen (eher selten, eher nie) Äusserungen zusammen, so nehmen 83,9 % der Schulbegleiter/innen selten oder nie an Pädagogischen Konferenzen, 81,1 % selten oder nie an Kinderkonferenzen und 81,8 % nie oder nur selten an Fort- und Weiter-bildungen teil.3 Dass damit das Fort- und Weiterbildungsinteresse der Schulbegleiter/innen nicht abgebildet ist, wird sich weiter unten bei der Beantwortung einer diesbe-züglichen offenen Frage ergeben.

Klasseninterne Aktivitäten

Hier wurden eine Reihe von Aktivitäten abgefragt, u.a. die Teilnahme an Elternabenden, an Klassenfahrten und Ausflügen, an Besprechungen im Klassenteam sowie auch das Verfassen von Berichten, das Erstellen von Zeugnissen und Förderplänen, die Mitarbeit bei der Diagnostik, sowie die Übernahme unterrichtsbezogener Aktivitäten.

Tab. 8: Klasseninterne Aktivitäten

Es wird deutlich, dass die Beteiligung im Rahmen der Klasse deutlich zunimmt, beson-ders bei den Besprechungen im Klassenteam, an denen mehr als drei Viertel der Schulbegleiter/innen teilnehmen. Ähnlich fraglos erscheint die Teilnahme an Klassen-ausflügen und – mit einer gewissen Einschränkung – an Klassenfahrten. Allerdings fällt die Teilnahme an Elternabenden mit einem Drittel gering aus. Während das Schreiben von Zeugnissen keine Rolle spielt, verfasst über ein Viertel der Schulbegleiter/innen Berichte, weniger als ein Fünftel erstellt Förderpläne und arbeitet bei der Diagnostik mit. Letzteres besagt, dass die Lehrer/innen für diese Aufgabe offensichtlich nur in geringem Masse von den Schulbegleiter/innen abhängig sind. Dagegen zeigt sich, dass ein sub-stantieller Anteil der Schulbegleiter/innen auch unterrichtend tätig ist.

immer/häufig (%) eher selten/nie (%)

Elternabende 61 (33,2) 123 (66,8)

Klassenausflüge 158 (88,4) 27 (14,6)

Klassenfahrten 127 (71,7) 50 (28,3)

Besprechungen im Klassenteam 141 (78,5) 45 (24,2)

Verfassen von Berichten 52 (28,4) 131 (71,6)

Verfassen von Zeugnissen 10 (5,5) 171 (94,5)

Erstellen von Förderplänen 33 (18,1) 149 (81,9)

Mitarbeit in der Diagnostik 32 (17,7) 149 (82,3)

Übernahme der Pausenaufsicht 98 (52,4) 89 (47,6)

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Tab. 9: Übernahme unterrichtsbezogener Aktivitäten

Beinahe ein Viertel der Befragten führt einzelne Unterrichtssequenzen durch, manche (17,4 %) planen sogar ganze Unterrichtssequenzen. Ein Fünftel der Befragten gestal-tet auch Gruppenunterricht. Nimmt man dies mit den obigen Ergebnissen zusam-men, zeigt sich auch hinsichtlich der Tätigkeit in der Klasse ein breites Spektrum. Eine gewisse Überraschung bedeutet das geringe Gewicht, welches das Erstellen von Unterrichtsmaterialen und der Umgang mit Hilfsmitteln aus dem Bereich der Unter-stützten Kommunikation einnimmt, zumal, wenn man den hohen Anteil von Schulen mit einbezieht, welche im Förderschwerpunkt ‹Geistige Entwicklung› tätig sind. Zu den Tätigkeiten der Schulbegleiter/innen gehört, wie bereits beschrieben, eben-falls die Unterstützung anderer Schüler. Dies bestätigen die Antworten auf Fragen, welche sich auf die Tätigkeit für den zu begleitenden Schüler richten:

Tab. 10: Tätigkeiten der Schulbegleitung

Demnach verbringen die Schulbegleiter/innen knapp ein Viertel ihrer Zeit mit Tätigkeiten, welche nicht den von ihnen betreuten Schüler betreffen. Die Zeit ausserhalb des Klassen-verbandes wird mit durchschnittlich 14 % angegeben. Betrachtet man die Angaben über die Zeit ausserhalb des Unterrichtes genauer, zeichnet sich auch hier eine grosse Streu-breite ab: So gibt ein Viertel der Befragten an, niemals die Klasse zu verlassen, während

immer/häufig (%) eher selten/nie (%)

Planung einzelner Unterrichtssequenzen 32 (17,3) 153 (82,7)

Durchführung einzelner Unterrichtsstunden 45 (24,3) 141 (75,8)

Gestaltung von Gruppenunterricht 37 (20,1) 147 (79,9)

Erstellen von Unterrichtsmaterialien 35 (18,8) 151 (81,2)Umgang mit Hilfsmitteln aus dem Bereich der Unterstützten Kommunikation

70 (28,5) 112 (61,5)

Prozent

Anteil der Tätigkeiten, die nicht den betreffenden Schüler betreffen 23

Anteil der Zeit, die mit dem Schüler ausserhalb des Klassenverbandes verbracht wird 14

Anteil der Zeit ausserhalb des Klassenverbandes, die nicht mit unterrichts-/förderbe-zogenen Tätigkeiten verbracht wird.

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knapp ein Fünftel der Schulbegleiter/innen (18,3 %) 30 % und mehr Zeit ausserhalb der Klasse verbringt und immerhin noch 8,2 % die Hälfte der Zeit oder mehr.

Austausch, Fort- und Weiterbildung

Weitere Fragen betrafen den Austausch und die Fortbildung sowie die Frage, wer den Schulbegleiter/innen Anweisungen erteilt. Hierbei zeigt sich neben dem erwartungs-gemäss hohen Anteil der Lehrer/innen die Bedeutung der Eltern des Schülers, die hier von mehr als einem Drittel der Befragten als Weisungsgeber benannt werden.Die Bedeutung der Eltern bestätigt sich auch bei der Frage, mit wem sich die Schul-begleiter/innen austauschen. Nahezu drei Viertel der Schulbegleiter/innen tauscht sich mit den Eltern des von ihnen begleiteten Kindes aus. Weiter fällt auf, dass die anderen Schulbegleiter/innen der Schule eine bedeutenden Quelle des Austausches darstellen; sie werden hier von 87 % benannt.

Kriterien für die Beendigung der Massnahme

Bei 63,8 % der Schüler/innen wurden laut Aussagen der Schulbegleiter/innen keine Kriterien für die Beendigung der Massnahme formuliert. Bei 19,2 % der Schüler/innen wurden Kriterien formuliert, bei 16,9 % wurden keine Angaben gemacht.

Fortbildungsbedarf

Auf die Frage nach dem Fortbildungsbedarf äusserten 105 der 187 Befragten Wünsche: - ‹Krankheitsbilder› (allgemein) (15 Nennungen)- Spezifische Krankheitsbilder – hier wird am häufigsten Autismus genannt (27 Nennungen)- Methoden heilpädagogischer Förderung ( 35 Nennungen), davon im Bereich der Kom- munikationsförderung (15 Nennungen) - Umgang mit herausforderndem Verhalten (Aggressionen werden sehr häufig genannt, auch Autoaggressionen und Zwänge (17 Nennungen)- Allgemeine Heilpädagogik und Pädagogik (14 Nennungen)- Fortbildung in Waldorfpädagogik und anthroposophischer Heilpädagogik (9 Nennungen)Weitere Nennungen betreffen eine Fortbildung, das zu betreuende Kind betreffend (3 Nennungen), Fortbildung in Erster Hilfe und Pflege, in der Zusammenarbeit mit den Eltern und dem Träger, in der Erstellung von Dokumentationen.

Motivation für die Arbeit der Schulbegleitung / zur Bedeutung der Schulbegleitung

Die Motivation für die Arbeit der Schulbegleitung liegt in erster Linie in der Tätigkeit selbst: 94,5 % der Befragten geben an, dass die Arbeit der Schulbegleitung ausschlag-gebend für ihren Entschluss war, Schulbegleiter/in zu werden. Ein sehr hoher Anteil

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gibt ferner an, in dieser Arbeit eine Möglichkeit zur persönlichen Weiterentwicklung zu sehen (86,7 %). Für Mehr als zwei Drittel (76,8 %) ist die Verantwortung in dieser Tätigkeit für die Berufswahl Schulbegleiter als Motiv ausschlaggebend.Tab. 11: Motivation für die Schulbegleitung

Die Schulbegleitung hat zudem eine hohe Bedeutung für die weitere berufliche Ent-wicklung: Zwar gibt nur ein sehr geringer Prozentsatz als Motiv für die Schulbegleitung die Aufstiegsmöglichkeiten an (10,9 %), doch mehr als drei Viertel der Befragten (76,8 %) nennen als Motiv für den Entschluss zur Schulbegleitung, diese Arbeit als Einstieg in das pädagogische Arbeitsfeld zu nutzen; 23,8 % sehen die Schulbegleitung für sich als Möglichkeit des Wiedereinstiegs in das pädagogische Arbeitsfeld. Dies bestätigt sich auch in den Antworten auf die Bedeutung der gegenwärtigen Arbeit in der Schulbegleitung für die Zukunft: So geben mehr als vier Fünftel der Befragten (82,4 %) an, dass ihre Erfahrungen in der Schulbegleitung zu dem Wunsch führen, auch in Zukunft heilpädagogisch tätig zu sein.Die Schulbegleitung bildet für viele dort Tätige einen Zugang oder eine Bestätigung dieses Zugangs, in das Arbeitsfeld der anthroposophischen Heilpädagogik: Über zwei Drittel der Befragten (68,7 %) geben an, dass sie ihre Erfahrungen in der Schulbeglei-tung zu dem Wunsch geführt haben, in Zukunft im Rahmen der anthroposophischen Heilpädagogik tätig zu sein.

Anzahl Prozent

die Arbeit selbst

Möglichkeiten zur persönlichen Weiterentwicklung

Einstieg in das persönliche Arbeitsfeld

die Verantwortung

Qualität der zwischenmenschlichen Beziehung mit den Kol-leginnenMöglichkeit, Leistung zu zeigen

Anerkennung

Lohn und Gehalt

Arbeitsplatzsicherheit

Wiedereinstieg in das pädagogische Arbeitsfeld

die Aufstiegsmöglichkeiten

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Ausblick

Eine weitergehende Analyse dieser und die Darstellung weiterer Ergebnisse, auch im Vergleich mit Regel-Förderschulen, bleibt einer späteren Darstellung vorbehalten. Die Erhebung bestätigt, dass Schulbegleitung auch in heilpädagogischen Waldorfschulen an Bedeutung erheblich zugenommen hat. Dabei ergibt sich ein in hohem Masse hetero-genes oder durch Vielfalt geprägtes Bild hinsichtlich des Personenkreises der Schulbeglei-ter/innen wie ihrer Arbeitssituation. Es lassen sich eine Fülle von Themen, Fragestellungen und Entwicklungsaufgaben identifizieren, wobei sich eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten in den Perspektiven von Klassenleiter/innen und Schulbegleiter/innen feststellen lässt.

Anmerkungen(1) Abrufbar über http://schulministeriium.nrw.de/BP/Schulsystem/Statistik/, nach Kissgen et al., 2013.(2) Von den 70 angeschriebenen Schulen sind 36 Schulen im Förderschwerpunkt soziale und emotionale Entwicklung/Erziehungshilfe tätig.(3) Bei dieser und auch den folgenden Antworten wurden diejenigen Antworten nicht berücksichtigt, welche sich auf einen zweiten oder dritten Schüler beziehen, der eine Schulbegleitung erhält.

LiteraturBacher, J.; Pfaffenberger, M. & Pöschko, H. (2007): Arbeitssituation und Weiterbildungsbedarf von Schulassistent/innen [Kurzfassung des Endberichts]. Retrieved June 4, 2012 from http://members.a1.net/poscher1/pundp/Endbericht.pdfBlasius, J.; Reuband, K. H. (1996): Postalische Befragungen in der empirischen Sozialforschung. Ausschöpfungsquoten und Antwortqualität. In: Planung und Analyse, 96 (1), S. 35-41.Dworschak, W. (2010): Schulbegleiter, Integrationshelfer, Schulassistent? Begriffliche Klärung einer Massnahme zur Integration in die Allgemeine Schule bzw. die Förderschule. In: Teilhabe, 49 (3), S. 131-135.Dworschak, W. (2012): Schulbegleitung an Förder- und Allgemeinen Schulen. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 63 (10), S. 414-421. Kissgen, R.; Franke, S.; Ladinig, B.; Mays, D.; Carlitscheck, J. (2013): Schulbegleitung an Förderschulen in Nordrhein-Westfalen: Ausgangslage, Studienkonzeption und erste Ergebnisse. In: Empirische Sonderpädagogik, 3, S. 263-276.Masmeier, B. (1998): Wer zahlt was? Gerangel um Finanzierungszuständigkeiten bei integrativer Beschulung. In: Zusam-men, 18 (10), S. 32-33.Niedermayer, G. (2009): Die Rolle der Integrationsbegleiter. In: Thoma, P.; Rehle, C. (Hg.): Inklusive Schule. Leben und lernen Mittendrin. Klinkhardt, Bad Heilbrunn. S. 225-235.Schädler, J. (2009): Offene Hilfen. In: Theunissen, G.; Kulig, W.; Schirbort, K. (Hg.): Handlexikon Geistige Behinderung. Kohlhammer, Stuttgart. S. 244-245.Wilczek, B. (2008): Schulbegleitung für Schülerinnen und Schüler mit Asperger-Syndrom[Broschüre]. Hamburg: Bundes-verband autismus Deutschland e.V.

Dr. Bernhard Schmalenbach ist Professor für Heilpädagogik an der Alanus-Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter und leitet das dortige Institut für Heilpädagogik und Sozialtherapie. Redakteur der Zeitschrift Seelenpflege.

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Kunst schafft BrückenEin Besuch im Atelier der Troxler-Werkstätten

Von Elisa Herr

Betritt man das Atelier der Troxler-Werkstätten, ist man direkt umgeben von Kunst. Überall hän-gen Kunstwerke an den Wänden. Ich weiss fast nicht, wo ich zuerst hinschauen soll. So viel Pro-duktivität, so viel Kreativität, so viel Kunst, die einem entgegenschlägt – und so wenig Platz.«Wir leben in einem Provisorium» sagt Otto Zech, der das Atelier zusammen mit der ange-henden Kunsttherapeutin Joanna Stange leitet, denn das Kunstatelier teilt sich seinen Raum mit dem Speisesaal, der nur durch eine Trennwand vor Blicken und dem gelegentlichen Trubel ne-benan geschützt ist. Aber möglicherweise be-kommt das Atelier bald mehr Platz. Hoffentlich, denn der Raum quillt über vor Werken – und das, obwohl einiges unterwegs ist in Ausstellun-gen. Die Künstlerinnen und Künstler des Troxler-Ateliers sind mittlerweile auch über die Grenzen Deutschlands bekannt und es finden sich viele Liebhaberinnen und Liebhaber für ihre Kunst.

Das Konzept des Ateliers: Gemeinsam Arbeiten, voneinander lernen, Gemeinsamkeit schaffen

«Kunst schafft Brücken», diese Idee verfolgt Otto Zech in seinem gesamten Werk. Für ihn ist die Arbeit im Troxler-Atelier ein Teil seiner Kunst. Genauso wie auch andere Projekte, die er in Zu-sammenarbeit mit Menschen gemacht hat.Es soll keine «Outsider-Kunst» sein, keine Kunsttherapie, kein Stempel, weil der oder die KünstlerIn eine Behinderung hat. Es geht hier um Begabungen und die hat jeder Mensch. Manche bzw. mancher in der Kunst.Im Troxler-Atelier arbeiten unterschiedliche Künstlerinnen und Künstler – Alt und Jung,

Malerin und Bildhauer, Mann und Frau – Seite an Seite. Und alle sind sehr offen. Ich darf her-umgehen, den KünstlerInnen über die Schulter schauen, Fragen stellen. Die eine hat ein genau-es Konzept, das sie verfolgt. Der nächste kleckst erst einmal ein bisschen herum, zum Aufwär-men. Überall wird gearbeitet. Zwischendurch gibt es gelegentlich eine Pause, in der sich zwei unterhalten oder die entstehenden Werke der anderen begutachtet werden. Es ist die Vielfalt, die hier herrscht und die fasziniert.

Die Sprache der Kunst

«Jeder Mensch ist ein Künstler», dieser Ansatz von Josef Beuys ist hier sehr präsent. Nicht weil jede/jeder künstlerisch tätig ist, sondern weil alle ihrer Begabung folgen und diese ausleben dürfen. Weil die Menschen hier ausdrücken, was tief in ihnen lebt. Ihre Kunst und ihr Selbstver-ständnis als Künstler zeigt, wie ähnlich und doch verschieden zugleich wir alle sind – und dass dies mitteilbar ist. Wir müssen nur die richtige Spra-che für uns finden. Eine Sprache, die es vermag, den «Schatz» nach aussen zu tragen, der in uns verborgen ist. Der Teil in uns, der gesehen werden will. In seiner Schönheit oder auch seinem Schre-cken. Die Helligkeit wie auch die Dunkelheit.Die Menschen, die im Atelier der Troxler-Werkstät-ten arbeiten, haben ihre Sprache gefunden. Ihre Brücke von Innen nach Aussen: Die Kunst. Von einem zum anderen und von ihnen in die Welt.

Elisa Herr studiert Kunsttherapie an der Hoch-schule für Künste im Sozialen in Ottersberg.

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Wolfgang Kulzer: Königswagen

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Birgit Lettau: Frauen

Birgit Lettau: Figuren

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Zeitschrift Seelenpflege 2 | 2015 51Dagmat Titz: Figuren

Gemeinschaftsarbeit: Objekt

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Wolfgang Kulzer: Ohne Titel

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Beim ersten Durchblättern blieb mein Blick bei dem Gedicht «Mexico» hängen. Es erzählt zunächst eher harmlos von ei-nem Land für Touristen, beschreibend und ganz ohne die skurril-paradoxalen für Paulmichl so typischen Sprachwendun-gen. Das Gedicht schliesst mit der Zeile «Doch in den grossen Städten wohnt eine unerbittliche Armut.» Eine seltsame Kraft geht von diesen Worten aus. Plötzlich, so hat man den Eindruck, ist die Armut fast wie ein Wesen präsent: sie ist es, die da wohnt, nicht die Menschen. Wie kann jemand, der in seinem Leben wahrschein-lich nie besonders weit über Prad – wo immer das denn sein mag – hinausge-kommen ist, Mexiko womöglich nie ge-sehen hat, mit so wenig Worten, mit einer solch schlichten, aber mit langem Atem erzeugten Satzmelodie, eine solche Prä-senz erzeugen?So geht es mir auch mit den anderen Ge-dichten, die Irene Zanol und Johannes Gruntz-Stoll aus dem Frühwerk dieses Dichters und Malers herausgegeben ha-ben. Sie sind zwar noch nicht so aus-geprägt in der dem Dichter so eigenen Sprache, wie sie sich z. B. in «Der Georg» (2008) findet, dafür ursprünglicher und offener in ihrem Sprachduktus, wenn auch schon mit der seltsamen und stu-

penden Doppelbödigkeit die Paulmichls Arbeiten auszeichnet. Die packende Ori-ginalität seines Humors und die an der Oberfläche liegende Skurrilität bleibt nie bei sich selbst stehen, sondern eröffnet unvermutete Einsichten und Erkenntnis-se, die den Leser bereichert, berührt, und manches Mal auch beschämt zurück las-sen, in jedem Fall aber mit einer neuen und ungewohnten Perspektive.Welche Sprachkunst in diesem Oeuvre liegt, ist spätestens seit dem von Johannes Gruntz herausgegebenen Band «Ich habe Glück gehabt, dass es mich gibt» (2010) evident geworden.Wie schon in seinen anderen Büchern ist der Gedichtband mit Beispielen aus dem malerischen Werk von Georg Paulmichl versehen, die von seiner eindrucksvollen Doppelbegabung zeugen. Auch diese Seite seines Wirkens trifft den Betrachter durch eine intensive, manchmal strenge und im dunklen Spektrum gehaltene Farb- und Formgestaltung. «Bis die Ohren und Augen aufgehen» kann man angesichts dieses Bandes praktisch wörtlich nehmen und danken, dass das Gesamtwerk des vielfach preisgekrönten und gerühmten Dichters um diese frühen Texte bereichert worden ist.

Rüdiger Grimm

Georg Paulmichl: Bis die Ohren und Augen aufgehen. Frühe Texte und Bilder.Herausgegeben und mit einem Nachwort von Irene Zanol und Johannes Gruntz-Stoll

Haymon-Verlag Innsbruck-Wien 2014 ISBN 978-3-7099-7149-9

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Seelenpfl ege in Heilpädagogik und Sozialtherapie 34. Jahrgang 2015 Heft 2

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ImpressumHerausgegeben von der Konferenz für Heil pädagogik und Sozialtherapie in der Medizinischen Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum, Dornach (Schweiz) www.khsdornach.org

RedaktionDr. Rüdiger Grimm Dr. Bernhard SchmalenbachGabriele Scholtes (Dipl.-Heilpädagogin)

AdministrationPascale Hoff mann

Die Zeitschrift erscheint viermal jährlich.

Abonnementspreise CHF Euro Abonnement 42.-- 32.--Studierende/Senioren 27.-- 20.--Einzelheft (zuzügl. Porto) 15.-- 10.--

Organisationsabonnement ab fünf Hefte 300.-- 250.--Weitere Informationen unter: www.seelenpflege.info

Das Abonnement ist jederzeit kündbar.

Layout Roland Maus

SatzGabriele Scholtes, Rüdiger Grimm

DruckUehlin Druck und MedienhausInh. Hubert MößnerHohe-Flum-Strasse 40 DE-79650 Schopfheim

AnschriftZeitschrift SeelenpflegeRuchti-Weg 9, CH-4143 DornachTelefon: +41 61-701 84 85eMail: [email protected]: www.seelenpflege.info

Verlag der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie, DornachISSN 1420-5564

Mediadaten: www.seelenpflege.info

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