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Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

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Segner Hasund

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Page 1: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

Dietmar SegnerAsbjørn Hasund

Individualisierte

Kephalometrie

3. Auflage

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DIETMAR SEGNER

ASBJØRN HASUND

Individualisierte Kephalometrie

Hamburg

1998

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Individualisierte Kephalometrie

3., unveränderte Auflage

Copyright ©1998 Dietmar Segner, Verlag und Vertrieb,

Herwigredder 110c, D-22559 Hamburg, Fax 040/81960127

Druck: Grunewald GmbH, 34123 Kassel

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten.Reproduktion durch Fotokopie oder ein anderes Verfahren -auch auszugsweise- ist ohne Erlaubnis der Heraus-

geber nicht statthaft.

ISBN 3-9802709-3-9

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INHALTSVERZEICHNIS

A. Einleitung 5

B. Technischer Teil 7

1. Röntgenaufnahmetechnik 72. Verwendete Referenzpunkte 133. Referenzlinien 254. Durchzeichentechnik 285. Manuelle Messung der Strecken und Winkel 336. Computerunterstützte Messung 397. Kontrolle von Meßfehlern 42

C. Klinische Aussage der Variablen 47

D. Der Begriff „Norm“ 67

1. Beurteilung von Meßgrößen 672. Harmoniebegriff 683. Gesichtstyp und Harmonie 724. Das Harmonieschema 825. Basale kephalometrische Normen 846. Dentale kephalometrische Normen 907. Weichteil-Normen 96

E. Wachstum 98

1. Zeitpunkt 982. Richtung 1043. Überlagerung von Fernröntgenaufnahmen 1084. Prognose der Veränderung von kephalometrischen Werten 109

F. Klinische Relevanz der Analyse 112

1. Klassifikation des Gesichtstyps 1122. Basaler Trend der Anomalie 1133. Einfluß des Wachstums 1184. Kephalometrie der Weichteile 1215. Kephalometrie der Zahnstellung 123

G. Klinische Beispiele, Behandlungsansätze und -ergebnisse 126

1. Angle-Klasse II1

1262. Angle-Klasse II

2133

3. Angle-Klasse I, erwachsener Patient 1394. Angle-Klasse III 144

H. Literatur 151

I. Index 153

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Technischer Teil

A. Einleitung

Kephalometrische Analysen gibt es sehr viele,man könnte fast sagen „wie Sand am Meer“. Jedehat ihre Eigenarten, auch wenn es bei der großenZahl von Analysen selbstverständlich ist, daß vieleAnalysen in Teilen deckungsgleich sind. Der gro-ßen Zahl der beschriebenen Analysen steht nureine begrenzte Anzahl von am Fernröntgenbildsinnvoll meßbaren Strecken gegenüber.

Ziel dieses Buches kann deshalb nicht sein, einevöllig neue, völlig andere Analyse zu beschrei-ben. Es wird auch nicht der Anspruch erhoben,daß sie die einzig richtige oder gar die beste sei.Derartige Aussagen wären unangemessen, da eineAnalyse nur ein Hilfsmittel für den Behandlerdarstellt. Es hängt viel davon ab, daß der jeweili-ge Behandler mit einer Analyse vertraut ist undweiß, was er von ihr erwarten kann - und was nicht.Mit entsprechend großer klinischer Erfahrungkann ein Behandler vermutlich auch mit einemMinimum an Meßwerten und einer wenig lei-stungsfähigen Analyse gute Behandlungs-planungen und -ergebnisse erzielen. Im folgen-den wird eine Analyse beschrieben, die aufgrundder Betonung der Individualität gewisse Vorteilegegenüber vielen anderen Analysen bietet.

Wichtiger erscheint in diesem Zusammenhang,daß der kieferorthopädische Behandler besondersin den ersten Jahren seiner Tätigkeit ein Werk-zeug in die Hand bekommt, das ihm erlaubt, dieim Fernröntgenbild enthaltenen Informationenmöglichst optimal und effizient zu nutzen. Erstrecht wird auch der erfahrene Behandler nicht aufdieses Werkzeug verzichten; vielmehr wird er esals Basis für seine -der Grundanalyse gegenüber-in Details verfeinerte Behandlungsplanung nut-zen.

Weiter erscheint wichtig, daß die kephalome-trische Analyse die Möglichkeiten und Grenzender kieferorthopädischen Therapie deutlich macht.Diese Einschränkungen ergeben sich einerseits imGrenzbereich zur orthognathischen Chirurgie, an-dererseits in der Abgrenzung, ob ein Fall von ei-nem nur teilweise kieferorthopädisch tätigenBehandler begonnen werden sollte oder besser anden Spezialisten überwiesen werden muß. DieseGrenzen ergeben sich vor allem durch die Mor-phologie des Gesichtsschädels und können folg-lich nur durch eine entsprechende kephalo-metrische Analyse erkannt werden.

Auch dem nicht kieferorthopädisch tätigen Zahn-arzt können die dargestellten Prinzipien derkephalometrischen Analyse nicht nur bei seinerAufgabe als „Ersterkenner“ einer Anomalie, son-dern auch bei seiner rein zahnärztlichen Tätigkeithelfen. Dies gilt sowohl bei größeren Verände-rungen der Okklusalflächen als auch beim totalenZahnersatz. Zunehmend wird von Seiten der Pro-thetik neben der gelenkbezüglichen Registrierungder Unterkieferbewegungen auch auf das Fern-röntgenbild als diagnostische Grundlage zurück-gegriffen.

Die vorliegende kephalometrische Analyse unter-scheidet sich von vielen anderen dadurch, daß sieder Individualität jedes Patienten einen besonde-ren Stellenwert einräumt. Bewußt wird von Bevöl-kerungsmittelwerten Abstand genommen, denn eskann nicht Ziel einer kieferorthopädischen The-rapie sein, jeden Patienten auf einen Durch-schnitts-“Norm“menschen hin zu behandeln.

Entsprechende Gedankengänge wurden schon vonA. M. Schwarz in seinem Lehrgang der Gebiß-

regelung geäußert. Er unterschied deutlich zwi-schen dem „Durchschnitts-(Mittel-)Wert“ und

Einleitung

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dem „Norm“-Wert. Er schreibt auch: „An ober-ster Stelle steht hier das Gebot, die Besonderhei-ten der Entstellung nach der Richtung möglich-ster Unauffälligkeit abzuschwächen. Das erreichtman häufig - aber bei weitem nicht immer! - durchAnnäherung der verbildeten Kiefer an ihre Durch-schnittslagerung.“ Daraus geht hervor, daß er be-reits vor über 50 Jahren erkannte, daß man spezi-elle Normen für den jeweiligen Einzelfall anwen-den muß. Leider hat es sich als nicht ganz einfachherausgestellt, diese Normen für den Einzelfallaufzustellen. Es wurde deshalb -auch im Zusam-menhang mit einer Fülle von Mittelwertstudien-meist nur ein Vergleich mit den Bevölkerungs-durchschnittswerten durchgeführt.

Das vorliegende Buch zeigt jedoch, wie sich durchAnwendung einfacher mathematisch-statistischerVerfahren sowohl diagnostische Aussagen treffenals auch Behandlungsplanungen erstellen lassen,die trotz -oder gerade wegen- Berücksichtigungder individuellen Gegebenheiten des Patientendeutliche Aussagen machen können. Die Wich-tigkeit der Individualisierung von kephalo-metrischen Normen wird von uns so hoch einge-schätzt, daß wir dieser Tatsache bei der Wahl desTitels deutlich Ausdruck verliehen haben.

Ein weiteres Merkmal der vorgestellten Analyseist die Einfachheit und Nachvollziehbarkeit derVariablen und Methoden. Es werden nur gängigeund leicht meßbare Variablen verwendet, derenAussage und Bedeutung auf Anhieb erkennbarsind. Auf komplizierte Konstruktionen bei der

Definition von Referenzpunkten sowie auf unsta-bile Referenzlinien wurde bewußt verzichtet. DieAnalyse hat sich damit in der Praxis sowohl beicomputerunterstützter Anwendung, als auch beirein manueller Anwendung als klar und einfachdurchzuführendes Verfahren erwiesen, dessenErgebnisse klinisch verwertbare Aussagen liefert.

Alle Aussagen und individualisierte Behand-lungsnormen basieren auf wissenschaftlichenUntersuchungen an Mittel- und Nordeuropäern.Dabei ist Grundprinzip, zunächst zu beobachten,wie es der Natur ohne Zutun eines Kieferortho-päden gelingt, trotz individueller Variationen in

der Gesichtsmorphologie gute und sogar perfek-te Okklusionen einzustellen. Aus den Prinzipien,die dabei zu Tage treten, werden dann diagno-stische Normen und Konzepte für die Behand-lungsplanung abgeleitet.

Nach einem Überblick über die technischen Ge-gebenheiten bei der Erstellung von Fernrönt-genbildern werden zunächst die verwendetenReferenzpunkte definiert und beschrieben. Esfolgt die Beschreibung der Variablen, wie sie ge-messen werden und welche klinische Aussage siehaben. Schließlich werden die Beurteilung dergemessenen Werte und die Individualisierung vonNormen ausführlich diskutiert. Das Wachstum -soweit es für die kephalometrische Analyse wich-tig ist- wird abgehandelt. Zuletzt werden die darge-stellten Prinzipien anhand einiger Beispiele ausder Klinik erörtert.

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Technischer Teil

B. Technischer Teil

1. RÖNTGENAUFNAHMETECHNIK

Grundlage jeder kephalometrischen Analyse istein Fernröntgenseitenbild. Da die Röntgenbildermetrisch ausgewertet werden und die gemessenenWerte direkt die Art der Behandlung beeinflus-sen werden, müssen Aufnahmen für kephalome-trische Analysen neben den üblichen Qualitätsan-forderungen wie unter anderem gute Erkennbarkeitder Strukturen nur minimale geometrische Abbil-dungsfehler und gute Wiederholgenauigkeit aufwei-sen. Eine Behandlungsplanung auf der Grundlageeines Fernröntgenseitenbildes läßt sich nur durch-führen, wenn eine zweite, zum selben Zeitpunkterstellte Aufnahme zur gleichen Diagnose und da-mit zum gleichen Therapiekonzept führen würde.

Aufbau

Eine Fernröntgenanlage besteht aus dem eigent-lichen Röntgenapparat, der Kopfhalterung und der

Filmhalterung (siehe auch Abb. 1). Diese dreiTeile sind fest miteinander verbunden, damit beijeder Aufnahme definierte und reproduzierbareVerhältnisse herrschen. Der Röntgenapparat be-steht aus einer Röntgenröhre ausreichender Lei-stung mit einer speziellen Blende, die auf die Grö-ße der Filmkassette eingestellt ist. Die Kopf-halterung besteht aus zwei in ihrem Abstand zu-einander veränderlichen Streben, die an ihremunteren Ende je einen einander zugewendetenKonus (Ohroliven) haben. Diese Ohroliven wer-den vorsichtig in die äußeren Gehörgänge desPatienten eingeführt, wobei der Abstand zwischenden Streben langsam verringert wird, bis der Kopfdes Patienten soweit fixiert ist, daß er nur nochNickbewegungen um eine Achse durch die Ge-hörgänge durchführen kann. Die Halterung für dieFilmkassette ist nahe der Kopfhalterung ange-bracht und zwar so, daß die Filmebene exakt senk-recht zur Längsachse der Anlage angeordnet ist.

Es gibt prinzipiell die Möglichkeiten, den Pa-tienten im Sitzen oder im Stehen zu röntgen. Diestehende Methode hat den Vorteil, daß der Pati-ent in seiner natürlichen Kopfhaltung (Flexion desHalses) geröntgt werden kann. Die Anlage mußder Größe des Patienten angepaßt werden kön-nen, daher muß entweder die Anlage selbst oderder Stuhl, beziehungsweise das Podest auf demder Patient steht, in der Höhe verstellbar sein.Erfolgt die Einstellung nicht unter Beachtung dernatürlichen Kopfhaltung, so wird der Patient meistentsprechend der Frankfurter Horizontalen orien-tiert.

Die exakte Ausrichtung der Anlage und damitauch die des Patienten muß regelmäßig kon-trolliert werden. Einerseits können sich die Stre-ben der Kopfhalterung durch zu große Kraft-einwirkung verformen, andererseits kann dieKopfhalterung Spiel haben. Meist ist es möglich,die Kopfhalterung um 90° zu drehen, um auch

Abb. 1 Kopf- und Filmhalterung einer Fernröntgen-anlage

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antero-posteriore Aufnahmen machen zu können.Wenn die Arretierungsschraube nicht fest angezo-gen ist, können die Streben der Kopfhalterung vomPatienten im Millimeterbereich hin- und her-bewegt werden. Sowohl Spiel als auch Verfor-mung führen dazu, daß die Ohroliven von derRöntgenröhre aus gesehen vertikal und/oderhorizontal nicht in Deckung sind (Abb. 2). Die-ser Fehler zeigt sich auch auf den Aufnahmen, dadie Ohroliven sich auf dem Film abzeichnen.Wenn die Ohroliven sich nicht aufeinander proji-zieren, ist die Anlage nicht exakt ausgerichtet undbedarf der Justierung.

Geometrische Abbildungsfehler

Bei jeder Röntgenaufnahme sind geometrischeAbbildungsfehler imminent, lediglich ihre Größeläßt sich beeinflussen. Die wichtigsten Abbil-dungsfehler sind

1. Vergrößerung und Entstehung von Dop-pelkonturen durch die Divergenz der Rönt-genstrahlen

2. Unschärfe

Die an der Anode der Röntgenröhre entstehendeStrahlung verläßt die Röntgenröhre radial. EinGroßteil dieser Strahlung wird durch die Blendeausgeblendet, nur der gewünschte Bereich vonKopf und Hals wird von den Röntgenstrahlen er-reicht. Da die Strahlen sich von der etwa 1 x 1 cmgroßen Anode auf den 18 x 24 cm großen Filmausbreiten, müssen die Strahlen, die die Rand-bereiche des Filmes erreichen, divergent sein.Einzig der Zentralstrahl, der von der Anode biszum Film parallel zur Achse der Röntgenanlageverläuft, trifft den Kopf des Patienten und auchden Film senkrecht. Die Divergenz der Strahlenführt nicht nur dazu, daß alle Partien des Kopfes,die nicht vom Zentralstrahl getroffen werden, nichtexakt von lateral getroffen werden, sondern auchdazu, daß das Abbild auf dem Film gegenüber demOriginal vergrößert erscheint. Die Vergrößerungan sich stellt dabei nicht das wesentliche Problemdar, vielmehr die Tatsache, daß die filmfernenTeile des Kopfes mit einem größeren Vergrößer-ungsfaktor abgebildet werden als die filmnahen.

Es läßt sich leicht zeigen, daß die Divergenz derStrahlen, die den Rand des in der Größe vor-gegebenen Röntgenfilms erreichen, um so gerin-ger ist, je weiter der Röntgenstrahler vom Kopfdes Patienten entfernt ist. Die Vergrößerung er-gibt sich aus

wobei V der Vergrößerungsfaktor, d der Abstandder Filmkassette von der Röntgenröhre und d

1 der

Abstand des abzubildenden Punktes von der Film-kassette ist (Abb. 3). Um den prozentualen Ver-größerungsfaktor zu erhalten, muß V mit 100multipliziert werden. Für größere Abstände d istd

1 praktisch vernachlässigbar klein, so daß der

Vergrößerungsfaktor dann nahezu umgekehrtproportional zum Abstand zwischen Film und

Abb. 2 Falsche Position der Ohroliven führt zwangs-läufig zu unerwünschten Doppelkonturen bei der Auf-nahme

V 1

d d1

=-d

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Technischer Teil

Röhre ist. Zwei Beispiele aus der Praxis mit gän-gigen Fokus-Film-Abständen verdeutlichen dies:

Fokus-Film-Abstand 4.00 m 1.70 mKopfmitte - Film 0.20 m 0.20 mVergrößerungsfaktor 5.26 % 13.3 %

Aus technischen und praktischen Gründen läßtsich der Fokus-Film-Abstand nicht beliebig ver-größern, so daß für Praxen ein Abstand von etwa1.70 m üblich ist, während viele Kliniken Abstän-de von etwa 4.00 m verwenden.

Wie oben schon beschrieben, ist nicht der Ver-größerungsfaktor an sich problematisch, sondernvielmehr die Differenz zwischen dem Vergrößer-ungsfaktor für die linke und die rechte Gesichts-hälfte. Ein allgemeiner Vergrößerungsfaktor machtsich nur bei Streckenmessungen bemerkbar undkann dann leicht rechnerisch eliminiert werden.Die Differenz zwischen den Vergrößerungs-faktoren zwischen rechter und linker Gesichts-hälfte führt dagegen zu Doppelprojektionen undUngenauigkeiten bei Punkten, die erst durch die

Abb. 3 Vergrößerungseffekt bei der Fernröntgenaufnahme durch Divergenz der Strahlen. V stellt den Vergröße-rungsfaktor, d den Fokus-Film-Abstand und d

1 den Abstand Objekt-Film dar.

Tab. 1 Differenz zwischen dem Vergrößerungsfaktorfür rechte und linke Gesichtshälfte in Abhängigkeit vomFokus-Film-Abstand. Viele in der Praxis verwendeteGeräte haben einen Fokus-Film-Abstand von 1.70 moder etwas weniger.

Vergrößerungsfaktoren

Abstand Kopfmitte-Film: 12 cm

Fokus-Film 1.70 m 4.00 mAbstand

Medianebene 7.6% 3.1%

filmnah 3.7% 1.5%

filmfern 11.8% 4.7%

Differenz 8.1% 3.2%

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Übereinanderprojektion verschiedener Strukturenentstehen. Diese Differenzen sinken ebenfalls mitsteigendem Fokus-Film-Abstand, wie aus Tabel-le 1 zu erkennen ist.

Eine gewisse Unschärfe ergibt sich aus der Tatsa-che, daß die Anode nicht punktförmig ist, son-dern eine Fläche von 50 mm2 bis 100 mm2 hat.Auch hierbei ist ein großer Fokus-Film-Abstandvorteilhaft. Da jedoch die notwendige Strahl-ungsleistung mit dem Quadrat des Fokus-Film-Abstandes zunimmt und die Leistung einer Rönt-genröhre unter anderem durch die Fläche derAnode begrenzt ist, würde ein zu großer Abstandzu sehr langen Belichtungszeiten und damit zuBewegungsunschärfen führen. Weiterhin erfor-dern Röntgenstrahler mit großer Leistung einengroßen apparativen Aufwand, so daß in der prak-tischen Anwendung der Fokus-Film-Abstandmeist auf 1.70 m bzw. 4.00 m begrenzt bleibt.

Empfindlichkeit des Filmmaterials

Besondere Anforderungen werden an die Ab-stimmung von Filmmaterial, Filtern und Strah-lungsdosis gestellt. Die Strukturen, die im Fern-röntgenbild aufgesucht und auf Bruchteile einesMillimeters genau vermessen werden müssen, er-fordern eine sehr feine Darstellung, so daß dieüblichen Kassetten mit hochwirksamer Ver-stärkerfolie ein zu grobes Korn ergeben würden.Es werden deshalb mit Rücksicht auf die Fein-körnigkeit des Röntgenbildes weniger wirksame,aber feinere Verstärkerfolien verwendet.

Im Bereich des Kopfes sollen für kephalome-trische Zwecke Strukturen stark unterschiedlicherRöntgendichte dargestellt werden. Der BereichBasion und Condylen ist meist von den Keilbeinenüberlagert und sehr röntgendicht. Gleiches gilt fürden Bereich der Zähne. Dagegen stellt sich derBereich der Spina nasalis anterior als recht wenig

röntgendicht dar. Es ist deshalb wichtig, daß derFilm relativ kontrastarm („weich“) ist, um all die-se Strukturen deutlich darzustellen.

Weiterhin sind für die Zwecke der kephalome-trischen Auswertung nicht nur die knöchernenStrukturen von Interesse, sondern auch die Weich-teile in der Mediansagittalebene, das Weich-teilprofil. Eine Strahlenintensität, die die klareDarstellung der Strukturen in der Region der Schä-

Abb. 4 Darstellung der Weichteile auf Fernröntgen-bildern durch röntgendichte Salbe (oben) und Weich-teilfilter (unten).

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Technischer Teil

delbasis erlaubt, wird selbst bei einem kontrast-armen Film praktisch keine Darstellung desWeichteilprofils erlauben.

Es gibt nun zwei Möglichkeiten, auch die Weich-teile zur Darstellung zu bringen. Einerseits kön-nen die Weichteile durch Auftragen einer röntgen-dichteren Masse (Zinksalbe) zur Darstellung ge-bracht werden (Abb. 4, oben). Zum anderen kön-nen die Weichteile durch einen Filter, der nur denBereich des Weichteilprofils abdeckt, abgebildetwerden (Abb. 4, unten). Es ist vorteilhaft, wenndieser Weichteilfilter nicht einfach einen vertika-len Streifen abdeckt, sondern dem typischen Ver-lauf des Profils angepaßt ist. Die Abstimmung derLage des Filters ist wichtig, da im Bereich derLippen das Weichteilprofil und die Inzisivi rechtnahe beieinander liegen. Während die Lippen alsWeichteile zur Darstellung eine relativ geringeStrahlungsintensität benötigen, erfordert die deut-liche Unterscheidung der Schneidezahnwurzel

vom umgebenden Knochen eine wesentlich hö-here Dosis. Einen ähnlichen Weg beschreitet einVerfahren mit Verstärkerfolien mit variierenderVerstärkung. Hier erstreckt sich der Bereich ma-ximaler Verstärkung im posterioren Teil, währendim anterioren Bereich geringere Verstärkungs-werte benutzt werden. Der Vorteil dieses Ver-fahrens ist der kontinuierliche Übergang von ma-ximaler zu geringer Verstärkung. Es zeichnen sichso im Röntgenbild keine Ränder von Filtern ab,die zu Fehlinterpretationen führen könnten.

Einstellung des Patienten

Die Position des Unterkiefers kann sowohl vomBediener der Röntgenanlage als auch vom Pati-enten selbst verändert werden, was bei derkephalometrischen Auswertung zu völlig un-brauchbaren Ergebnissen führen kann. Um erneuteAufnahmen oder falsche Auswertungen zuvermeiden, muß vor der Röntgenaufnahme die

Abb. 5 Fernröntgenbild eines Patienten, der den Unterkiefer unbemerkt bei der Aufnahme vorgeschoben hat.Rechts derselbe Patient mit Wachsbiß in retraler Position bei der Aufnahme.

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Bißlage des Patienten genau kontrolliert werden.In der Regel soll der Patient in der retralsten, ohneZwang erreichbaren Unterkieferposition geröntgtwerden. Besonders Patienten mit einer ausgepräg-ten Unterkieferrücklage oder mit einem Zwangs-biß (besonders bei anterioren Kreuzbissen undausgeprägten Asymmetrien) neigen dazu, denUnterkiefer ungewollt und unbemerkt in eine an-dere als diese korrekte Position gleiten zu lassen(Abb. 5). Leicht kommt es in solchen Fällen zuvöllig irreführenden Ergebnissen der Analyse undfolglich zu falschen Behandlungsplanungen. Inderartigen Fällen ist es im allgemeinen sinnvoll,vor der Röntgenaufnahme einen Wachsbiß in derkorrekten Position zu erstellen und diesen dannkurz vor der Aufnahme einzusetzen.

Es versteht sich von selbst, daß den Anforde-rungen des Strahlenschutzes entsprochen wird.Besonders bei Erstberatungen kann es öfters vor-kommen, daß bereits aktuelle Aufnahmen des Pa-tienten von anderer Seite erstellt wurden.

Eine qualitativ hochwertige kieferorthopädischeBehandlung erfordert sowohl eine genaue Diagno-stik als auch eine fortlaufende Kontrolle desBehandlungsverlaufs unter Einschluß mehrererRöntgenaufnahmen. Diese fortlaufende Erstellungvon Röntgenunterlagen muß vor, während undnach der Behandlung - also auch in der Retentions-und Überwachunsphase - erfolgen. Auch sollteden erhöhten Anforderungen an die Dokumenta-tionspflicht in Hinblick auf forensische Entwick-lungen Rechnung getragen werden.

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Technischer Teil

2. VERWENDETE REFERENZPUNKTE

Um seitliche Fernröntgenaufnahmen metrischauswerten zu können und damit Aussagen überForm und Größe des Gesichtsschädels machen zukönnen, ist es notwendig, eindeutig definierte undreproduzierbare Referenzpunkte zu beschreiben.Die Punkte sollten folgenden Ansprüchen genü-gen:

- Sie sollten anhand der Definition auch vonverschiedenen Behandlern identisch auf-gefunden werden können.

- Sie sollen geeignet sein, nach Ziehen vonentsprechenden Referenzlinien und Winkel-oder Streckenmessungen die von derkephalometrischen Analyse gefordertenAussagen zu erbringen.

- Sie sollten einen möglichst geringen Fehlerbeim Auffinden zeigen, besonders in der

Richtung, in der der Punkt für Referenz-linien verwendet wird.

Weiterhin ist es vorteilhaft, wenn die Punkte

- leicht und ohne Hilfskonstruktion auffind-bar sind.

- in Bezeichnung und Definition allgemeinbekannt sind (Erleichterung der Kom-munikation).

Für die hier beschriebene kephalometrische Ana-lyse werden 20 Punkte benötigt (Abb. 6). Es han-delt sich dabei überwiegend um direkt auf derKontur der Kieferknochen auffindbare Punkte;lediglich die Punkte tgo und Sp’ müssen kon-struiert werden. Bei den Punkten UL, WPg, Snund ctg handelt es sich um Weichteilpunkte.

Abb. 6 Verwendete Referenzpunkte

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Die Definition der Referenzpunkte im einzelnen:

1. Sella (S)

Der Sella-Punkt ist definiert als das Zentrum derknöchernen Krypte der Sella turcica (Abb. 7). Erstellt einen konstruierten Punkt dar, der in derMedian-Sagittalebene liegt. Zum Auffinden desPunktes wird der größte Durchmesser der Sellahalbiert.

Abb. 7 Umgebung des Sella-Punktes am mazerierten Schädel von seitlich und frontal. Sellaim Fernröntgenbild. Konstruktion des Punktes Sella als Halbierung des größten Durchmessersder Sella turcica.

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Technischer Teil

2. Nasion (N)

Das Nasion ist der anteriorste Punkt der Suturanaso-frontalis (Abb. 8). Geht die Sutur nach vornin eine offene V-Form über, so wird derposteriorste Punkt des V’s verwendet. Der Punktliegt in der Median-Sagittal-Ebene (Abb. 8).

Abb. 8 Nasion und angrenzende Strukturen (f Stirnbein, n Nasenbein, sf Sinus frontalis) amSchädel und im Fernröntgenbild

Bei der Überlagerung von zwei in zeitlichemAbstand genommenen Röntgenbildern muß be-achtet werden, daß das Nasion aufgrund relativstarker Knochenapposition an der äußeren Kno-chenfläche in der Glabellagegend während der Pu-bertät unstabil sein kann.

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3. Basion (Ba)

Das Basion ist der am weitesten posterior undkaudal gelegene Punkt des Clivus in der Median-Sagittal-Ebene (Abb. 9) und damit der anteriorstePunkt des Foramen magnum. Häufig wird auf-grund der besseren Lokalisierbarkeit nicht dieAußenkortikalis des Clivus verwendet, sonderndas dorso-kaudale Ende der Spongiosa des Cli-vus. Zum Auffinden ist es hilfreich, dem Unter-rand der Schädelbasis und vom Dorsum sellae ausdem Clivus zu folgen. Im Bereich des Schnitt-punktes befindet sich der Punkt Basion. Da sich

häufig weitere Strukturen überlagern, ist das Auf-finden des Basions häufig nicht problemlos. ZurKontrolle sollte beachtet werden, daß der Punktsich etwa 1 cm kranial des Dens axis (Abb. 9) undetwa 1 cm dorsal des Punktes Artikulare befin-det.

Eine häufig zu beobachtende Struktur (X inAbb. 9) stellt nicht das Basion dar, sondern be-findet sich links und rechtslateral des Basions imBereich des Foramen magnum. Diese auch aufdem Fernröntgenbild zu erkennende Struktur soll-te nicht mit dem Basion verwechselt werden.

Abb. 9 Basion (Ba) und Artikulare (Ar) mit angrenzenden Strukturen (c Clivus, de Dens axis,cond Condylus, cm Collum mandibulae) am Schädel von lateral und kaudal sowie im Fern-röntgenbild. Cave: Die Struktur X stellt nicht das Basion dar!

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Technischer Teil

4. Spina nasalis anterior (Sp)

Der Punkt Sp ist der am weitesten anterior ge-legene Punkt der knöchernen Spina nasalis an-terior (Abb. 10). Der Punkt liegt in der Median-Sagittal-Ebene. Eine ähnlich aussehende Struk-tur stellt die knorpelige Fortsetzung der knöcher-nen Spina dar und sollte nicht mit dem eigentlichenSp-Punkt verwechselt werden.

5. A-Punkt

Der A-Punkt ist der tiefste Punkt der anteriorenKontur des Oberkiefer-Alveolarfortsatzes in der

Median-Sagittal-Ebene (Abb. 10). Er wird ge-funden, indem eine Linie vom Punkt Sp zum Lim-bus alveolaris gezogen und dann parallel nach dor-sal verschoben wird, bis sie zur Tangente mit derkonkaven anterioren Kontur des Alveolarfort-satzes wird. Der Tangentenpunkt ist dann der A-Punkt. Als Kontrolle kann dienen, daß die labialeKnochenlamelle über der Wurzel der oberen Inzi-sivi in der Regel nur 1 bis 2 mm stark ist.

Der A-Punkt entspricht dem anthropologischenPunkt Subspinale (SS). Diese Bezeichnung wirdteilweise im amerikanischen und skandinavischenSchrifttum verwendet.

Abb. 10 Vorderer Teil der Maxilla mit Spina nasalis anterior und A-Punkt

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6. Pterygomaxillare (Pm)

Der Punkt Pterygomaxillare ist definiert als derim seitlichen Fernröntgenbild erscheinendeSchnittpunkt der dorsalen Kontur des Corpusmaxillae mit der Kontur des harten bzw. weichenGaumens (Abb. 11).

Die dorsale Kontur der Maxilla ist die anterioreBegrenzung der Fossa pterygopalatina, die sichim seitlichen Fernröntgenbild als ampullenförmigeStruktur (f in Abb. 11) darstellt. Der Bereich desPunktes Pm ist oft von durchbrechenden Mola-

ren überdeckt, so daß die Konturen entsprechendinterpoliert werden müssen. Bei Patienten mitLippen-Kiefer-Gaumen-Spalten ist dieser Punktsehr schwer aufzufinden.

Der Punkt Spina nasalis posterior liegt zwar invertikaler Richtung auf etwa der gleichen Höhewie Pm, ist jedoch in antero-posteriorer Richtungunabhängig von Pm.

Beachte: Die Kontur des harten Gaumens kanndurch einen durchbrechenden Molaren überdecktwerden.

Abb. 11 Pterygomaxillare mit umgebenden Strukturen: tm Tuber maxillae, f Fossapterygopalatina, pt Processus pterygoideus, lp Lamina palatina ossis palatina, pp Processuspalatinus

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Technischer Teil

7. Inzision superius (Iss)

Hierbei handelt es sich um den am weitesten inzi-sal gelegenen Punkt des am anteriorsten stehen-den oberen mittleren Schneidezahnes (Abb. 12).

Abb. 12 Inzision superius (ISs) und Apikalpunkt (ISa) des mittleren Oberkieferinzisivus amknöchernen Schädel (oben), sowie am Fernröntgenbild und auf der Durchzeichnung

8. Apex des Oberkiefer-Schneidezahnes (Isa)

Der apikalste Punkt der Wurzel des am weitestenanterior stehenden mittleren Oberkiefer-Schnei-dezahnes (Abb. 12).

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9. Pogonion (Pg)

Das Pogonion ist der am weitesten anterior ge-legene Punkt des knöchernen Kinns in der Medi-an-Sagittal-Ebene (Abb. 13). Er wird gefunden,indem eine Senkrechte zur Mandibularebene vonanterior an das Kinn geschoben wird, bis sie dieKinnkontur tangential berührt. Der Tangenten-punkt ist dann das Pogonion.

In seltenen Fällen ist das Kinn so fliehend, daß esin keinem Fall zu einer tangentialen Berührungkommt. In diesen Fällen wird ein Punkt auf deranterioren Kontur des Kinns verwendet, der 1 cmkranial der Mandibularebene liegt.

10. B-Punkt

Der B-Punkt ist der tiefste Punkt der anteriorenKontur des Unterkiefer-Alveolarfortsatzes in derMedian-Sagittal-Ebene (Abb. 13). Er wird gefun-den, indem eine Linie vom Punkt Pg zum Limbusalveolaris gezogen und dann parallel nach dorsalverschoben wird, bis sie zur Tangente mit der kon-kaven anterioren Kontur des Alveolarfortsatzeswird. Der Tangentenpunkt ist dann der B-Punkt.

Die anthropologische Bezeichnung für den B-Punkt ist Supramentale (SM).

Abb. 13 Referenzpunkte im anterioren Bereich der mandibulären Symphyse: Inzisioninferius (IIs), Apexpunkt des Unterkiefer-Inzisivus (IIa), B-Punkt (B), Pogonion (Pg) undGnathion (Gn)

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Technischer Teil

11. Gnathion (Gn)

Das Gnathion ist der kaudalste Punkt derUnterkiefersymphyse in der Median-Sagittal-Ebe-ne (Abb. 13). Er wird gefunden als der Punkt mitdem größten Abstand von der Nasion-Sella-Li-nie. Im amerikanischen Sprachgebrauch wird derPunkt oft als Menton bezeichnet.

12. Inzision inferius (Iis)

Hierbei handelt es sich um den am weitesteninzisal gelegenen Punkt des am anteriorsten ste-henden unteren mittleren Schneidezahnes(Abb. 13).

13. Apex des Unterkiefer-Schneidezahnes(Iia)

Der apikalste Punkt der Wurzel des am weitestenanterior stehenden mittleren Unterkiefer-Schnei-dezahnes (Abb. 13).

Da die vier Unterkiefer-Schneidezähne und auchdie unteren Eckzähne meist in einer Linie stehen,überlagern sie sich häufig, so daß eine genaueZuordnung schwer ist. Zu bedenken ist, daß dielängste Wurzel die des Eckzahnes ist und darander Punkt Iia nicht zu finden ist.

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

14. Artikulare (Ar)

Unter dem Artikulare versteht man den Schnitt-punkt des Unterrandes der Schädelbasis mit derdorsalen Kontur des Collum mandibulae(Abb. 14). Der Punkt ist ein konstruierter Punktund nur auf dem Profilröntgenbild aufzufinden.

Abb. 14 Punkt Artikulare (Ar): Am Schädel (oben) ist der Punkt nicht vorhanden, erst in derÜberlagerung der Strukturen im Fernröntgenbild wird er erkennbar. Untern rechts sind diehäufig vorhandenen Doppelkonturen zu erkennen.

Aufgrund von Fehlern in der Abbildungsgeome-trie kommt es öfters zu Doppelkonturen der Colli.In diesen Fällen sind die beiden Schnittpunkteaufzusuchen. Als Punkt Artikulare wird dann dieMitte zwischen den beiden Punkten genommen.

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Technischer Teil

15. Spina Strich (Sp’)

Hierbei handelt es sich um einen konstruiertenPunkt. Er ist definiert als der Schnittpunkt derLinie Nasion-Gnathion mit der Linie Spina-Pterygomaxillare (Nasal-Linie) (Abb. 15).

16. Gonion-Tangentenpunkt (tgo)

Der Punkt tgo ist definiert als der Schnittpunktder Mandibular-Linie mit der Ramus-Linie(Abb. 15). Die Ramus-Linie ist dabei eine Linie,ausgehend vom Punkt Ar als Tangente angelegt

an die posteriore Auswölbung des Kieferwinkels.Liegt im Bereich des Kieferwinkels eine Doppel-kontur vor, so ist diese vor Anlegen der Tangentezu mitteln. Entsprechendes gilt für das Anlegender Mandibular-Linie als Tangente vom Punkt Gnan die untere Auswölbung des Kieferwinkels.

Bei der computerunterstützten Auswertung kepha-lometrischer Röntgenbilder wird der Punkt tgomeist von dem Programm konstruiert, so daß an-statt des Punktes tgo selbst nur die Tangenten-punkte am Kieferwinkel bestimmt werden müs-sen.

Abb. 15 Konstruktionen zur Bestimmung der kephalometrischen Punkte Sp’ und tgo

tgo

Sp‘

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

17. Weichteil-Pogonion (WPg)

Das Weichteil-Pogonion ist der am weitestenanterior liegende Punkt des Weichteil-Kinnprofilsin der Median-Sagittal-Ebene (Abb. 16). Er wirdgefunden, indem eine Tangente vom Weichteil-Nasion an das Kinn gelegt wird.

18. Oberlippenpunkt (Ul)

Der Punkt Ul ist der am weitesten anterior liegen-de Punkt der Oberlippe in der Median-Sagittal-Ebene (Abb. 16). Er wird ebenfalls durch Anle-

gen einer Tangente vom Weichteil-Nasion ausgefunden.

19. Subnasale (Sn)

Punkt des geringsten Kurvenradius am Übergangdes Nasenstegs in die Oberlippe.

20. Columella-Tangentenpunkt (ctg)

Der Punkt Columella liegt am Übergang des ge-raden Anteils der Columella in die Konvexität derNasenspitze.

Abb. 16 Weichteilprofil mit den vier WeichgewebspunktenOberlippenpunkt (UL), Weichteil-Pogonion (WPg), Subnasale (Sn)und Columella-Tangentenpunkt (ctg)

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Technischer Teil

3. REFERENZLINIEN

Als Grundlage für die metrische Auswertung desFernröntgenbildes ist nach der Definition derverwendeten Referenzpunkte auch die Beschrei-bung von Referenzlinien notwendig. Zur Be-schreibung des Gesichtsschädels in vertikalerRichtung gibt es horizontale und zur Beschreibungder antero-posterioren Relation vertikale Refe-renzlinien.

Horizontale Referenzlinien:

1. Nasion-Sella-Linie (NSL)

Der gesamte Gesichtsschädel wird in Rela-tion zur anterioren Schädelgrube vermessen.Als Hauptreferenzebene wird daher dieNasion-Sella-Linie verwendet (Abb. 17).Auch für den Vergleich zweier Röntgen-bilder wird diese Linie verwendet; die Über-lagerung erfolgt auf dem Punkt Sella undder Nasion-Sella-Linie.

2. Nasallinie (NL)

Die Verbindungslinie der Punkte Spinanasalis anterior und Pterygomaxillare wirdals Bezugsebene für den Nasenboden undder Oberkieferbasis verwendet (Abb. 17).Sie wird Nasallinie genannt und mit NL ab-gekürzt.

3. Mandibularlinie (ML)

Die Linie durch die Punkte Gnathion undGonion-Tangentenpunkt wird als Mandi-bularlinie bezeichnet und als Referenzliniefür den Corpus mandibulae verwendet(Abb. 17).

Bei Verwendung dieser Linie ist zu beach-ten, daß es in der Literatur auch andere De-finitionen für diese Linie gibt, so daß vordem Vergleich von Meßwerten überprüftwerden muß, ob es sich um die gleiche Man-dibularlinie handelt.

Weiterhin ist zu bemerken, daß diese Liniein Relation zum Corpus mandibulae nichtsehr stabil ist, da im Laufe des Wachstumsam Unterrand der Mandibula Appositions-und Resorptionsvorgänge stattfinden. Da-durch können wachstumsbedingte Rota-tionsvorgänge des Mandibula-Körpers mas-kiert werden oder sich verstärkt darstellen.

Vertikale Referenzlinien:

4. NA-Linie

Die Verbindungslinie vom Nasion zum A-Punkt wird benutzt, um die sagittale Posi-tion des Oberkiefers zu beschreiben(Abb. 18). Weiterhin wird sie als Bezugs-linie für die Beschreibung der Achsennei-gung der Oberkieferfrontzähne verwendet.

Abb. 17 Hauptreferenzlinie NSL und die anderen bei-den horizontalen Referenzlinien NL und ML.

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

5. NB-Linie

Die Linie vom Nasion zum B-Punkt wirdzur Beschreibung der sagittalen Position desUnterkiefers sowie als Bezugslinie für dieMessung der Achsenneigung der Unter-kieferfrontzähne verwendet (Abb. 18).

6. NPg-Linie

Die Verbindung der Punkte Nasion undPogonion dient zur Beschreibung der sagit-talen Position des Kinns und kann auch alsBezugslinie für die Position der Unterkiefer-frontzähne verwendet werden (Abb. 18).

Weitere Hilfslinien:

7. Ramus-Linie

Verbindung des Punktes Artikulare mitGonion-Tangentenpunkt (Abb. 19).

8. Clivus-Linie

Verbindung der Punkte Sella und Basion.

9. Oberkiefer-Schneidezahnachse

Die Linie durch den Inzisalpunkt (ISs) undden Apikalpunkt (ISa) des mittleren Ober-kiefer-Schneidezahnes wird als Längsach-se des Oberkiefer-Schneidezahnes bezeich-net (Abb. 19).

10. Unterkiefer-Schneidezahnachse

Die Linie durch den Inzisalpunkt (IIs) undden Apikalpunkt (IIa) des mittleren Unter-kiefer-Schneidezahnes wird als Längsach-se des Unterkiefer-Schneidezahnes bezeich-net (Abb. 19).

11. Verbindungslinie Nasion-Gnathion. DieseHilfslinie wird für die Berechnung des In-dex der anterioren Gesichtshöhen benötigt.

Weichteil-Referenzlinien:

12. Holdaway-Linie (H-Linie)

Die Verbindungslinie von Weichteilpogo-nion und Oberlippen-Punkt wird alsHoldaway-Linie bezeichnet (Abb. 20). Dader Punkt WPg über eine Tangente vomWeichteil-Nasion zum Kinn gefunden wird,kann durchaus sein, daß die H-Linie dasKinn schneidet. Diese Linie wird vor allemzur Beschreibung des Lippenprofils und derGesichtskonvexität herangezogen.

Abb. 18 Die vertikalen Referenzlinien NA-, NB- undNPg-Linie

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Technischer Teil

13. Columella-Tangente

Als Verbindung der Punkte Subnasale undColumella (Abb. 20) beschreibt diese Liniein Verbindung mit der Oberlippen-Tangen-te die wichtige Oberlippen-Nasen-Relation.

14. Oberlippen-Tangente

Die Verbindung der Punkte Subnasale undOberlippenpunkt wird Oberlippen-Tangen-te genannt (Abb. 20). Sie wird zur Beschrei-bung der Neigung der Oberlippe benutzt.

Abb. 19 Weitere Referenzlinien: Ramus-Linie, Clivus-Linie, Längsachsen der Schneidezähne sowie Verbin-dung Nasion-Gnathion

Abb. 20 Weichteillinie nach Holdaway (H-Linie),Oberlippen-Tangente und Columella-Tangente

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

4. DURCHZEICHENTECHNIK

Als Hilfsmittel werden gebraucht:

1. Lichtkasten, mögl. mit Helligkeitsregelung2. Durchzeichenpapier (Azetatpapier)3. Klebestreifen zur Fixierung von Durch-

zeichenfolie und Röntgenfilm4. Template (Schablone) mit Millimeter-Ein-

teilung sowie Schneidezahn- und Molaren-kontur.

5. Winkelmesser mit halbgradiger Einteilung6. Feine Druckbleistifte (0.5 mm), evtl. auch

mit farbigen Minen (besonders für Longi-tudinalserien)

7. Abblendungsschablonen (im einfachstenFall lichtundurchlässige Pappen)

Routinemäßiges Vorgehen bei der Durchzeich-nung

1. Die Fernröntgenaufnahme wird mit demProfil nach rechts auf den Lichtkasten ge-legt. Sie wird so orientiert, daß die Nasion-Sella-Linie parallel zum Oberrand des Licht-kastens liegt. In dieser Position wird derRöntgenfilm mit Klebestreifen fixiert(Abb. 22).

2. Mit einem Bleistift werden die Punkte Sella(S) und Nasion (N) gemäß den Definitio-nen im vorherigen Abschnitt direkt auf demRöntgenfilm markiert. Um den Sella-Punktzu markieren, wird am besten ein Lineal mitMillimeterteilung verwendet. Die Markie-rung wird dann in der Mitte des größtenDurchmessers gemacht (Abb. 21).

3. Die Azetatfolie hat eine glänzende und einematte Seite. Da sich die Bleistiftstriche nurauf der matten Seite abzeichnen, wird siemit der glänzenden Seite auf den Röntgen-film gelegt. Vor der Fixierung der Folie wirdjedoch etwa 8 cm unter dem oberen Randder Folie ein dazu paralleler Strich gezo-gen. Etwa 5 cm vom rechten Rand wird aufdieser Linie der Nasion-Punkt markiert(Abb. 22).

Abb. 21 Detail: Aufsuchen des Sella-Punktes mit Hil-fe eines Lineals mit Millimeter-Teilung

Abb. 22 Standardisiertes Einzeichnen der Haupt-referenzlinie NSL auf der Azetat-Folie.

N*

80 mm50 mm

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Technischer Teil

4. Jetzt wird die Azetatfolie solange auf demRöntgenfilm verschoben, bis der auf derFolie markierte Nasion-Punkt mit der ent-sprechenden Markierung auf dem Rönt-genfilm in Deckung ist und die Linie auchdurch den markierten Sella-Punkt geht. DieLinie stellt nunmehr die Nasion-Sella-Liniedar. Die Azetatfolie wird nun in dieser Po-sition mit zwei Klebestreifen am linken oderoberen Rand fixiert (Abb. 23). Durch einenmöglichst großen Abstand zwischen denzwei Klebestreifen wird erreicht, daß sichdie Folie auch durch Rotationsbewegungennicht verschieben läßt.

Andererseits läßt die auf einen Rand begr-enzte Fixation der Folie zu, daß diese vomFilm abgehoben werden kann um eine be-stimmte Struktur direkt auf dem Film beur-teilen zu können, ohne dabei die Relationder bisherigen Durchzeichnung zu verlieren.

Die feste Linie auf der Azetatfolie (NSL)ist die Hauptreferenzlinie für alle Mes-sungen auf der Röntgendurchzeichnung. DieStandardisierung der Orientierung hat denVorteil, daß bestimmte Parameter, zum Bei-spiel der Prognathie- oder Neigungsgrad,nach einer gewissen Zeit auch ohne Mes-

Abb. 23 Röntgenfilm und Durchzeichenfolie in standardisierter Orientierung auf dem Lichtkasten. Die Abbil-dung zeigt außerdem die routinemäßig durchgezeichneten Knochenstrukturen

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

sung abgeschätzt werden kann. Dadurch er-gibt sich unter anderem eine höhere Sicher-heit bei der Auswertung durch unbewußteoder bewußte Plausibilitätskontrolle.

5. Nun werden gemäß den Definitionen ausdem vorherigen Abschnitt alle weiterenReferenzpunkte aufgesucht und markiert.Dabei ist es häufig von Vorteil, wenn beimAufsuchen von Punkten in den dunklen Be-reichen des Röntgenbildes die in der Näheliegenden hellen Strukturen mit Abblend-schablonen abgedeckt werden. Auch eineAbdunkelung des Raumes, in dem die Ana-lyse durchgeführt wird, kann hilfreich sein.

6. Die wichtigsten Knochenstrukturen werden,wie in Abbildung 23 dargestellt, durchge-zeichnet. Dabei muß darauf geachtet wer-den, daß die bereits markierten Referenz-punkte durch die Striche der Konturen nichtwieder verschwinden. Im allgemeinen ist esgünstig, die Konturlinie von kurz vor biskurz nach einem Referenzpunkt zu unter-brechen.

Bei Strukturen, die auf der Röntgenauf-nahme eine Doppelkontur zeigen, muß einegemittelte Konturlinie eingezeichnet wer-den. Dies gilt besonders für den Unter- undHinterrand der Mandibula. Der Kiefer-winkelbereich liegt nicht in der Media-nebene, so daß bei der Röntgenaufnahmesowohl aufgrund falscher Ausrichtung desPatienten, als auch aufgrund der unter-schiedlichen Vergrößerungsfaktoren von lin-ker und rechter Kopfhälfte (siehe Seite 9)fast regelmäßig Doppelkonturen entstehen.Treten derartige Doppelkonturen auf, wirdnur eine Konturlinie, die in der Mitte zwi-schen den Konturen auf dem Röntgenfilmliegt, durchgezeichnet (Abb. 24). Diegemittelte Konturlinie wird dann als Grund-lage für die weitere Arbeit verwendet. Le-diglich in Fällen mit bekannter Asymmetrieund entsprechender Therapieplanung müs-sen beide Konturlinien durchgezeichnet undentsprechend getrennt ausgewertet werden.

Abb. 24 Durchzeichentechnik bei Doppelkonturen der Mandibula. Links Fernröntgenaufnahme mit Doppel-kontur; rechts Durchzeichnung mit gemittelter Konturlinie. Diese wird auch zur Bestimmung von ML verwendet.

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Technischer Teil

Abb. 25 Das Template für die Einzeichnung derInzisivi und Molaren besteht aus einer durchsichtigenPlastik-Schablone mit Aussparungen für Inzisivi undMolaren.

Abb. 26 Orientierung des Templates nach dergemittelten Kontur der Mesialflächen von linkem undrechtem Molaren.

7. Die Inzisivi und Molaren werden mit Hilfedes Templates eingezeichnet. Dazu werdenzunächst die Längsachsen der oberen undunteren Schneidezähne als Verbindungsli-nien der Punkte IIs und IIa beziehungswei-se ISs und ISa gezogen (Abb. 25). Dannwerden mit dem Template die Konturen ei-nes oberen und unteren Schneidezahnes soeingezeichnet, daß sie mit den Längsachsenübereinstimmen. Sollte die Zahngröße aufdem Röntgenbild und dem Template nichtübereinstimmen, so wird das Template amInzisalpunkt positioniert. Obgleich der Apexam Template nicht mit dem tatsächlichenApikalpunkt übereinstimmt, liegt nichtsde-stoweniger auch hier der Apex des Templa-tes auf der Zahnlängsachse.

Bei den Molaren tritt ebenfalls oft das Pro-blem einer Doppelkontur auf. Zusätzlich zuden geometrischen Abbildungsfehlernkommt die Möglichkeit einseitiger Vor-wanderungen in Betracht. Ähnlich wie beider Kieferwinkelregion wird eine Mittel-kontur der Mesialflächen der Molaren zurOrientierung des Templates verwendet(Abb. 26).

8. Nun wird das Weichteilprofil eingezeichnet.

9. Als letztes werden die Referenzlinien ein-gezeichnet. Damit entsteht die vollständigeDurchzeichnung (Abb. 27).

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Abb. 27 Vollständige Durchzeichnung mit Referenzpunkten, Knochenstrukturen, Weichteilprofil und Referenz-linien.

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Technischer Teil

5. MANUELLE MESSUNG DER STRECKEN UND

WINKEL

Die Winkel werden mit einem Winkelmesser mit0.5°-Teilung gemessen, die Strecken mit einemLineal mit 0.5 mm-Teilung. Um die Arbeit zu ra-tionalisieren, werden jeweils mehrere Winkel be-ziehungsweise Strecken in einer Meßserie gemes-sen.

1. Meßserie

Die erste Serie umfaßt die Winkel SNA,SNB, ANB und SNPg. Dazu wird der Win-kelmesser einmal mit seinem Mittelpunktmit dem Nasion in Deckung gebracht undmit seiner Grundlinie an NSL orientiert(Abb. 28). Dann können drei dieser vierWinkel direkt abgelesen werden, ohne daßdie Stellung des Winkelmessers verändertwird.

Der ANB-Winkel ergibt sich als Differenzaus SNA und SNB (SNA - SNB). Da der

ANB-Winkel sowohl positive als auch ne-gative Werte annehmen kann, ist es wich-tig, das Vorzeichen korrekt anzugeben. Liegtder A-Punkt vor der NB-Linie, so ist derWert positiv, im umgekehrten Fall ent-sprechend negativ. Liegt der A-Punkt aufder NB-Linie, so ist der ANB-Winkel 0°.

2. Meßserie

Die zweite Meßserie umfaßt die WinkelNSBa und den Kieferwinkel Gn-tgo-Ar. Fürdie Bestimmung des Winkels NSBa wirdder Mittelpunkt des Winkelmessers mit demSella-Punkt (S) in Deckung und die Grund-linie längs der Nasion-Sella-Linie gebracht(Abb. 29).

Für die Bestimmung des Kieferwinkels Gn-tgo-Ar wird der Mittelpunkt des Winkel-messers mit dem Punkt tgo in Deckung unddie Grundlinie mit der Mandibularlinie(ML) in Übereinstimmung gebracht(Abb. 30).

Abb. 28 Erste Meßserie: Winkelmessungen der sagit-talen Variablen

Abb. 29 Messung des Winkels NSBa

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

3. Meßserie

Diese Serie umfaßt die Winkel NL-NSL undML-NSL. Besonders für den WinkelNL-NSL, dessen Wert unter Umständensehr klein ist, kann es oft schwierig sein,einen Wert abzulesen, ohne NL bis zu ei-nem Schnittpunkt mit NSL parallel zu ver-schieben.

Auch für die Bestimmung des ML-NSL-Winkels ist es oft vorteilhaft, ML parallel

zu verschieben. Es ist deshalb am besten,routinemäßig eine linierte Azetat-Folie zuverwenden, um die beiden Winkel zwischenden Hilfslinien und NSL ablesen zu kön-nen (Abb. 31).

Der Winkel NL-NSL kann auch negativeWerte annehmen, und zwar in denjenigenFällen, wo die Linien NL und NSL nachventral (rechts) konvergieren.

Abb. 30 Bestimmung des Kieferwinkels Gn-tgo-Ar Abb. 31 Benutzung von linierter Folie zur Parallel-verschiebung. ML’ ist die parallel verschobeneMandibularlinie ML. Gemessen wird der WinkelML’-NSL anstatt ML-NSL direkt. Entsprechend wirdfür NL-NSL verfahren.

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Technischer Teil

4. Meßserie

Diese Serie umfaßt die Achsenneigungender Inzisivi 1-NA° und 1-NB° sowie denInterinzisalwinkel 1-1.

Für die Messung des Winkels 1-NA° bringtman den Mittelpunkt des Winkelmessers mitdem Schnittpunkt der NA-Linie mit derSchneidezahnachse beziehungsweise derenVerlängerung in Deckung und plaziert da-bei die Grundlinie längs der NA-Linie(Abb. 32).

Für die Messung des Winkels 1-NB° pla-ziert man den Winkelmesser so, daß seinMittelpunkt mit dem Schnittpunkt zwischender Längsachse der Unterkieferinzisivi undder NB-Linie zur Deckung kommt, und sei-ne Grundlinie längs der NB-Linie liegt(Abb. 33).

Zur Bestimmung des Interinzisalwinkels1-1 wird der Mittelpunkt des Winkelmes-sers mit dem Schnittpunkt der oberen mitder unteren Schneidezahnachse in Deckunggebracht und seine Grundlinie entlang derLängsachse des unteren Inzisivus plaziert(Abb. 34).

Zur Kontrolle kann überprüft werden, ob derZusammenhang

1-1 = 180 - (ANB + 1-NA° + 1-NB°)

bei den gemessenen Werten zutrifft.

5. Meßserie

Diese Meßserie umfaßt die Messungen amWeichteilprofil, nämlich den Holdaway-Winkel und den Nasolabialwinkel. Der

Abb. 32 4. Meßserie: Bestimmung des Winkels 1-NA° Abb. 33 4. Meßserie: Bestimmung des Winkels 1-NB°_

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H-Winkel wird gemessen zwischen der knö-chernen Referenzlinie NB und derHoldaway-Linie (WPg zu UL) (Abb. 35).

Um zwischen diesen beiden Linien einenSchnittpunkt zu erhalten, der innerhalb derFläche der Azetatfolie liegt, wird zweckmä-ßigerweise wiederum linierte Azetatfolie zurParallelverschiebung der NB-Linie benutzt.Der Mittelpunkt des Winkelmessers wirddann mit dem Schnittpunkt der ver-schobenen NB-Linie (NBL’) mit der H-Li-nie in Deckung gebracht und die Grundli-nie entlang der NBL’ ausgerichtet (Abb. 35).

Die beiden Schenkel des H-Winkels kon-vergieren in der Regel nach kaudal, der H-Winkel hat dann positive Werte. In selte-nen Fällen kommt es jedoch auch dazu, daß

die Schenkel nach kranial konvergieren; dasVorzeichen ist dann negativ.

Zur Messung des Nasolabialwinkels wirdder Winkelmesser mit dem Mittelpunkt imPunkt Subnasale und entlang der Columella-Tangente plaziert. Über der Oberlippen-tangente kann der Nasolabialwinkel abge-lesen werden.

Abb. 35 5. Meßserie: Bestimmung des Holdaway- undNasolabial-Winkels

Abb. 34 4. Meßserie: Messung des Interinzisal-Win-kels 1-1

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Technischer Teil

6. Meßserie (Abstände)

Die erste Serie betrifft die Position derSchneidezähne und zwar sowohl den Ab-stand der Schneidekante des oberenInzisivus von der NA-Linie (1-NA

mm) als

auch den Abstand der Schneidekante desunteren Inzisivus von der NB-Linie( 1-NB

mm) und weiterhin den Abstand des

Pogonion-Punktes ebenfalls von der NB-Linie (Pg-NB

mm).

Für die Bestimmung des Abstandes (1-NAmm

)wird das Lineal senkrecht zur NA-Linie ge-legt und der Abstand von dieser Linie direktzur Inzisalkante gemessen (Abb. 36).

Bei allen linearen Zahnmessungen erhaltendie Werte ein positives Vorzeichen, wenn

die Inzisalkanten ventral der jeweiligenReferenzlinie liegt. Im (seltenen) umge-kehrten Fall wird das Vorzeichen negativ.

Entsprechend wird das Lineal für die ande-ren beiden Messungen senkrecht zur NB-Linie gelegt, und es werden auch die Ab-stände 1-NB

mm und PgNB

mm bestimmt.

Während es bei 1-NBmm

manchmal proble-matisch sein kann festzustellen, welcheKontur die repräsentativste für dieSchneidezahnstellung ist, ergeben sich der-artige Schwierigkeiten bei der Kinnpromi-nenz nicht (Abb. 37). Wenn sich dasPogonion ventral der NB-Linie befindet, hatder Wert 1-NB

mm ein positives Vorzeichen.

Abb. 37 6. Meßserie: Messung des Abstandes PgNBmm

von der NB-Linie. Wenn Pogonion ventral der NB-Linie liegt, ist der Abstand positiv.

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__

_

Abb. 36 6. Meßserie: Messung des Abstandes derInzisalkante des oberen Inzisivus von der NA-Linie(1-NA

mm). 1-NB

mm wird entsprechend gemessen.

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7. Meßserie (Strecken)

Diese Serie umfaßt die Messungen, die dievertikale Dimension des Gesichts be-schreiben und zwar die Messung der Mittel-gesichtshöhe N-Sp’ und die der unterenGesichtshöhe Sp’-Gn. Dazu wird das Line-al entlang der Verbindungslinie Nasion-Gnathion mit dem Nullpunkt am Nasionangelegt. Sp’ stellt den Schnittpunkt derLinien N-Gn und NL dar. Am Lineal kön-

N

Gn

N-Gn Linie

Sp'-Gn

Sp'

N-Sp'

Abb. 38 7. Meßserie: Messung der Mittelgesichts- undUntergesichtshöhe auf der Verbindungslinie Nasion-Gnathion. Aus dem Verhältnis dieser beiden Messun-gen wird der Index berechnet.

nen jetzt nacheinander die beiden Strecken-längen abgelesen werden. Bei Verwendungeines Lineals mit Nullpunkt in der Mitte(„Geo-Dreieck“) ist es sinnvoll, diesen mitdem Punkt Sp’ in Deckung zu bringen, da-mit beide Strecken ohne Verschiebung desGeo-Dreiecks abgelesen werden können.

Damit ergeben sich für die klinisch kephalome-trische Analyse die folgenden Messungen (sieheauch Analyseblatt im Anhang):

SNASNBANBSNPgNSBaGn-tgo-ArML-NSLNL-NSLML-NLH-WinkelNasolabialwinkel1-11-NA°1-NB°1-NA

mm

1-NBmm

PgNBmm

N-Sp’Sp’-GnIndex

Winkelmessungen werden in Grad (°),Streckenmessungen in Millimetern (mm) und derIndex wird in Prozent (%) angegeben.

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6. COMPUTERUNTERSTÜTZTE MESSUNG

Die computerunterstützte Auswertung erfolgtprinzipiell genau wie die manuelle Auswertung,mit dem Unterschied, daß die eigentliche Mes-sung der Winkel und Strecken vom Computerübernommen wird. Da das Prinzip der Analysedem der Auswertung von Hand entspricht, kön-nen auch durch den Computer nicht mehr Infor-mationen aus dem Fernröntgenbild her-ausgezogen werden als bei Handauswertung. An-ders ausgedrückt: jede noch so komplex er-scheinende Computer-Analyse kann immer auchvon Hand ausgeführt werden, wenn auch teilweisemit deutlich erhöhtem Zeitaufwand.

Weiterhin gibt es die gleiche Hauptfehlerquelle,das Auffinden der Referenzpunkte. Etwaige Feh-ler werden häufig erst nach Fertigstellung derAuswertung bemerkt, während bei der Hand-messung Fehler meist schon bei der Messungselbst auffallen. Auch wenn die Darstellung derErgebnisse einer computerunterstützten Analysemeist sehr sauber und ordentlich ist, sollte mansich hüten, ihnen mehr Vertrauen zu schenken als

einer Auswertung von Hand. Dies gilt ins-besondere, wenn die computerunterstützte Aus-wertung nicht selbst durchgeführt wurde.

Andererseits ist zugunsten der computerunter-stützten Auswertung zu sagen, daß Fehler, diebeim Hantieren mit Lineal und Winkelmesser ent-stehen können, entfallen und damit dieMeßgenauigkeit geringfügig höher ist (Wingberg1984). Weiterhin kann durch eine zeichnerischeDarstellung die Lokalisation der Referenzpunkteschnell auf deren richtige Markierung überprüftwerden. Letztlich erlaubt es die große Zeiterspar-nis, eine Analyse zweimal durchzuführen unddamit die Gefahr von „Ausreißer“-Werten wesent-lich zu verringern.

Auswerte-System

Ein zur computerunterstützten Auswertung geeig-netes System besteht aus mindestens einem Rech-ner mit Tastatur und Bildschirm, heute zumeistin Form eines Personal Computers („PC“), einemDigitalisiertablett, einem Drucker und der Soft-

Abb. 39 Komponenten eines Systems zur computerunterstützten kephalometrischen Auswertung

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

ware, die die eigentliche Auswertung durchführt.Ohne dieses Programm ist der Computer nicht inder Lage, irgendeine sinnvolle Arbeit zu leisten.Wird eine zeichnerische Darstellung gewünscht,ist zusätzlich ein Zeichengerät (Plotter) not-wendig. Diese Einheiten sind durch standardi-sierte Schnittstellen miteinander verbunden(Abb. 39).

Digitalisierung

Von zentraler Bedeutung für die computerunter-stützte Auswertung ist die Digitalisierung derReferenzpunkt auf dem Digitalisiertablett. Die-ses auch Digitizer genannte Gerät kann die Posi-tion eines beweglichen Fadenkreuzes auf derDigitalisierfläche als X- und Y-Koordinaten inZahlenform erfassen (Abb. 41).

Mit dem Digitalisiertablett (Abb. 40) wird dieLage der Referenzpunkte zueinander erfaßt undan den Computer selbst weitergeleitet. Dort wirddann -gesteuert durch das Programm- die Aus-wertung in Form der Berechnung der Winkel undStrecken vorgenommen. Welche Winkel undStrecken berechnet werden, hängt von dem Pro-gramm ab. Die Liste der zu berechnenden Varia-blen ist damit vom Programm vorgegeben. Aller-dings gibt es Programme, die eine Änderung derVariablenliste zulassen. Die numerischen Er-gebnisse werden dann auf dem Bildschirm und/oder dem Drucker dargestellt. Weiterhin könnenim allgemeinen die Meßwerte der Auswertung aufeiner Festplatte oder Diskette im Computer dauer-haft gespeichert werden, so daß auf die Analysezu einem späteren Zeitpunkt zurückgegriffen wer-den kann.

Abb. 40 Digitalisiertablett mit Fernröntgenbild

Für die Digitalisierung von Referenzpunkten aufRöntgenbildern ist es sehr vorteilhaft, einen Di-gitizer zu haben, der lichtdurchlässig ist. Nur soist eine direkte Digitalisierung möglich, d.h. dasdirekte Aufsuchen der Referenzpunkte auf demRöntgenbild mit dem Fadenkreuz des Digitizers.Ein nicht transluzenter Digitizer erfordert, daß zu-nächst auf einem Lichtkasten eine Durch-zeichnung des Röntgenbildes mit Markierung derReferenzpunkte durchgeführt wird. Diese kanndann auf dem nicht lichtdurchlässigen Digitizerweiterverarbeitet werden. Dieser eigentlich über-flüssige Schritt bedeutet nicht nur Mehrarbeit,sondern auch eine zusätzliche Fehlerquelle, so daßdieses Verfahren abzulehnen ist.

Abb. 41 Prinzip der Wandlung der Lokalisation derReferenzpunkte in X- und Y-Koordinaten

X

Y

AX

YA

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Technischer Teil

Bei einem transluzenten Digitizer gibt es dieMöglichkeit der direkten Digitalisierung, ohne diePunkte zuvor auf aufgeklebter Azetatfolie mar-kiert zu haben. Bei der ebenfalls möglichen indi-rekten Methode werden die Punkte zunächst aufder aufgeklebten Azetatfolie markiert. Danachwird das Röntgenbild mit der Azetatfolie auf denDigitizer gelegt und digitalisiert. Die letztereMethode hat den Vorteil, daß das Auffinden meistleichter ist, da die Sichtbarkeit der Strukturenweder durch Lichtabsorption des Digitalisier-tabletts noch durch Reflexe des meist in einerLupe eingebauten Fadenkreuzes beeinträchtigtwird. Unter optimalen Bedingungen und bei Ver-wendung eines Digitizers mit glasklarer Arbeits-fläche kann die direkte Methode zu guten Ergeb-

nissen führen. Sobald die Bedingungen jedochnicht optimal sind, ist die indirekte Methode ge-nauer.

Da alle Digitalisiertabletts die Umwandlung derFadenkreuzposition in numerische Koordinatenrelativ zur Digitalisierfläche vornehmen und nicht

in Relation zum Röntgenbild, ist es von größterWichtigkeit, daß das Röntgenbild fest mit demDigitizer verbunden ist. Zweckmäßig ist die Be-festigung mit zwei Klebestreifen, die möglichstweit voneinander entfernt sind. Falls es währendder Eingabe der Referenzpunkte zu einer bemerk-ten oder unbemerkten Bewegung des Bildes aufdem Digitizer kommt, sind Meßfehler unumgäng-lich.

Abb. 42 Beispiel eines Ausdrucks einercomputerunterstützten kephalometrischenAnalyse

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

7. KONTROLLE VON MESSFEHLERN

Jede Auswertung eines Fernröntgenbildes bein-haltet einen gewisse Meßfehler, unabhängig da-von, ob die Auswertung manuell oder compu-terunterstützt vorgenommen wird. Dies läßt sichleicht feststellen, indem ein Röntgenbild zweimalausgewertet wird und die Ergebnisse miteinanderverglichen werden. Es wird im allgemeinen un-möglich sein, die Meßwerte der ersten Aus-wertung auf 0.1° oder 0.5 mm genau zu reprodu-zieren, unabhängig davon, ob die Auswertungmanuell oder computerunterstützt erfolgt. Dieseauf den ersten Blick erschreckende Tatsache istjedoch bei der Messung biologischer Größenkeineswegs ungewöhnlich. Auch die Messunganderer Größen wie zum Beispiel des Blutdrucks,der Glucosekonzentration oder der Größe einesOrgans sind nicht beliebig genau durchführbar.Die Tatsache, daß unsere kephalometrischen Mes-sungen mit Fehlern behaftet sind, sollte nicht zudem Schluß führen, kephalometrische Messungenseien als Grundlage für eine kieferorthopädischeBehandlungsmaßnahme ungeeignet. Es würdeniemand fordern, die Blutdruckmessung als diag-nostisches Hilfsmittel abzulehnen, weil sie im-mer einen Meßfehler beinhaltet. Vielmehr ist eswichtig, Art und Größe des Fehlers, sowie seineAuswirkung auf das Ergebnis der Analyse ab-schätzen zu können.

Entsprechende Überlegungen werden Fehlerkon-trolle genannt. Da es nicht möglich ist, Meßfeh-ler vollständig zu eliminieren, wird ein gewisserRestfehler akzeptiert, seine Größe und Aus-wirkung aber genau überwacht.

Arten von Meßfehlern

Zur Untersuchung von Meßfehlern wird davonausgegangen, daß eine Größe mehrfach gemes-sen wird, um dann die einzelnen Meßwerte mit-

einander beziehungsweise mit dem tatsächlichen,objektiv richtigen Wert vergleichen zu können.Zwar ist der tatsächlich richtige Wert meist nichtbekannt, aber für die folgenden Überlegungen sollzunächst seine Existenz angenommen werden.

Beim Vergleich der zahlreichen einzelnen Meß-werte mit dem wahren Wert für die untersuchteVariable stellt man fest, daß es eine gewisse Ver-teilung der Meßwerte um den wahren Wert her-um gibt (Abb. 43). Die meisten Meßwerte liegennahe dem tatsächlichen Wert. Je weiter sie vomwahren Wert entfernt liegen, desto seltener er-scheinen derartige Meßwerte. Gäbe es keinen

Abb. 44 Fehlende Streuung der Meßwerte: Alle Mes-sungen decken sich mit dem wahren Wert

Abb. 43 Streuung der tatsächlichen Meßwerte um denkorrekten Wert herum

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43

Technischer Teil

Meßfehler, so würden alle gemessenen Werteuntereinander gleich sein und mit dem tatsächli-chen Wert übereinstimmen (Abb. 44).

In der Praxis sieht die Verteilung der Messungenjedoch in etwa wie in Abb. 43 aus. Die Tatsache,daß es eine gewisse Streuung der Meßwerte gibt,daß also nicht alle Meßwerte gleich sind, wirdzufälliger Fehler genannt (Abb. 45). Sind alle ge-messenen Werte untereinander gleich, jedochnicht identisch mit dem wahren Wert (Abb. 46),spricht man von einem systematischem Fehler.In Abb. 46 z.B. sind alle gemessenen Werte zugroß. Eine Kombination von zufälligem und sy-stematischem Fehler ist in Abb. 47 dargestellt.Obwohl die Meßwerte im Mittel zu groß sind,gibt es einige, die kleiner als der tatsächliche Wertsind.

Ein systematischer Fehler entsteht z.B. durch dieVergrößerung, die bei jeder Röntgenaufnahmeentsteht. Alle Strecken werden um den Vergrößer-ungsfaktor zu groß gemessen. Auch eine schiefangebrachte Kopfhalterung würde zu einem sy-stematischen Fehler führen. Systematische Feh-ler lassen sich -wenn sie erst einmal entdeckt sind-im allgemeinen durch eine Modifikation der Me-thode beheben oder zumindest rechnerisch elimi-nieren. So kann beispielsweise der systematischeFehler bei den Streckenmessungen durch eineDivision durch den konstanten und bekanntenVergrößerungsfaktor der Fernröntgenanlage eli-miniert werden.

Auch eine unterschiedliche Vorgehensweise, be-stimmte Referenzpunkte zu lokalisieren, kann zusystematischen Fehlern führen. Würde zum Bei-spiel der Punkt Nasion immer auf dem Os fronta-le am Übergang zur Kerbe zwischen Nasenbeinund Os frontale markiert, so würden die WinkelSNA, SNB und SNPg systematisch etwas zu kleingemessen. Ein derartiger systematischer Fehlerhätte für den einzelnen Behandler keine großen

Abb. 45 Zufälliger Fehler (Streuung)

Abb. 46 Systematischer Fehler (Bias): Alle Meßwertesind zu groß

Abb. 47 Kombination aus zufälligem und systemati-schen Fehler (Streuung+Bias): Die meisten Meßwertesind zu groß, aber einige auch zu klein

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Auswirkungen, da er bei jedem ausgewertetenFall auftritt und damit ein Vergleich mit anderenFällen desselben Behandlers möglich ist. Sehrproblematisch ist solch ein systematischer Feh-ler jedoch, wenn ein Fall, bei dem dieser Fehlervorhanden ist, mit einer Gruppe verglichen wird,in der er nicht vorhanden ist. Dies trifft um somehr zu, wenn in einer wissenschaftlichen Unter-suchung verschiedene Gruppen miteinander ver-glichen werden.

Anders als der systematische Fehler läßt sich derzufällige Fehler nicht eliminieren, sondern nurverringern. Um den Erfolg derartiger Maßnahmenkontrollieren zu können, ist zunächst ein Maß fürdie Größe des Meßfehlers erforderlich. Wie ausAbb. 43 ersichtlich gibt es bei einer Vielzahl vonMessungen derselben Variablen auf demselbenRöntgenbild eine Verteilungskurve. Diese Ver-teilungskurve entspricht näherungsweise einerGauß’schen Normalverteilungskurve. Da es auchseltene, weit neben dem tatsächlichen Wert lie-gende Messungen geben kann -sogenannte Aus-reißer- kann nicht ohne weiteres eine Zahl für denMeßfehler angeben werden. Auch ein „maximalerFehler“ kann nicht angegeben werden.

Es muß vielmehr eine Anleihe in der Statistik ge-macht werden. Eine Normalverteilung und damitauch eine Verteilung von wiederholten Messun-gen wie in Abb. 45 kann durch den Mittelwertund die Standard-Abweichung beschrieben wer-den. Sofern kein systematischer Fehler vorliegt,ist der Mittelwert aller Messungen gleich dem tat-sächlich richtigen Wert. Aus diesem Grund ist dertatsächlich richtige Wert im weiteren nicht unbe-dingt erforderlich. Die Standardabweichung istein Maß für die Breite der Streuung, das heißt jekleiner dieser Wert, desto enger liegt die Mehr-zahl der Messungen um den Mittelwert und da-mit den tatsächlichen Wert herum. Genau gibt derWert für die Standardabweichung (S.D.) an, in-nerhalb welchen Intervalls um den Mittelwert

herum 67% aller Messungen zu erwarten sind(Abb. 45). Im Beispiel beträgt die S.D. 1.5°, d.h.,zwischen 84° +/- 1.5°, also zwischen 82.5° und85.5°, liegen 67% aller Messungen. Gleichzeitigläßt sich sagen, daß in einem doppelt so großenIntervall, in diesem Fall also zwischen 81° und87°, 95% aller Messungen liegen. Anders ausge-drückt liegen nur 5% der Messungen außerhalbdieses Intervalls von +/- 2 S.D. Eine Verteilungder Meßwerte mit einer geringen S.D. (Abb. 48;punktierte Kurve) zeugt von einem kleinen zufäl-ligen Fehler und damit von einer relativ hohenMeßgenauigkeit. Eine Serie von Messungen miteiner großen S.D. (Abb. 48; gestrichelte Linie)hat einen großen zufälligen Fehler, die Meß-genauigkeit ist demzufolge gering.

Die S.D. ist also eine geeignete Größe, um dieMeßgenauigkeit zu beurteilen. Leider läßt sich dieS.D. einer Meßserie nur berechnen, wenn es eineVielzahl von Messungen desselben Röntgenbildesfür jede Variable gibt. Dies läßt sich in der Praxisschwer durchführen, da es sehr zeitaufwendig undmühsam ist.

Genaugenommen müßten die einzelnen Mes-sungen desselben Bildes auch unabhängig von-einander sein. Da zwei direkt aufeinander folgen-de Auswertungen desselben Bildes durch Erin-

Abb. 48 Verteilungskurven der Meßwerte bei glei-chem Mittelwerte aber unterschiedlicher Streuung.Erklärung siehe Text.

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Technischer Teil

nern der Strukturen zu einer Beeinflussung derzweiten Auswertung führen, müßten die einzel-nen Auswertungen in einem zeitlichen Abstandvon mindestens ein bis zwei Wochen erfolgen.Weiterhin ergeben sich -bedingt durch die unter-schiedliche Qualität der Röntgenaufnahmen- fürjeden Patienten unterschiedliche Werte. Es wärejedoch wünschenswert, statt für jeden Patientenfür jede Variable einen Wert für die Meßgenau-igkeit zu erhalten.

Einen derartigen Wert hat Dahlberg (1943) be-schrieben. Zur Berechnung des Methodenfehlersbenutzte er die Formel

in der d die Differenz zwischen dem einzelnenMeßwert und dem Mittelwert aus den Einzel-messungen desselben Röntgenbildes und n diegesamte Anzahl der Messungen ist. Es werdenalso alle Röntgenbilder einer Gruppe zwei- oderdreimal gemessen, und das ergibt sich aus derSumme der quadrierten Einzeldifferenzen. Derberechnete Wert entspricht in etwa der Standard-abweichung, d.h. je kleiner er ist, desto genauerist auch die Messung. Da die Differenzen qua-driert werden, beeinflußt ein einzelner Ausreißerdie Größe deutlich.

Um eine Aussage über die Zuverlässigkeit einerbenutzten Variable machen zu können, muß de-ren Methodenfehler noch in Relation zu der ihrerbiologischen Varianz gesetzt werden. Bei einergroßen Streuung hat ein bestimmter Methoden-fehler weniger Auswirkungen als bei einer gerin-gen. Zur Beurteilung dieses Zusammenhangs hatHouston (1983) den Zuverlässigkeitskoeffizientenangegeben:

Darin stellt den Methodenfehler und sv die

Standardabweichung der Variable dar. Je näherdieser Wert bei 1 liegt, desto zuverlässiger ist dieuntersuchte Variable und desto geringer ist dieWahrscheinlichkeit, daß Fehlmessungen zu fal-schen Ergebnissen der kephalometrischen Ana-lyse führen.

Um sicherzustellen, daß die benutzten Variableneine hohe Zuverlässigkeit aufweisen, sollte beider Auswahl der Variablen auf die wahrscheinli-chen Fehler bei der Lokalisation der Referenz-punkte geachtet werden. Wiederholtes Aufsuchendesselben Referenzpunktes ergibt Punktwolken,wie sie in Abb. 49 und 50 für die ReferenzpunkteB-Punkt und Gnathion dargestellt sind.

Es wird deutlich, daß beide Punktwolken einelängliche Form haben. Daraus ergibt sich, daßMessungen in einer Richtung des Raumes einegeringere Streuung und damit Genauigkeit auf-weisen als in der anderen. Beim B-Punkt etwaergibt sich in sagittaler Richtung eine deutlichgeringere Streuung; er ist daher für alle sagittalenMessungen gut geeignet. Für vertikale Messun-gen hingegen ist er völlig ungeeignet.

Abb. 49 Streuungsdiagramm des ReferenzpunktesB-Punkt

d 2

2 n=

12

s2v

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Anders der Punkt Gnathion. Er ist sinnvoll nurfür vertikale Messungen zu gebrauchen, nicht je-doch für sagittale.

Selbstverständlich gibt es auch Referenzpunkte,die kugelige Punktwolken haben und damit glei-chermaßen für sagittale und vertikale Messungengeeignet sind. Sella, Nasion und die Inzisalkantenkönnen als Beispiel für diese Gruppe genanntwerden.

Weiterhin hängt der anguläre Fehler der Referenz-linien auch vom Abstand der Referenz punktevoneinander ab. Er ergibt sich nach

aus den Streuungen der Referenzpunkte jeweilssenkrecht zur Referenzlinie und aus der Wurzelaus dem Abstand zwischen den Referenzpunkten(Segner 1993) Je größer der Abstand, desto grö-ßer ist also die Genauigkeit und Zuverlässigkeiteiner Referenzlinie.

Die genannten Prinzipien wurden bei der Aus-wahl der Variablen im vorherigen Abschnitt be-rücksichtigt.

Abb. 50 Streuungsdiagramm des ReferenzpunktesGnathion

1

ds e1

s e2

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47

Klinische Aussage der Variablen

C. Klinische Aussage der Variablen

Im letzten Kapitel wurde beschrieben, welcheWinkel und Strecken am Fernröntgenbild ge-messen werden. Es wurde darauf hingewiesen, daßbei der Auswahl der zu messenden Variablen de-ren Meßbarkeit bzw. Reproduzierbarkeit berück-sichtigt werden muß. Ein weiterer, nicht minderwichtiger Aspekt ist jedoch, daß die verwendetenVariablen auch eine differenzierte, nachvollzier-bare und klinisch relevante Aussage über denGesichtsschädelaufbau machen können. Im fol-genden wird deshalb beschrieben, welche Aussa-gen die verwendeten Variablen machen können.

Der A-Punkt liegt in der Grenzzone zwischenknöchernem Alveolarfortsatz und Oberkieferba-sis, so daß der SNA-Winkel klinisch die sagittalePosition der Maxilla bezeichnet.

Die Individuen innerhalb der einzelnen ethnischenGruppen weisen bezüglich dieses Winkels großeVariationen auf. Um diese Variationen aufzuzei-gen, wurde eine Gruppe von 242 jungen Erwach-senen aus Hamburg mit Angle-Klasse I Okklusionausgewählt und unter anderem den SNA-Winkelgemessen. Die Verteilung der Meßwerte ist inAbb. 51 dargestellt. Es zeigt sich, daß die Wertezwischen 72.2° und 91.1° bei einem Mittelwertvon 81.9° liegen. Nur ein Bruchteil der Individu-

SNA-Winkel

Der SNA-Winkel ist Ausdruck der anterior-posterioren Position des A-Punktes in Relation zuranterioren Schädelbasis in Form von NSL.

en dieser Gruppe liegt bei oder nahe dem Mittel-wert.

In Verbindung mit der sagittalen Position derMaxilla wird der Begriff Prognathie-Grad ver-

72.074.076.078.080.082.084.086.088.090.092.0

SNA

0

5

10

15

20

25

30

35n

Abb. 51 Verteilung der Werte für den SNA-Winkel in der Untersuchungsgruppe

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

wendet. Bei großen Werten des SNA-WinkelsSNA > 85°) wird die anterior-posteriore Positionder Maxilla als prognath bezeichnet. Liegen dieWerte für den SNA-Winkel innerhalb der Gren-zen 79° < SNA < 85°, so ist die Position derMaxilla orthognath, bei Werten unterhalb von 79°retrognath.

SNB-Winkel

Der SNB-Winkel beschreibt die anterior-poste-riore Lage der Mandibula in Relation zuranterioren Schädelbasis auf dieselbe Weise wieder SNA-Winkel für den Oberkiefer. Der B-Punkt

liegt analog zum A-Punkt zwischen der Unterkie-fer-Basis und dem Alveolarfortsatz.

Auch die Verteilung des SNB-Winkels ist ähn-lich der des SNA-Winkels (Abb. 52). Das Säu-lendiagramm der Untersuchungsgruppe zeigtWerte zwischen 72.2° und 88.0° bei einem Mittel-wert von 79.8°. Selbst in dieser begrenzten Grup-pe mit guter Okklusion ergibt sich eine breiteStreuung mit zum Teil recht extremen Werten.

Die sagittale Position der Mandibula wird wiedernach Prognathiegraden klassifiziert, und zwar fürWerte größer als 83° als prognath, für Werte klei-ner als 77° als retrognath und zwischen 77° und83° als orthognath.

72.0 74.0 76.0 78.0 80.0 82.0 84.0 86.0 88.0

SNB

10

15

20

25

30n

Abb. 52 Verteilung des SNB-Winkels in der Untersuchungsgruppe

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49

Klinische Aussage der Variablen

ANB-Winkel

Die sagittale Position der Maxilla in Relation zurMandibula ist klinisch von besonderem Interes-se. Diese Beziehung wird durch den ANB-Win-kel ausgedrückt.

Das Verteilungsdiagramm in Abb. 53 zeigt, daßin der Beispielgruppe eine Streuung von -3.1° bis7.8° bei einem Mittelwert von 2.1° besteht. Trotzdieser großen Spanne zeigten alle Individuen derGruppe eine gute Angle-Klasse I Okklusion. DerANB-Winkel nimmt positive Werte an, wenn derA-Punkt vor der NB-Linie liegt (Abb. 54, links).Fallen NA- und NB-Linie zusammen, wird derANB-Winkel gleich 0° (Abb. 54, Mitte) und wennder A-Punkt hinter der NB-Linie liegt, ergebensich negative Werte für den ANB-Winkel(Abb. 54, rechts).

Die durch den ANB-Winkel beschriebene sagit-tale Relation der Kieferbasen wird zur Vereinfa-chung der Kommunikation in die drei Klassen

distal, neutral und mesial eingeteilt. Für dasorthognathe Gesicht gilt:

1. mesial ANB < 0°2. neutral 0° < ANB < 4°3. distal ANB > 4°

Aufgrund von geometrischen Zusammenhängenmuß der ANB-Winkel in Zusammenhang mit demPrognathiegrad der Kiefer gesehen werden.Jacobson hat in seinem Artikel 1975 diesen Zu-sammenhang erwähnt. In seiner klassischen Zeich-nung (Abb. 54) wird deutlich, daß eine Verschie-bung der Kiefer nach ventral oder dorsal, oderauch die sagittale Verschiebung des Nasions beisonst gleicher Relation der Kieferbasen zueinan-der zu einem unterschiedlichen ANB-Winkel.Grund ist die Tatsache, daß einerseits der SNA-und SNB-Winkel normalerweise von 90° ab-weichen und andererseits die Neigung der Kiefer-wie weiter unten noch genau beschrieben- vomPrognathiegrad abhängt. Beides hat jedoch Ein-fluß auf den ANB-Winkel: Bei gleicher Relationder Kiefer zueinander wird ein retrognathes Ge-

-3.0 -1.0 1.0 3.0 5.0 7.0 9.0

ANB

0

10

20

30

40

50n

Abb. 53 Verteilung des ANB-Winkels in der Untersuchungsgruppe

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

sicht zu einem kleineren ANB-Winkel führenwährend eine gleichzeitige posteriore Rotationvon Maxilla und Mandibula zu einer Vergröße-rung des ANB-Winkels führt.

Es hat viele Versuche gegeben, diese Problemedes ANB-Winkels durch Anwendung andererMessungen zu vermeiden. Bis heute konnte je-doch für keine andere Messung eine bessereReproduzierbarkeit und klinische Aussagekraftnachgewiesen werden.

Im retrognathen Gesicht nimmt der ANB-Winkelin der Regel kleinere und im prognathen Gesichtgrößere Werte an. Für die Klassifizierung der sa-gittalen basalen Relation müssen die Intervalleentsprechend um 2° nach oben beziehungsweiseunten verschoben werden, so daß beispielsweisefür das prognathe Gesicht gilt:

1. mesial ANB < 2°2. neutral 2° < ANB < 6°3. distal ANB > 6°

Genauer kann diese Einteilung erfolgen, wenn derindividuell optimale ANB-Winkel bestimmt wird.In Kapitel D wird beschrieben, wie dies für jedenPatienten durchgeführt werden kann.

Der ANB-Winkel ist von besonderer klinischerBedeutung, da er nicht nur eine Aussage über dieBehandelbarkeit sagittaler Malokklusionen macht,sondern auch unmittelbar die Stellung der Inzisivibeeinflußt. Mehrere Untersuchungen haben ge-zeigt, daß selbst in unbehandelten Fällen eine guteKorrelation zwischen der Stellung der Inzisivi undder Größe des ANB-Winkels besteht. Die Naturbenutzt die Inzisivi zur Kompensation basalersagittaler Abweichungen.

Dieser Zusammenhang wird besonders deutlichin Fällen mit einer skelettal mesialen Konfigura-tion der Kieferbasen (Opistognathie (maxilläreHypoplasie) und/oder Progenie). In diesen Fäl-len sind die Oberkiefer-Inzisivi oft stark protru-diert, während die Unterkiefer-Inzisivi mehr nachlingual geneigt stehen (Abb. 57).

Abb. 54 Der ANB-Winkel kann sowohl positive als auch negative Werte annehmen

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Klinische Aussage der Variablen

Einen entsprechenden Ausgleichsmechanismus,jedoch in umgekehrter Richtung, kann bei Fällenmit einem großen ANB-Winkel beobachtet wer-den (Abb. 56). Die unteren Inzisivi stehen dabeideutlich protrudiert, während die oberen Inzisivieher aufgerichtet sind. In Kombination ergibt sichdamit eine Reduktion des eigentlich zu erwarten-den großen sagittalen Überbisses.In dem in Abbildung 56 gezeigten Fall ist derkompensierende Mechanismus der Schneide-zahnstellung alleine nicht ausreichend, um einegute Frontzahnrelation zu ergeben. Aber selbst inFällen mit annähernder Idealokklusion findet sichebenfalls dieser ausgleichende Effekt der Schnei-dezahnstellung (Abb. 57).

Dieser Zusammenhang zwischen Schneidezahn-stellung und ANB-Winkel sollte klinisch beachtetwerden. Es ist kieferorthopädisch möglich, dieStellung der Inzisivi in beiden Kiefern zu ver-ändern. Die Frage ist nur, wohin sie gestellt wer-den sollen. Da der ANB-Winkel bestimmt werden

Abb. 55 Einfluß des Prognathiegrades auf den ANB-Winkel. Hier gezeigt als unterschiedliche Länge der anteriorenSchädelbasis: links orthognath, Mitte retrognaht, rechts prognath (aus Jacobsen: Application of the „Wits“ appraisal

(1976))

Abb. 56 Kompensierende Stellung der Inzisivi beigroßem ANB-Winkel

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

kann, ist es möglich, diesen auch als Leitfadenfür diese Fragestellung zu verwenden. Wird derANB-Winkel während der Behandlung verklei-nert, so ist es oft notwendig, die Unterkiefer-Inzisivi aufzurichten, und zwar in derselben Wei-se, wie es die Natur machen würde. Es ist mög-lich, eine akzeptable Schneidezahnstellung inner-halb eines großen Spektrums von ANB-Winkeln zuerhalten, aber dies verlangt von Fall zu Fall eineverschiedene Neigung der Inzisivi, die unter ande-rem von der Größe des ANB-Winkels abhängt.

Es muß hervorgehoben werden, daß dies eineVereinfachung der Probleme darstellt, da dieübrigen kompensierenden Mechanismen imGesichtsschädel von Patient zu Patient unter-schiedlich sein können, so daß auch der Ein-fluß anderer kephalometrischer Variablendiskutiert werden muß. Des weiteren gibt esZusammenhänge zwischen dem Weichteilprofilund dem ANB-Winkel. So kann zum Beispielder H-Winkel nur im Zusammenhang mit demANB-Winkel diskutiert werden.

Abb. 57 Der kompensierende Mechanismus der Schneidezahnstellung, dargestellt anhand eines Falls mitannähernder Idealokklusion, aber leicht mesialer Relation der Kieferbasen.

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53

Klinische Aussage der Variablen

SNPg-Winkel

Der Winkel SNPg gibt -wie auch der SNB-Win-kel- einen Hinweis über die sagittale Position derMandibula. Das Pogonion ist der am weitestenventral gelegene Punkt der Symphyse, währendder B-Punkt, der als Grundlage für den SNB-Win-kel dient, am Übergang zwischen knöchernemAlveolarfortsatz und Kieferbasis liegt. Sowohl derSNPg- als auch der SNB-Winkel drücken damitim Wesentlichen dieselbe Relation aus, wenn auchim Einzelfall durchaus nennenswerte Differenzenzwischen diesen zwei Messungen bestehen. Die-se Differenz gibt uns die Möglichkeit, den knö-chernen Kinnvorsprung und die sagittale Stellungder Zähne auf dem Corpus mandibulae abzuschät-zen. Dies ist wichtig bei der Differentialdiagnosevon Fällen mit Distalokklusion (siehe auchPgNB

mm).

Die Streuung des SNPg-Winkels ist ähnlich derdes SNB-Winkels, dabei aber noch etwas flacherverteilt. Bei einem Mittelwert von 81.0° zeigt die

Untersuchungsgruppe eine Spanne von 73.6° bis90.4°.

Die Differenz zwischen SNB und SNPg beträgtbei der erwachsenen Beispielgruppe im Mittel 1.2°für das orthognathe Gesicht. In Fällen mitalveolärer Retrusion, wie man sie häufig bei AngleKlasse II

2-Fällen findet, liegt die Differenz deut-

lich über diesem Durchschnittswert. In Fällen ohnealveoläre Retrusion kann es besonders in Verbin-dung mit einem großen ML-NSL-Winkel dazukommen, daß der Pogonion-Punkt dorsal der NB-Linie liegt und damit der SNPg-Winkel kleinerals der SNB-Winkel ist.

ML-NSL-Winkel

Der Winkel ML-NSL drückt die Neigung derMandibula in Bezug auf die anteriore Schädel-basis aus. Die Kontrollgruppe weist Werte zwi-schen 13.3° und 41.6° bei einem Mittelwert von28.0° auf (Abb. 60).

74.0 76.0 78.0 80.0 82.0 84.0 86.0 88.0 90.0 92.0

SNPg

0

5

10

15

20

25

30

35n

Abb. 58 Verteilung des SNPg-Winkels

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54

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Ausgehend von diesem Mittelwert wurden dieBegriffe posteriore Neigung und anteriore Nei-

gung eingeführt. Liegen die Werte für ML-NSLüber dem Mittelwert, spricht man von posteriorerNeigung (Abb. 59, rechts), liegen sie darunter, vonanteriorer Neigung (Abb. 59, links).

Stärker als die anderen kephalometrischen Vari-ablen ist der Mittelwert des ML-NSL-Winkels

regionalen Unterschieden ausgesetzt. So wurde inder Vergangenheit aufgrund von Unter-suchungsergebnissen von Björk in Mittel-schweden häufig mit einem Mittelwert von 32°gearbeitet. Mehrere Untersuchungen in der Folgehaben jedoch ergeben, daß zumindest für die nor-wegische, dänische und deutsche Population derMittelwert deutlich niedriger liegt.

Abb. 60 Verteilung des Winkels ML-NSL

Abb. 59 Bezeichnung der Neigung der Mandibula: links anterior, rechts posterior

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55

Klinische Aussage der Variablen

NL-NSL-Winkel

Der Winkel NL-NSL drückt den Neigungsgradder Maxilla in Bezug auf die anteriore Schädel-basis aus. Die Beispielgruppe zeigt wieder einedeutliche Streuung, auch wenn die Spanne nichtso groß wie die des ML-NSL-Winkels ist. Die

gefundenen Werte erstrecken sich von 1.3° bis16.5°, bei einem Mittelwert von 8.1°.

Ausgehend vom Mittelwert von 8.1° werden auchhier die Begriffe posteriore (bei großen Werten)und anteriore Neigung (bei kleinen oder negati-ven Winkelwerten) verwendet.

1.0 3.0 5.0 7.0 9.0 11.0 13.0 15.0 17.0

NL-NSL

0

5

10

15

20

25

30

35n

Abb. 62 Verteilung des Winkels NL-NSL

Abb. 61 Bezeichnung der Neigung der Maxilla: links anterior, rechts posterior

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

ML-NL-Winkel

Der Winkel ML-NL beschreibt den Neigungswin-kel der Mandibula (ML) relativ zur Oberkiefer-basis (Nasallinie NL) aus. Der Winkel wird auchals Interbasiswinkel bezeichnet und drückt die Di-vergenz der Kieferbasen aus.

Die Untersuchungsgruppe zeigt Werte zwischen7.1° und 34.3°. Der Mittelwert beträgt 19.8°. Auchfür diesen Winkel gilt das bei ML-NSL gesagteüber regionale Unterschiede. Der oft genannteDurchschnittswert von 23.5° oder 25° ist für diehiesige Bevölkerungsgruppe zu groß. Weiterhinmuß die Beurteilung dieses Winkels im Zusam-menhang mit dem Gesichtstyp erfolgen. Die Zu-sammenhänge im einzelnen werden im Kapitel"Norm" besprochen.

Klinisch wird dieser Winkel als Diskussions-grundlage für die Beurteilung von dentalen An-omalien mit basalen Abweichungen in vertikalerRichtung benutzt: offener und tiefer Biß. Von be-

sonderer Bedeutung ist dieser Winkel außerdemin Grenzfällen, wenn bei Platzmangel entschie-den werden muß, ob eine Distalisierung von Mo-laren im Ober- und/oder Unterkiefer durchgeführtwerden kann. So sollte bei einem großen Winkelvorsichtig mit der Distalisierung von Molarenvorgegangen werden, da daraus eine posterioreRotation der Mandibula und in der Folge eineBißöffnung resultieren kann. Bei kleinen Wertenfür ML-NL wäre diese Nebenwirkung dagegenwünschenswert.

In diesem Zusammenhang kommt auch der Zug-richtung bei der Anwendung des Fazialbogens(Headgear) auf den oberen Molaren große Bedeu-tung zu, unabhängig davon, ob eine aktiveDistalisierung erreicht werden soll, oder ob dieMolaren nur im Sinne einer Verankerung "ge-halten" werden sollen. Außer einer möglichenRotationswirkung kann eine cervikale Zugrich-tung (Nackenzug) eine Extrusion der Molaren unddamit eine Öffnung des ML-NL-Winkels und desBisses bewirken. Durch Verwendung eines

n

Abb. 63 Verteilung des Winkels ML-NL

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57

Klinische Aussage der Variablen

Occipitalzuges kann diese möglicherweise uner-wünschte Nebenwirkung nicht nur vermieden wer-den, sondern es kann sogar eine Intrusion der obe-ren Molaren mit einer Verringerung des ML-NL-Winkels in der Folge erreicht werden.

NSBa-Winkel

Der Schädelbasiswinkel NSBa beschreibt dieAbknickung der Schädelbasis und damit die Re-lation des Clivus zur anterioren Schädelbasis. DieUntersuchungsgruppe zeigt eine Streuung von118.9° bis 151.2°, bei einem Mittelwert von131.7°.

Es besteht ein morphologischer Zusammenhangzwischen dem NSBa-Winkel und dem Gesichts-schädel, da es eine enge Lagebeziehung des Clivusund der Fossa articularis in der Sagittalebene gibt.Damit hängt über die Kiefergelenke auch die sa-gittale Position der Mandibula mit dem NSBa-Winkel zusammen.

Winkel Gn-tgo-Ar

Der Kieferwinkel Gn-tgo-Ar beschreibt die Rela-tion des Ramus zum Corpus mandibulae und istdamit ein Ausdruck der Form des Unterkiefers.Für diesen Winkel gibt es eine sehr große Variati-on von 101.4° bis 144.5°, wobei der Mittelwert121.8° beträgt.

Die Größe des Kieferwinkels wird unter ande-rem von der Wachstumsrichtung der Kondylenbeeinflußt. Wächst der Kondylus in posterioreRichtung, ergibt sich ein großer Wert für denKieferwinkel. Umgekehrt resultiert ein Wachs-tum in anteriore Richtung in einem kleinemWert für den Kieferwinkel. Umgekehrt spieltder Winkel auch eine gewisse Rolle bei derPrognose der Wachstumsrichtung. Große Wertefür diesen Winkel weisen darauf hin, daß derCondylus relativ zum Corpus auch weiterhineher nach dorsal wächst und damit ein ehervertikales Wachstum mit Tendenz zur posterio-ren Rotation zu erwarten ist.

n

Abb. 64 Verteilung des NSBa-Winkels

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58

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Kleine Kieferwinkel deuten dagegen auf ein mehrvertikal oder sogar anterior gerichtetes Wachstumder Condylen und in der Folge ein eher anterio-reres Wachstum der Mandibula hin. Zu beachtenist bei derartigen Prognosen, daß sowohl am Un-

ter- als auch am Hinterrand des Kieferwinkels imLaufe des Wachstums Apposition und/oder Re-sorption stattfindet, so daß alle Aussagen mit ei-ner gehörigen Portion Vorsicht gemacht werdenmüssen.

Abb. 65 Offener und geschlossener Kieferwinkel am Schädel

n

Abb. 66 Verteilung der Werte des Kieferwinkels Gn-tgo-Ar

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59

Klinische Aussage der Variablen

Weichteilwinkel nach HOLDAWAY

Die Messung des H-Winkels stellt einen Versuchdar, die bedeckenden Weichteile in Relation zumHartgewebsprofil zu setzen. Dabei beschreibt derWinkel die Neigung der H-Linie in Relation zurNB-Linie. Aus Abbildung 67 ist ersichtlich, daßeine große Streuung um den Mittelwert von 9.2°herum besteht. Zu beachten ist, daß der Winkelbei jungen Kindern meist deutlich über dem Wertfür Erwachsene liegt, sich dann aber im Laufe desWachstums im Wert verringert.

Der H-Winkel ist nicht allein in Hinblick auf dieStabilität der okklusalen Einstellung zu betrach-ten, sondern vor allem in Hinblick auf ein ästhe-

tisches Erscheinungsbild des Patienten. Deutlichzu große oder zu kleine Werte für diesen Winkelwerden vom Patienten und seiner Umwelt bei derProfilbeurteilung meist als unangenehm empfun-den.

Einen Einfluß auf den H-Winkel üben vor allemdie sagittale Basenrelation (ANB-Winkel), dieKinnprominenz (PgNB

mm), die Weichteildicken

von Kinn und Oberlippe sowie die Stellung deroberen Schneidezähne aus. Da die erste und letz-te dieser Größen vom Kieferorthopäden in derRegel beeinflußt werden können, sollte in derBehandlungsplanung darauf geachtet werden, daßeine ungüngstige Beeinflussung des H-Winkelsvermieden wird.

0 2.0 4.0 6.0 8.0 10.0 12.0 14.0 16.0 18

H-Winkel

0

5

10

15

20

25n

Abb. 67 Verteilung des H-Winkels

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60

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Nasolabialwinkel

Der Nasolabialwinkel gibt die Relation der Ober-lippe zur Nase an. Er ist für die ästhetische Beur-teilung eines Profils von großer Bedeutung. Eingroßer Wert des Winkels deutet entweder auf eineAnormität der Nase (Stupsnase, Steckdosennase)oder auf eine Retrusion der Oberlippe hin. Aucheine Kombination dieser beiden Zustände kommtvor. Eine Retrusion der Oberlippe hat eine Ver-ringerung des sichtbaren Lippenrots zur Folge. Eindeutliches Lippenrot wirkt auf die meisten Men-schen jugendlich und vorteilhaft.

Ein sehr kleiner Wert des Nasolabialwinkels trittvor allem in Fällen von bimaxillärer Protrusionoder starker maxillärer Hypoplasie (Lippen-Kie-fer-Gaumenspalten) auf und wird ebenfalls alsungünstig empfunden.

Der Mittelwert des Nasolabialwinkels beträgt109.8°, bei einer S.D. von 9.8. Die Spanne dervorkommenden Werte reicht von 87° bis 128°.Dabei muß beachtet werden, daß die Unter-suchungsgruppe nach der Okklusion und nichtnach ästhetischen Kriterien ausgesucht wurde.Eine Gruppe von ästhetisch besonders günstigenProfilen würde vermutlich weniger Extremwerteaufweisen.

Der Nasolabialwinkel ist weder alters- nochgeschlechtsabhängig; der angegebene Mittelwertkann also für alle Patienten als Referenz dienen.

Die Beurteilung des Weichteilprofils kann nichtallein auf gemessenen Werten beruhen, sondernes muß immer Raum für eine subjektive Beur-teilung gelassen werden.

85.0 95.0 105.0 115.0 125.0 135.0

Nasolabial-Winkel

0

10

20

30

40

50n

Abb. 68 Verteilung des Nasolabial-Winkels

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61

Klinische Aussage der Variablen

1-NA

Zur Beschreibung der Stellung der oberen Inzisi-vi wird eine Strecken- und eine Winkelmessungverwendet, die beide auf die NA-Linie als Refe-renz bezogen sind. Auf diese Weise wird die Stel-lung der Inzisivi zur Basis der Maxilla in anterior-posteriorer Richtung beurteilt.

Die Untersuchungsgruppe zeigt eine Streuung von-2.6 mm bis 10.5 mm, bei einem Mittelwert von3.7 mm (Abb. 69). Der Winkelwert gibt zusätz-lich die Achsenneigung der Inzisivi an. DieseProtrusion lag in der Kontrollgruppe zwischen -0.3° und 34.4°, bei einem Mittelwert von 20.9°.

n

Abb. 70 Verteilung des Winkels 1-NA°

n

Abb. 69 Verteilung von 1-NAmm

Page 63: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

62

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

1 -NB°

Zur Beschreibung der Stellung der unteren Inzi-sivi wird ebenfalls eine Strecken- und eine Winkel-messung benutzt. Beide beziehen sich auf die NB-Linie. Die Stellung der Inzisivi zur Mandibula inanterior-posteriorer Richtung wird auf diese Weisebeurteilt.

Die Untersuchungsgruppe zeigt eine Streuung von-2.4 mm bis 9.6 mm, bei einem Mittelwert von3.8 mm (Abb. 71). Die Winkelmessung gibt dieAchsenneigung der Inzisivi an. Deren Protrusionlag in der Kontrollgruppe zwischen 0.2° und 40.8°,bei einem Mittelwert von 24.1°. Auf die Beurtei-lung der Schneidezahnstellung wird im Kapitel"Normen" näher eingegangen.

__

-2.0 0.0 2.0 4.0 6.0 8.0

1-NBmm

0

10

20

30

40

50n

__

Abb. 71 Verteilung von 1 -NBmm

Abb. 72 Verteilung des Winkels 1-NB__

n

__

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63

Klinische Aussage der Variablen

Interinzisalwinkel 1-1

Weiterhin wird zur Beschreibung der Schneide-zahnstellung der Interinzisalwinkel verwendet.Die Untersuchungsgruppe weist bei dieser Varia-ble eine große Streuung auf. Der kleinste Wertbeträgt 108.6°, der größte 159.4°. Der Mittelwertbeträgt 132.9°.

Der Winkel hat große Bedeutung, wenn dasBehandlungsergebnis beurteilt werden soll, so-wohl in Hinblick auf die Stabilität als auch be-züglich des ästhetischen Eindrucks der Schneide-zahnstellung. Besonders bei der Behandlung vonFällen mit tiefem Biß und steilen Fronten ist esmeist wichtig, daß der Interinzisalwinkel ausrei-chend verkleinert wird. Andernfalls kommt esnicht zu der gewünschten vertikalen Abstützung.Für die Beurteilung der vertikalen Stabilität istjedoch auch die Morphologie der Palatinalflächender oberen Inzisivi von Bedeutung.

Die Größe des Interinzisalwinkels nach der akti-ven Behandlung muß in Relation zu Wachs-tumsrichtung und -menge beurteilt werden, die inder Retentionszeit zu erwarten sind. In Verbindungmit einer sagittalen Wachstumskomponente desUnterkiefers, die die des Oberkiefers übertrifft(zB. mandibuläres Restwachstum), tritt oft eineVergrößerung des Interinzisalwinkels durch stei-ler stehende Unterkieferinzisivi ein. Diese solltebei der Einstellung der Inzisivi am Ende der akti-ven Behandlung berücksichtigt werden. Geht dasWachstum nach der Behandlung in eine mehr ver-tikale Richtung, ist es dagegen sinnvoll, dieInzisivi direkt in die gewünschte Position zu stel-len.

Welche Stellung im einzelnen akzeptabel oderwünschenswert ist, wird im Kapitel "Normen"genauer erläutert.

__

110.0 120.0 130.0 140.0 150.0

1 - 1

0

10

20

30

40

50n

Abb. 73 Verteilung des Interinzisalwinkels 1 - 1__

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64

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

PgNBmm

Der Abstand PgNBmm

beschreibt die Prominenzdes knöchernen Kinns (Abb. 74). Die Beispiel-gruppe zeigt dabei eine Streuung von -3.1 mmbis +9.9 mm. Der Durchschnittswert beträgt2.3 mm.

Ein großer Wert PgNBmm

ist ein Zeichen einerRetroposition des Alveolarfortsatzes auf derUnterkieferbasis. Solch eine Retroposition kannin manchen Fällen Grund für einen großen ANB-Winkel sein. Weiterhin stellt sie einen wichtigenFaktor in der Behandlungsplanung dar, da sie Ein-fluß auf die Zahnstellung und die Ästhetik hat,jedoch durch kieferorthopädische Maßnahmennicht beeinflußt werden kann.

-3.0 -1.0 1.0 3.0 5.0 7.0 9.0

PgNBmm

0

10

20

30

40

50n

Abb. 74 Verteilung des Abstandes PgNBmm

Bei der Beurteilung spielt der Altersfaktor einegroße Rolle. Im Alter von 5 bis 6 Jahren findetsich meist noch kein knöcherner Kinnvorsprung;er entwickelt sich jedoch im Laufe des weiterenWachstums bis zum Erwachsenenalter.

Der Abstand PgNBmm

hängt eng zusammen mitder Stellung der Inzisivi. Wenn der Alveolarfort-satz (B-Punkt) weit retral in Relation zumPogonion steht (großer Wert für PgNB

mm), stehen

die Inzisivi auch mehr retrudiert. Beides scheintdurch einen starken Tonus des Mentalismuskelsverursacht zu sein. Dieser Zusammenhang wirdim Abschnitt über dentale Normen genauer dis-kutiert.

Page 66: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

65

Klinische Aussage der Variablen

63.066.069.072.075.078.081.084.087.090.093.096.099.0

Index

0

5

10

15

20n

Abb. 75 Verteilung des Index der vorderen Gesichtshöhen

Index

Der Index der vorderen Gesichtshöhen drückt dieBeziehung zwischen der mittleren und unterenTeilhöhe des Gesichtes aus. Er ist der Quotientaus N-Sp' und Sp'-Gn, ausgedrückt als Prozent-zahl. Wie bei allen Indices ist es problematischfestzustellen, ob eine Abweichung des Gesamt-index auf eine Abweichung des Zählers oder desNenners zurückzuführen ist. Da die Unterge-sichtshöhe eine deutlich größere Varianz zeigt alsdie Mittelgesichtshöhe, liegen Abweichungen derVariable Index in den meisten Fällen in einer Ab-weichung der Untergesichtshöhe begründet. Ab-weichungen der Obergesichtshöhe kommen vorallem bei Fehlbildungen des Gesichtsschädels, wiezum Beispiel Spaltbildungen, vor. Zur Kontrollekann die Mittelgesichtshöhe mit anderen linearenVariablen des Gesichtsschädels in Relation gesetztwerden (siehe Kapitel "Normen").

Die Variation des Index in der Untersuchungs-gruppe reicht von 62.9% bis 99.5%, bei einemDurchschnittswert von 80.1%. Im Gegensatz zuden meisten anderen Variablen weist der Indexder anterioren Gesichtshöhen keine Abhängigkeitvon Gesichtstyp oder Geschlecht und nur geringeAbhängigkeit vom Alter auf. Im Wechselgebißliegt der Index um bis zu drei Prozentpunkte hö-her (relativ kleinere Untergesichtshöhe) als beiErwachsenen oder bei Kindern vor dem Zahn-wechsel.

Der Index hat seine Bedeutung besonders bei derBeurteilung der vertikalen Beziehungen, z.B. vonoffenen oder tiefen Bissen (Abb. 76). Ergänztdurch den Interbasiswinkel ML-NL in Relationzum Gesichtstyp erlaubt der Index die ausreichen-de Beschreibung der vertikalen Relation.

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Der Index ist jedoch nicht nur bei der Beurteilungvon Malokklusionen in der vertikalen Ebene hilf-reich, es hat sich vielmehr gezeigt, daß auch dieBehandlung sagittaler Probleme wesentlich bes-ser läuft oder -bei extremen sagittalen Abweichun-gen- überhaupt erst möglich ist, wenn ausgewo-genen Proportionen der Gesichtshöhen (Index ca.80%) vorliegen.

Entsprechend der sagittalen Basenrelation wirdder Einfachheit halber auch für den Index eine

Klassifizierung in drei Gruppen verwendet. Diedrei Gruppen werden mit O, N, und T bezeichnetund wie folgt zugeordnet:

O Index < 71%N 71% Index 89%T Index > 89%

Etwa 2/3 aller Patienten fallen in die Kategorie "N",

der Rest verteilt sich auf die Gruppen "O" und"T".

Abb. 76 Durchzeichung eines Falles mit großem Index („T“) und mit kleinem Index („O“)

90.8% „T“ 63.2% „O“

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67

Der Begriff „Norm“

D. Der Begriff „Norm“

Jede Beurteilung einer klinischen Situation machtnur dann Sinn, wenn sie mit einer „NORM“ ver-glichen wird. Diese Norm muß nicht zwingendeine anzustrebende Situation darstellen, sie istvielmehr unerläßlich, um die diagnostischen Meß-werte zu kalibrieren. Bei der dentalen Diagnos-tik hat sich die Klassifizierung nach Angle durch-gesetzt; die Norm ist hierbei die „Neutral-verzahnung“, bei der der mesiobukkale Höckerdes oberen ersten Molaren in die zentrale Quer-fissur des unteren ersten Molaren beißt. DieserZustand wird „Klasse I“ genannt. Die Beurtei-lung der sagittalen Situation orientiert sich dannan dieser Norm. Abweichungen von dieser Normin mesialer oder distaler Richtung können direktvom dreidimensional orientierten Modell abge-lesen werden. Die Größe der Abweichung wirdin Millimetern oder in Bruchteilen von Prämola-ren-Breiten angegeben.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tat-sache, daß in vielen Regionen bis zu einem Drit-tel der kieferorthopädisch nicht behandelten Be-völkerung von der Norm der „Klasse I“ abweicht.Trotzdem hat sich gezeigt, daß eine Verzahnung,wie sie von Angle als „Klasse I“ beschriebenwurde, für die Funktion des Kauorgans von sogroßer Bedeutung ist, daß sie als Norm allgemeinakzeptiert wird.

Für die Beurteilung der kephalometrischenGrößen läßt sich eine entsprechende Normnicht ohne weiteres finden. Vielmehr sind dieMeßgrößen kontinuierlich und im allgemeinenannähernd normal verteilt. Kleine Unterschie-de haben meist nicht so deutlich negative oderpositive Auswirkungen auf das stomatognatheSystem wie es bei Verschiebungen der Ver-zahnung der Fall ist.

1. BEURTEILUNG VON MESSGRÖSSEN

Die einfachste Beurteilung kontinuierlicher Meß-größen geht von dem Mittelwert („Durchschnitt“)eines Referenzkollektivs aus. Dieses Referenz-kollektiv kann entweder aus einer bevölkerungs-repräsentativen Gruppe bestehen oder aus einerGruppe, die bestimmten Kriterien genügt. Meistwird eine „Ideal“-Okklusion gefordert.

In der Regel werden die Meßwerte eines zu un-tersuchenden Patienten nicht mit solch einerMittelwertnorm übereinstimmen. Es wird deshalboft ein gewisser Toleranzbereich zugelassen, dersich an der Streuung der entsprechenden Varia-ble im Referenzkollektiv orientiert. Bei einer Vari-able mit einer großen Standardabweichung, wiezum Beispiel dem Winkel NSBa, sind Abweich-ungen von einigen Graden nicht so schwer-wiegend wie etwa bei dem Winkel ANB, der einegeringe Standardabweichung aufweist.

Bei allen Verfahren, die sich an Bevölkerungs-mittelwerten orientieren, muß jedoch untersuchtwerden, welche Konsequenzen die entsprechendeDiagnose für die Behandlung hat. Insbesonderemuß hinterfragt werden, ob es das Behandlungs-ziel sein kann, daß für jeden Patienten die Bevöl-kerungsmittelwerte für jede Variable anzustrebensind. Eine individuelle Berücksichtigung desGesichtstyps des Patienten wäre damit jedenfallsnicht möglich. Wenn dies nicht das Ziel sein soll,stellt sich die Frage, ob der diagnostische Wertder Fernröntgenseitenaufnahme und ihre Auswer-tung den Aufwand lohnt.

Anzustreben ist vielmehr eine Beurteilung derMeßwerte, die die individuellen Gegebenheitendes Patienten berücksichtigt. Damit besteht nichtdie Gefahr, daß für alle Patienten die gleiche Normverwendet wird. Vielmehr muß es das Ziel sein,für jeden Patienten seine individuelle Norm zu

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

finden und die Meßwerte anhand dieser Norm zubeurteilen. Es können dann basale und/oderdentoalveoläre Probleme erkannt werden, ohnedaß auf eine individualisierte Betrachtung ver-zichtet werden muß. Weiterhin ergibt sich durchdie Verwendung von individuellen Normen einefeinere Erkennungsschwelle für Abweichungenim Vergleich zu Bevölkerungsnormen.

Im folgenden Kapitel wird dargestellt, wie sol-che individualisierte Normen aufgestellt und be-nutzt werden.

2. HARMONIEBEGRIFF

Wenn Meßgrößen einer Anzahl von Individuenuntersucht werden, so zeigt sich, daß diese Meß-

größen nicht völlig unabhängig voneinander auf-treten. Vielmehr läßt sich in der Regel sagen, daßein gemessener großer Wert für eine Variablemeist auch einen relativ großen Wert einer ande-ren Variable zu Folge hat. Es besteht somit einZusammenhang zwischen verschiedenen Varia-blen.

Die Beispiele in Abbildung 80 zeigen Figuren vonverschiedener Körpergröße. Die Armlänge derrechten Figur in Abb. 80 ist relativ groß; das glei-che gilt aber auch für die Beinlänge. Umgekehrtesgilt für die linke Figur in Abb. 80.

Alle drei Figuren zeigen deutlich unterschiedlicheMeßwerte für Arm- und Beinlängen. Nur die mitt-lere Figur in Abb. 80 entspricht dem „Durch-schnittsmenschen“, während die äußeren Figuren

Abb. 80 Figuren mit harmonischen Kombinationen von Arm-, Bein- und Körperlängen. Links kleine Körper-größe, Mitte mittlere Körpergröße, rechts große Körpergröße.

Page 70: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

69

Der Begriff „Norm“

deutlich von diesem Mittelwert abweichen. Nunwird niemand behaupten, diese Abweichung wäreklinisch relevant. Es handelt sich vielmehr um denAusdruck der biologischen Variation der Varia-ble Körperlänge. Bei der Figur in Abb. 81 fälltjedoch auf, daß zwar die Länge der Arme demMittelwert für die Bevölkerung entspricht (sieheAbb. 80, Mitte), nicht jedoch zur Beinlänge undKörpergröße allgemein paßt.

zusammen. Bei der Figur in Abb. 81 ist das je-doch nicht der Fall. Hier paßt zumindest eine derMeßgrößen (hier die Armlänge) nicht zu den rest-lichen. In diesem Fall spricht man von Dishar-

monie; die einzelnen Teile des Ganzen passennicht optimal zusammen.

Wie läßt sich nun objektiv feststellen, ob verschie-dene Meßgrößen zusammenpassen und damit eineharmonische Situation besteht?

Mit Hilfe von Korrelationsuntersuchungen an ei-ner Referenzgruppe der entsprechenden ethni-schen Gruppe kann herausgefunden werden, wel-che Variablen einen Zusammenhang aufweisen.Entsprechende Untersuchungen wurden z.B. vonSOLOW in seiner Arbeit „The general pattern ofthe cranio-facial association“ durchgeführt. Erzeigte, daß vielfältige Zusammenhänge von Va-riablen im Bereich des Gesichtsschädels beste-hen, die zusammen sogar ein Muster des Gesichts-schädelaufbaus ergeben.

Wird die Figur in Abb. 81 anhand von Bevöl-kerungsmittelwerten beurteilt, wird die Armlängeals korrekt diagnostiziert. Geht man jedoch vonden individuellen Verhältnissen des Patienten aus,so fallen die Arme als zu lang auf. Es gibt eineDiskrepanz zwischen der Variablen Armlänge undden übrigen Meßgrößen.

In Fällen wie Abb. 80 sprechen wir von Harmo-

nie, die Körperteile und damit die Meßgrößenpassen -unabhängig von der absoluten Größe- gut

Als Beispiel für den Zusammenhang zwischenzwei angulären Variablen des Gesichtsschädelsseien die Winkel SNB und ML-NSL genannt(Abb. 82).

Abb. 81 Figur mit disharmonischer Kombination vonArm-, Bein- und Körperlänge. Armlänge wie inAbb. 80, Mitte.

Abb. 82 Streuungsdiagramm der Variablen SNB undML-NSL. Beachte die längliche Orientierung derPunktwolke.

r = -0.61

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70

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Die Intensität des Zusammenhangs zwischen denzwei Variablen wird dabei mit dem linearenKorrelationskoeffizienten („r“) beschrieben. Jegrößer der Betrag diese Korrelationskoeffizien-ten ist, desto größer ist der Zusammenhang zwi-schen den beteiligten Variablen. Der Maximalwertbeträgt dabei 1. Wenn der Korrelationskoeffizientdagegen Werte um Null annimmt, besteht keinZusammenhang zwischen den beiden Variablen.

Das Vorzeichen des Koeffizienten gibt Auskunftüber die Richtung des Zusammenhangs. Bei po-sitivem Vorzeichen ist der Zusammenhang zwi-schen den Variablen gleichgerichtet, d.h. ein grö-ßerer Wert für die eine Variable ist auch mit ei-nem größeren Wert für die andere Variableverbunden. Bei negativem Vorzeichen ist dage-gen ein großer Wert für die eine Variable mit ei-nem kleinen Wert für die andere Variable verbun-den, wie das zum Beispiel bei den Variablen SNBund ML-NSL in Abb. 82 der Fall ist.

Die Stärke des Zusammenhangs und damit derBetrag des Korrelationskoeffizienten läßt sich ander Form der Punktwolke im Streuungsdiagrammabschätzen. Besteht kein oder kaum ein Zusam-menhang, so erscheint diese Punktwolke rundlichund stark gestreut. Eine längliche und stark ge-streckte Punktwolke, wie zum Beispiel in Abb. 82,läßt dagegen einen hohen Korrelationskoeffizien-ten erwarten. Bei einem Koeffizienten von 1 wür-den sich alle Punkte im Streuungsdiagramm aufeiner geraden Linie befinden. Diese Gerade läßtsich durch eine Gleichung der Form

y = a x + b

beschreiben. Dabei gibt der Betrag von a die Stei-gung der Geraden an, während das Vorzeichenvon a angibt, ob die Gerade nach rechts ansteigt(positives Vorzeichen) oder abfällt (negatives Vor-zeichen). Der Summand b gibt an, wo die Geradedie y-Achse schneidet. Ein Sonderfall besteht,

wenn die Gerade parallel zur x- oder y-Achseverläuft. In diesen Fällen ist die eine Variablekonstant und die andere hängt damit nicht vonder ersten ab. Deshalb beträgt der Korrelations-koeffizient auch 0.

Auch im Regelfall, wo trotz eines Zusammen-hangs zwischen zwei Variablen nicht alle Punkteauf einer Geraden liegen, kann mit der Methodeder kleinsten Quadrate eine Gerade angegebenwerden, die geeignet ist, den Zusammenhang zwi-schen den beiden Variablen zu beschreiben. Die-se Gerade stellt die Längsachse der Punktwolkeim Streuungsdiagramm dar (siehe auch Abb. 82).Mit Hilfe dieser Regressionsgeraden kann für ei-nen gegebenen Wert der Variable auf der x-Ach-se der optimal dazu passende Wert für die Varia-ble auf der y-Achse gefunden werden. Es ist diesder Wert, den man -basierend auf den imReferenzkollektiv gefundenen Zu-sammenhängen- für diesen Einzelfall erwartenwürde. Es handelt sich also um einen individuellen

Erwartungswert, der nichts mit dem Mittelwertzu tun hat.

Tab. 2 Korrelationen zwischen den 5 skelettalen Va-riablen SNA, NL-NSL, NSBa, ML-NSL und SNB

NL-NSL NSBa ML-NSL SNB

SNA -0.37 -0.36 -0.42 0.82

NL-NSL 0.46 0.32 -0.44

NSBa 0.31 -0.45

ML-NSL -0.61

n = 275

p < 0.001 für alle Korrelationen

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71

Der Begriff „Norm“

Die linearen Korrelationskoeffizienten für diewichtigsten skelettalen Variablen SNA, SNB,NSBa, NL-NSL und ML-NSL sind in Tabelle 2aufgeführt. Es zeigt sich, daß es zwischen all die-sen Variablen deutliche Zusammenhänge gibt.Alle Korrelationskoeffizienten liegen zwischen0.31 und 0.82 und sind hochsignifikant.

Am Beispiel SNB und ML-NSL soll erklärt wer-den, was der Korrelationskoeffizient von 0.61aussagt. Wenn bei gegebenem SNB-Winkel dieStreuung s˝ des ML-NSL-Winkels beurteilt wird,so stellt man fest, daß ein Teil dieser Varianz durchdie Varianz des SNB-Winkels erklärt werdenkann. Die Größe dieses erklärten Teils kann ausdem Korrelationskoeffizienten berechnet werden,indem dieser quadriert wird (r˝).

Ein weiterer Teil, die sogenannte Restvarianz,kann nicht durch den Winkel SNB erklärt wer-den und hat andere, nicht ohne weiteres ersichtli-che Ursachen. Es gilt also

s˝ML-NSL

= s˝rest

+ r˝(ML-NSL/SNB)

In diesem Beispiel kann also 37% der Varianz derVariable ML-NSL durch die Variable SNB erklärtwerden (37% = 0.37 = 0.61˝). Die anderen 63%der Varianz können so nicht erklärt werden undgehören zur Restvarianz.

Die Beurteilung, ob eine Anzahl kephalo-metrischer Variablen harmonisch zueinander pas-sen, kann also durch die Berechnung der Er-wartungswerte mittels der jeweiligen Regres-sionsgleichungen und anschließendem Vergleichmit den tatsächlich beobachteten Werten erfolgen.Die Erwartungswerte stellen somit eine individu-

elle Norm für den zu untersuchenden Patientendar.

Um das aufwendige Rechnen mit den Regres-sionsgleichungen zu umgehen, können diese ein-malig ausgerechnet und dann in einem graphi-schen Schema wie in Abbildung 83 dargestelltwerden. Zur Anwendung kommen die Regressio-nen aus Tabelle 3. Jeweils auf einer horizontalenLinie stehen zueinander passende Werte für diefünf Variablen SNA, NL-NSL, NSBa, ML-NSLund SNB. Wenn die einzelnen Meßwerte einesPatienten alle um eine horizontale Linie herumliegen, kann gesagt werden, daß dieser Patienteinen harmonischen Aufbau des Gesichtsschädelszeigt (Abb. 84, oben). Bei größeren Abweichun-gen von dieser Harmonielinie handelt es sich da-gegen um einen eher disharmonischenGesichtsschädelaufbau (Abb. 84, unten). Zu be-achten ist hierbei wieder die Tatsache, daß es un-erheblich ist, ob die Werte vertikal gesehen in derMitte der Box und damit nahe den Bevölkerungs-mittelwerten oder im oberen beziehungsweiseunteren Teil der Box liegen.

Tab. 3 Regressionen zwischen den 5 verwendeten ba-salen kephalometrischen Variablen. Das Material, aufdem die Regressionen basieren, besteht aus 275 unbe-handelten, jungen Erwachsenen mit Idealokklusion ausHamburg, München und Bergen.

NL-NSL = -0.34 SNA + 35.50

NSBa = -0.49 SNA + 171.17

ML-NSL = -0.70 SNA + 86.05

SNB = 0.79 SNA + 15.56

ML-NSL = -1.07 SNB + 114.37

SNA = -0.27 NSBa + 117.06

Page 73: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

3. GESICHTSTYP UND HARMONIE

Variationen des Gesichtsschädels können sowohlin Relation auf eine frontale als auch auf eine ho-rizontale oder sagittale Ebene beschrieben wer-den. Mit Hilfe des seitlichen Profilröntgenbildesist es jedoch nur möglich, sagittale und vertikaleVariationen zu erörtern.

Ein Großteil der klinisch-kephalometrischen Ana-lyse beschäftigt sich mit diesen Ebenen, weil dieallermeisten in Frage kommenden Anomalien sichzumindest auch in anterior-posteriorer oder ver-tikaler Richtung manifestieren und deshalb auchmit Hilfe eines Profilröntgenbildes beschriebenwerden können.

ANB SNA NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL

-

-

-

-

-

-

-

-

-2

-1

0

1

2

3

4

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6

6263646566676869707172737475767778798081828384858687888990919293949596979899100101102103

0

1

2

3

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7

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9

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12

13

14

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

121

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140

141

13141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243 64

65666768697071727374757677787980818283848586878889909192939495969798

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28

Abb. 83 Kombination von harmonischen Werten für die skelettalen Variablen SNA, NL-NSL, NSBa, ML-NSLund SNB. Die Wertekombinationen können auf gleicher Höhe in der „Harmonie-Box“ gefunden werden.

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73

Der Begriff „Norm“

Fernröntgenaufnahmen in anderen Ebenen kön-nen ebenfalls wertvolle Informationen enthaltenund werden auch im Einzelfall erstellt; ihre prak-tische Anwendung ist jedoch begrenzt, da dieseAufnahmen methodische Probleme aufweisenund ihre Analyse kompliziert und aufwendig ist(Segner und Scheuer 1990). In diesem Buch wirddaher nur auf das seitliche Fernröntgenbild ein-

gegangen. Es sollte jedoch bei der klinischen An-wendung immer daran gedacht werden, daß so-wohl die Zahnbögen als auch der Schädel dreidi-mensionale Gebilde darstellen.

Die wichtigste sagittale Einteilung des Ge-sichtstyps ist die Beschreibung des Prognathie-grades, basierend auf der sagittalen Relation vonMaxilla und Mandibula zur vorderen Schädel-basis. Als Grundlage für die Klassifizierung wird-wie auf den Seiten 47/48 beschrieben- für dieMaxilla der SNA-Winkel und für die Mandibulader SNB-Winkel herangezogen.

Für die Beurteilung der Vertikalebene wird dieNeigung der Nasal- und Mandibularebene in Re-lation zur Schädelbasis (NL-NSL und ML-NSL)verwendet. Zusätzlich wird das Verhältnis ausMittelgesichtshöhe und Untergesichtshöhe („In-dex“) benutzt.

Eine derartige Einteilung, basierend auf Progna-thie- und Neigungsgrad, erlaubt, eine Unzahl vonGesichtstypen zu klassifizieren. Wären diese Va-riablen ganz unabhängig voneinander, so könntees theoretisch eine große Anzahl extremer mor-phologischer Kombinationen geben. Die obengenannte Korrelationen zwischen den, den Ge-sichtsschädelaufbau beschreibenden Variablen,schränken die Häufigkeit solcher extremen mor-phologischen Kombinationen stark ein.

Um den Zusammenhang zwischen Prognathie-grad und Neigung der Maxilla sowie Abknickungder Schädelbasis zu zeigen, sollen die drei Bei-spiele in Abb. 85 dienen. Ein Fall mit kleinemSNA-Winkel (retrognath) weist oft einen großenNL-NSL-Winkel (posteriore Neigung) und einengroßen NSBa-Winkel auf (Abb. 85a). Fälle miteinem großen SNA-Winkel (prognath) und klei-nem NL-NSL-Winkel (anteriore Neigung) gehenjedoch gern mit einem kleinen NSBa-Winkel, alsoeiner deutlichen Abknickung der Schädelbasis,

Abb. 84 Harmonie-Box mit harmonischen (oben) bzw.disharmonischen Werten (unten).

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

einher (Abb. 85c). Fälle mit einer orthognath ste-henden Maxilla liegen zwischen diesen Grenz-werten (Abb. 85b). Diese Beobachtungen der Zu-sammenhänge von Prognathie und Neigung imMittelgesicht sowie Abknickung der Schädelbasisstellt sich auch in der Harmoniebox dar. Rechtsin Abb. 85 sind die drei Beispiele in die Harmonie-box eingetragen. Es wird deutlich, daß sie jeweilsetwa auf einer horizontalen Linie liegen.

Es gibt eine Vielzahl von Variablen, die in dasHarmonieschema aufgenommen werden könnten;

aus Gründen der Übersichtlichkeit und Relevanzfür die Klinik ist die Box jedoch auf die wichtig-sten skelettalen, kephalometrischen Variablenbeschränkt.

Für das Untergesicht wird ebenfalls der Pro-gnathiegrad (Winkel SNB), die Neigung derMandibularebene (Winkel ML-NSL) in Verbin-dung mit der Abknickung der Schädelbasis ver-wendet. Für die Mandibula wurde eine negativeKorrelation zwischen SNB und ML-NSL gefun-den (r = -0.61). In klinischer Hinsicht bedeutet

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Abb. 85 Zusammenhang zwischen Prognathie (SNA) und Neigung (NL-NSL) der Maxilla sowie Abknickung derSchädelbasis (NSBa) anhand dreier Beispiele. Die entsprechenden Werte sind auch in die Harmonie-Box eingetragen.

ANB SNA NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL

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Der Begriff „Norm“

dies, daß eine um so schwächere Neigung derMandibula erwartet werden kann, je prognatherihre Lage ist (Abb. 86c). Andererseits kann beieiner retrognathen Mandibula (kleiner SNB-Win-kel) eine größere (posteriore) Neigung der Mandi-bula (großer ML-NSL) erwartet werden(Abb. 86a). Im orthognathen Gesicht treten ent-sprechend vorzugsweise Werte nahe dem Durch-schnitt auf (SNB 78°, ML-NSL 29°; Abb. 86b).

Auch für das Untergesicht können -wie für dasMittelgesicht- die Zusammenhänge aus derHarmoniebox abgelesen werden. Unten rechts inAbbildung 86 sind wieder die Werte für die dreidargestellten Fälle eingetragen.

Alle bisher gezeigten Beispielfälle zeigten einenharmonischen Gesichtsschädelaufbau. Es gibtaber selbstverständlich auch zahlreiche Fälle, bei

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Abb. 86 Zusammenhang von Prognathie und Neigung der Mandibula mit dem Schädelbasiswinkel (SNB, ML-NSLund NSBa)

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

denen Prognathie- und Neigungsgrad eines Kie-fers nicht zueinander passen und die damitdisharmonisch genannt werden müssen. Drei Bei-spiele dafür sind in den Abbildungen 87 bis 89dargestellt. In Abbildung 90 sind die dazugehö-rigen Meßwerte in der Harmoniebox zu sehen.

dienen. Hier ist eine harmonische Kombinationaus Prognathie (SNA 75°) und Neigung (NL-NSL 11°) der Maxilla zu beobachten. DerSchädelbasiswinkel hat mit 130° einen Wert, dereher zu einem orthognathen oder prognathenGesicht passen würde.

Es gibt in einer Gruppe vom Patienten in der Re-gel auch Kombinationen von Meßwerten, dienicht dem Idealmodell harmonisch zueinanderpassender Werte folgen. Diese Tatsache wirddurch die im vorigen Abschnitt beschriebeneRestvarianz erklärt.

In Abbildung 87 ist ein Fall mit retrognatherMaxilla (SNA 75°) und offenem Schädelbasis-winkel (NSBa 137°) in Verbindung mit einerorthognathen Neigung der Nasalebene (NL-NSL 7.5°) dargestellt. In anderen Fällen kann eineprognathe Maxilla (SNA 90°) und ein kleinerBasiswinkel (NSBa 126°) in Kombination miteiner deutlich posterioren Neigung der Ober-kieferebene (NL-NSL 11°) gefunden werden(Abb. 88). Als drittes Beispiel soll Abbildung 89

Im Zusammenhang mit der klinisch-kephalo-metrischen Analyse sollte es möglich sein, dieunterschiedlichen Kombinationen verschiedenerWachstumsmuster bei den einzelnen Individuenauf irgendeine Weise beschreiben zu können, undzwar, ob der jeweilige Gesichtsschädelaufbaudem Idealmodell der harmonisch zueinander pas-senden Werte folgt, oder ob er mit individuellenAbweichungen entsprechend der Abbildung 90einhergeht.

Folgen die drei Variablen des Obergesichts demIdealmodell aus der Harmoniebox, so wird die-ser Zusammenhang als harmonisch bezeichnet.Abbildung 85a zeigt eine harmonisch prognathe,Abbildung 85c eine harmonisch retrognatheKombination, während Abbildung 85b eine har-

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137 75

Abb. 87 Kombination von Werten des Mittelgesichtes,die nicht dem allgemeinen Muster folgen.

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Abb. 88 Disharmonische Kombination des Mittel-gesichtes

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Abb. 89 Disharmonische Kombination eines retro-gnathen Mittelgesichtes mit zu starker Abknickung derSchädelbasis

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Der Begriff „Norm“

monische, orthognathe Kombination aufweist, dieim übrigen (zufällig) mit dem jeweiligen Mittel-wert der drei Variablen zusammenfällt. Aus derHarmoniebox (Abb. 83) ergibt sich eine großeAnzahl harmonischer Kombinationen, nämlichalle Werte, die jeweils auf gleicher Höhe stehen.

recht gut zum Prognathiegrad (SNA 75°). DieNeigung der Maxilla mit einem NL-NSL-Win-kel von 7.5° paßt weder zum Prognathiegrad nochzu der Flexion der Schädelbasis. Es scheint also,als würde -gemessen an der individuellen Normfür diesen Fall- eine Abweichung bei der Neigungder Maxilla bestehen.

Auch Abbildung 88 zeigt eine Disharmonie zwi-schen Prognathie (SNA 90°) und Neigung (NL-NSL 11°), und auch hier besteht wieder eine guteRelation zwischen Prognathiegrad und Abknik-kung der Schädelbasis (NSBa 126°), wie aus derHarmoniebox zu erkennen ist. Die Neigung folgthierbei nicht dem allgemeinen Gesichtsmuster. ImGegensatz dazu zeigt Abbildung 89 Harmoniezwischen Prognathie (SNA 75°) und Neigung(NL-NSL 11°). Die Kombination aus retrognatherPosition und posteriorer Neigung der Maxilla paßtgut zusammen, während eine geringere Abknik-kung der Schädelbasis im Vergleich zu derbeobachteten (NSBa 130°) zu erwarten wäre.

Dieselben Beziehungen werden bei der Diskus-sion der Mandibula zu Grunde gelegt. Auch hierkönnen die Zusammenhänge zwischen den dreiVariablen SNB, ML-NSL und NSBa aus derHarmoniebox (Abb. 83) abgelesen werden. InAbbildung 86c ist eine harmonische, prognatheKombination mit großem SNB-Winkel (88°) undanteriorer Neigung der Mandibula (ML-NSL 18°)und starker Abwinkelung der Schädelbasis(NSBa 123°) dargestellt. Abbildung 86b zeigteine harmonisch orthognathe Kombination, dieauch wieder (zufällig) mit den Mittelwerten derdrei Variablen zusammenfällt. Schließlich gibt inAbbildung 86a eine harmonisch retrognatheKombination (SNB 70°) mit stark posterior ge-neigter Mandibula (ML-NSL 38°) und einen of-fenen Basiswinkel (NSBa 142°) an. Neben dengezeigten drei Kombinationen können natürlichbeliebig viele andere harmonische Kombi-nationen auftreten.

Wenn jedoch die drei Variablen nicht diesemIdealmodell folgen, wird dies als Disharmoniebezeichnet. In Abbildung 87 besteht eine eindeu-tige Disharmonie zwischen Prognathiegrad(SNA 75°) und Neigung (NL-NSL 7.5°). DieseDisharmonie-Klassifizierung allein sagt nochnichts darüber aus, bei welcher der beiden Varia-blen der Fehler liegt. Erst wenn weitere Varia-blen, z.B. der Winkel NSBa, in die Betrachtungmit einbezogen werden, wird deutlich, daß eini-ge Variablen harmonisch zueinander passen, wäh-rend mindestens eine Variable sich zu allen ande-ren disharmonisch verhält. In diesem Beispiel paßtdie dritte Variable Schädelbasiswinkel mit 137°

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Abb. 90 Werte der disharmonischen Kombinationenaus Abb. 87 bis 89 in der Harmoniebox

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Folgen die drei Variablen für den Unterkiefer nichtdem harmonischen Idealmodell, wird dies als Dis-harmonie eines oder mehrerer der drei Winkelbezeichnet. In Abbildung 91 besteht eine klareDisharmonie zwischen Prognathie (SNB 73°) undNeigung der Mandibula (ML-NSL 23°). Auch indiesem Fall läßt sich bei der Klassifizierung derDisharmonie zwischen Prognathiegrad und Nei-gung nicht auf Anhieb feststellen, wo der Fehlerliegt. Wird jedoch die dritte Variable (NSBa) mitin die Betrachtung einbezogen, ergibt sich einebessere Grundlage. Im vorliegenden Fall ist NSBa135°. Aus der Harmoniebox ergibt sich, daß NSBaund SNB gut zusammen passen, während der ML-NSL-Winkel aus dem Rahmen fällt. Betrachtetman allein die Mandibula, so würde ein Wert von34.5° für ML-NSL eine gute harmonische Kom-bination ergeben.

Es ist zwar gefährlich, diesen Gedanken weiterzu verfolgen, ohne die Maxilla in die Betrach-tung mit einzubeziehen, jedoch könnte dieseKombination z.B. für die Mandibula in einem Fallmit einem großen ANB-Winkel und Angle-Klasse II zu finden sein. Die Harmoniebeurteilungwürde dann den Schluß zulassen, daß der B-Punktzu weit hinten liegt. Bekanntlich beschreibt die-ser Wert entweder die sagittale Position oder die

Größe der Mandibula. Die sagittale Position derMandibula ist über die Kiefergelenksposition mitder räumlichen Orientierung des Clivus und da-mit mit dem NSBa-Winkel verbunden. Mit einerAbknickung der Schädelbasis, die einerorthognathen Position der Mandibula(NSBa 131°) entspricht, scheint es keine Grund-lage für die Annahme zu geben, die Lage derMandibula in toto wäre zu weit posterior. DerGrund scheint mehr in der absoluten Größe derMandibula zu liegen.

In einer Gruppenuntersuchung würde sich eineganze Reihe anderer Kombinationen dieser dreiWinkel finden, die als disharmonisch bezeichnetwerden müssen. Aber sowohl für die Maxilla alsauch für die Mandibula muß hinzugefügt werden,daß eine Abweichung von den in der Harmonie-box (Abb. 83) angegebenen harmonischen Ideal-kombinationen keine Disharmonieklassifizierungerlaubt, wenn die Abweichung nur wenige Gera-de beträgt. Einerseits beinhalten die kephalo-metrischen Messungen immer einen gewissenMeßfehler, andererseits muß aufgrund der dochimmerhin erheblichen Restvarianz eine gewisseToleranz geübt werden.

Klinisch müssen die Harmoniemuster von Ma-xilla und Mandibula immer gemeinsam betrachtetwerden. In diesem Zusammenhang ist besondersdie Harmonie zwischen den Prognathiegraden (sa-gittale Harmonie) einerseits und der Harmoniezwischen den Neigungen (vertikale Harmonie)andererseits von Interesse.

Eine Disharmonie zwischen den Prognathiegrad-en kommt in der Größe des ANB-Winkels zumAusdruck. Die sagittale basale Abweichung wirdaufgrund des Wertes für den ANB-Winkel, wieauf Seite 49 beschrieben, klassifiziert. Wie dortaber schon erwähnt, gibt es einen Zusammenhangzwischen Prognathiegrad und ANB-Winkel da-hingehend, daß der ANB-Winkel in einem

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Abb. 91 Disharmonie zwischen Neigungs- undPrognathiegrad der Mandibula

Page 80: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

79

Der Begriff „Norm“

retrognathen Gesicht kleiner und in einemprognathen Gesicht größer ist. Diese wird auchaus der linken Spalte der Harmoniebox (Abb. 92)deutlich. Während im retrognathen Gesicht zueinem SNA-Winkel von 73° ein SNB-Winkel vonebenfalls 73° paßt, also ein ANB-Winkel von 0°zu erwarten ist, gibt es im prognathen Gesicht eineharmonische Kombination von zum Beispiel 93°für SNA und 89° für SNB, also einen ANB-Win-kel von 4°. Lediglich im orthognathen Bereichergeben sich harmonische Kombinationen ausSNA und SNB mit einer Differenz (ANB) vonum 2°. Auch der ANB-Winkel kann also nicht voneiner individualisierten Betrachtung ausgenom-men werden. Vielmehr muß für jeden Patientenausgehend von seinem gesamten Gesichtstyp eineindividuelle Norm für den ANB-Winkel erstelltwerden.

In Verbindung mit der klinischen Beurteilung desANB-Winkels ist es von Interesse, wo die mor-phologische Ursache für den betreffenden ANB-Winkel liegt. Hierbei kommt wieder dieHarmoniebeurteilung ins Spiel. In der Regel istein großer ANB-Winkel klinisch ein Problem.Morphologisch kann eine solche Abweichung vonfolgenden Faktoren verursacht werden:

1. Die Position der Maxilla ist zu weit anterior2. Die Mandibula ist zu klein3. Die Position der gesamten Mandibula ist zu

weit posterior4. Die Mandibula ist stark posterior geneigt5. Es besteht eine Retroposition, d.h. eine große

Differenz zwischen dem SNB- und demSNPg-Winkel ( >2° )

Diese Faktoren können einzeln oder auch in Kom-bination auftreten.

Die Beurteilung des ANB-Winkels baut also aufden Harmonieverhältnissen der Mandibula undder Maxilla auf. Dieser Gedankengang wurde

bereits auf Seite 78 angewendet. Als weiteresBeispiel wird in Abbildung 93 ein Patient mit sei-nen kephalometrischen Werten dargestellt. Erzeigt eine harmonische Kombination im Mittel-gesicht. Gemäß Harmoniebox (Abb. 83) passendie Winkelwerte für SNA mit 86°, für NL-NSLmit 6° und für NSBa mit 129° gut in das Musterdes Idealmodells.

Was den Unterkiefer betrifft, so besteht hier imGegensatz dazu eine klare Disharmonie zwischenPrognathiegrad (SNB 76°) und Neigung (ML-NSL 25°). Nimmt man den Basiswinkel zu Hil-fe, so paßt dieser Wert gut zu dem Wert für dieNeigung. Es ist daher ratsam, den SNB-Winkelein wenig näher zu betrachten. Könnte der B-Punkt nach B’ vorverlagert werden, würde SNBauf 83.5° ansteigen, was in etwa eine harmoni-sche Kombination für diese drei Winkel ergäbe.Weiterhin würde sich damit auch eine günstigeKombination der Prognathiegrade der beidenEinzelkiefer ergeben, so daß auch sagittale Har-

ANB SNA NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL

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Abb. 92 Individuell unterschiedliche „Ideal“-Wertefür ANB in Abhängigkeit vom Gesichtstyp, erkennbarin der linken Spalte der Harmoniebox.

Page 81: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

monie mit einem ANB-Winkel von 2.5° beste-hen würde. Da auch die Werte für die Neigungender beiden Einzelkiefer in etwa auf der gleichenHöhe in der Harmoniebox zu finden sind, bestehtauch eine gute vertikale Harmonie.

Aufgrund dieser Werte erscheint es naheliegend,der Mandibula den Hauptanteil an der morpho-logischen Abweichung, die den großen ANB-Winkel von 10° ergibt, zuzuschreiben. Da sowohlder Basiswinkel NSBa als auch die Neigung ML-NSL gut in das Harmoniemuster passen, bestehtweiterhin Grund anzunehmen, daß die Mandibulaim vorliegenden Fall zu klein ist. Es wäre folg-lich vorteilhaft, sie dem Wachstum „auszusetzen“,wobei das Wachstum dann möglichst gut auszu-nutzen ist. Wenn das Wachstum nicht das ge-wünschte Ergebnis in Menge und Richtung bringt,wird dieser Fall zum Problemkasus.

Bei anderen Kombinationen kann die morpho-logische Abweichung unter Umständen bei derMaxilla liegen, und eine Verschiebung des A-Punktes nach posterior würde eine harmonische

Kombination ergeben. Da dies meist schwer zuerreichen ist, wird in diesen Fällen meist ledig-lich auf eine Hemmung des sagittalen Wachstumsder Maxilla hingearbeitet, so daß sich zumindesteine relative Reduktion des SNA-Winkels ergibt(siehe auch Seite 114).

Bei der Beurteilung der Harmonie wird sich ineinzelnen Fällen zeigen, daß der Gesichtsschädelaus einer in sich harmonischen Maxilla einerseitsund aus einer in sich harmonischen Mandibulaandererseits zusammengesetzt ist, daß aber zwi-schen beiden Einzelkiefern sowohl in Hinblickauf den Prognathiegrad als auch auf die Neigungeine Disharmonie besteht.

Es ist hier oft schwierig, eindeutig festzulegen,wo der morphologische Fehler für diese basaleAbweichung liegt, und daraus ergibt sich dannmeist ein Kompromiß in der Behandlung. DieErfahrung zeigt, daß die Behandlung bei solchenPatienten schwierig werden kann.

Die Harmonie der Neigungen sollte immer in Hin-blick auf den Interbasiswinkel ML-NL gesehenwerden. Nach der Harmoniebox (Abb. 83) ist zuerwarten, daß er in einem retrognathen Gesichtgrößer und in einem prognathen Gesicht kleinerals der Mittelwert von 21° ist. Ein großer ML-NL-Winkel muß also in einem retrognathen Ge-sicht anders beurteilt werden als ein Winkel der-selben Größe in einem prognathen Gesicht. Ent-sprechendes gilt für einen kleinen Interbasiswin-kel. Es zeigt sich wiederum, daß eine Beurteilungnur auf individualisierter Basis möglich ist.

Wenn die Werte für NL-NSL und ML-NSL un-gefähr auf gleicher Höhe in der Harmoniebox lie-gen (Abb. 94; „2“), wird auch der Wert für ML-NL in etwa auf der gleichen Höhe liegen; es han-delt sich um einen Fall mit vertikaler Harmonie.Wenn der Wert für ML-NSL deutlich höher liegtals derjenige für NL-NSL, zeigt der Fall vertika-

Abb. 93 Profildurchzeichnung für die Harmoniebe-urteilung. Erklärung siehe Text.

Page 82: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

81

Der Begriff „Norm“

le Disharmonie. Es liegt ein zu großer Interbasiswinkelvor; es handelt sich um einen “high angle case“.

Ein ML-NSL-Winkel, der in der Harmonieboxdeutlich tiefer liegt als derjenige für NL-NSL,führt auch zu einem zu geringen Interbasiswinkel.In diesen Fällen von vertikaler Disharmonie ver-laufen die Kieferbasen nahezu parallel, und beider Behandlung wäre es schwierig oder gar un-möglich, einen möglicherweise vorhandenen Tief-biß zu beseitigen.

Wie oben bereits angedeutet, ergeben sich dieAbgrenzung zwischen den Bezeichnungen „1“,„2“ und „3“ des Interbasiswinkels ML-NL ausder Box. Wird vom Wert für NL-NSL eine hori-zontale Linie nach rechts gezogen, so erhält manden Erwartungswert für ML-NSL. Liegt der tat-sächliche Wert für ML-NSL um mehr als 6°darüber, so wird der Fall als „1“ oder „high-ang-le“ bezeichnet. Liegt der tatsächliche Wert um

mehr als 6° darunter, so handelt es sich um einenFall der mit „3“ bezeichnet wird. Die Fälle, diedazwischen liegen, werden als „2“ klassifiziert.Graphisch ergibt sich so für den „Neutral“-Be-reich („2“) ein nach rechts offener Winkel vonca. 60° mit dem Meßwert NL-NSL an seinemScheitelpunkt (Abb. 96). Prinzipiell wäre ein Vor-gehen von rechts nach links, also ausgehend vonML-NSL ebenfalls machbar. Das Intervall für denNeutralbereich von NL-NSL wäre dann 3° ober-bzw. unterhalb des Erwartungswertes.

Bei der computerunterstützten Auswertung läßtsich diese Beurteilung verfeinern, indem das Pro-gramm die vertikale Diskrepanz zwischen NL-NSL-Wert und ML-NSL-Wert auf die SNA-Spal-te projeziert und die Differenz berechnet. Es er-gibt sich dann der relative Interbasiswinkel (ab-gekürzt RIB), der angibt, inwieweit der tatsäch-lich gemessene Interbasiswinkel ML-NL von demindividuell erwarteten abweicht. Bei einem Wertvon 0 liegt der Idealwert vor, bei negativen Wer-ten ist der tatsächliche Wert zu groß (hyper-divergent), bei positiven Werten ist der tatsächli-che Meßwert zu klein (hypodivergent). Der Zu-sammenhang zwischen RIB und der vertikalenKlassifikation ergibt sich aus

RIB < -8.5 : „1“-8.5 < RIB < +8.5 : „2“

RIB > +8.5 : „3“

Wenn etwa ein RIB von -19 vorliegt so erkenntman, daß ein sehr schwerer Fall von Hyper-divergenz vorliegt, was bei der einfachen Klassi-fizierung „1“, „2“ oder „3“ in dieser Eindring-lichkeit nicht so klar wird.

Es muß darauf hingewiesen werden, daß es durch-aus Fälle geben kann, bei denen sowohl sagitta-le, als auch vertikale Harmonie zwischen den bei-den Kiefern herrscht, bei denen aber die Pro-gnathiegrade und die Neigungen nicht zueinan-

ANB SNA NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL

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"1"

"2"

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Abb. 94 Harmoniebeurteilung der Neigungen derKieferbasen relativ zueinander:

1 - Interbasiswinkel relativ zu groß2 - im Normbereich3 - Interbasiswinkel relativ zu klein

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82

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

der passen. In diesen Fällen ist der Gesichtstypinsgesamt und in den Einzelkiefern zwar dishar-monisch, trotzdem besteht Harmonie in der sa-gittalen und vertikalen Ebene zwischen denKieferbasen (Abb. 95).

4. DAS HARMONIESCHEMA

Um den Gesichtstyp, die sagittale und vertikaleHarmonie sowie die Gesamtharmonie einfacherBeurteilen zu können, wurde ein Harmonie-schema eingeführt, das auf die in die Harmonie-box eingetragenen Meßwerte überlagert wird(Abb. 96).

Die vertikale Toleranzbreite dieses Schemas er-gibt sich für die einzelnen Variablen aus der Engeihres Zusammenhangs mit den anderen 4 Varia-blen. In der Statistik wird dies als der Standard-fehler der Schätzung einer Variable aus den 4 an-deren bezeichnet. Man sieht, daß die Toleranz-

breite für die Variablen SNA und SNB geringerist als diejenige für NSBa und ML-NSL. Für NL-NSL ist die Toleranzbreite auch etwas geringer,aber da die Werte dieser Variable in der Harmonie-box stärker auseinandergezogen sind, erscheintdie Toleranzbreite größer.

Zunächst ist es das Ziel der Positionierung desHarmonieschemas zu prüfen, ob es möglich ist,alle Patientenmeßwerte innerhalb der Linie be-ziehungsweise der schraffierten Fläche fallen zulassen. Im einzelnen gelten dabei folgende Re-geln:

1. Die zentrale Linie muß exakt horizontal ori-entiert sein.

2. Die Summe der Abstände der einzelnen Meß-werte von der Zentrallinie oberhalb dieser Li-nie soll gleich derer unterhalb sein (Abb. 97).

3. Dabei finden die Variablen SNA und SNBstärkere Berücksichtigung, indem diese Ab-stände dreifach zählen.

4. Liegen einzelne Meßwerte eindeutig weitaußerhalb, so handelt es sich um „Ausreißer“,die für die Ermittlung des Gesichtstyps keineBerücksichtigung finden sollten und derenAbstand deshalb nicht in die Rechnung unterPunkt 1 und 2 einbezogen wird.

ANB SNA NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL

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Abb. 95 Beispiel für vertikale und sagittale Harmoniebei gleichzeitiger Disharmonie zwischen Neigung undPrognathiegrad

Abb. 96 Harmonieschema für die Harmoniebox. Wennes gelingt, das Harmonieschema so anzuordnen, daßalle Meßwerte hineinfallen, liegt eine harmonischeKombination vor.

Page 84: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

83

Der Begriff „Norm“

Nach dieser Positionierung erkannt man an der Po-sition der zentralen Linie auf der SNA-Spalte denGesichtstyp. Ein Bereich von etwa 79° bis 85° wirdals orthognather Gesichtstyp bezeichnet, bei klei-neren Werten handelt es sich um einen retrognathen,bei größeren um einen prognathen Gesichtstyp.

Wenn die Linien des Harmonieschemas alle Meß-werte umfassen, spricht man von einem harmoni-schen Gesichtstyp. Wenn einzelne Werte nicht ganzinnerhalb des Schemas liegen, wird dies als leichtdisharmonischer Gesichtstyp bezeichnet. Wenn dieMeßwerte jedoch über die ganze Harmoniebox ver-teilt sind, handelt es sich um einen disharmonischenGesichtstyp. In den Spalten ANB beziehungswei-se ML-NL kann man jetzt die für den vorliegendenindividuellen Gesichtstyp passenden idealen Wer-te für ANB und ML-NL ablesen.

Im nächsten Schritt wird die sagittale Harmoniebeziehungsweise sagittale basale Relation geprüft.Die zentrale Linie wird auf den gemessenen SNA-Wert gelegt. In der Spalte für SNB findet man dannunter der Zentrallinie den zu diesem SNA-Wertpassenden SNB-Wert. Die Relation des tatsächlichgemessenen Wertes für SNB zu diesem erwarteten

ergibt die sagittale Kieferrelation. Beträgt dieseDifferenz bis zu 2°, so wird die Kieferrelation alssagittal neutral bezeichnet. Liegt der tatsächlichgemessenen Wert für SNB mehr als 2° über demerwarteten (erkennbar durch die dicke Linie) han-delt es sich um eine distale basale Relation. Liegter jedoch unterhalb der unteren dicken Linie, sohandelt es sich um eine mesiale basale Relation.

Als letztes wird die Divergenz der Kieferbasen bzw.vertikale Harmonie analysiert. Dazu wird dasHarmonieschema mit der Zentrallinie auf den tat-sächlich gemessenen NL-NSL-Wert gelegt. In derSpalte ML-NSL erkennt man dann, ob der gemes-sene Wert innerhalb der beiden dicken Linien liegt( “2" ), oberhalb der oberen ( “1" ) oder unterhalbder unteren ( “3" ).

Die Analysen der sagittalen und vertikalen basalenRelation erlauben für sich noch keine Rückschlüs-se darauf, welcher der beiden Kiefer für eine even-tuelle Abweichung verantwortlich ist. Besteht eineAbweichung, muß das Harmonieschema wieder indie ursprüngliche Position (Bestimmung desGesichtstyps) gebracht werden. Man kann dann ein-fach feststellen, welcher Wert (SNA oder SNB bzw.NL-NSL oder ML-NSL) weiter von der zentralenGesichtstyplinie entfernt liegt.ANB SNA NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL

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Abb. 97 Positionierung des Harmonieschemas I.Abb. 98 Positionierung des Harmonieschemas II: Ana-lyse der vertikalen Harmonie. Hier liegt ein Fall „1“ vor.

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

5. BASALE KEPHALOMETRISCHE NORMEN

In klinischem Zusammenhang muß bei der Beur-teilung des Gesichtstyps sowohl für den Pro-gnathiegrad als auch für die Harmonie zwischenPrognathie und Neigung mit einer großen Varia-tionsbreite gerechnet werden. Wenn die basalenkephalometrischen Werte in praxi angewendet

werden sollen, muß vollkommene Klarheit dar-über bestehen, daß Anomalien ebenso wie Ideal-okklusionen in allen Gesichtstypen vorkommenkönnen (Abb. 99, 100 und 101).

Andererseits muß man sich auch darüber im kla-ren sein, daß dieselben dento-alveolären Abwei-chungen in unterschiedlichen Gesichtstypen zufinden sind (Abb. 102 und 103).

ANB SNA NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL

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Abb. 99 Annähernde Idealokklusion in einem orthognathen Gesicht mit Disharmonie zwischen Prognathie undNeigung der Mandibula

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Der Begriff „Norm“

Abb. 100 Annähernde Idealokklusion in einem retrognathen Gesicht mit Disharmonie zwischen Prognathie undNeigung der Mandibula

ANB SNA NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Abb. 101 Annähernde Idealokklusion in einem prognathen Gesicht. Im gezeigten Fall liegt ein negativer ANB-Winkel vor (-1°), der durch die Achsenneigungen der Ober- und Unterkieferinzisivi kompensiert wird.

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ANB SNA NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL

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Der Begriff „Norm“

Abb. 102 Angle-Klasse II2 in einem prognathen Gesicht

ANB SNA NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Es gibt daher für diese basalen kephalometrischenVariablen keine Werte, die mit großer Wahrschein-lichkeit zu einer Normokklusion führen würden,aber auch keine, die obligatorisch zu dentalenAnomalien führen müssen. Folglich können die-se kephalometrischen Werte nicht auf dieselbeeinfache Art und Weise verwendet werden, wiez.B. die Angle-Klassifizierung bei der Modell-analyse. Das bedeutet, daß für diese Winkel kei-ne Idealnorm im Sinne einer Neutralverzahnunggefunden werden können. Was die Molaren-relation betrifft, so ergibt die Abweichung nach

der einen oder anderen Seite in den allermeistenFällen eine okklusale Anomalie. In der Kephalo-metrie wurden teilweise ähnliche Gedankengän-ge versucht. Dabei wurde von dem Mittelwert dereinzelnen Messungen bei einer bestimmten Po-pulation ausgegangen. Eine derartige Anwendungder kephalometrischen Messungen muß jedochabgelehnt werden. Zur Erläuterung sei ein Bei-spiel genannt. Beim SNA-Winkel beträgt derMittelwert (x) 82°. Daraus kann aber nicht un-mittelbar gefolgert werden, daß bei einem Pati-enten mit einem ANB-Winkel von 7° und einem

Abb. 103 Angle-Klasse II2 in einem retrognathen Gesicht

ANB SNA NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL

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-

-

-

-

-

-

-

-2

-1

0

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3

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6263646566676869707172737475767778798081828384858687888990919293949596979899100101102103

0

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3

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-

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121

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13141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243 64

65666768697071727374757677787980818283848586878889909192939495969798

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Der Begriff „Norm“

SNA-Winkel von 87° dieser Wert für SNA um 5°zu groß ist (87° - 82° = 5°), und damit die Haupt-schuld der Abweichung bei der Maxilla liegt.

Ist der hohe Stellenwert der Kephalometrie dannüberhaupt gerechtfertigt, wenn ihr gegenübersoviele Vorbehalte bestehen? Trotz der Vorbehaltegibt es mehrere gewichtige Gründe, die kephalo-metrische Messungen für die meisten kiefer-orthopädischen Behandlungsplanungen un-entbehrlich machen:

1. In klinischem Zusammenhang ist es äußerstwichtig, sich über den Gesichtstyp klar zuwerden, da die klinische Erfahrung gezeigthat, daß in der Regel Kieferanomalien inretrognathen Gesichtstypen größereBehandlungsprobleme aufwerfen als inorthognathen oder prognathen Gesichts-typen. Dies gilt insbesondere für Ab-weichungen in sagittaler Richtung, wo be-sondere Anstrengungen in Hinblick auf dieVerankerung in retrognathen Gesichternunternommen werden müssen. Wie obengezeigt, ist solch eine Klassifizierung mög-lich.

2. Morphologisch ist der Gesichtsschädel ausmehreren Komponenten zusammengesetzt.Gleichgültig, ob sie nun in den basalen oderin den dentoalveolären Anteilen (Alveo-larfortsätze) liegen, besitzen die meisten da-von kompensierende Eigenschaften, die ein-zeln oder zusammen die ungünstige Einwir-kung anderer Komponenten auf dasmorphologische Muster reduzieren können.Über diesen kompensierenden Mechanis-

mus oder das Fehlen desselben möchte manim Einzelfall gern Aufschluß gewinnen. Oftsind durch derartige Kompensationsmecha-nismen schwerwiegende basale Abweichun-gen maskiert, treten aber bei einer etwaigenkieferorthopädischen Behandlung zu Tage.

3. Der Gesichtstyp hat Einfluß auf dentaleNormen und stellt damit die Ausgangsbasisfür die Beurteilung der Achsenstellung derZähne dar. Dieses Problem wird im näch-sten Kapitel erörtert.

4. Es gibt Fälle, bei denen das Ausmaß derskelettalen Abweichung erwarten läßt, daßeine rein kieferorthopädische Behandlungentweder von vornherein nicht erfolgsver-sprechend ist, oder bei denen eine aus-reichende Stabilität des Behandlungsergeb-nisses nicht zu erwarten ist. Es ist von gro-ßer Wichtigkeit, diese Fälle vor Beginn ei-ner Behandlung zu erkennen und sie mög-licherweise einer entsprechenden orthogna-thisch-chirurgischen Behandlung zuzufüh-ren.

Die Lösung dieser Aufgabe wird wesentlich er-leichtert, wenn eine systematische Beurteilung desGesichtsschädels vorgenommen wird. Die Datendes Patienten werden also in Relation zu denjeni-gen Werten gesetzt, die als „Norm“ für diesen

Patienten verwendet werden. Da es ja beliebigviele Normen gibt (alle Kombinationen, die aufgleicher Höhe in der Harmoniebox liegen), ist eswichtig, daß diese individuelle „Norm“ so nahewie möglich im Bereich der Werte des Patientenliegt.

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

6. DENTALE KEPHALOMETRISCHE NORMEN

Die Position der Schneidezähne ist von über-ragender Bedeutung für die gesamte Behand-lungsplanung, da ein direkter Zusammenhangzwischen Schneidezahnstellung und Platzsitu-ation besteht. Durch Protrusion der Inzisivi kannPlatz gewonnen werden, während durch behand-lungsbedingte oder rezidivbedingte RetrusionPlatz verlorengeht bzw. Engstand entstehen kann.Über die Platzproblematik ist die Beurteilung derFrontzahnposition auch mit der wichtigen Ent-scheidung gekoppelt, ob die Extraktion von Zäh-nen im Rahmen der kieferorthopädischen Behand-lung notwendig ist oder nicht.

Die Natur versucht, mit den Inzisivi basale Ab-weichungen zu kompensieren und zwar sowohlin sagittaler Richtung (wie auf Seiten 50 - 52 un-ter dem Abschnitt ANB-Winkel erörtert) als auchin vertikaler Richtung. Es ist weiterhin einsich-tig, daß die Inzisivi direkt dysplastischen Einwir-kungen durch atypische Muskelfunktionen undAngewohnheiten ausgesetzt sind. In klinischemZusammenhang besteht daher großes Interesse, dieAuswirkungen dieser Einflüsse aufzuschlüsseln.

Weiterhin kann die Position und Achsenrichtungder Inzisivi durch eine orthodontische Apparaturbeeinflußt werden. Dies geschieht entweder durchKippen oder durch körperliche Bewegung bzw.Torqueeffekte bei Behandlungssystemen, wo diesmöglich ist.

Sowohl für die Klassifizierung und die Diagnoseals auch für die Behandlungsplanung ist es dahernotwendig, Normwerte aufzuzeigen, mit deren Hil-fe die Werte des Patienten diskutiert werden kön-nen. Es stellt sich hierbei jedoch wieder die Frage,ob es möglich ist, die dentalen kephalometrischenWerte auf die gleiche Art und Weise zu benutzenwie die Angle-Klassifizierung bei der sagittalenModellanalyse, bei der in den meisten Fällen eineAbweichung von einer gegebenen Norm direkt alsAnomalie klassifiziert werden kann, oder ob für dieStellung der Inzisivi andere Variablen zur Erstel-lung einer Referenznorm im Sinne fließender Nor-men herangezogen werden müssen.

Dieselbe Frage stellt sich auch bei der Behand-lungsplanung, nämlich ob der Patient idealerweisenach einer festen Norm für die Schneide-zahnstellung behandelt werden soll, oder ob das

Abb. 104 Steiner’s „Akzeptable Kompromisse“ zur individuellen Einstel-lung der Schneidezähne auf der Grundlage des ANB-Winkels

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Der Begriff „Norm“

Behandlungsziel individualisiert werden muß.Wenn eine Individualisierung notwendig ist, stelltsich als nächstes die Frage, welche kephalo-metrischen Variablen geeignet sind, als Leitfadenfür eine auf individualisierte, „fließende“ Normenaufbauende Behandlungsplanung zu dienen.

Fließende Normen sind kein neues Prinzip inner-halb der Kephalometrie; bereits STEINER be-nutzte eine Art fließende Norm bei seinen „ak-zeptablen Kompromissen“ (Abb. 104). STEINERbestimmt hier, mit dem ANB-Winkel als Leitwert,Normen für die Stellung der Inzisivi. Der ANB-Winkel ist bei ihm die „leitende Variable“, so-wohl für den Abstand der Schneidekanten von derNB- beziehungsweise NA-Linie als auch für dieAchsenneigungen. Für eine Reihe von ANB-Win-keln in dem am häufigsten vorkommenden Be-reich werden Werte für die Stellung von 1-NAund 1-NB in Grad und Millimeter angegeben. Ausseinem Schema ergibt sich, daß jede Änderungdes ANB-Winkels um 1° auch eine Änderung von1-NA um 1 mm bzw. 1° ergibt und entsprechendfür 1-NB um 0.25 mm bzw. 1°. Diese Werte sinddie Grundlage für weitere Interpolation.

Dieser Zusammenhang zwischen Stellung derInzisivi und ANB-Winkel wurde auch in mehre-ren europäischen Untersuchungen nachgeprüft,wobei klar wurde, daß die Stellung der Inzisiviauf keinen Fall ohne Betrachtung des ANB-Win-kels erörtert werden sollte. Da für die Behand-lungsplanung von Interesse ist, wo die Schneide-zähne am Ende der Behandlung bzw. des Wachs-tums stehen sollen, ist auch eine Prognose derVeränderung des ANB-Winkels bis zu diesemZeitpunkt erforderlich.

Aus Abbildung 104 ist ersichtlich, daß die Schnei-dezahn-Konfigurationen in STEINER’s „akzep-tablen Kompromissen“ eine lineare Funktion desANB-Winkels, also eine Regressionsgleichung

_

_

mit ANB als alleiniger, unabhängiger Variablen,darstellt. Der Zusammenhang zwischen ANB undden Werten für die Zahnstellung kann mit folgen-

den Gleichungen dargestellt werden:

y(1-NA)mm

= a1x

(ANB) + d

1

y(1-NA)Grad

= a2x

(ANB) + d

2

y(-NB)mm

= a3x

(ANB) + d

3

y(-NB)Grad

= a4x

(ANB) + d

4

wobei a und d jeweils Konstante darstellen, diesich von Gleichung zu Gleichung unterscheiden.

In diesem Zusammenhang ergeben sich folgendeFragen:

1. Basieren STEINER’s „akzeptable Kompro-misse“ auf einer Korrelationsanalyse mitberechneten Regressionslinien oder stellensie zufällig passende Größen dar, die sichallem Anschein nach klinisch gut anwen-den lassen? In der Literatur wird darübernicht klar Auskunft gegeben. Auf alle Fälledürfte es nur natürlich sein, für die Behand-lung europäischer Patienten auchRegressionskoeffizienten zu verwenden, dieauf einem europäischen Material basieren.

2. Ist der ANB-Winkel die einzige der basa-len skelettalen Messungen, die für die Erör-terung der Schneidezahnstellung als leiten-de Variable dienen kann? Die Regressions-analyse könnte sonst durch Einbeziehungweiterer unabhängiger (=leitender) Vari-ablen zu einer multiplen Regressionsanalysemit mehreren unabhängigen Variablen er-weitert werden. Mit zwei Variablen ergäbesich folgende Formel:

y = ax + by + d

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92

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Bei Einbeziehung einer dritten unabhängigen Va-riable, die die Stellung der Inzisivi beeinflußt,ergäbe sich folgende Gleichung:

y = ax + bz + cq + d

Frühere Untersuchungen haben gezeigt, daß derGesichtstyp in diesem Zusammenhang eine wich-tige Rolle spielt. HASUND und ULSTEIN fan-den, daß die Neigung der Unterkieferebene ei-nen Einfluß auf die Stellung der Inzisivi hat. Siebenutzten dabei den Winkel ML-NSL als Aus-druck der Neigung. NORDERVAL fand spätereinen noch größeren Einfluß für den Interbasis-winkel ML-NL, sowohl für die oberen als auchfür die unteren Schneidezähne.

Auch das knöcherne Kinn scheint einen Einflußauf die Position der Schneidezähne zu haben. ImZusammenhang mit der oben erwähnten Steiner-Analyse wurde die Holdaway-Differenz ange-wendet. Dabei ergaben sich jedoch Anpassungen,die im Einzelfall klinische Probleme aufwerfenkönnen. NORDERVAL fand, daß die ver-schiedenen Kombinationen der Schneide-zahnstellung eindeutiger durch die Anwendungdes NORDERVAL-Winkels dargestellt werdenkönnen. SEGNER fand einen noch etwas höhe-ren Zusammenhang mit der linearen VariablePgNB

mm, die auch eine günstigere Meßbarkeit

aufweist.

Nachdem NORDERVAL, sowie HASUND undBOE jeweils multiple Regressionsgleichungenmit den unabhängigen Variablen ANB, ML-NLund dem Norderval-Winkel aufgestellt haben unddamit einen multiple Korrelationsfaktor für dieBerechnung der korrekten Unterkieferschneide-kantenposition von 0.71 erzielten, fanden VOR-MELKER und SEGNER eine Regressions-gleichung, die auf den Variablen ANB, PgNB undIndex aufbaut. Als Referenzlinie wurde hierbeinicht die NB-Linie, sondern die NPg-Linie ver-

wendet. Dadurch ergeben sich höhere Korre-lationskoeffizienten, auch wenn die Genauigkeitder Schätzung (Standardfehler der Schätzung,S.E.) nicht günstig beeinflußt wurde.

Für jedes untersuchte Patientenkollektiv ergebensich geringfügig unterschiedliche Regressions-koeffizienten, die auf den ersten Blick das Ver-trauen in eine derartige Gleichung gefährden. Beigenauerer Überprüfung kann aber festgestelltwerden, daß eine Vergrößerung eines Koeffi-zienten durch die Verkleinerung eines oder meh-rerer anderer kompensiert wird, so daß das Er-gebnis der Regressionsgleichung doch recht ein-heitlich ist. Die im folgenden dargestelltenRegressionsgleichungen basieren auf einem Ma-terial junger, unbehandelter Erwachsener mitIdealokklusionen (Angle Klasse I, kein Engstand,keine Nichtanlagen) aus Hamburg und Umland.

Die leitenden Variablen sind immer der ANB-Winkel und der Abstand Pg zur NB-Linie. ZumTeil kommt noch der Index der vorderen Gesichts-

Abb. 105 Leitende Variablen bei der Bestimmung derindividuell optimalen Schneidezahnposition: ANB,PgNB

mm und Index.

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93

Der Begriff „Norm“

höhen hinzu. Zu beachten ist, daß alle linearenMessungen durch etwaige Vergrößerungsfaktorenbeeinflußt werden. Für die dargestelltenRegressionsgleichungen wurde die röntgenologi-sche Vergrößerung rechnerisch eliminiert. EinVergrößerungsfaktor von z.B. 10% kann schnelleinen halben bis ganzen Millimeter Unterschiedausmachen!

Ausgehend von den Gleichungen in Tabelle 4 läßtsich eine Vielzahl anderer akzeptabler Kombina-tionen berechnen, die sich dadurch vonSTEINER’s „akzeptablen Kompromissen“ unter-scheiden, daß außer dem ANB-Winkel noch zweiweitere basale kephalometrische Variable mit ein-bezogen werden. Außerdem hat die Änderung desANB-Winkels einen etwas stärkeren Einfluß aufdie Unterkiefer-Inzisivi als STEINER dies beiseinen Werten zugrunde legte.

Die Gleichungen zeigen, daß ein Grad ANB-Win-kel-Änderung recht genau eine Änderung derPosition der unteren Schneidekante von 0.5 mmbewirkt. Je größer der ANB-Winkel, desto ven-traler (protrudierter) stehen die unteren Inzisivi.Für die oberen Schneidezähne ergibt sich bei 1°Vergrößerung des ANB-Winkels eine um fast0.9 mm palatinalere Position der oberenInzisalkanten. Der Einfluß des Abstandes PgNB

mm

ist sowohl für die oberen wie auch für die unte-ren Inzisivi gleichgerichtet. Je prominenter das

Kinn (großer Wert PgNBmm

) desto retrudierter ste-hen beide Fronten. Ein Millimeter PgNB bewirkt0.23 mm in der Oberkiefer- und 0.3 mm in derUnterkieferfront. Der Einfluß des Index ist be-grenzt, ein um 5 Prozentpunkte kleinerer Indexbewirkt sowohl im Ober- wie auch im Unterkie-fer eine um 0.4 mm ventralere Position derSchneidekanten.

Bei der Beurteilung der Achsenneigung derInzisivi ergibt die Einbeziehung der vertikalenbasalen Variable Index keinen Vorteil; deshalb istdas Regressionsmodell auf zwei unabhängigeVariable beschränkt.

Für die Stellung der Inzisivi ist damit offensicht-lich, daß diese nicht isoliert beurteilt werden kann,sondern in Relation zu mehreren anderen Varia-blen gesehen werden muß. Diese Beziehung kannangewendet werden, wenn ein Behandlungsfallklassifiziert und der Charakter der Anomalie be-urteilt werden soll. Im Profilfernröntgenbild kön-nen die dentalen und basalen Größen einfach unddirekt gemessen werden. Mit Hilfe der drei Varia-blen ANB, PgNB

mm und Index kann der Er-

wartungswert für 1-NA und 1-NB berechnet wer-den. Auf dieser Grundlage ist ein gewisser Ein-druck darüber zu erhalten, ob spezielledysfunktionelle Faktoren die Schneidezahnstellungbeeinflussen, oder ob die Stellung durch die vor-liegende basale Morphologie zu erklären ist.

Tab. 4 Regressionsgleichungen zur Bestimmung der Position und Achsenneigung der Inzisivi in Ober- und Unter-kiefer mittels basaler, kephalometrischer Messungen als leitende Variablen.

1-NAmm

= -0.86 ANB - 0.23 PgNBmm

- 0.083 Index + 12.8

1-NA° = -2.19 ANB - 0.61 PgNBmm

+ 27.1

1-NBmm

= 0.51 ANB - 0.30 PgNBmm

- 0.084 Index + 10.4

1-NB° = 1.51 ANB - 0.80 PgNBmm

+ 22.4_

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94

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Wenn in der Folge der Behandlungsplan erörtertwerden soll, ist es wichtig, sich zunächst eineVorstellung über die Stellung der Inzisivi am Endeder Behandlung zu machen. Hier ist von Bedeu-tung, daß sich von den drei leitenden Variablender Index im Laufe des Wachstums und der Be-handlung nur unbedeutend ändert. Dagegen wer-den die Werte für ANB und PgNB

mm durch das

Wachstum, und der Winkel ANB auch durch dieBehandlung, nennenswert beeinflußt. Eine Beein-flussung des ANB-Winkels durch die Behandlungkann am wachsenden Patienten z.B. durch funk-tionskieferorthopädische Geräte oder auch durchdie intensive Anwendung von Headgear erfolgen.Beim erwachsenen Patienten treten nennenswerteÄnderungen nur im Zusammenhang mitorthognathischer Chirurgie auf.

Auf der Basis der genannten Regressionsglei-chungen ist es möglich, eine sinnvolle Kombina-tion der Schneidezahnpositionen am Ende der Be-handlung zu bestimmen und als Grundlage fürden Behandlungsplan zu verwenden. Die Zuver-lässigkeit dieser Prognose hängt von einer mög-lichst genauen Abschätzung der Veränderung derWerte für ANB und PgNB

mm durch Wachstum

und/oder Behandlung ab. Die Prognose für dieendgültige Schneidezahnposition kann nicht bes-ser sein als die Prognosen der Veränderungen desANB-Winkels und des Abstandes PgNB

mm. Die-

se Problematik gilt gleichermaßen auch für dieSTEINER-Frontzahnanalyse und andere Metho-den zur Bestimmung der korrekten Frontzahnein-stellung.

Es sollte deutlich geworden sein, daß den er-rechneten Werten nicht sklavisch gefolgt wer-den darf. Diese Werte stellen eine Richtschnurfür die Einstellung der Inzisivi dar und bauendabei auf die Informationen, die diekephalometrische Analyse der basalen Verhält-nisse dem Kieferorthopäden geben kann.Selbstverständlich müssen die übrigen diag-

nostischen Methoden und der klinische Befundmit den errechneten Werten verglichen und beider endgültigen Festlegung des Behandlungs-plans berücksichtigt werden.

So kann beispielsweise bei einer unteren Front,die zwar labial ihrer berechneten Position steht,aber eher lückig als eng ist, unter Umständen aufeine Retrusion verzichtet werden, da nicht zwin-gend zu erwarten ist, daß bei Beibehaltung dersagittalen Position ein Engstand entsteht.

Bei nur geringfügig geringerer Genauigkeit kannauf die dritte unabhängige Variable (Index) verzich-

tet werden. Damit ergibt sich folgende Gleichung:

1-NBmm

= 0.50 ANB - 0.35 PgNBmm

+ 3.9

R = 0.613S.E. = 1.78 mm

Die Beschränkung auf 2 unabhängige Variable hatden Vorteil, daß sich das Regressionsmodell gra-phisch in einem Nomogramm darstellen läßt, unddamit auf Berechnungen verzichtet werden kann.Bei dem in Abbildung 106 dargestellten Nomo-gramm geht man mit prognostiziertem ANB-Win-kel von der x-Achse senkrecht hoch, bis man aufdiejenige Linie trifft, die den entsprechenden pro-gnostizierten Wert für PgNB

mm darstellt. Von die-

sem Schnittpunkt wird horizontal nach links ge-gangen, wo sich der entsprechende Wert für diePosition der unteren Front ablesen läßt. InAbb. 154 ist dies an einem Beispiel verdeutlicht.

Für die Einstellung der Inzisivi ist auch derInterinzisalwinkel von Interesse. Es besteht nuneine geometrische Abhängigkeit zwischen demInterinzisalwinkel (1-1) und den Winkeln ANB,1-NA° und 1-NB°. Sind die drei letztgenanntenWinkel bekannt, läßt sich der Interinzisalwinkelnach folgender Gleichung berechnen:

1-1 = 180° - (ANB + (1-NA) + (1-NB))

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Der Begriff „Norm“

Ausgehend von den Normwerten für dasorthognathe Gesicht (ANB 2°; 1-NA 21° und1-NB 23°) ergibt sich:

1-1 = 180° - (2° + 21° + 23°)

1-1 = 180° - 46° = 134°

Aber auch der Wert 134° stellt nur einen Durch-schnittswert dar, er muß entsprechend derGesichtsmorphologie angepaßt werden. Hierbeihat vor allem die Prominenz des Kinns einen Ein-fluß. Allerdings ist der Zusammenhang nicht soeindeutig, wie dies bei der oberen und unterenFront der Fall ist. Die Regressionsgleichung fürden Interinzisalwinkel lautet

1-1 = 1.59 PgNBmm

+ 129.3

R = 0.27; S.E. = 9.5

Die Gleichung verdeutlicht, daß pro Millimeterzusätzlicher Kinnprominenz der Interinzisalwin-kel etwas mehr als 1.5° größer wird. Der Einflußdes ANB-Winkels ist nicht so bedeutend, daß erin der Formel erscheint. Auch wenn bei der Be-handlung eines Deckbisses ein kleinererInterinzisalwinkel sinnvoll sein kann, zeigt dieseGleichung, daß dies ohne zusaätzliche, langfri-stige Retentionsmaßnahmen möglicherweisenicht stabil bleiben wird.

Für die klinische Behandlung ist der Interinzi-salwinkel nicht von direkter Bedeutung, da jeweilsdie Achsenneigungen der oberen und unterenFront einzeln richtig eingestellt werden. Stehenbeide Fronten korrekt, ist aufgrund des oben dar-gestellten Zusammenhangs auch der Interinzisal-winkel korrekt.

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_

Abb. 106 Nomogramm zur Bestimmung des individuell optimalenWertes 1-NB

mm aus den Werten ANB und PgNB

mm. Vom ANB auf der

Abszisse geht man zur entsprechenden PgNB-Linie und findet auf derOrdinate den gesuchten Wert.

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96

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

7. WEICHTEIL-NORMEN

Der Weichteilwinkel nach HOLDAWAY und derNasolabialwinkel sind die einzigen Weichge-websmessungen, die in der Analyse verwendetwerden.

Von HOLDAWAY werden auch hier fließendeNormen angegeben, indem er den ANB-Winkelin Betracht zieht. Nach dieser Normbeurteilungsoll bei einem ANB-Winkel zwischen 1° und 3°der H-Winkel zwischen 7° und 9° betragen. DerH-Winkel soll dabei um 1° zunehmen, wenn auchder ANB-Winkel um 1° größer wird.

Eigene kephalometrische Untersuchungen bestä-tigen, daß der H-Winkel eine starke Korrelationzum ANB-Winkel und zur Prominenz des Kinns(PgNB

mm) aufweist. Mittels folgender Gleichung

läßt sich der zu erwartende H-Winkel berechnen:

H-Winkel = 1.0 ANB - 1.3 PgNBmm

+ 10.5

R = 0.75; S.E. = 3.2°

Es zeigt sich, daß die von HOLDAWAY angege-bene Relation von 1° H-Winkel Änderung zu 1°ANB-Winkel Änderung bestätigt werden kann,allerdings kommt noch ein stärkerer Einfluß durchdie Größe PgNB hinzu. Je größer PgNB ist, des-to kleiner ist der H-Winkel zu erwarten; und zwar1.3° pro Millimeter PgNB

mm. Das entsprechende

Nomogramm ist in Abb. 107 dargestellt.

Die beschriebene Norm für den H-Winkel mußmit einer gewissen Vorsicht angewendet werden.Während es bei den fließenden Normen für dieEinstellung der Frontzähne in erster Linie um dieStabilität des Behandlungsergebnisses geht, ist derH-Winkel vor allem im Zusammenhang mit derÄsthetik zu sehen. Es verwundert nicht, daß in

einem Gesicht mit sagittal mesialer basaler Kon-figuration auch ein relativ kleiner H-Winkel auf-tritt. Ob dies deswegen auch das ästhetische Op-timum darstellt, sei dahingestellt.

Der berechnete Wert stellt denjenigen H-Winkeldar, der unter der Annahme durchschnittlicherWeichteildicken und -reaktionen bei der vorlie-genden Morphologie des Gesichtsschädels zu er-warten wäre. Liegt der tatsächliche Wert zwischendiesem berechneten Wert und den ästhetisch er-strebenswerten 7° bis 9°, so liegt eine günstigeSituation vor. Die Weichteile kompensieren danneine ästhetisch nicht optimale sagittale basaleRelation. Wenn andererseits der gemessene H-Winkel vom ästhetischen Idealwert abweicht undauch noch jenseits des für den vorliegendenGesichtstyp zu erwartenden Wert liegt, handeltes sich um eine ungünstige Profilsituation.

Immer ist es als günstig anzusehen, wennBehandlungsmaßnahmen den H-Winkel in Rich-tung auf den ästhetischen Idealwert hin verändern.Leider läßt sich das öfters nicht mit den sonsti-gen Behandlungszielen in Einklang bringen, sodaß ein Kompromiß eingegangen werden muß.Wenn nun eine mögliche Behandlung dazu füh-ren würden, daß sich der H-Winkel nicht nur vomästhetischen Bereich (7° -9°) entfernt, sondernsogar jenseits des für diesen Gesichtstyp zu er-wartenden Wertes (wie oben berechnet) fällt, soll-te diese Behandlungsalternative nicht gewähltwerden.

Meist wirkt es ästhetisch günstiger, wenn durchunterschiedliche Weichteildicken eine Weichteil-kompensation der skelettalen Diskrepanz erfolgt,und der H-Winkel damit näher bei dem Wert fürdas orthognathe Gesicht liegt.

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97

Der Begriff „Norm“

Die Variable Nasolabialwinkel ist in sehr viel ge-ringerem Maße von der skelettalen basalen Si-tuation abhängig. Hier kommen eher Variationenin der Form der Nase sowie die Morphologie derWeichteile zur Geltung. Aus diesen Gründenbraucht auch kein individueller Erwartungswertberechnet werden. Noch mehr als bei dem H-Win-kel ist hier nur die ästhetischen günstigen Werte

von 110° +/- 10° als Norm anzusetzen. Wenn so-wohl der Nasolabialwinkel als auch der H-Win-kel beide zu groß oder zu klein sind, ergibt sichein ungünstiger Summationseffekt. Wenn sie da-gegen in unterschiedliche Richtungen vom ästhe-tischen Idealwert abweichen, ergibt sich bis zueinem gewissen Grade einen Kompensations-effekt.

Abb. 107 Nomogramm zur Bestimmung des individuell zu erwarten-den H-Winkels. Mit dem prognostizierten ANB-Winkel auf der Ab-szisse geht man zur entsprechenden PgNB

mm-Linie, um auf der Ordi-

nate den zu erwartenden Wert zu finden.

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

E. Wachstum

Jede kieferorthopädische Behandlung von Kin-dern und Jugendlichen wird durch das Wachstumwesentlich beeinflußt. Dabei kann das Wachstumdie Therapie sowohl unterstützen als auch behin-dern oder sogar unmöglich machen. Es wäre da-her von überragender Bedeutung, das zu er-wartende Wachstum in Intensität, Zeitpunkt undRichtung zuverlässig vorauszusagen. Leider las-sen sich diese drei Faktoren nicht alle mit guterGenauigkeit prognostizieren. Während sich Zeit-punkt und Intensität zufriedenstellend exaktabschätzen lassen, stellt sich die Prognose derWachstumsrichtung als sehr problematisch darund muß mit gehöriger Vorsicht angewandt wer-den. Das Potential, d.h. das gesamte noch zuerwartende Wachstum, läßt sich aus der Summa-tion der bis zum Ende des Wachstums noch zuerwartenden Intensitäten ableiten. Diese Größe istinteressant, wenn entschieden werden soll, ob eineBehandlung mit funktionskieferorthopädischenGeräten noch sinnvoll wäre.

1. Zeitpunkt

Der Zeitpunkt der Behandlung innerhalb derWachstumsphase des Patienten kann aus dreier-

lei Gründen Einfluß auf die Behandlung haben.Erstens ist die Wachstumsintensität und damit dieGeschwindigkeit etwaiger Veränderungen abhän-gig vom Wachstumsstadium. Zweitens ist dieMenge des zu erwartenden Restwachstums abhän-gig von der restlichen Dauer des Wachstums. Drit-tens kann das Ende des Wachstums eine Beendi-gung der Retentionsphase ermöglichen oder aberden Beginn einer Behandlung, so z.B. die chirur-gisch unterstützte Behandlung einer mandibulärenPrognathie.

Bis zum Ende des Wachstums findet zu jedemZeitpunkt ein kieferorthopädisch nutzbaresWachstum statt, wobei allerdings die Intensitätzeitlich unterschiedlich ist (Abb. 110). Nach ei-nem kleinkindlichen Höhepunkt der Wachstums-intensität nimmt die Geschwindigkeit ab, bis vorder Pubertät ein Minimum erreicht wird. Nachdiesem prä-pubertären Minimum steigt dieWachstumsgeschwindigkeit wieder an, um wäh-rend der Pubertät ein zweites Maximum zu errei-chen. Nach diesem pubertären Wachstumsschubnimmt die Intensität des Wachstums endgültig ab,um dann bei Abschluß des Wachstums auf Nullzu sinken.

Abb. 111 Abschätzen der Menge des Restwachstumsaus der Kurve der Wachstumsintensität. Die Flächerechts der Alterslinie (skelettal) unter der Kurve ent-spricht dem noch zu erwartenden Restwachstum.

Abb. 110 Kurven der Wachstumsintensität in Abhän-gigkeit vom Alter für Mädchen und Jungen

Alter

cm/Jahr

Page 100: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

99

Wachstum

Die Menge des zu erwartenden Restwachstumsergibt sich aus der Fläche unter der Kurve derWachstumsintensität zwischen einer Linie, die dasaktuelle Stadium des Patienten bis zum Ende desWachstums wiedergibt (Abb. 111).

Sowohl die absolute Intensität des Wachstums alsauch die relative Intensität der einzelnen Phasenzueinander sind individuell recht unterschiedlich.Auch der Zeitpunkt der einzelnen Phasen unter-liegt individuellen Schwankungen und ist vomchronologischen Alter und vom Zahnalter unab-hängig. Der puberale Wachstumsschub ist beiMädchen weniger ausgeprägt und erfolgt zeitlichum 1 bis 2 Jahre früher als bei Jungen. Die Inten-sität des Wachstums im präpuberalen Minimumbeträgt etwa 40 bis 60% des Maximums impuberalen Wachstumsspurt. Damit ist auch in die-

ser Phase eine das Wachstum ausnutzendeBehandlung möglich, wenn auch nicht die maxi-mal mögliche Effizienz erreicht wird. Oft wirdaber dieser Nachteil durch andere Vorteile wie z.B.bessere Kooperation mehr als aufgewogen.

Da sich das Stadium des Wachstums nicht an demchronologischen Alter des Patienten orientiert, isteine direkte Bestimmung des Wachstumsstadiumsnicht einfach möglich. Einen Anhalt bietet derGrad der Ausprägung der sekundären Ge-schlechtsmerkmale (Hägg und Taranger, 1980).Wenn diese bereits vorhanden sind, befindet sichder Patient schon im puberalen Wachstumsspurt.Bei Mädchen ist der Eintritt der Monatsblutungein Zeichen, daß das Wachstumsmaximum bereitsüberschritten ist (im Durchschnitt um 17 Mona-te) und nur noch mit begrenztem Restwachstum

Abb. 112 Handwurzel-Röntgenaufnahmen eines Individuums vor dem puberalen Wachstumsschub und nach Ab-schluß des Wachstums. Die zwischenzeitliche Veränderung gibt Hinweise für die Beurteilung des skelettalen Alters

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100

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

zu rechnen ist. Da das Längenwachstum mit demWachstum der Kieferknochen recht eng korreliert,ist auch das regelmäßige Verfolgen des Längen-wachstums geeignet, Aussagen über das Wachs-tumsstadium zu machen. Allerdings erfordert dies,daß der Patient bereits über einen gewissen Zeit-raum derartige Aufzeichnungen gemacht hat.

Sollten für eine Behandlung die oben genanntenAbschätzmöglichkeiten nicht ausreichen und einegenaue Bestimmung des Wachstumsstadiums not-wendig sein, kann diese durch die Auswertungeiner Handwurzelaufnahme erfolgen.

Björk und Mitarbeiter sowie Hägg und Tarangerhaben Untersuchungen über die skelettale Ent-wicklung der Hand in Relation zum maximalenLängenwachstum durchgeführt und dabei achtskelettale Reifungsstadien beschrieben. Dabeiwerden die Verknöcherungsgrade der Epiphysenund Diaphysen des zweiten und dritten Fingers(Zeige- bzw. Mittelfinger) sowie der Radix undder Ulna beurteilt.

Die einzelnen Glieder der mit dem Daumen be-ginnend durchnummerierten Finger werden alsdistale, mediale und proximale Phalange be-zeichnet (Abb. 112). Die Bezeichnung der einzel-nen Stadien erfolgt durch Angabe der ent-sprechenden Phalange und Beschreibung desentsprechenden Befundes.

a) VorstadiumKeines der bei den folgenden Stadien be-schriebenen Merkmale ist sichtbar. Der Pa-tient befindet sich vor oder in dem präpu-beralen Wachstumsminimum.

b) Stadium PP2=

Die maßgebliche Stelle ist hierbei die proxi-male Phalange des Zeigefingers. Das Stadi-um ist erreicht, wenn die Epiphyse genausobreit wie die Diaphyse geworden ist

(Abb. 113). Dieses Stadium tritt immer deut-lich vor der maximalen Wachstumsintensitätauf. Während dieses Entwicklungsstadiumsist die Wachstumsintensität relativ gering.

Abb. 113 Entwicklungsstadium PP2=

A. Kurz vor Erreichen des StadiumsB. Nach Eintritt von PP

2=

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101

Wachstum

c) Stadium MP3=

Hierbei wird das mittlere Glied des Mittel-fingers beurteilt. Wenn hier die Epiphyse diegleiche Breite wie die Diaphyse erreicht hat(Abb. 114), ist dieses Stadium erreicht. DerZeitpunkt des maximalen Wachstums steht un-mittelbar bevor oder ist gerade eingetroffen.

d) Stadium SDiese Entwicklungsstufe betrifft das Vor-handensein des ulnaren Sesamoids ammetacarpophalangalen Gelenk des Daumens(Abb. 115). Das Stadium ist erreicht, wennsich erste Ossifikationsanzeichen zeigen.Das Wachstumsstadium und die Wachs-tumsintensität entsprechen dem StadiumMP

3=; jedoch ist die Streuung bei S gerin-

ger und die Beurteilung leichter, so daßBjörk die Verwendung von S empfiehlt. Manbeachte jedoch, daß in 20% von BjörksMaterial das Sesamoid bereits 2 Jahre oderlänger vor dem maximalen Wachstum sicht-bar war. Außerdem wird es in 0.5% über-haupt nicht ausgebildet. So kann ein Fehlennicht als völlig sicheres Zeichen dafür ge-wertet werden, daß das Stadium noch nichterreicht ist.

Abb. 115 Entwicklungsstadium SA. Vor dem Sichtbarwerden des SesamoidsB. Erste Anzeichen der VerkalkungC. Vollständig entwickeltes Sesamoid

Abb. 114 Entwicklungsstadium MP3=

A. Kurz vor Erreichen des StadiumsB. Nach Eintritt von MP

3=

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

e) Stadium MP3cap

Auch für dieses Stadium wird das mittlereGlied des Mittelfingers beurteilt. Die Epi-physe der medialen Phalange ist hierbei brei-ter als die Diaphyse und zeigt eine Tendenzzur Umkapselung der Diaphyse (Abb. 116).Sie bekommt dabei eine Kappenform (engl.„capping“). Björk fand, daß dieses Stadiumzusammen mit oder bis zu einem Jahr nachdem Zeitpunkt des maximalen Längen-wachstums auftritt. Der Zeitraum zwischenden Stadien Sesamoid und MP

3cap zeigt in

der Regel die Periode maximaler Wachs-tumsgeschwindigkeit auf.

f) Stadium DP3u

Dieses Stadium ist erreicht, wenn die dista-le Phalange des Mittelfingers eine vollstän-dige Verknöcherung (engl. „unification“) derEpiphysenlinie zeigt (Abb. 117). Bei diesemund den nächsten zwei Stadien ist der Zeit-punkt maximalen Wachstums deutlich über-schritten. Die Wachstumsintensität ist wie-der gering bis sehr gering, und das noch zuerwartende Restwachstum ist minimal.

g) Stadium PP3u

Wenn die proximale Phalange des Mittel-fingers vollständig verknöchert ist(Abb. 118), ist dieses Stadium erreicht.

Abb. 116 Entwicklungsstadium MP3cap

A. Vor Erreichen des Stadiums MP3cap

B. Nach Eintritt des Kappenstadiums

Abb. 117 Entwicklungsstadium DP3u

A. Vor Eintreten des DP3u-Stadiums

B. Verwischte Epiphysenlinie

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Wachstum

h) Stadium MP3u

Die vorletzte Stufe ist erreicht, wenn dieEpiphysenlinie der medialen Phalange desMittelfingers vollständig verknöchert ist(Abb. 119).

i) Stadium RuDieses letzte Stadium ist erreicht, wenn einevollständige Verknöcherung der distalenEpiphysenlinien von Radius und Ulna einge-treten ist (Abb. 120). Ist dieses Stadium er-reicht, kann das Wachstum als abge-schlossen angesehen werden. Lediglichgeringfügiges Restwachstum kann in man-chen Fällen beobachtet werden, besondersim Unterkiefer, der in seinem Wachstumetwas hinter dem Längenwachstum und demWachstum des restlichen Gesichtsschädelshinterherhinkt.

Abb. 120 Stadium RuA. Vor Erreichen des Ru-StadiumsB. Vollständige Verknöcherung

Abb. 118 Entwicklungsstadium PP3u

A. Vor Erreichen des PP3u-Stadiums

B. Vollständige Verknöcherung

Abb. 119 Entwicklungsstadium MP3u

A. Vor Eintreten des MP3u-Stadiums

B. Vollständige Verknöcherung

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104

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

2. Richtung

Für die klinische Behandlungsplanung ist dieRichtung des Wachstums vor allem von Maxillaund Mandibula von Interesse. In der Schädelba-sis findet zum üblichen Zeitpunkt einer kiefer-orthopädischen Behandlung kein klinisch rele-vantes Wachstum mehr statt. Auswirkungen aufdie Kephalometrie hat lediglich die Apposition,die im Bereich des Nasions stattfindet. Sie bewirktimmer eine Ventralverlagerung des Nasions, häu-fig auch verbunden mit geringen Verschiebungenin der Vertikalebene.

Das Wachstum der beiden Kiefer kann als Kom-bination einer Rotation und einer Translation an-gesehen werden (Abb. 121). Bei einer Translationwerden alle Teile des Kiefers in derselben Rich-tung um die gleiche Strecke verlagert. Die Rota-tion bewirkt dagegen für jeden Teil eines Kieferseine unterschiedliche Bewegungsrichtung und einunterschiedliches Bewegungsausmaß. In der Nähedes Drehpunktes ist das Ausmaß der Bewegungquasi gleich Null; je weiter ein Punkt jedoch vomDrehpunkt entfernt ist, desto größer ist seine Be-wegung. Auch wenn sich mathematisch jedeKombination von Translation und Rotation alsalleinige Rotation bei entsprechender Ver-schiebung des Rotationszentrums ausdrücken läßt,ist es für das Verständnis der Wachstumsvorgängevorteilhafter, das Rotationszentrum in der Nähedes Knochens zu belassen und eine getrennteTranslation auszuweisen. Fast ausnahmslos fin-det sich eine Kombination aus Translation undRotation. Die Translation hat vor allem Auswir-kungen auf die sagittalen Veränderungen, währenddie Rotation in erster Linie (aber nicht nur!) dievertikale Relation (Interbasiswinkel ML-NL) be-einflußt.

Es wäre wünschenswert, wenn sowohl für dieMaxilla als auch für die Mandibula eine Vorher-sage der Wachstumsrichtung in Bezug auf Trans-

lation und Rotation möglich wäre. Leider hat sichgezeigt, daß eine Prognose der Wachs-tumsrichtung der Maxilla praktisch nicht möglichist, da es erstens keine röntgenologisch stabilenStrukturen gibt, und zweitens keine einheitlichenoder vorhersagbaren Muster bestehen. Es läßt sichlediglich sagen, daß die Maxilla normalerweisenach ventral und kaudal wächst, wobei die Varia-tion von fast nur ventral bis zu rein kaudal reicht.Trotz der Unmöglichkeit einer Wachstums-prognose für die Maxilla bringt dies klinisch kei-ne großen Probleme mit sich, da die Maxilla sichsehr viel besser als die Mandibula durch kiefer-

Abb. 121 Translation (oben) und Rotation (unten) amBeispiel des Unterkiefers. Beachte die Länge und Rich-tung der einzelnen Verschiebungsvektoren

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105

Wachstum

orthopädische Maßnahmen beeinflussen und indie gewünschte Richtung lenken läßt. Wenn imfolgenden von Wachstumsrichtung gesprochenwird, ist immer die der Mandibula gemeint.

Wie weiter oben schon erwähnt, ist eine Prognoseder Wachstumsrichtung sehr problematisch. AllePrognosemethoden basieren auf der Extrapolationmorphologischer Merkmale, die sich bis zumUntersuchungszeitpunkt manifestiert haben. Da-bei wird angenommen, daß das Wachstum gleich-mäßig abläuft und sich insbesondere die Richtungdes Wachstums nicht ändert. Es gibt zahlreicheUntersuchungen, die dieser Annahme wider-sprechen.

Baumrind et al. (1986) untersuchten, wie genauKliniker mit langjähriger Erfahrung anhand vonvor der Behandlung erstellten Fernröntgen-seitenbildern die wachstumsbedingte Rotation derMandibula vorhersagen oder nur abschätzen konn-ten. Das Ergebnis war erschütternd. Keiner derExperten war in der Lage, Prognosen zu erstel-len, die signifikant besser als der Zufall waren.

Es gibt zahlreiche morphologische Merkmale undkephalometrische Variablen (z.B. Björk 1969,Ødegaard 1970), die eine Korrelation mit derWachstumsrichtung, bezogen auf die Translationund Rotation, haben. Deren Aussagekraft für eineAbschätzung des zu erwartenden Wachstums istaber trotzdem so gering, daß sich in den meistenFällen kein deutlicher Vorteil gegenüber der An-nahme ergibt, das Wachstum würde durchschnitt-lich ablaufen. Ari-Viro und Wisth (1983) fandenzwar eine akzeptable Reproduzierbarkeit derBeurteilung struktureller Merkmale, jedoch kei-ne signifikante Korrelation mit der tatsächlich ein-getretenen Wachstumsrichtung.

Die von Skieller et al. (1984) vorgeschlagene, aufmultiplen Regressionen basierende Prognose-methode zeigt zwar in dem von Skieller et al. ver-

wendeten Untersuchungsgut recht brauchbareKorrelationskoeffizienten. Dieses Material bestehtjedoch zu einem großen Teil aus nachträglich aus-gewählten, extremen Wachstumsmustern. Auf eindurchschnittliches Kollektiv angewendet ergebensich wiederum keine Aussagen, die besser alsMittelwerte wären (Lee et al. 1987 sowie eigeneUntersuchungen).

Nach Johnston (1968) nimmt der erklärte (richtigprognostizierte) Anteil an der Variationsbreite derWachstumsrichtung auch bei Ausnutzung des be-sten Prognosemodells nur von 64% auf 78% zu.

Auch die Anwendung von Großrechnern (RockyMountain Data System) ergibt nach einer Unter-suchung von Witt und Köran (1982) keinerleihöhere Genauigkeit und Reproduzierbarkeit alsandere, übliche Methoden.

Eine Beurteilung der Morphologie im Sinne ei-ner Wachstumsprognose ist trotzdem notwendig,um extreme Wachstumsmuster isolieren zu kön-nen. Solche weit abseits der durchschnittlichenWachstumsrichtung liegende Einzelfälle lassensich mit einer gewissen Sicherheit vorhersagen(Skieller et al. 1984, Ari-Viro 1983), und zwarunabhängig von der verwendeten Vorhersage-methode. Gerade dies sind aber diejenigen Fälle,die in der Behandlungsplanung besondere Berück-sichtigung finden müssen. Für die eher durch-schnittlichen Fälle kann ohne Nachteile vonDurchschnittswerten ausgegangen werden.

3. Strukturelle Methode

Um extreme Wachstumsmuster frühzeitig zu er-kennen und die Behandlung darauf abstimmen zukönnen, ist die strukturelle Methode, die ursprüng-lich von Björk entwickelt wurde, oft hilfreich. Eswird hierbei der Ausprägungsgrad bestimmtermorphologischer Merkmale des Unterkiefers be-

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106

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

wertet. Jedes dieser Merkmale wird mit einemPunktwert zwischen +3 und -3 beurteilt, wobeiein positiver Wert immer ein nach anterior gerich-tetes Wachstum erwarten läßt. Die verwendetenStrukturmerkmale sind:

1. Form der Kondylen2. Canalis mandibularis3. Unterrand der Mandibula4. Anteriore Ausprägung des Kinns5. Index der anterioren Gesichtshöhe6. Kieferwinkel

Die ersten drei Merkmale werden beurteilt, indemsie mit den in Abbildungen 122 und 123 darge-stellten Beispielen verglichen werden. Bei denletzten drei Merkmalen können die entspre-chenden kephalometrischen Zahlenwerte ver-wendet werden, um anhand von Tabelle 5 den zu-gehörigen Punktwert zu bestimmen.

Um eine Aussage über das zu erwartende Wachs-tumsmuster des Unterkiefers zu erhalten, werden

nun zum einen alle Punktwerte zusam-mengerechnet, zum anderen nur diejenigen desersten und letzten Merkmals. Der erste Wert er-laubt eine Aussage über die Tendenz der zu er-wartenden Rotation des Unterkiefers, der zweiteüber die zu erwartende Tendenz der Translation.

Der durchschnittliche Wert für die Summe ausallen sechs Merkmalen beträgt etwa +3. Wenndieser Wert kleiner ist als -6, muß mit einer deut-lich posterioren Rotation der Mandibula, also ei-ner wachstumsbedingten Öffnung der basalenKieferrelation gerechnet werden. Liegt die Sum-me oberhalb von +12 muß mit einer deutlichanterioren Rotation und einer entsprechenden Ver-tiefung der basalen Kieferrelation gerechnet wer-den. Entsprechend kann bei einem Wert von klei-ner als -3 für die Summe aus den Merkmalen 1.und 6. nicht damit gerechnet werden, daß derUnterkiefer nach anterior wächst und damit durchdas Wachstum prognather werden wird. Anderer-seits ist bei einem Wert von +6 für diese Summe

Abb. 122 Übliche Variationsbreite der strukturellen Merkmale Form der Condylen und Canalis mandibularis

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107

Wachstum

mit einem deutlich überdurchschnittlich pro-gnather werdenden Unterkiefer zu rechnen.

Alle anderen, nicht in diesem Extrembereichliegenden Werte lassen ein eher durchschnittlichesWachstum erwarten, dessen genaue Richtung sich

aufgrund der oben erwähnten Probleme nicht be-liebig genau vorhersagen läßt. Eine Vorhersageder kephalometrischen Werte am Ende derBehandlung bzw. des Wachstums sollte dannbasierend auf Durchschnittswerten -wie unter 4.beschrieben- erfolgen.

Abb. 123 Beurteilung der strukturellen Merkmale am Unterrand der Mandibula. Dargestellt sind die extremeAusbildung eines anterior (links) und eines posterioren Wachstumsmusters (rechts). Die Pfeile deuten die zuanalysierenden Bereiche an.

Tab. 5 Schema zur Beurteilung der Variablen PgNBmm

, Index und Kieferwinkel für diePrognose der Wachstumsrichtung nach der strukturellen Methode.

Rotations- Kinn- Index Kieferwinkel

tendenz prominenz (Gn-tgo-Ar)

(PgNBmm

) % °

+++ > 3.0 > 88 < 118

++ 2.0 - 3.0 84 - 88 118 - 123

+ 1.5 - 2.0 80 - 84 123 - 127

0 1.0 - 1.5 75 - 80 127 - 133

- 0.5 - 1.0 71 - 75 133 - 136

- - 0.0 - 0.5 66 - 71 136 - 140

- - - < 0.0 < 66 > 140

+

++

_

__

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108

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

3. Überlagerung von Fernröntgenaufnahmen

Da eine genaue Vorhersage der zu erwartendenWachstumsrichtung des Unterkiefers mit so vie-len Problemen behaftet ist und damit nicht mitausreichender Genauigkeit möglich ist, erweistsich oft eine weitere Methode zur Bestimmungder zu erwartenden Wachstumsrichtung als sehrvorteilhaft. Dabei wird bei der ersten Unter-suchung des Patienten ein seitliches Fernrönt-genbild erstellt. Danach wird mindestens ein Jahrabgewartet, bevor ein zweites Fernröntgenbilderstellt wird.

Diese Zeit des Abwartens kann sich oft problemlosergeben, wenn die Eltern mit dem Kind sehr zei-tig kommen, so daß bis zum Beginn der Behand-lung noch etwas abgewartet werden kann, oder eskann eine einleitende Behandlung notwendig sein,die das Wachstum nicht oder nicht wesentlichbeeinflußt. Solche Behandlung kann z.B. in einerSteuerung des Zahndurchbruchs oder einer even-tuell notwendigen Protrusion der Oberkieferfrontbestehen. Auch die Unterweisung in Mund-hygienemaßnahmen in Verbindung mit der Über-prüfung der Patientenkooperation kann währenddieser Phase erfolgen.

Nachdem die zweite Aufnahme erstellt wordenist, können die beiden Bilder überlagert werden,und das in der Zwischenzeit erfolgte Wachstumkann in Richtung und Ausmaß beurteilt werden.Die Überlagerung kann dabei sowohl auf demUnterkiefer als auch auf der anterioren Schädelba-sis erfolgen. Die Überlagerung auf der Schä-delbasis ist meist vorteilhafter, da die Unter-schiede im anterioren Bereich der Kieferbasen(Spina, A-Punkt, B-Punkt, Pogonion) alle Verän-derungen durch das Wachstum in Fossa artikularis,Kondyle und Maxilla zusammengefaßt beinhal-ten, also das für die Behandlung interessanteGesamtergebnis wiedergeben. Die Überlagerungsollte dabei auf der ventralen Begrenzung der

Sella turcica und den Abbildungen der anteriorenSchädelbasis erfolgen (Abb. 124; Houston 1987).Da der Punkt Nasion sich wachstumsbedingt nachventral bewegt, ist er auf den beiden Aufnahmenmeist nicht in Deckung.

Eine Überlagerung auf der Mandibula kann durch-geführt werden, indem der Innenrand der Sym-physe, der Canalis mentalis und häufig der Unter-rand des Weisheitszahnkeims maximal in Deckunggebracht werden (Abb. 124; Björk und Skjeller1983). Bei dieser Art von Überlagerung ist zubedenken, daß sich der kaudale und ventrale Randder Mandibula nicht unbedingt in Deckung befin-den, da hier Appositions- und Resorptions-vorgänge stattfinden.

Abb. 124 Strukturen zur Überlagerung auf der Schä-delbasis (oben) und auf der Mandibula (unten). NachHouston (1985) sowie Björk und Skieller (1983)

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109

Wachstum

Obwohl sich Richtung und Intensität desWachstums im Laufe der Zeit in gewissen Gren-zen ändern können, ist eine grundlegende Än-derung ohne externe Gründe nicht zu erwar-ten. Somit kann eine Abschätzung des zu erwar-tenden Wachstums durch Extrapolation der aufder Überlagerung deutlich gewordenen Ände-rung erfolgen. Auf diese Weise ist auch eineBeurteilung des maxillären Wachstums mög-lich. Da bisher keinerlei Zusammenhänge zwi-schen morphologischen Merkmalen undWachstumsrichtung der Maxilla bekannt sind,ist dies die einzige Möglichkeit, das Wachs-tum der Maxilla zu beurteilen.

Auch bei dieser Methode ist jedoch ein Wortder Warnung angebracht. Die Extrapolation derin der Beobachtungszeit abgelaufenen Wachs-tumsvorgänge birgt gewisse Unsicherheiten, dadurchaus im Laufe des Wachstums begrenzteÄnderungen des Wachstumsmusters auftretenkönnen. Trotzdem muß diese Methode wohl alsdie zuverlässigste angesehen werden.

4. Prognose der Veränderung von kephalo-metrischen Werten

Für die korrekte Einstellung der Frontzähne imRahmen der Behandlung ist es wichtig, einen Ein-druck von der Gesichtskonfiguration nach Abschlußder Behandlung bzw. des Wachstums zu haben.Deshalb muß versucht werden, die Veränderungeiniger Variablen durch Wachstum und/oderBehandlung vorherzusagen. Es handelt sich dabeium den Winkel ANB sowie den Abstand PgNB inmm. Ausgehend von den Überlegungen über dieProblematik der Vorhersage der Wachstumsrichtungergibt sich für Patienten ohne extremes Wachstums-muster folgende Vorgehensweise:

Ohne auf eine Verringerung des ANB-Winkels an-gelegte kieferorthopädische Behandlung ist im Mit-tel eine Reduktion des ANB-Winkels um 2.5° imAltersabschnitt zwischen 6 und 16 Jahren zu erwar-ten. Gleichzeitig SNPg um 2.5° und PgNB

mm um

2.6 mm zu. Die zu erwartenden Änderungen kön-nen mit etwa 1/10tel der gesamten oben genann-ten Änderung pro Jahr bis zum Ende des Wachs-tums angenommen werden.

Abb. 125 Mittlere jährliche Abnahme des ANB-Winkels in Abhängigkeit von Alterund Geschlecht

5 7 9 11 13 15 17 19

0,1

0,2

0,3

0,4

0,5

0,6

0,7

jährliche Abnahme ANB

Alter

männlich

weiblich

Page 111: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

110

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Genauere Abschätzungen ergeben sich bei An-wendung von Tabelle 6, die auf einer seriellenLangzeituntersuchung von 141 unbehandeltenFällen beruht. Aus den Abbildungen 125 und 126ist zu erkennen, daß sowohl die jährlichen Ände-rungen von ANB als auch von PgNB

mm vom Ge-

schlecht und Alter abhängen. In Tabelle 6 sind diejährlichen Änderungen von rechts (Abschluß desWachstums) ausgehend kumulativ summiert undkönnen somit für die Abschätzung der noch zuerwartenden Veränderungen herangezogen wer-den.

Durch eine kieferorthopädische Behandlung mitGeräten, die eine basale Wirkung zeigen, läßt sichdiese wachstumsbedingte Veränderung in gewis-sen Grenzen beeinflussen. So kann z.B. durchHeadgear-Wirkung das Wachstum der Maxillasowohl in sagittaler als auch in vertikaler Rich-tung gebremst werden, andererseits kann die Be-handlung mit einem funktionskieferortho-pädischen Gerät zu einer Änderung der Unter-

kiefer-Wachstumsrichtung und damit zu einerVorentwicklung der Mandibula führen. Wenn alsobei einer skelettal distalen Relation eine auch basalwirkende Behandlung durchgeführt wird, kommtes neben der oben genannten wachstums-bedingten Verkleinerung des ANB-Winkels zueiner weiteren Reduktion des Winkels. Diesezusätzliche Reduktion kann um so größer sein, jedistaler die ursprüngliche Situation ist. Hierbei hatauch das Ausmaß der dentalen Abweichung (sagit-tale Stufe) eine Auswirkung, da die Behandlungeiner skelettalen Distalbißlage nicht zu einerprogenen Verzahnung führen soll. Das Ausmaßder zusätzlichen Reduktion des ANB-Winkelswird in den meisten Fällen mit Distalrelation 2°betragen; bei ausgeprägten Fällen auch 3°.

Der Abstand PgNBmm

kann durch kieferorthopä-dische Behandlungsmaßnahmen nicht nennens-wert verändert werden, und die prognostiziertenwachstumsbedingten Veränderungen können da-mit direkt übernommen werden.

Abb. 126 Mittlere jährliche Zunahme des Abstandes PgNBmm

in Abhängigkeit von Al-ter und Geschlecht.

5 7 9 11 13 15 17 19

männlich

weiblich

Alter

jährliche Zunahme PgNBmm

0,1

0,2

0,3

0,4

0,5

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111

Wachstum

Somit ergeben sich die Werte in Tab. 6 für dieVeränderung der Werte für ANB und PgNB

mm vom

Zeitpunkt der Untersuchung bis zum Abschluß desWachstums. Die Angaben „mit Behandlung“ be-ziehen sich auf Behandlungen mit Apparaturen,die eine basale Wirkung in Richtung der Behebungeiner durchschnittlichen distalen Kieferrelationhaben. Wie oben bereits erwähnt, handelt es sichbei den dargestellten Werten um Durchschnitts-

werte für Patienten mit einer Angle-Klasse I bzw.Angle-Klasse II Okklusion. Wenn bestimmteWachstumsmuster mit einer gewissen Sicherheiterkannt worden sind (zum Beispiel durch serielleÜberlagerung), sollten diese Durchschnittswerteentsprechend modifiziert werden. Besteht etwa einausgeprägtes sagittales Wachstumsmuster mitdeutlicher horizontaler Translation der Mandibula,

kann damit gerechnet werden, daß sich der ANB-Winkel stärker reduziert und der PgNB

mm stärker

vergrößert als dies in der Tabelle angegeben ist.Umgekehrt müssen die Werte der Tabelle 6 beideutlich vertikalem Wachstumsmuster nach un-ten korrigiert werden.

Für Fälle mit extremen Wachstumsmustern,insbesondere bei Vorliegen einer mesialen Rela-tion, muß die Prognose der Veränderungen derVariablen ANB-Winkel und PgNB

mm individuell

erfolgen. Allgemeinen Richtlinien, und damit auchden Werten in Tabelle 6, kann hier nicht gefolgtwerden. Insbesondere bei mesialen Konfigura-tionen ist meist nicht mit einer günstigen Entwick-lung des ANB-Winkels zu rechnen.

Tab. 6 Bis zum Abschluß des Wachstums noch zu erwartende Änderungen von ANB und PgNBmm

bei männli-chen (links) und weiblichen (rechts) Patienten. „FKO-Behandlung“ bezieht sich auf eine Klasse II-Behandlungmit FKO-Geräten wie zum Beispiel Aktivator, Hansagerät oder Vorschubdoppelplatte.

Jungen ANB Mädchen ANB

Alter PgNBmm

ohne mit Alter PgNBmm

ohne mit

FKO Behandlung FKO Behandlung

6 + 2.7 - 2.7 - 4.2 6 + 2.4 - 2.5 - 4.0

7 + 2.2 - 2.1 - 3.5 7 + 2.1 - 1.9 - 3.3

8 + 1.8 - 1.8 - 3.1 8 + 1.8 - 1.5 - 2.9

9 + 1.6 - 1.6 - 2.8 9 + 1.5 - 1.3 - 2.6

10 + 1.5 - 1.4 - 2.4 10 + 1.3 - 1.2 - 2.3

11 + 1.4 - 1.3 - 2.0 11 + 1.1 - 1.1 - 1.9

12 + 1.3 - 1.2 - 1.7 12 + 0.9 - 1.1 - 1.8

13 + 1.1 - 1.1 - 1.6 13 + 0.7 - 0.9 - 1.4

14 + 0.8 - 1.0 - 1.4 14 + 0.5 - 0.5 - 0.8

15 + 0.5 - 0.9 - 1.1 15 + 0.3 - 0.3 - 0.5

16 + 0.3 - 0.6 - 0.7 16 + 0.2 - 0.1 - 0.1

17 + 0.2 - 0.3 - 0.3 17 + 0.1 0.0 0.0

18 + 0.1 0.0 0.0 18 0.0 0.0 0.0

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112

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

F. Klinische Relevanz der Analyse

Bevor in Abschnitt G einige Fallbeispiele disku-tiert werden, sollen nunmehr die Konsequenzender kephalometrischen Analyse für die praktisch-klinische Behandlung dargestellt werden.

1. KLASSIFIKATION DES GESICHTSTYPS

Die Einteilung des Gesichtstyps hat Auswirkun-gen auf die Schwierigkeit einer kieferorthopä-dischen Behandlung. So zeigt die Erfahrung, daßsich orthognathe und prognathe Gesichtstypenwesentlich leichter und angenehmer behandelnlassen als retrognathe. Dies gilt sowohl für ortho-dontische (Zahn-)Bewegungen als auch für ortho-pädische Beeinflussungen des Wachstums. DerGrund für dieses Phänomen ist nicht genau be-

kannt, es ist aber wahrscheinlich, daß der deut-lich geringere zur Verfügung stehende Platz insagittaler und vertikaler Richtung eine ent-scheidende Rolle spielt (Abb. 130). Auch zeigenserielle Untersuchungen, daß das Wachstums-potential des Unterkiefers bei retrognathenGesichtstypen geringer als bei orthognathen undprognathen ist. Ein geringeres Wachstumspoten-tial wiederum bedeutet weniger Möglichkeiten derWachstumsbeeinflussung und damit schlechtereBehandelbarkeit basaler Fehlstellungen.

Die Beurteilung des Harmoniegrades des Ge-sichtstyps beeinflußt ebenfalls die Behandel-barkeit. Jede dentale Malokklusion läßt sich be-deutend einfacher behandeln, wenn die basalenStrukturen harmonisch zueinander passen. Einzunehmender Grad von Disharmonie des Gesichtsläßt auch vermehrt Probleme bei der Behandlungerwarten. Diese können z.B. in einer komplizier-teren Verankerungssituation oder der Gefahr ei-ner ungewollten Bißöffnung oder -senkung liegen.Weiterhin kann das Behandlungsergebnis bei deut-lich disharmonischem Gesichtstyp weniger stabilsein. Eventuell ist dann eine lange oder sogarpermanente Retention erforderlich.

Ab einem gewissen Grad von Disharmonie ist esnicht mehr sinnvoll, rein kieferorthopädisch zubehandeln, da die Instabilität des Behandlungs-ergebnisses, das Ausmaß der ungünstigen Ne-benwirkungen oder schlicht die Undurchführ-barkeit eine derartige Behandlung verbieten. Inder Regel kann in diesen Fällen nur im Rahmeneiner kombiniert kieferorthopädisch-chirurgischeBehandlung ein vernünftiges Behandlungskonzeptgefunden werden.

Abb. 130 Fernröntgenseitenbild eines Patienten mitretrognathem Gesichtstyp. Beachte die engen räumli-chen Verhältnisse.

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113

Klinische Relevanz

2. BASALER TREND DER ANOMALIE

Die dentoalveolären Verhältnisse können eineungünstige basale Situation in allen drei Ebenendes Raumes sowohl verstärken als auch kompen-satorisch maskieren. Für die Behandlung ist es nunvon großem Interesse, ob die im Mund bzw. aufden Schaumodellen sichtbare Situation reprä-sentativ für die vorliegende Gebißanomalie ist.Besonders Fälle mit dentaler Kompensation ei-ner skelettalen Fehlbildung bergen Gefahren inder kieferorthopädischen Behandlung.

Eine noch so geringfügige Angle-Klasse II-Ver-zahnung wird sich äußerst schwer korrigieren las-sen, wenn basal sagittal eine stark distale Relati-on besteht. Noch problematischer sind Fälle miteiner offenen basalen Konfiguration, die dentalsoweit kompensiert sind, daß kein offener Bißbesteht (Abb. 131). Fast jede kieferorthopädischeBehandlungsmaßnahme wird in derartigen Fällenzu einer spontanen und ungewollten Bißöffnungführen, die nur äußerst schwer wieder korrigierbarist. Werden solche Fälle rein kieferorthopädischbehandelt, muß unbedingt von Anfang an jede denk-

bare bißsenkende Maßnahme ergriffen werden.Gleichzeitig verbietet sich der Einsatz von Appara-turen, die eine bißöffnende Nebenwirkung haben,so z.B. ein Aktivator in seiner Standardform oderein Gesichtsbogen mit Nackenzug.

Entsprechendes gilt auch für Fälle mit einer tiefenbasalen Konfiguration, auch wenn hierbei im allge-meinen nicht ganz so dramatische Überraschungenauftreten. Jedoch wird auch in diesen Fällen dieAuswahl des Behandlungsgerätes, die Entschei-dung, ob extrahiert werden soll oder nicht, und z.B.die Zugrichtung von extraoralen Verankerungendurch den basalen Trend der Anomalie beeinflußt.

Glücklicherweise für den Behandler gibt es auchPatienten, die entgegengerichtete basale und den-tale Fehlstellungen aufweisen. So kann etwa eineleicht mesiale skelettale Relation in Verbindungmit einer Angle-Klasse II auftreten (Abb. 132)oder ein frontal offener Biß bei neutraler oder tie-fer basaler Kieferrelation. Diese Malokklusionenlassen sich meist schnell, problemlos und mit sta-bilem Ergebnis behandeln.

Die komplexe Entscheidung, ob bei einem Pati-enten Zähne extrahiert werden sollen oder nicht,und wenn ja, welche, wird ebenfalls neben ande-

Abb. 132 Basaler Trend und dentoalveoläre Fehl-stellung sind einander entgegengerichtet und kompen-sieren sich gegenseitig. Es besteht eine Angle-Klasse IIbei mesialer Relation der Kieferbasen.

Abb. 131 Basal offene Konfiguration (O1), die dentalkompensiert ist. Es besteht ein tiefer Biß.

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

ren Faktoren vom basalen Trend beeinflußt. Beidistaler basaler Relation wird eine isolierte Ex-traktion von zwei Prämolaren im Oberkiefer inBetracht kommen, während bei neutraler odermesialer Relation der Kieferbasen eher die Ex-traktion von vier Prämolaren in Frage kommt.Eine tiefe Konfiguration spricht eher gegen dieExtraktion von Zähnen, während eine offene Kon-figuration an die Extraktion von Zähnen denkenläßt. Selbstverständlich muß die Extraktions-entscheidung immer vor allem im Zusammenhangmit der Platzanalyse und der Profilbetrachtunggesehen werden.

Eine der wichtigsten Aussagen des basalen Trendsist die objektivierbare Abgrenzung der sinnvollkieferorthopädisch behandelbaren Fälle von je-nen, die derartig gravierende basale Anomalienzeigen, daß eine konventionelle Behandlung nicht

zum gewünschten Erfolg führt. Es ist in diesenFällen von äußerster Wichtigkeit, diese Abgren-zung möglichst vor Beginn einer Behandlung zutreffen. Sollte eine konservative kieferortho-pädische Behandlung nicht erfolgsversprechendsein und ist deshalb ein kombiniert kiefer-orthopädisch-kieferchirurgisches Vorgehen not-wendig, ist eine vollständig andere Behandlungerforderlich. Statt die basale Fehlstellung durchdentale Verschiebungen zu kompensieren, muß beieiner derartigen Behandlung dekompensiert wer-den, d.h. die Zähne werden genau in die andereRichtung bewegt. Um ein unnötiges Hin- undHerbewegen der Zähne zu vermeiden (Besonde-re Gefahr von Wurzelresorptionen!), und mehrnoch, um unnötige Extraktionen zu verhindern,muß die Entscheidung über das Behandlungs-konzept frühzeitig, d.h. in der Regel vor Beginn

der Behandlungsmaßnahmen erfolgen.

Abb. 133 Abgrenzung zwischen rein kieferorthopädisch und nur kombiniert kieferorthopädisch-chirurgisch be-handelbaren Fällen anhand der sagittalen und vertikalen basalen Relation.

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Klinische Relevanz

Außerdem ist es oft für den Patienten vorteilhafter,wenn durch Analyse der basalen Relation der vor-aussichtliche Mißerfolg rein kieferorthopädischerMaßnahmen deutlich geworden ist, jeglichekieferorthopädische Behandlung zu unterbrechen,bis der Zeitpunkt für ein operatives Vorgehen un-mittelbar bevorsteht.

Wo liegt nun die Grenze der rein kieferorthopä-dischen Behandelbarkeit? Die Abweichungen inden verschiedenen Ebenen müssen bei dieser Ent-scheidung gemeinsam beurteilt werden; es kön-nen also nicht isolierte Grenzen für den ANB-Winkel und die vertikalen Maßzahlen gegebenwerden. Vielmehr entsteht ein zweidimensionalesEntscheidungsfeld (Abb. 133) mit der sagittalenund vertikalen Kieferrelation jeweils auf den Ach-sen des Feldes. Die Lokalisation des Schnitt-punktes kann als Hinweis auf die Behandelbarkeitgewertet werden. Das abgebildete Schema kannnatürlich nur als Anhalt für diese äußerst schwie-rige und schwerwiegende Entscheidung dienen.Eine Vielzahl von weiteren Faktoren wie z.B.transversale basale Relation, Weichteilprofil undzu einem gewissen Grad auch die dentale Situati-on -um nur einige zu nennen- müssen beachtetwerden.

Aus dem Schema in Abbildung 133 wird jedochdeutlich, daß bei neutraler vertikaler Relation einedeutlich größere Bandbreite an sagittalen basalenFehlstellungen konservativ therapierbar ist als beizunehmend tiefen oder offenen vertikalen Konfi-gurationen. Die Kombination einer sagittalen miteiner vertikalen Diskrepanz führt dagegen rechtschnell an die Grenzen des rein kieferorthopädischMachbaren.

Es ist wichtig festzustellen, daß sowohl eine iso-liert sagittal basale Diskrepanz als auch eine iso-lierte Anomalie der vertikalen basalen Ver-hältnisse ein orthognathisch-chirurgisches Vor-gehen unumgänglich machen können, wenn sie

ausgeprägt genug sind. In Abbildung 134 sindzwei Fälle dargestellt, die keine nennenswertesagittale Fehlstellung aufweisen. Beide Fälle zei-gen aber derart gravierende Abweichungen in dervertikalen basalen Relation, daß sie trotzdem nurin Zusammenarbeit mit dem Kieferchirurgen be-handelt werden sollten. Auch wenn das Schemain Abbildung 133 nur als Anhalt dienen darf, kanndie Bedeutung der kephalometrischen Analysebeim Erkennen der Grenzen der rein konservati-ven Behandelbarkeit nicht überbewertet werden.Die Diagnostik im Zusammenhang mit dem basa-len Trend der Anomalie macht auch eine Aussa-ge darüber, welcher Kiefer vorwiegend die ent-

Abb. 134 Zwei Fälle mit schwerwiegender vertikalerDisharmonie der Kieferbasen bei sagittal nahezu neu-tralen Verhältnissen

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

sprechende Abweichung verursacht. Dies kann -wie im Kapitel über den Begriff „Norm“ beschrie-ben- in der Harmoniebox abgelesen werden. Vie-le Behandlungsmaßnahmen lassen nun eine ge-wisse Selektivität der Wirkungsweise zu, so daßes sich im Sinne besserer Gesamtharmonie ren-tiert, den verantwortlichen Kiefer herauszufindenund individuell darauf abgestimmte Behandlungs-maßnahmen zu ergreifen.

Auch wenn eine islierte, basale mandibuläre Wir-kung mit kieferorthopädischen Geräten imallgemeinen nicht zu erzielen ist, so kann dochder Anteil zwischen Oberkieferwirkung undUnterkieferwirkung bis zu einem gewissen Gra-de variiert werden. Die modernen funktionskiefer-orthopädischen Geräte sind zumeist so variabel,daß ihre Wirkungsweise den jeweiligen Gege-benheiten angepaßt werden kann. So kann meistje nach Bedarf extraoraler Zug angewendet wer-den, der Unterkieferteil der Geräte weggelassenwerden oder der Grad der sagittalen Aktivierungvariiert werden (Abb. 135).

Auch Abweichungen in der Vertikalebene kön-nen durch eine ungünstige Inklination entwederdes Oberkiefers oder des Unterkiefers verursachtsein. Selbstverständlich kommen häufig auchKombinationen vor. Die Erfahrung hat nun ge-zeigt, daß vertikale basale Anomalien, die von derMandibula verursacht werden, wesentlich

Eine sagittal distale Relation der Kieferbasen läßtsich beim wachsenden Patienten unter anderemmit Headgear auf den Oberkiefer oder durch einfunktionskieferorthopädisches Gerät behandeln.Beide Maßnahmen wirken sowohl auf die Maxillaals auch auf die Mandibula. Allerdings ist der je-weilige Anteil unterschiedlich: extraoraler Zug aufdie Maxilla läßt eine deutlich stärkere Wirkungauf den Oberkiefer erwarten als ein langsam-wirkendes funktionskieferorthopädisches Gerät.Bei einer übermäßigen Prognathie der Maxillawürde sich also die Anwendung von Headgearanbieten, während bei einer Rücklage des Unter-kiefers eine Wirkung vor allem auf die Mandibulawünschenswert wäre. Der Einsatz eines funktions-kieferorthopädischen Gerätes mit langsamer Wir-kung könnte hierbei günstig sein.

Abb. 135 Hansagerät mit Headgear, bei dem dasUnterkieferteil entfernt wurde, um vor allem einemaxilläre Wirkung zu erzielen.

Abb. 136 Offene skelettale Konfiguration mit demFehler im Oberkiefer (Index 67%, NL-NSL 3°, ML-NSL 40°, ML-NL 37°, SNA 77°)

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Klinische Relevanz

schwieriger zu beeinflussen sind als solche, bei de-nen die Neigung der Maxilla nicht zum Gesichtstyppaßt. Im Oberkiefer hat der Behandler durch dieAnwendung extraoraler Kräfte wesentlich mehrEinflußmöglichkeiten durch Steuerung desmaxillären Wachstums sowie Zahnbewegungen in-nerhalb des Alveolarfortsatzes. Im Unterkiefer kön-nen wegen der Rotationsmöglichkeit der Kieferbasisim Kiefergelenk keine vertikalen, extraoralen Kräfteangewendet werden. Auch eine Kopf-Kinn-Kappehat nur eine sehr eingeschränkte Wirkung auf denUnterkiefer; die Hauptwirkung tritt über die Okklu-sion im Oberkiefer auf. Weiterhin ist eine posteriorgeneigte Mandibula mit einer ungünstigen Muskel-matrize verbunden, die sogar die chirurgische Kor-rektur schwierig macht.

Da nun vertikale basale Abweichungen derMandibula so viel schwieriger zu behandeln sindals solche der Maxilla, ergibt sich wiederum einwichtiges Kriterium der Abgrenzung zur kombiniertkieferorthopädisch-kieferchirurgischen Behand-

lung. Während „O1“-Fälle mit einem Index von65% rein kieferorthopädisch behandelbar sein mö-gen, wenn nur die Abweichung in einer anteriorenNeigung der Maxilla liegt, wird derselbe Index von65% bei einer posterioren Neigung der Mandibulameist nicht ohne chirurgische Unterstützung erfolg-reich zu behandeln sein (Abb. 136 und 137). Ana-loge Prinzipien gelten auch bei skelettal tiefen Kon-figurationen. Eine anterior geneigte Mandibular-ebene, die nur einen kleinen Winkel mit NSL bil-det, ist für die Behandlung sehr viel ungünstiger alseine stark posterior geneigte Maxilla. Damit ist auchdie Differentialdiagnose „maxillär“ oder „mandibu-lär verursachte, vertikale basale Diskrepanz“ für denBehandler von großem Interesse.

Eine weitere Differenzierung liegt in der Ursacheder posterioren Neigung. Liegt die Ursache in derForm der Mandibula (Winkel Ar-tgo-Gn groß) istdie Anomalie als schwerwiegender zu beurteilen,als wenn es sich um einen Positionsfehler (ehernormaler Kieferwinkel) handelt.

Abb. 137 Offene skelettale Konfiguration, bei der derFehler im Unterkiefer liegt (Index 76%, NL-NSL 10°,ML-NSL 50°, ML-NL 40°)

ANB SNA NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL

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65666768697071727374757677787980818283848586878889909192939495969798

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Abb.136

Abb.137

Abb. 138 Die beiden Fälle aus den Abbildungen 136und 137 in der Harmoniebox. In Abb. 136 liegt derFehler im Oberkiefer, in Abb. 137 im Unterkiefer

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

3. EINFLUSS DES WACHSTUMS

Das Wachstum kann die Behandlung positiv odernegativ beeinflussen. Positive Wirkungen könnenerzielt werden, wenn das Wachstum in Größe undRichtung dazu ausgenutzt werden kann, die be-stehende dentale und/oder skelettale Fehlstellungin eine günstige Richtung zu beeinflussen. So wirdin den meisten Fällen das relativ stärkere Wachs-tum des Unterkiefers die Behandlung einer Ang-le-Klasse II mit skelettaler Rücklage des Unter-kiefers günstig beeinflussen.

Dasselbe Wachstum kann jedoch auch einen ne-gativen Einfluß haben. Wenn der oben genannteFall fertig behandelt ist und die gewünschteNeutralverzahnung aufweist, kann weiteresWachstum des Unterkiefers in moderatem Aus-maß in bestimmten Fällen zu einem (tertiären)Engstand aufgrund von Retrusion der unterenFront bei gleichzeitiger Lückenbildung im Ober-kiefer führen und in schweren Fällen sogar zu ei-ner Angle-Klasse III-Tendenz. So wird die Art unddie Dauer der Retentionsmaßnahmen direkt vondem noch zu erwartenden Wachstum abhängen.Oft kann die Retention erst beendet werden, wenn

das Wachstum völlig abgeschlossen ist. In diesemZusammenhang müssen gute Höcker bei guterVerzahnung als eine der besten Retentions-maßnahmen angesehen werden.

Für die Behandlung eines Klasse III-Falls wäreeine derartige Wachstumsrichtung und -mengeebenfalls ungünstig und würde große Problemebei der Behandlung verursachen oder sie sogarunmöglich machen. In diesen Fällen sollten beson-dere Anstrengungen unternommen werden, um dieWachstumsrichtung möglichst genau zu bestim-men. Die Erfahrung zeigt, daß das mandibuläreWachstum nicht oder kaum behindert werdenkann. Auch die Richtung ist nur sehr begrenzt be-einflußbar. Wenn die Wachstumsrichtung dannungünstig ist, kann es leicht dazu kommen, daßdie Behandlung mit dem ungünstigen Wachstumnicht Schritt halten kann. Neben extrem langenBehandlungen führt dies oft auch zu ästhetischund funktionell unbefriedigenden Ergebnissen. Dadie Möglichkeiten der Wachstumsbeeinflussungso begrenzt sind, kann es in diesen Fällen günstigsein, den Abschluß des Wachstums abzuwarten,um dann eine genaue und endgültigeBehandlungsplanung zu erstellen (Abb. 139

Abb. 139 Angle-Klasse III Malokklusion. Links im Alter von 12 Jahren. Nach Beseitigung des zahngrößen-bedingten Engstandes wurde ein Retainer geklebt und entbändert, um das Wachstum abzuwarten. Rechts derPatient 3 Jahre später.

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Klinische Relevanz

und 140). Die Gesamtbehandlungsdauer und Be-lastung des Patienten kann dadurch oft deutlichgesenkt werden. Eventuelle interzeptive Maß-nahmen bleiben von diesen Überlegungen unbe-rührt. Es ist sehr wichtig, ein derartiges Konzeptmit dem Patienten und seinen Eltern ausführlichzu besprechen.

Die Ausnutzung des pubertären Wachstumsspurtsfür die Behandlung einer sagittal distalen Basen-relation wird häufig angestrebt. Die Kurven aufSeiten 109/110 zeigen jedoch, daß es zu jedemZeitpunkt vor Ende des Wachstums ein gewissesMaß an Wachstum gibt und damit auch einefunktionskieferorthopädische Behandlung mög-lich ist. Den möglicherweise vorhandenen Vor-teilen der größeren Wachstumsrate während desSpurts stehen andere Faktoren, wie z.B. bessereKooperation der Patienten vor der Pubertät, ge-genüber. Die Behandlungsmöglichkeit im Wech-selgebiß hat weiterhin den Vorteil, daß die Ok-klusion aufgrund der fehlenden Höcker der Milch-molaren nicht verschlüsselt ist. Es scheint so, daßdie modernen funktionskieferorthopädischenGeräte, besonders in Kombination mit extraora-ler Verankerung, ihre Wirkung zu jedem Zeitpunkt

des Wachstums erreichen können. Nach Unter-suchungen von Teuscher ist der effektive basaleEffekt eines FKO-Gerätes im Verhältnis zum na-türlich vorhandenen Wachstums auch eher gering.

Die größte klinische Relevanz der Wachstums-vorgänge ergibt sich im Zusammenhang mit derBeurteilung der Zahnstellung. Da die stabile Po-sition der Frontzähne von der Morphologie derskelettalen Teile beeinflußt wird, hat auch diewachstumsbedingte Veränderung dieser Morpho-logie Einfluß auf die Schneidezahnstellung. Amwachsenden Patienten kann eine zuverlässige Ein-stellung der Frontzähne also nur unter Berücksich-tigung der noch zu erwartenden Wachstumsvor-gänge erfolgen.

Wird der Status quo auf dem Anfangsfernrönt-genbild für die Analyse der Frontzahnstellung zuGrunde gelegt, läßt sich nur bestimmen, welcheZahnstellung zum Zeitpunkt der Aufnahme idealgewesen wäre. Eine im Laufe der Behandlung oderdanach sich ergebende Veränderung der basalenMorphologie durch Wachstum würde diesen in-dividuellen Sollwert für die Frontzahnstellungaber nahezu wertlos machen.

Abb. 140 Angle-Klasse III Malokklusion. Der Patient aus Abb. 139 nach Abschluß des Wachstums und post-operativ. Nach Dekompensation und Zahnbogenharmonisierung konnte der Patient durch bimaxilläre Osteotomieskelettal korrigiert werden. Profil und Okklusion konnten harmonisiert werden.

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Erst die Prognose der wachstums- und behand-lungsbedingten Veränderungen der VariablenANB und PgNB

mm erlaubt eine sinnvolle Aussage,

ob und in welche Richtung die Inzisivi bewegtwerden sollten. Die Genauigkeit der Frontzahn-analyse hängt damit nicht nur von derSchätzgenauigkeit des verwendeten Regressions-modells ab, sondern auch von der exakten Ein-schätzung der wachstumsbedingten mor-phologischen Veränderungen. Es ist aus diesemGrund häufig vorteilhaft, in einer späteren Phaseder Behandlung die Frontzahnstellung durch einFernröntgenseitenbild zu überprüfen. In dieserspäten Phase ist schon ein größerer Anteil desWachstums abgelaufen, und die Menge des zuprognostizierenden Restwachstums wird minimal.Ein weiterer Vorteil ergibt sich daraus, daß nurdurch ein derartiges Röntgenbild die durch dieBehandlung erreichten Veränderungen der Front-zahnstellung beurteilt werden können.

Beim erwachsenen Patienten gibt es keinenennenswerten wachstumsbedingten Verände-rungen der skelettalen Morphologie. Wird je-doch kombiniert kieferorthopädisch-kiefer-chirurgisch behandelt, ergeben sich Ver-änderungen des Gesichtsschädels, die bei derPlanung der Frontzahneinstellung berücksich-tigt werden müssen. Es ist aus diesem Grundunumgänglich, vor Beginn der Behandlung

zusammen mit dem Kieferchirurgen das chir-urgische Vorgehen zu planen, um danach daskieferorthopädische Vorgehen und insbesonde-re die Einstellung der Frontzähne zu bestim-men. Aus der Platz- und Zahnstellungsanalyseergibt sich an dieser Stelle auch, ob Zähne ex-trahiert werden müssen oder nicht. Da daskieferchirurgische Vorgehen sehr genau plan-bar ist, besteht auch nicht die Unsicherheit derWachstumsprognose, so daß eine exakte Ein-stellung der Frontzähne möglich ist.

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Klinische Relevanz

4. KEPHALOMETRIE DER WEICHTEILE

Sicherlich gilt immer noch das Hauptaugenmerkdes Kieferorthopäden dem funktionierendenstomatognathen System und besonders derokklusalen Relation. Der Patient legt jedoch häu-fig ganz andere Schwerpunkte. Die ästhetischenAspekte werden vom ihm meist ähnlich hoch odersogar höher bewertet als die okklusalen Aspekte.Dies geschieht teilweise auch unterbewußt oderwird vom Patienten nicht ohne weiteres zugege-ben. Spätestens im Rahmen einer kiefer-orthopädischen Behandlung wird aber das Be-wußtsein für die Zahnstellung und die umgeben-den Strukturen geweckt, und der Patient achtetnunmehr auch auf Details.

Neben gut stehender Ober- und Unterkieferfrontist dabei auch das Weichteilprofil und insbeson-dere das Lippenprofil von Bedeutung (Abb. 141).Sowohl ein zu konvexes als auch ein zu konkavesProfil wird vom Patienten als unangenehm emp-funden. Ebenso wirkt ein übergroßer Naso-labialwinkel oder ein zu dünner Streifen Lippen-rot ungünstig. Eingefallene Lippen, insbesondere

in Verbindung mit einem Defizit an Lippenrot,werden mit greisenhaftem Aussehen assoziiert(Abb. 142).

Leider kann im Rahmen einer Behandlung nichtimmer das gewünschte günstige Weichteilprofilerreicht werden. Insbesondere bei Erwachsenen,bei denen die Einstellung der Verzahnung oft erstnach Extraktion erreichbar ist, kann es sogar zuungünstigen Auswirkungen auf das Weichteil-profil kommen. Dabei handelt es sich meist umeine Retrusion der Lippen und damit um einescheinbare Vergrößerung der Nase und des Kinns(ähnlich Abb. 143). Derartige ungünstige Auswir-kungen müssen vor Beginn der Behandlung be-kannt sein und bei der Abwägung der Vor- undNachteile verschiedener Behandlungsalternativenberücksichtigt werden. Unter Umständen muß derBehandlungsplan abgewandelt werden, so daßkleine Kompromisse in Kauf genommen werden,oder es sogar zu einer gänzlich anderen Behand-lung kommt. Zumindest aber muß der Patient aufdie Auswirkung der Behandlung auf sein Profil

Abb. 142 Ungünstiges Weichteilprofil mit Rücklageder Lippen und neur einem dünnen Streifen Lippenrot

Abb. 141 Harmonisches Weichteilprofil

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

aufmerksam gemacht werden, und er muß seinEinverständnis dazu abgeben.

Das Beispiel in Abbildung 143 zeigt einen er-wachsenen Fall, wo die Behandlung der Malok-klusion (Angle-Klasse II) die Extraktion von zu-mindest zwei Prämolaren im Oberkiefer erfordert.Bei der Retrusion der Oberkiefer-Front wird sichauch die Oberlippe etwas nach posterior bewe-gen. Damit wird der H-Winkel kleiner und derNasolabialwinkel größer. Es würde also zu einerungünstigen Profilveränderung kommen, da auf-grund des prominenten Kinns der H-Winkel be-reits klein genug ist. Das Nasen-Lippen-Kinn-Pro-fil würde unvorteilhaft konkav werden.

Die Patientin in Abbildung 144 zeigt rein dentaleine ähnliche Situation mit einer Angle-Klasse IIbei einem Erwachsenen. Allerdings ist hier derH-Winkel eher groß und wurde durch die Extrak-tionsbehandlung mit Retrusion der Oberkiefer-front günstig beeinflußt. Das Problem liegt bei

dieser Patientin im Nasolabialwinkel. Durch eineRetrusion der Oberlippe nach Extraktion von Zäh-nen wurde der ohnehin schon große Nasolabial-winkel noch weiter vergrößert. Dadurch ergab sichein wesentlich ungünstigerer Profilverlauf. Ausden genannten Gründen wurde dem Patienten vorder Behandlung von einer rein kieferortho-pädischen Behandlung abgeraten und ein kombi-niert kieferorthopädisch-kieferchirurgisches Vor-gehen vorgeschlagen - leider ohne Erfolg.

Abb. 143 Erwachsener Patient, bei dem die Behand-lung der Malokklusion (Extraktion von Prämolaren)zu einer ungünstigen Entwicklung des Weichteilprofilsführen würde. Durch die Extraktionsbehandlung wei-tere Verkleinerung des H-Winkels.

Abb. 144 Erwachsener Patient, bei dem die Behand-lung der Malokklusion (Extraktion von zwei Prämola-ren) zu einer ungünstigen Vergrößerung des Nasolabial-winkels geführt hat.

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Klinische Relevanz

5. KEPHALOMETRIE DER ZAHNSTELLUNG

Ziel der orthodontischen Maßnahmen in jedemKiefer ist es meist, einen harmonischen Zahn-bogen innerhalb der gegebenen Grenzen ein-zustellen. Die „Grenzen“ beziehen sich auf dieje-nige Position in oro-vestibulärer Richtung, diegerade noch ein stabiles Behandlungsergebniserwarten lassen. Werden sie überschritten, so mußmit erhöhter Wahrscheinlichkeit mit einem Rezi-div gerechnet werden, z.B. mit erneutem oder erst-maligem Auftreten von Engstand.

Wo liegen nun diese Grenzen? Die lateralen er-geben sich aus der Unveränderbarkeit derIntercanindistanz und dem Verlauf des Alveo-larforsatzes im distalen Bereich (Abb. 145). Dieanteriore Grenze dagegen ist nicht ohne weitereserkenntlich. Keine Messung auf dem Modell oderdirekt im Mund kann eine zuverlässige Aussagedarüber machen, wo diese anteriore Grenze liegt.Erst die Beurteilung der skelettalen Morphologiedes Gesichtsschädels in Verbindung mit einer ent-sprechenden Auswertemethodik kann diese Infor-mation bereitstellen.

Diese Auswertemethodik wird Frontzahnstel-lungsanalyse genannt und hat für die Behand-lungsplanung überragende Bedeutung. Die Front-zahnstellungsanalyse schafft die Verbindung zwi-schen der Fernröntgenanalyse und der Modell-analyse. Die Übertragung erfolgt anhand der so-wohl auf dem Röntgenbild als auch auf dem Mo-dell gut zu erkennenden Inzisalkanten der unte-ren Schneidezähne (Abb. 145). In diesem spezi-ellen Fall wird am Ende der Behandlung ein ANBvon 5.2° und ein PgNB

mm von 1.3 mm erwartet.

Die auf dem Röntgenbild gemessene Position derUnterkieferinzisivi beträgt 4.5 mm. Durch Einset-zen in die Formel oder das Nomogramm auf Sei-te 93 ergibt sich 6.1 mm. Dieser berechnete Wertist um 1.6 mm größer als der gemessene Ist-Wert,

die anteriore Grenze verläuft damit um diesenBetrag vestibulär der jetzigen Schneidezahn-position (Abb. 145).

Während aus dem Fernröntgenbild erkenntlich ist,wo die Frontzähne in Relation zu den Kieferbasenstehen sollten, ergibt sich in der Folge auf demModell, wo die Inzisivi hinbewegt werden müs-sen, ob die Platzverhältnisse dies zulassen oder

Abb. 145 Oben ist die anteriore Grenze im Fern-röntgenbild eingetragen. Unten sind die Grenzen, in-nerhalb derer der Unterkieferzahnbogen ausgeformtwerden muß, eingezeichnet. AG = anteriore Grenze;LG = laterale Grenzen.

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

ob Zähne extrahiert werden müssen. Die Mo-dellanalyse allein erlaubt dagegen diese wichti-gen Entscheidungen nicht.

Im einzelnen wird die Zahnstellungsanalyse mitden erwarteten skelettalen Werten durchgeführt.Aus der Differenz zwischen diesem berechnetenWert (Soll-Position) und dem gemessenen Wert( 1-NB

mm aus dem Fernröntgenbild, Ist-Position)

ergibt sich, wo die anteriore Grenze liegt. Diegestrichelte Linie in Abb. 146 zeigt ein Bei-spiel, in dem die Soll-Position anterior der Ist-Position (Frontzähne) l iegt. Der in derFrontzahnstellungsanalyse berechnete Wert isthierbei größer als der gemessene Wert; dieFrontzähne dürfen also protrudiert werden undder dabei gewonnene Platz kann für andereAufgaben genutzt werden.

Es gibt jedoch auch Fälle, wo die anteriore Gren-ze lingual der Ist-Position der unteren Inzisivi liegt(gepunktete Linie in Abb. 146). In diesen Fällenist der in der Frontzahnstellungsanalyse berech-nete Wert kleiner als der gemessene Wert 1-NB

mm.

Abb. 146 Zahnbogen mit anteriorer Grenze vestibulärder Frontzähne (gestrichelt), bzw. lingual der Front-zähne (punktiert). In einem Fall darf protrudiert wer-den, im anderen muß retrudiert werden.

Die Inzisivi müssen retrudiert werden. Das erfor-dert überschlägig 2 mm Platz pro aufzurichten-den Millimeter. Dieses Platzbedürfnis kann unterUmständen aus bestehenden Platzüberschüssengedeckt werden, aber häufig reichen diese nichtaus. Dann muß der erforderliche Platz geschaffenwerden, entweder durch “Strippen“ oder durchExtraktion von Zähnen.

Auch Fälle, bei denen die Inzisivi protrudiertwerden dürfen, können Probleme bereiten. Oft istes für die Ästhetik des Lippenprofils günstig, wenndie Inzsivi nicht zu weit lingual der prognostizier-ten Position stehen. Andernfalls ergeben sich häu-fig schmale, retrusive Lippen, die das Aussehenungünstig beeinflussen (Abb. 142). Wenn dieInzisivi nun lingual der Erwartungsposition ste-hen und kein Platzbedarf für die Auflösung vonEngstand besteht, führt eine Protrusion über denzwangsläufigen Platzgewinn zu ungewollterLückenbildung. Diese Lücken müßten danach vonposterior geschlossen werden, was eine sehrschwierige Verankerungssituation darstellt. Ohnespezielle Verankerungsmaßnahmen, wie zum Bei-spiel intermaxilläre Klasse II-Gummizüge oderDelairemaske auf die unteren Molaren ist eineungewollte, erneute Retrusion der Inzsivi zu be-fürchten. Solche Situationen treten meist in Ver-bindung mit zu kleinen Zähnen oder Nichtanlagenauf. Aus dem oben gesagten wird auch klar, daßdann eine Behandlung mit Lückenschluß proble-matisch sein kann und eventuell eher eine Lücken-öffnung mit späterer Autotransplantation, Implan-tation oder prothetischem Ersatz diskutiert wer-den muß.

Die Platzanalyse wird nur im Unterkiefer durch-geführt. Wenn es gelingt, im Unterkiefer einenIdealbogen innerhalb der gegebenen Grenzen ein-zustellen, wird es auch im Oberkiefer möglichsein, einen harmonischen Zahnbogen zu erreichen.Die Verbindung zwischen Ober- und Unterkiefererfolgt über die in fast allen Fällen anzustrebende

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Klinische Relevanz

Angle-Klasse I Relation im Eckzahnbereich.Wenn es kein Zahngrößenmißverhältnis zwischenden mandibulären und maxillären Zähnen gibt unddie Achsenneigung der oberen Inzisivi korrekt ist,wird sich (automatisch) eine gute Frontzahnre-lation ergeben. Wenn es wegen fehlendem Wachs-tum und ausgeprägter Klasse II-Verzahnungnicht ohne weiteres möglich ist, die Eckzähnein Klasse I einzustellen, dann ist die Extrakti-on aus Gründen der Bißlageverschiebung odereine Operation erforderlich. Immer genügt esaber, wenn die Platzanalyse im Unterkieferdurchgeführt wird. Ein „isolierter Engstand“ imOberkiefer ist in der Regel Ausdruck einer sa-gittalen Malokklusion. Entweder handelt essich um eine Angle-Klasse II

2 oder um einen

Stützzonenverlust im Oberkiefer mit unter-schiedlicher Angle-Klasse bei den Molaren undEckzähnen. Wenn dieses sagittale Problem ge-löst ist und die Eckzahnrelation stimmt, wirdsich eine gute Einstellung der Fronten ergeben.Es genügt also, die Verknüpfung von Model-len und Fernröntgenbild über die Position derunteren Schneidekanten zu schaffen.

Eine weitere Anwendungsmöglichkeit der Front-zahnstellungsanalyse ergibt sich aus der Betrach-tung der Position der Inzisivi am Anfang der Be-handlung. Dazu werden die aktuellen Meßwertefür ANB und PgNB

mm in der Regressions-

gleichung verwendet. Aus dem Vergleich der Ist-

und der berechneten Erwartungs-Position könnenRückschlüsse gezogen werden, ob der Patient amAnfang der Behandlung eine atypischeSchneidezahnposition zeigt. Diese entsteht oftaufgrund von Dysfunktionen wie zum BeispielDaumenlutschen, Lippensaugen oder Zungen-pressen, aber auch durch einen erhöhten Muskel-tonus der perioralen Muskulatur. Diese diagno-stischen Aussagen lassen wiederum Rückschlüs-se auf die zu erwartende stabile Position nachAbschluß des Wachstums zu. Wenn etwa am An-fang der Behandlung die Inzisivi deutlich lingualder zu erwartenden Position stehen, so kann dieszum Beispiel an einem erhöhten Muskeldruck derperioralen Muskulatur oder an einer Dysfunktionder Unterlippe liegen. Im ersten Fall wäre aucheine steile Oberkieferfront zu erwarten (Deckbiß),im zweiten eine große sagittale Frontzahnstufe.

Page 127: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

126

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

1. ANGLE-KLASSE II1

In Abbildung 149 ist ein 8˚ Jahrealter Junge dargestellt. Die Vor-diagnose ergibt eine Angle-Klasse II

1-Malokklusion im Wech-

selgebiß. Es besteht eine Distalok-klusion von ˚ Prämolarenbreiterechts und einer ganzen Prämo-larenbreite links bei einem Overjetvon 6 mm (Abb. 150). Die Auswer-tung der röntgenologischen Unter-lagen ergibt folgendes Bild:

G. Klinische Beispiele, Behandlungsansätze und -ergebnisse

Abb. 150 Anfangsmodelle des Patienten J.K.

Abb. 149 Patient J.K. vor der Behandlung. Alter 8 ˚ Jahre

Page 128: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

127

GesichtstypDie Harmonielinie in der Harmoniebox(Abb. 153) zeigt, daß es sich um einen nur leichtdisharmonischen, retrognathen Gesichtstyp han-delt. Die maxillären und mandibulären Progna-thiewerte liegen 6° bis 10° unter den Mittelwer-ten für das orthognathe Gesicht.

Alle Werte mit Ausnahme von SNB lie-gen nahezu auf einer horizontalen Linieund passen daher gut zusammen. Ledig-lich der Prognathiegrad der Mandibulabewirkt eine gewisse Disharmonie dersagittalen Basenrelation.

Basale RelationSagittal besteht mit einem ANB-Winkelvon 5.1° in einem retrognathen Gesichteindeutig eine distale Relation. Aus derAbweichung des Wertes für SNB in der

Harmoniebox ergibt sich, daß die Ursache imUnterkiefer liegt. Um den Grund genauer zulokalisieren, werden die fünf möglichen Ursachenauf Seite 79 einzeln beurteilt: da der SNA-Win-kel gut zum Gesichtstyp paßt, kann es sich nichtum eine anteriore Position der Maxilla handeln.Die Abknickung der Schädelbasis (Winkel NSBa)

Abb. 152 Panoramaschichtaufnahme vor der Behandlung

Abb. 151 Fernröntgenbild vor der Behandlung

Klinische Beispiele

8˚ Jahre

SNA 75.7

SNB 70.6

ANB 5.1

SNPg 72.4

NSBa 134.6

Gn-tgo-Ar 120.7

ML-NSL 34.7

NL-NSL 10.5

ML-NL 24.2

H-Winkel 12.1

Nasolabialwinkel 120.8

1- 1 128.9

1-NA 23.9

1-NB 22.1

1-NAmm

5.2

1-NBmm

3.1

PgNBmm

3.3

N-Sp’ 51.8

Sp’-Gn 60.3

Index 85.9

Tab. 7 Kephalometrische Meßwerte

Page 129: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

128

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

entspricht ebenfalls dem Erwartungswert; eineposteriore Verlagerung der gesamten Mandibulahätte dagegen einen zu großen Winkel NSBaerwarten lassen. Eine Retroposition des Alveo-larfortsatzes auf der Unterkieferbasis wäre miteiner großen Differenz zwischen den WinkelnSNB und SNPg sowie mit einem großen Wert fürPgNB

mm verbunden. Die Differenz mit 1.8° und

die Kinnprominenz PgNBmm

mit 3.3 mm sind fürdas junge Alter des Patienten etwas größer alserwartet, aber nicht groß genug, um von einer aus-geprägten Retroposition zu sprechen. Schließlichpaßt auch der Neigungsgrad des Unterkiefers(ML-NSL) zum Gesichtstyp, so daß auch hierinnicht der Grund liegen kann. Es bleibt als Haupt-grund für die distale Relation der Kieferbasen einein sich zu kleine Mandibula. Das Ausmaß diesersagittalen, skelettalen Disharmonie ist jedochmoderat und läßt keine großen Probleme erwar-ten, besonders da der Patient noch ein beträcht-liches Wachstumspotential hat.

Vertikal bestehen neutrale Verhältnisse sowohl inHinblick auf den Index der anterioren Ge-sichtshöhen als auch in Hinblick auf den Inter-basiswinkel ML-NL in Relation zum Gesichtstyp.Die Werte für NL-NSL und ML-NSL liegen inder Harmoniebox exakt auf gleicher Höhe, es han-delt sich deshalb um gute vertikale Harmonie. DerIndex ist mit 86% innerhalb des Normbereichs(„N“), dabei aber leicht vergrößert. Hierbei ist zuberücksichtigen, daß der Index im Wechselgebißmeist etwas größer ist (Seite 65).

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die sa-gittale und vertikale Relation der Kieferbasen gün-stig für eine kieferorthopädische Behandlung z.B. mitfunktionskieferorthopädischen Geräten ist.

WachstumDer Patient befindet sich im alter von 8˚ Jahreneindeutig vor dem pubertalen Wachstumsschub.Eine Handwurzelaufnahme wird deshalb nicht er-stellt. Ein späterer Behandlungsbeginn könnte dis-kutiert werden. Der Patient erlitt jedoch früher einMilchzahntrauma und, um die Traumagefahr für diebleibenden Inzisivi zu reduzieren, wird die Behand-lung bereits zu diesem Zeitpunkt begonnen.

Betreffs der Wachstumsrichtung ist kein extremesWachstumsmuster zu erwarten, deshalb könnendie Durchschnittswerte aus Tabelle 6 verwendetwerden. Danach wird sich der ANB-Winkel von5.1° auf 2.2° reduzieren und der PgNB

mm-Wert

von 3.3 mm auf 5.0 mm zunehmen. Diese Wertewerden später für die Zahnstellungsanalyse unddie Profilbeurteilung benötigt. Durch die Auf-hebung der Unterlippen-Dysfunktionen im Rah-men der Behandlung ist eine günstige Beeinflus-sung des mandibulären Wachstums zu erwarten.Die Dysfunktion verursacht in diesem Fall nichtnur den Steilstand der Inzisivi, sondern auch eineHemmung des Unterkiefer-Wachstums.

ANB SNA NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL

-

-

-

-

-

-

-

-

-2

-1

0

1

2

3

4

5

6

6263646566676869707172737475767778798081828384858687888990919293949596979899100101102103

0

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

121

122

123

124

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127

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129

130

131

132

133

134

135

136

137

138

139

140

141

13141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243 64

65666768697071727374757677787980818283848586878889909192939495969798

12

13

14

15

16

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19

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21

22

23

24

25

26

27

28

Abb. 153 Harmoniebox für den Patienten J.K.

Page 130: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

129

Dento-basale RelationEs besteht zum Behandlungsbeginn ein Zahnbo-gen ohne Stützzonenverlust und ohne Engstand.Eine Vorhersage der Zahnbreiten der bleibendenZähne der Stützzonen (z.B. GROSS 1990) läßterwarten, daß durch den Zahnwechsel in denStützzonen kein Engstand entstehen wird. Es stelltsich nun die Frage, ob die unteren Inzisivi in ei-ner stabilen Position stehen oder ob sie retrudiertwerden müssen, um das Auftreten von Engstandzu verhindern.

Zu diesem Zweck werden die für das Ende derBehandlung bzw. des Wachstums erwarteten Wer-te für die skelettalen Variablen ANB-Winkel undPgNB

mm (2.2° und 5.0 mm, siehe oben) in die

Regressionsgleichung auf Seite 94 eingesetzt:

1-NBmm

= 0.50 . 2.2 - 0.35 . 5.0 + 3.9

Das Ergebnis 1-NBmm

= 3.3 mm läßt sich auchdurch Anwendung des Nomogramms auf Seite 95herausbekommen (Abb. 154).

Der Wert für ANB (2.2°) wird auf der unterenAchse aufgesucht. Von dort wird eine Senkrechtenach oben bis zur 5 mm-Linie von PgNB

mm gezo-

gen. Im Schnittpunkt mit der 5 mm-Linie wirddann horizontal nach links gegangen und auf derlinken Achse der Prognosewert für 1-NB

mm ge-

funden.

Vor Beginn der Behandlung stehen die unterenInzisivi 3.1 mm vor der NB-Linie. Da der be-rechnete Wert von 3.3 mm geringfügig größer istals der gemessene, dürften die Inzisivi im Rah-men der Behandlung um 0.2 mm protrudiert wer-den. In praxi ist eine derartig geringfügige Bewe-gung weder kontrolliert durchführbar noch rele-vant, so daß im vorliegenden Fall die Position derunteren Inzisivi nicht verändert werden sollte.

Wird die Stellung der Inzisivi unter Berücksichti-gung des ANB-Winkels und des PgNB

mm-Wertes

bei Behandlungsbeginn beurteilt, so wird klar, daßsie 2 mm lingual der anterioren Grenze stehen.Ein Grund dafür kann die bei großer sagittaler

Klinische Beispiele

_

Abb. 154 Bestimmung der anterioren Grenze mit dem Nomogramm.Die gestrichelte Linie stellt die Grenze am Ende des Wachstums dar,die gepunktete Linie stellt die Grenze bei Behandlungsbeginn dar.

_

_

Page 131: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

130

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Stufe oft vorhandene Lippendysfunktion sein. DieTatsache, daß dieselbe Schneidezahnposition(3.1 mm) am Anfang der Behandlung als relativlingual und am Ende des Wachstums als idealbezeichnet wird, läßt sich durch die wachstums-bedingten Veränderungen der Gesichtsschädel-morphologie erklären. Durch das relativ stärkereWachstum der Mandibula erwartet man die unte-ren Inzisivi in einer mehr retrudierten Position.

Weder Position noch Inklination der oberen Inzi-sivi, noch der Interinzisalwinkel haben außer-gewöhnliche Werte, die eine besondere Beachtungverdienen würden. Sie sollten durch die Behand-lung nicht ungünstig beeinflußt werden. Es giltalso, unerwünschte Nebenwirkungen möglicher

Behandlungsgeräte (Protrusion der unteren Front,Retrusion der oberen Front) zu vermeiden.

WeichteilprofilDer Patient zeigt einen H-Winkel von 12° undeinen Nasolabialwinkel von 121°. Beide Wertesind für einen Patienten in diesem Alter nicht un-gewöhnlich. Der H-Winkel wird sich sowohldurch das Wachstum als auch durch eine non-Ex-Behandlung mit FKO-Gerät verkleinern, und esist anzunehmen, daß er am Ende des Wachstumsnahe dem ästhetischen Idealwert von 8° liegt. Fürdie skelettale Situation, die nach Abschluß vonBehandlung und Wachstum erwartet wird, kannnach der Regressionsgleichung auf Seite 96 miteinem H-Winkel von 6.2° gerechnet werden. Die

Abb. 155 Behandlungsapparatur: BimaxilläresHansagerät mit Kombizug-Headgear

Abb. 156 Fernröntgenseitenbild nach 6 Monateneinleitender Behandlung mit Hansagerät

Page 132: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

131

Anwendung des Nomogramms auf Sei-te 97 ergibt dasselbe Ergebnis.

Vom Weichteilprofil her ist nicht mitProblemen zu rechnen, und die Behand-lung mit einem FKO-Gerät hätte sogareinen günstigen Einfluß.

Behandlungskonzept

Da die Platzanalyse des Unterkiefers er-geben hat, daß kein Platzbedarf bestehtund der Patient noch ein großes Wachs-tumspotential hat, wird eine non-Extraktionsbehandlung durchgeführt.Die Einstellung in Angle-Klasse I erfolgtmit einem funktionskieferorthopädi-schem Gerät, in diesem Fall mit dembimaxillären Hansagerät mit extraoralerVerankerung (Abb. 155). Da keine ver-

tikalen Abweichungen bestehen, wird die Zugrichtung derextraoralen Verankerung direkt nach posterior gewählt. Prak-tisch wird dies durch eine Kombination von Occipital- undNackenzug („Kombizug“) erreicht (Abb. 155).

Abb. 157 Intraoraler Befund am Ende der Behandlung

Klinische Beispiele

Abb. 158 Patient J.K. nach der Behandlung. Alter 12 Jahre

Page 133: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

132

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Die Lokalisation der sagittalen Störung in derGröße des Unterkiefers würde auch den Einsatzeines FKO-Gerätes ohne extraorale Verankerungerlauben; der relative Anteil der mandibulärenWirkung wäre dann größer, allerdings wäre auchmit einer längeren Behandlungsdauer zu rechnen.Im vorliegenden Fall wird das Headgear am An-fang der Behandlung etwa 6 Monate getragen biseine Angle-Klasse I-Verzahnung besteht(Abb. 156). Danach wird das Gerät ohne extra-orale Verankerung zur Konsolidierung desBehandlungsergebnisses weitergetragen.

Sobald die Okklusion stabil verschlüsselt ist, wirddann der Zahnwechsel beobachtet; das kann meistohne Behandlungsgerät erfolgen. Nach oder kurzvor Beendigung des Zahnwechsels wird dann ent-schieden, ob eine Feineinstellung der Okklusionerforderlich ist oder nicht. Wenn ja, erfolgt eine

kurze Behandlungsphase mit festsitzender Appa-ratur.

Abbildung 157 zeigt die Okklusion nach Fein-einstellung der Okklusion mit Multibracket-apparatur nur im Oberkiefer für 10 Monate. InAbbildung 160 sind die kephalometrischenDurchzeichnungen am Anfang, nach Einstellungder Klasse I-Verzahnung und zum Zeitpunkt derNachkontrolle überlagert. Es wird deutlich, daßwährend der Einleitenden Behandlung ein Wachs-tum der Maxilla nach anterior verhindert wurdeund die Molaren distalisiert wurden. Zur selbenZeit konnte sich die Mandibula nach anterior-kau-dal entwickeln, wodurch die Einstellung inKlasse I möglich wurde. In der folgenden Zeit derMultibracketbehandlung und Retention zeigte sichwieder in beiden Kiefern das Wachstum nachanterior-kaudal.

Abb. 160 Überlagerung der Durchzeichnungen vorBehandlung, nach Einleitender Behandlung und nachEnde der Behandlung.Abb. 159 Fernröntgenbild bei der Nachkontrolle

Page 134: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

133

2. ANGLE-KLASSE II2

Die Abbildungen 162 und 163zeigen Fernröntgenseitenbild undPanorama-Schichtaufnahme desPatienten L.K. (Abb. 161). DieModelle sind in Abb. 164 ge-zeigt. Die Vordiagnose zeigt, daßes sich um eine Angle-Klasse II

2-

Malokklusion handelt. Vor demHintergrund dieser Vordiagnoseinteressiert den Behandler ins-besondere die vertikale basaleRelation und die Zahnstellung.

Die kephalometrischen Meßwer-te in Tab. 8 und die Harmoniebox(Abb. 165) lassen folgende Beur-teilung zu:

GesichtstypEs handelt sich um einen disharmonisch or-thognathen Gesichtstyp. Zwar passen Progna-thiegrad und Neigung der Maxilla harmonischzusammen, der Unterkiefer ist jedoch sowohl insich als auch in Relation zu Schädelbasis undMaxilla disharmonisch.

Klinische Beispiele

Abb. 161 Patient L.K. vor der Behandlung. Alter 122 Jahre

Abb. 163 PanoramaschichtaufnahmeAbb. 162 Fernröntgenbild vor der Behandlung

Page 135: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

134

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Basale RelationIn der Sagittalebene handelt es sich eindeutig umeine distale Relation mit Rücklage des Unterkie-fers (der Wert für SNB weicht von der Harmonie-linie ab). Der Wert von 7.1° für den ANB-Winkelist für diesen Gesichtstyp zu groß. Zu beachtenist in diesem speziellen Fall jedoch, daß der A-Punkt durch den extremen Steilstand der oberenInzisivi weiter ventral erscheint als dies für dieKieferbasis repräsentativ wäre. Der Grund liegtin einer „Ausbeulung“ der vestibulären Kortikalisüber den Wurzeln der oberen mittleren Schneide-zähne. Es ist deshalb in diesem Fall legitim, diesagittale Relation der Kieferbasen etwas günsti-ger anzunehmen als dies der reine Zahlenwertausdrückt.

Vertikal besteht eine mäßig verringerte vordereUntergesichtshöhe; der Index liegt mit 88% zwarnoch im „N“-Bereich, allerdings hart an der Gren-ze zum „T“-Bereich. Der Interbasiswinkel ML-NLliegt ebenfalls im Grenzbereich zwischen neutral

(„2“) und zu klein („3“). Verantwortlich für dieAbweichung ist die Inklination der Mandibula.Zusammenfassend kann die vertikale Relation alsN3

mand. bezeichnet werden.

ANB SNA NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL

-

-

-

-

-

-

-

-

-2

-1

0

1

2

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6263646566676869707172737475767778798081828384858687888990919293949596979899100101102103

0

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7

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121

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141

13141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243 64

65666768697071727374757677787980818283848586878889909192939495969798

12

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Abb. 164 Intraoraler Anfangsbefund des Patienten L.K.

Abb. 165 Harmoniebox

Page 136: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

135

Obwohl die vorliegende basale Relation nicht alsgünstig bezeichnet werden kann, sieht man inKlasse II

2 Fällen häufig wesentlich unvor-

teilhaftere Situationen. Besonders der Inter-basiswinkel nimmt in diesen Fällen durchausWerte von unter 10° an, und der Index übertrifftnicht selten 100%.

WachstumDer Patient ist ein 12˚ Jahre alter Junge. Ausge-hend von diesem Alter und vom Entwick-lungszustand (Stimmlage, Körpergröße) ist zuerwarten, daß noch ein nennenswertes Wachs-tumspotential besteht. Eine Handwurzelaufnahmewird nicht erstellt.

Die Gesichtsmorphologie läßt ein extremesWachstumsmuster nicht erwarten. Deshalb kanndie Prognose der zu erwartenden Werte für ANBund PgNB

mm am Ende des Wachstums mit Hilfe

von Tabelle 6 in Kapitel E erfolgen. Es ergebensich unter der Annahme einer Behandlung mitfunktionskieferorthopädischen Geräten die Er-wartungswerte von 5.5° für ANB und 7.3 mm fürPgNB

mm. Da im Rahmen der kieferorthopädischen

Behandlung unter anderem auch die Achsen-neigung der oberen Inzisivi korrigiert wird, ist zuerwarten, daß die „Ausbeulung“ durch die Zahn-wurzeln im Bereich des A-Punktes verschwindet.Aus diesem Grund wird der Erwartungswert fürden ANB-Winkel noch einmal um 1° auf 4.5° re-duziert. Diese Werte werden in der weiteren Ana-lyse für die Zahnstellungs- und Weichteilanalyseverwendet.

Dento-basale RelationDer Ist-Zustand mit einem Interinzisalwinkel vonfast 166° zeigt deutlich, daß es sich um einenDeckbiß handelt. Besonders die Inklination derZahnachse des oberen Inzisivus liegt mit -6.6°deutlich niedriger als übliche Werte. Durch Ein-setzen der Erwartungswerte für ANB und PgNB

mm

in die Regressionsgleichung für die Zahnstellungder unteren Front bzw. durch graphisches Aus-werten im Nomogramm (Abb. 106) erhält manden Sollwert: die unteren Inzisivi dürften amBehandlungsende 3.6 mm vor der NB-Linie ste-hen. Da sie zum jetzigen Zeitpunkt nur 1.0 mmvor der NB-Linie stehen, dürfen sie im Rahmender Behandlung um 2.6 mm protrudiert werden.

Diese mögliche Protrusion von 2.6 mm stellt einPlatzpotential von etwa 5 mm dar, das zur Behe-bung von Engstand oder zur Lösung von sonstigenAufgaben mit Platzbedürfnissen genutzt werdenkann. In diesem Fall wird außer für die Auflö-sung des bestehenden Engstandes noch Platz fürdie Nivellierung der Spee’schen Kurve und fürdie Beseitigung der Fächerform in der unterenFront benötigt.

Klinische Beispiele

12˚ Jahre 13 Jahre

SNA 82.5

SNB 75.4

ANB 7.1

SNPg 78.8

NSBa 138.0

Gn-tgo-Ar 118.1

ML-NSL 25.2

NL-NSL 7.7

ML-NL 17.4

H-Winkel 16.4

Nasolabialwinkel 100.5

1- 1 165.7 138.6

1-NA - 6.6 + 20.4

1-NB 13.9

1-NAmm

- 4.9 + 3.6

1-NBmm

1.0

PgNBmm

6.1

N-Sp’ 49.7

Sp’-Gn 56.5

Index 88.0

Tab. 8 Kephalometrische Meßwerte: in der rechtenSpalte Situation nach Protrusion der Inzisivi.

Page 137: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

136

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Der individuell zu erwartende Interinzisalwinkelbeträgt nach der Gleichung auf Seite 94

1-1 = 7.3 mm . 1.59°/mm + 129.3° = 140.9°

Da der jetzige Interinzisalwinkel 166° beträgt,sollte er also um etwa 25° verringert werden. DieProtrusion der Unterkieferfront wird die Inkli-nation der unteren Inzisivi um annähernd 8° ver-größern. Damit sollten die oberen zentralenInzisivi um rund 20° protrudiert werden. Aus geo-metrischen Gründen erhöht sich der Interin-zisalwinkel durch die Reduktion des ANB-Win-kels (siehe Seite 94). Die Summe aus 8° Protrusionim Unterkiefer, 20° Protrusion im Oberkiefer und2.6° ANB-Reduktion ergibt zusammen die gefor-derte Reduktion des Interinzisalwinkels um 25°.Bei entsprechend vorsichtiger Behandlungswei-se sollte eine Protrusion dieses Ausmaßes in die-sem Fall ohne Probleme durchführbar sein.

Die Protrusion der oberen Inzisivi sollte vor-zugsweise zu Beginn der Behandlung erfolgen,da eine Behandlung mit funktionskieferorthopä-dischem Gerät erst nach Schaffung einer sagitta-len Stufe möglich ist. Die Angle-Klasse II

2-Mal-

okklusion wird also zunächst in eine Klasse II1-

Malokklusion überführt und dann entsprechendbehandelt.

WeichteilprofilFür die nach Abschluß des Wachstums zu erwar-tende Gesichtsmorphologie wäre ein H-Winkelvon 5.5° zu erwarten (siehe Nomogramm inAbb. 107). Zum jetzigen Zeitpunkt beträgt der H-Winkel 16° und der Nasolabialwinkel 100.5°.Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß durch eineStauchung der Lippen der Oberlippenpunkt wei-ter ventral erscheint als dies repräsentativ wäre(siehe Abb. 166). Nach einer Normalisierung derZahnstellung ist mit einer Verkleinerung desH-Winkels und einer Vergrößerung des Naso-labialwinkels zu rechnen (Abb. 168).

Die geplante Behandlung würde eigentlich im er-sten Schritt (Protrusion der oberen Inzisivi unddamit auch in verringertem Umfang der Ober-lippe) den H-Winkel etwas vergrößern. Durch denWegfall des Stauchungseffekts der Lippen wirdin diesem Fall diese Protrusionswirkung aufge-hoben. Die weiteren Maßnahmen (FKO-Gerät) inVerbindung mit dem Wachstum werden dann den

_

Abb. 166 Lippenprofil vor der Behandlung Abb. 167 Utility-arch zur Protrusion der oberen Inzisivi

Page 138: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

137

H-Winkel deutlich reduzieren. Es ist also einegünstige Entwicklung der Weichteilsituation zuerwarten.

BehandlungskonzeptDa noch Wachstumspotential vorhanden ist undeine skelettale Abweichung sowohl in sagittalerals auch in vertikaler Richtung besteht, ist unbe-dingt der Einsatz eines funktionskiefer-orthopädischen Gerätes, möglichst in Verbindungmit extraoralem Zug, indiziert. Selbst wenn dieEinstellung in eine Angle-Klasse I Verzahnungdamit nicht vollständig gelingen sollte, wird sicheinerseits eine günstige Beeinflussung derskelettalen Harmonie und des Profilverlaufs er-geben und andererseits das Ausmaß und die Dau-er der anschließenden Behandlung mit festsitzen-den Apparaturen deutlich verringern. Bevor einfunktionskieferorthopädisches Gerät, in diesem

Fall ein bimaxilläres Hansagerät, eingesetzt wer-den kann, muß der Deckbiß beseitigt werden. Zudiesem Zweck wird zunächst die Oberkieferfrontmit einer kleinen, festsitzenden Apparatur (Utility-Arch) oder einer Protrusionsplatte protrudiert(Abb. 167).

Im vorliegenden Fall wird nach Protrusion deroberen Inzisivi um 8.5 mm bzw. 26° (Abb. 168,169) ein bimaxilläres Hansagerät eingesetzt. We-gen des Tiefbisses und des zu kleinen Inter-basiswinkels wird das Hansagerät mit extraoralemZug in occipitaler Richtung kombiniert, der imanterioren Bereich des Gerätes ansetzte. Es wirddamit vor allem die Neigung der Maxilla beein-flußt, auch wenn der Neigungsfehler vor allem inder Mandibula liegt. Im vorigen Kapitel wurdejedoch dargelegt, daß die skelettale Beeinflussungder vertikalen Position der Mandibula kaum zuerreichen ist. Aus diesem Grund wird die Neigungder Maxilla beeinflußt und damit zumindest dievertikale Harmonie verbessert. Weiterhin ergibtsich eine günstige dentoalveoläre, bißöffnendeWirkung. Zusätzlich wird im Bereich der unterenMolaren freigeschliffen, um deren freie Extrusionnicht zu behindern und das bißöffnende Potentialauszunutzen.

Nach 6 bis 15 Monaten wird der Fall dann erneutausgewertet. Jetzt gibt es prinzipiell zwei Mög-lichkeiten:

1. Die Kombination aus skelettaler und dento-alveolärer Wirkung des FKO-Gerätes hat aus-gereicht, eine Angle-Klasse I einzustellen.Dann sind nur noch Feinkorrekturen der Ok-klusion im Rahmen einer relativ kurzen Pha-se mit festsitzenden Apparaturen notwendig.Ohne eine Behandlungsphase mit Multi-bracket-Apparatur wird dieser Patient nichtauskommen, da sonst die korrekte Ach-senneigung der oberen Inzisivi (viel Torque

Klinische Beispiele

Abb. 168 Fernröntgenbild nach Protrusion der oberenInzisivi.

Page 139: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

138

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

erforderlich!) und eine gute vertikale Einstel-lung mit Nivellierung der Spee’schen Kurveund Korrektur der Fächerform in der Frontnicht erreicht werden können.

2. Die Kombination aus skelettaler unddentoalveolärer Wirkung des FKO-Geräteshaben nicht ausgereicht, eine saubere Angle-Klasse I Verzahnung zu erreichen. In diesemFall wird es notwendig, zwei Prämolaren iso-

liert im Oberkiefer zu extrahieren und dieEckzähne in eine saubere Klasse I-Verzah-nung zu bringen, während die ersten Mola-ren in Klasse II eingestellt werden. Aufgrundder Wirkung des FKO-Gerätes wird es in denmeisten Fällen ausreichen, den Eckzahn umetwa ˚ Prämolarenbreite zu distalisieren, sodaß ein reziproker Lückenschluß möglich ist.

Die ebenfalls denkbare Extraktion von vierPrämolaren hätte den Vorteil, daß auch dieMolaren in Klasse I eingestellt werden könn-ten. Dagegen stehen aber eine Reihe vonNachteilen: der Behandlungsaufwand ist deut-lich größer, und die Behandlung dauert län-ger. Da die Zahnstellungsanalyse ergeben hat,daß die untere Front nicht retrudiert zu wer-den braucht, müßten die Extraktionslücken imUnterkiefer vollständig von distal geschlossenwerden, um einen ungünstigen, instabilenInterinzisalwinkel und eine ungünstige Beein-flussung des Lippenprofils zu vermeiden.Dadurch ergibt sich eine extrem schwierigeVerankerungssituation, die vermutlich nurdurch den Einsatz von extraoraler, frontalerVerankerung (Delaire-Maske) zu lösen wäre.Schließlich würde auch die vertikale Aufga-be der Bißöffnung wesentlich erschwert.

Auch die Retentionsphase im Anschluß an dieMultibandbehandlung wird von der kephalome-trischen Analyse beeinflußt. Aufgrund der tiefen

und distalen basalen Tendenz ist eine leichte Ver-tiefung der dentalen Situation im Anschluß an dieBehandlung nicht ganz auszuschließen. Dieanteriore Rotation der Mandibula durch restlichesWachstum hat ebenfalls eine bißsenkende Wir-kung. Um entsprechend entgegenzuwirken, bie-tet sich im vorliegenden Fall die Verwendung ei-nes Retentionsaktivators mit moderatem Kon-struktionsbiß an, bei dem die Molaren undPrämolaren vertikal freigeschliffen sind.

Abb. 169 Dentale Situation nach Protrusion derInzisivi. Jetzt kann eine Behandlung mit FKO-Geräterfolgen.

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139

3. Angle-Klasse I, ERWACHSENER PATIENT

Der dritte Fall zeigt einen er-wachsenen Patienten (Alter 25Jahre). Der intraorale Befund(Abb. 171) ergibt die Vordiagno-se Angle-Klasse I bei starkemEngstand in beiden Kiefern. Diekephalometrischen Unterlagenergeben folgendes Bild:

GesichtstypEs liegt ein disharmonischer,retrognather Gesichtstyp vor. DieDisharmonie ergibt sich aus derzu anterioren Neigung derMaxilla; alle anderen Meßwertepassen recht gut zusammen.

Klinische Beispiele

Abb. 171 Intraoraler Anfangsbefund des Patienten H.K.

Abb. 170 Patient H.K. vor der Behandlung. Alter 25 Jahre

Page 141: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

140

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Der daraus resultierende Interbasiswinkel ML-NList für dieses Gesicht deutlich zu groß. Da aberder Index neutral ist und der Neigungsfehler imOberkiefer liegt, sollte sich der Fall kiefer-orthopädisch recht gut behandeln lassen, auchwenn die Gefahr einer ungewollten Bißöffnungbei der Behandlung beachtet werden muß.

Der große Interbasiswinkel würde für eine Ex-traktion sprechen, besonders wenn der Lücken-schluß zumindest teilweise von distal erfolgenkann. Durch eine „umgekehrte Keilwirkung“ kanndann der Unterkiefer anterior rotieren, was denInterbasiswinkel verringert und den Biß absenkt.

WachstumDa es sich um einen erwachsenen Patienten han-delt, wird es keine nennenswerten, wachstums-bedingten Veränderungen der skelettalen Morpho-logie geben. Eine eventuelle Rotation derMandibula in anteriore Richtung infolge einermöglichen Extraktionstherapie ist in ihrem Aus-maß nicht so groß, daß sie Berücksichtigung fin-den muß.Basale Relation

Die sagittale Relation der Kieferbasen ist mit ei-nem ANB von 2.1° im mäßig retrognathen Ge-sicht noch neutral. Der Erwartungswert für die-sen Gesichtstyp wäre 0.3°. Die vertikale Relationwird mit N1

max bezeichnet. Der Index mit 76%

liegt gut im Normbereich. Während ML-NSL ge-ringfügig größer ist als erwartet, weicht der Win-kel NL-NSL deutlich von der Harmonielinie ab.

Abb. 173 Panoramaschichtaufnahme

ANB SNA NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL

-

-

-

-

-

-

-

-

-2

-1

0

1

2

3

4

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0

1

2

3

4

5

6

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9

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13

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-

-

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-

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141

13141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243 64

65666768697071727374757677787980818283848586878889909192939495969798

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Abb. 174 Harmoniebox

Abb. 172 Fernröntgenbild

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141

Dento-basale RelationHier stellt sich besonders die Frage, ob der vor-handene Engstand durch Expansion gelöst wer-den kann, oder ob es erforderlich sein wird, Zäh-ne approximal zu beschleifen („Strippen“) oderzu extrahieren. Es besteht ein Platzmangel vonetwa 10 mm. Da der Intereckzahnabstand nichtstabil verändert werden kann, wäre eine Protrusionvon ca. 5 mm erforderlich, um das Engstand-problem im Unterkiefer zu lösen.

Durch Einsetzen der gemessenen Werte (ANB2.1° und PgNB

mm 4.6 mm) in die Regressionsglei-

chung der Zahnstellungsanalyse oder in das ent-sprechende Nomogramm ergibt sich ein Wert von1-NB

mm=3.3 mm als anteriore Grenze für den un-

teren Zahnbogen. Da die Inzisivi vor der Behand-lung bei 4.3 mm stehen, darf nicht protrudiertwerden, es muß sogar 1 mm aufgerichtet werden,um innerhalb dieser anterioren Grenze zu blei-

ben. Zusätzlich zu den 10 mm Engstand ergibt sichdamit ein Platzbedarf von 2 mm; insgesamt sindalso 12 mm erforderlich. Dieser Platzbedarf kannnur durch Extraktion von Zähnen gedeckt wer-den. In diesem Fall können die ersten Prämolarenextrahiert werden, da sie dem Engstand am näch-sten stehen und so die Summe der Zahnbe-wegungen möglichst klein gehalten wird. Die ent-stehenden Lücken von zusammen etwa 15 mmmüssen fast vollständig von anterior geschlossenwerden. Das erfordert eine gute Verankerung; einreziproker Lückenschluß reicht in diesem Fallnicht. Andererseits ergibt sich aus dieser Tatsa-che, daß wir nicht die Mesialisierung von Mola-ren nutzen können, um den übergroßen Inter-basiswinkel ML-NL zu kontrollieren bzw. eineBißsenkung zu erreichen.

Der Interinzisalwinkel entspricht vor der Be-handlung in etwa dem Erwartungswert von 137°.Es muß im Rahmen der Behandlung lediglichdarauf geachtet werden, daß sich die Achsen-neigung der Inzisivi nicht ungünstig verändert.

WeichteilprofilDer Patient zeigt vor Behandlungsbeginn einenH-Winkel von 6.1° und einen Nasolabialwinkelvon 114°. Für die vorliegende skelettale Mor-phologie ist ein H-Winkel von 6.6° zu erwarten;es besteht also sowohl beim H-Winkel als auchbeim Nasolabialwinkel kaum eine Abweichung.Die Behandlung mit der Extraktion von vier Prä-molaren läßt in diesem Fall eine merkliche Ver-änderung des Weichteilprofils nicht erwarten, dadie Schneidekanten nur minimal bewegt werden(Retrusion von 1 mm). Die Extraktionslückenwerden durch Auflösung des Engstandes ge-schlossen. Nur wenn nach Auflösung des Eng-standes ein Restlückenschluß von anterior durch-geführt würde, könnte es zu einer Abflachung desLippenprofils kommen. In diesem Fall ergibt dieWeichteilanalyse also keine Kontraindikationenfür die geplante Extraktionsbehandlung.

Klinische Beispiele

25 Jahre

SNA 76.8

SNB 74.7

ANB 2.1

SNPg 76.7

NSBa 136.4

Gn-tgo-Ar 121.2

ML-NSL 37.4

NL-NSL 5.0

ML-NL 32.4

H-Winkel 6.1

Nasolabialwinkel 114.1

1- 1 138.0

1-NA 18.4

1-NB 21.5

1-NAmm

4.2

1-NBmm

4.3

PgNBmm

4.6

N-Sp’ 59.3

Sp’-Gn 78.1

Index 75.9

Tab. 9 Kephalometrische Meßwerte

_

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

BehandlungskonzeptUm maximale Verankerung der Molaren in beidenKiefern zu gewährleisten, werden sowohl im Ober-als auch im Unterkiefer Lingualbögen zementiert(Abb. 175). Als Lingualbogen bezeichnen wir indiesem Zusammenhang auch einen Palatinalbogen,der den Palatinalflächen der Oberkieferzähne an-liegt. Nach Extraktion der Prämolaren (15, 24, 34,44; 15 WF !) und Weisheitszähne werden die Eck-zähne distalisiert und dann der Frontengstand auf-gelöst. Dabei müssen jede Extrusion von Molarenund Prämolaren vermieden werden. Um die sagit-tale Einstellung -Beibehaltung der Angle-Klasse I- zu gewährleisten und eine vertikale Kontrolle aus-zuüben, trägt der Patient nachts ein Occipitalzug-Headgear. Die intrudierende Komponente deroccipitalen Zugrichtung sorgt für eine Intrusion deroberen Molaren und wirkt damit bißsenkend.

Nach der Einstellung der Okklusion kann bei Pa-tienten, die einen offenen Biß oder eine offenebasale Konfiguration hatten, mit Vorteil ein indi-viduell gefertigter Positioner als Retentionsgeräteingesetzt werden. Durch die Saugwirkung beson-ders auf die Frontzähne ergibt sich neben denFeinstkorrekturen der Zahnstellung ein gutes Hal-ten der vertikalen Einstellung.

Abb. 175 Lingualbögen in Ober- und Unterkiefer umLückenschluß von mesial zu gewährleisten.

Abb. 176 Fernröntgenbild nach Retention

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Klinische Beispiele

Abb. 178 Patient H.K. nach der Behandlung

Abb. 177 Dentale Situation nach Retention

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144

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

4. ANGLE-KLASSE III

Der letzte Fall zeigt wieder einenerwachsenen Patienten (Alter 23Jahre), dem schon von extraoraleine mesiale Relation der Kieferanzusehen ist (Abb. 181). Der in-traorale Befund (Abb. 182) ergibtdie Vordiagnose Angle-Klasse IIImit mäßigem Engstand in beidenKiefern. Die kephalometrischenUnterlagen ergeben folgendes Bild:

GesichtstypDie Harmoniebox zeigt, daß es sich um einen starkdisharmonischen und deutlich prognathenGesichtstyp handelt. Disharmonie besteht sowohlsagittal als auch vertikal. Auch die Neigungen derEinzelkiefer passen nicht zu den entsprechendenPrognathiegraden.

Obwohl der SNA-Winkel um 5° größer als derBevölkerungsmittelwert ist, zeigt die Harmonie-box deutlich, daß der Patient eine Oberkiefer-rücklage in einem stark prognathen Gesichtstyphat.

Abb. 182 Intraoraler Anfangsbefund des Patienten B.S.

Abb. 181 Patient B.S. vor der Behandlung. Alter 23 Jahre.

Page 146: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

145

Sowohl die sagittale als auch die vertikale Relati-on der Kieferbasen stellt jede für sich schon eine

Basale RelationBei einem ANB von -8.2° besteht eine starkmesiale sagittale Relation der Kieferbasen. Diegroße Diskrepanz ergibt sich aus der Kombinationeiner Oberkieferrücklage (SNA zu klein für denGesichtstyp) mit einer starken Prognathie desUnterkiefers (SNB zu groß). Die sagittaleskelettale Abweichung ist noch schwerwiegenderwenn man den individuell optimalen ANB-Win-kel für diesen Patienten betrachtet. Er ergibt sichaus der Harmoniebox in Abb. 185 und beträgt indiesem Fall +4.4°. Die skelettale Gesamtabwei-chung beträgt damit -12.6°.

Vertikal liegt eine offene Konfiguration „O1“ vor.Der Index von 69.7% deutet auf eine deutlichvergrößerte Untergesichtshöhe hin, während derInterbasiswinkel ML-NL für den vorliegendenGesichtstyp viel zu groß ist. Die Abweichung er-gibt sich vor allem durch eine posteriore Neigungder Mandibula. Es handelt sich also um einen„O1

mand“-Fall.

Klinische Beispiele

ANB SNA NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL

-

-

-

-

-

-

-

-

-2

-1

0

1

2

3

4

5

6

6263646566676869707172737475767778798081828384858687888990919293949596979899100101102103

0

1

2

3

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-

-

-

-

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65666768697071727374757677787980818283848586878889909192939495969798

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Abb. 183 Fernröntgenseitenbild

Abb. 184 Panoramaschichtaufnahme Abb. 185 Harmoniebox

Page 147: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

146

SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Die dento-basale Relation ist dagegen für denKieferorthopäden in orthognathisch-chirurgischenFällen von überragender Bedeutung für das Vor-

unlösbare Aufgabe für den Kieferorthopäden dar.Die Kombination der beiden läßt die Entschei-dung, den Patienten kombiniert kieferortho-pädisch-kieferchirurgisch zu behandeln, unkom-pliziert erscheinen.

WachstumDer Patient ist ausgewachsen; allerdings wird dieskelettale Morphologie durch den kiefer-chirurgi-schen Eingriff wesentlich verändert. Diese Ände-rungen müssen bei der kieferorthopädischen Pla-nung berücksichtigt werden.

WeichteilprofilDer H-Winkel beträgt vor Beginn der Behand-lung -5.1°, der Nasolabialwinkel 98.3°. Es gibt indiesem Fall keinen Sinn, durch Anwendung derRegressionsgleichung auf Seite 96 den individu-

ell zu erwartenden H-Winkel auszurechnen. EinH-Winkel von -5.1° ist absolut zu klein weil äs-thetisch ungünstig. Aus dieser Tatsache ergibt sicheine weitere Indikation zur orthognathischen Chir-urgie.

Das Weichteilprofil wird durch die chirurgischenMaßnahmen soviel stärker beeinflußt als durchdie rein kieferorthopädischen, daß die Planung derÄnderungen durch das Team aus Kieferorthopä-den und Kieferchirurgen erfolgen soll. Entspre-chende Grundlagen und Richtwerte sind in derLiteratur beschrieben.

Dento-basale Relation

20 Jahre

SNA 87.4

SNB 95.7

ANB - 8.2

SNPg 98.2

NSBa 119.8

Gn-tgo-Ar 125.0

ML-NSL 22.7

NL-NSL 0.7

ML-NL 22.0

H-Winkel - 5.1

Nasolabialwinkel 98.3

1- 1 143.3

1-NA 29.7

1-NB 15.3

1-NAmm

6.3

1-NBmm

0.4

PgNBmm

5.1

N-Sp’ 50.1

Sp’-Gn 71.9

Index 69.7

Tab. 10 Kephalometrische Meßwerte

Abb. 186 Gemeinsame kieferorthopädisch-kieferchirurgische Planung des operativen Vorgehens(Prediction tracing)

Page 148: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

147

Die in diesem „Prediction Tracing“ gemessenenskelettalen Werte werden dann als Grundlage fürdie kieferorthopädische Behandlungsplanung ge-nommen.

Am Ende der Behandlung ist ein ANB-Winkelvon 4.1° und ein Wert von 5.9 mm für PgNB

mm

geplant. Durch Einsetzen in die Zahnstellungs-analyse ergibt sich ein Sollwert für 1-NB

mm von

3.9 mm. Verglichen mit dem Ist-Wert von 0.4 mmist also eine Protrusion von 3.5 mm erforderlich.

gehen. Um die Zahnstellungsanalyse durchführenzu können, sind -wie bei den Patienten im Wachs-tum- die basalen, skelettalen Werte am Ende der

Behandlung erforderlich. Diese Werte sind jedochnur verfügbar, wenn die geplanten operativenVeränderungen bekannt sind. Es ist deshalb uner-läßlich, das operative Vorgehen und das Ausmaßder Veränderung vor der Behandlung mit demoperierenden Kieferchirurgen zu planen undabzusprechen. Für den vorliegenden Fall wird dasBehandlungskonzept in Abbildung 186 erstellt.

Für den Oberkiefer ergibt sich nach der Gleichungauf Seite 93 ein Wert von 1.6 mm; es ist also eineRetrusion von 4.7 mm erforderlich. Die beschrie-bene Kombination aus Protrusion im Unterkieferund Retrusion im Oberkiefer vergrößert die negati-ve, sagittale Frontzahnstufe, verschlimmert alsozunächst einmal die Anomalie. Dieses Dekom-

pensation genannte Behandlungskonzept ist vongroßer Wichtigkeit für die kombiniert kieferorthopä-disch-kieferchirurgische Behandlung von Ano-malien. Die grundsätzlichen dento-basalen Be-handlungsziele ergeben sich jedoch -wie bei jedemanderen kieferorthopädischen Fall- durch Anwen-dung der Zahnstellungsanalyse, auch wenn sie bis-weilen zum Vorteil des Patienten in der gemeinsa-men Planung modifiziert werden.

BehandlungskonzeptFür die Korrektur der sagittalen und vertikalenbasalen Kieferfehlstellung ist ein operatives Vor-gehen im Sinne eines bimaxillären Eingriffs not-wendig. Die Notwendigkeit des bimaxillären Vor-gehens mit sagittaler Spaltung des Unterkiefers undOsteotomie des Oberkiefers auf LeFort I-Ebene er-geben sich aus dem großen Ausmaß der sagittalenAbweichung und aus der offenen basalen Relation.Nachdem das skelettale Behandlungsziel bestimmtist, kann das Konzept der perioperativen kiefer-orthopädischen Behandlung festgelegt werden.Dazu müssen präoperativ die Zahnbögen einandervor allem in der Breite angepaßt werden und dieAchsenneigungen der Inzisivi entsprechend derdento-basalen Analyse eingestellt werden.

In diesem Fall müssen also im Oberkiefer Zähneextrahiert werden, um die Retrusion der Inzisivi unddie Auflösung des Engstandes zu ermöglichen. ImUnterkiefer wird die Protrusion der Inzisivi genü-gend Platz schaffen, um den frontalen Engstand auf-zulösen. Der kieferorthopädische Behandlungsplansieht also zur Vorbehandlung dieses Klasse III-Fallszunächst die isolierte Extraktion von 2 Prämolaren

Klinische Beispiele

Abb. 187 Unterkiefer-Alveolarfortsatz: kaum Knochenvestibulär der Inzisivi-Wurzeln

_

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

im Oberkiefer und die Einstellung derkorrekten Frontzahnposition in Ober- undUnterkiefer vor.

Es ergibt sich für den Kieferorthopädenin diesem speziellen Fall jedoch ein Pro-blem bei der Protrusion der unterenInzisivi: wie in Abbildung 187 zu sehen,ist der Alveolarfortsatz im Bereich derUnterkieferfront extrem schmal, und esgibt fast keinen Knochen vestibulär derWurzeln. Dieser Befund erklärt auch dieklinisch sichtbare Neigung zu Rezessio-nen. Aus diesen Gründen erscheint esungünstig, das geforderte Maß anProtrusion durchzuführen. Alternativwird von kieferorthopädischer Seite vor-geschlagen, einen unteren Frontzahn zu extrahie-ren und nur geringfügig zu protrudieren. Bei dererforderlichen, erneuten gemeinsamen Planungdes Falls mit dem Kieferchirurgen ergibt sich einmodifiziertes operatives Konzept mit anderenWerten für die skelettalen Variablen. Damit mußauch die Zahnstellungsanalyse erneut durch-geführt werden. Dadurch wird deutlich, daß diekieferorthopädische (Vor-)Behandlung eines der-artigen Falles ohne vorherige Festlegung des chir-

urgischen Behandlungskonzeptes nicht möglich

ist.

Postoperativ muß dann die erreichte skelettaleSituation retiniert werden. Dies geschieht durchgezielt angewendete intermaxilläre Gummizüge(Scheuer 1993) bis sich die orofazialen Weich-teile an die neue Situation angepaßt haben. Dienachfolgende Feineinstellung und kieferortho-pädische Retention unterscheiden sich wenig voneiner konventionellen kieferortho-pädischen Be-handlung.

Abb. 189 Patient B.S. nach der Behandlung (Operation:Prof. W.-J. Höltje)

Abb. 188 Fernröntgenseitenbild zum Zeitpunkt derNachkontrolle.

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Klinische Beispiele

Abb. 190 Intraoraler Zustand bei der Nachkontrolle

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

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Page 154: Segner & Hasund [1998] Individualisierte Kephalometrie

153

I. Index

II1-Malokklusion 126

II2-Malokklusion 53, 133

III 1441-1 63, 941-NAmm 371-NA° 35, 611-NBmm 371-NB° 35, 622 Prämolaren Extraktion 138A-Punkt 17Akzeptable Kompromisse 91ANB-Winkel 49, 92Angle 67Anode 8anteriore Schädelbasis 108anteriore Grenze 123Apposition 25Ar 22Artikulare 22Ästhetik 96Ästhetische Aspekte 121Ausgleichsmechanismus 50B-Punkt 20, 45Ba 16Basale Normen 84Basaler Trend 113Basion 16Baumrind 105Bias 43biologische Variation 69Björk 54, 105Canalis mandibularis 106Clivus 16, 57, 78Clivus-Linie 26Columella 24Columella-Tangente 27Columella-Tangentenpunkt 24Computerunterstützte Messung 39Cranio-facial association 69ctg 24Dahlberg 45

Literatur und Index

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Dekompensation 114, 147Dentale Normen 90Digitalisiertablett 40Digitizer 40Disharmonie 69, 77, 80Disharmonie, vertikale 81Divergenz 8Dokumentationspflicht 12Doppelkonturen 30DP3u 102Dysfunktion 93Einstellung des Patienten 11Engstand 118, 123, 139Erwartungswert 70Extraktion 90, 114Fehlerkontrolle 42Filmhalterung 7Filmmaterial, 10FKO-Gerät 116Fließende Normen 91Fokus-Film-Abstand 9Foramen magnum 16Fossa articularis 57Frontzahnstellung 119Frontzahnstellungsanalyse 123Funktionskieferorthopädie 94, 110Geometrische Abbildungsfehler 8Gesichtshöhen 65Gesichtstyp 72, 89, 112Gn 21Gn-tgo-Ar 57Gnathion 21, 46Gonion-Tangentenpunkt 23Greisenhaftes Aussehen 121Grenzen der Behandelbarkeit 115Grenzen 89Groß 129H-Winkel 36, 59, 96Handwurzelaufnahme 100Hansagerät 131Harmonie 68, 69, 72, 112

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Harmonie, sagittale 78Harmonie, vertikale 78Harmoniebox 77Headgear 80, 94High angle case 80Holdaway 59, 96Holdaway-Differenz 92Holdaway-Linie 26Holdaway-Winkel 59Houston 45, 108Iia 21Iis 21Index 65Interbasiswinkel 56, 80Interinzisalwinkel 63, 94Inzision inferius 21Inzision superius 19Isa 19Iss 19Ist-Position 124Kieferorthopädisch-kieferchirurgische Behand-lung 114, 120Kieferwinkel 57, 106, 117Klasse I 139Klasse III 144Kompensationsmechanismen 89Kondylenform 106Kontrolle von Meßfehlern 42Kooperation 119Kopf-Kinn-Kappe 117Kopfhalterung 7Kopfhaltung 7Korrelationskoeffizient 70Langzeituntersuchung 110Leitende Variable 91Lingualbogen 142Lippenprofil 121Lippenrot 60, 121Mandibularlinie 25Maskierung 113Maxilla 73maximaler Fehler 44Menton 21

Meßfehler 78Mittelgesicht 74Mittelgesichtshöhe 38Mittelwert 44, 67ML 25ML-NL-Winkel 80ML-NL-Winkel 56ML-NSL-Winkel 53, 80MP3= 101MP3cap 102MP3u 103N 15„N“ 66N-Sp’ 38NA-Linie 25Nasallinie 25Nasenboden 25Nasion 15Nasion-Sella-Linie 25Nasolabialwinkel. 60, 96, 121, 122Natürliche Kopfhaltung 7NB-Linie 26Neigung 73Neigung, Oberlippe 27NL 25NL-NSL-Winkel 55, 80Nomogramm 94Norderval 92Norm, individuelle 71, 89Norm 67Normalverteilungskurve 44NPg-Linie 26NSBa-Winkel 57, 77, 78NSL 25„O“ 66„O1“-Fälle 117Oberlippen-Tangente 27Oberlippenpunkt 24Ødegaard 105Ohroliven 7Opistognathie 50orthognathische Chirurgie 144Pg 20

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Literatur und Index

PgNBmm 37, 64, 92Phalange 100Platzproblematik 90Plotter 40Pm 18Pogonion 20Positioner 142PP2= 100PP3u 102prä-pubertaäres Minimum 98Prediction tracing 147Prognathiegrad 47, 73Prognose 109Prothetik 5Protrusionsplatte 137Pterygomaxillare 18pubertäres Maximum 98Punktwolke 45, 70r 70Ramus-Linie 26Referenzkollektiv 67Referenzlinien 25Referenzpunkte 13Restfehler 42Restvarianz, 71Restwachstums 98Retention 118Retentionsaktivator 138Retentionsphase 98retrognath 89Retroposition 64, 79Röntgenaufnahmetechnik 7Röntgendichte 10Rotation 104Ru 103S.E. 92S 14, 101Schädelbasiswinkel 57Schwarz, A.M. 5Segner 92sekundäre Geschlechtsmerkmale 99Sella 14Sesamoid 101

Skieller 105SM 20Sn 24SNA-Winkel 47SNB-Winkel 48SNPg-Winkel 53Soll-Position 124Solow 69Sp 17Sp’ 23Sp’-Gn 38Spina nasalis posterior 18Spina nasalis anterior 17SS 17Standardabweichung 44, 67Standardfehler der Schätzung 92Steckdosennase 60Steiner 91Streuung 43Strippen 124strukturelle Methode 105Stupsnase 60Subnasale 24Subspinale 17Supramentale 20Systematischer Fehler 43„T“ 66Teuscher 119tgo 23Translation 104Traumagefahr 128Überlagerung 108Ul 24Ullstein 92Unabhängige Variable 91Unschärfe 10Unterbrechung der Behandlung 115, 118Untergesicht 74Untergesichtshöhe 38Utility-Arch 137Vergrößerung 8Vergrößerungsfaktor 8, 92Verstärkerfolie 10

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SEGNER/HASUND Individualisierte Kephalometrie

Vormelker 92Wachsbiß 12Wachstum 94, 98, 118Wachstumsintensität 98Wachstumsrichtung 104Weichteil-Normen 96Weichteil-Pogonion 24Weichteil-Referenzlinien 26Weichteildicke 59, 96Weichteilfilter 11Weichteilprofil 121Winkelmesser 33WPg 24Zahnarzt 5Zahnbreiten 129Zinksalbe 11Zufälliger Fehler 43Zuverlässigkeit 45Zuverlässigkeitskoeffizient 45Zwangsbiß 12