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Arzneimittelmanagement im Alter: Ist individualisierte Arzneimittelversorgung die Lösung? 14. Europäischer Gesundheitskongress München 30. September 2015

Ist individualisierte Arzneimittelversorgung die Lösung? · Diagnosen nur auf verbal kommunizierte Information gestützt. Diagnosen enthalten keine neurobiologischen Daten

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Page 1: Ist individualisierte Arzneimittelversorgung die Lösung? · Diagnosen nur auf verbal kommunizierte Information gestützt. Diagnosen enthalten keine neurobiologischen Daten

Arzneimittelmanagement im Alter:

Ist individualisierteArzneimittelversorgung die Lösung?

14. Europäischer Gesundheitskongress München

30. September 2015

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Die Behandlung der Depression mit Antidepressivaist ein Modellfall für das große Potential der individualisierten Arzneimittelversorgung

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Depression

• Wird zur größten sozioökonomischen Belastung in Industrieländern

• Ist ein Risikofaktor für im Alter sehr häufig auftretende Erkrankungen:

Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes und neurodegenerative Erkrankungen

(z.B. Parkinson, Alzheimer)

• Ist eine potentiell tödliche Erkrankung: Jedes Jahr sterben 1 Mio. Menschen an Suizid.

In Deutschland sterben alle 2 Stunden 3 Menschen wegen Suizid

• Ist eine potentiell tödliche Krankheit: Fast jeder zweite Suizident ist älter als 60 Jahre

(bei Berücksichtigung der sogenannten verdeckten Suizide ist die Zahl noch größer)

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Antidepressiva sind das Mittel der Wahl zur Depressionsbehandlung auch im Alter

• Es fällt vielen Patienten schwer zu akzeptieren:

Antidepressiva führen bei optimaler Auswahl,

Kombination und Dosierung bei 70% der Patienten

zur Heilung

• Aber:

– Es dauert ZU lange bis sie wirken

– Sie wirken bei ZU wenigen

– Sie haben ZU viele Nebenwirkungen

• Und:

Sie unterscheiden sich in ihrem Wirkmechanismus

nur gering

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Effektstärke von Psychopharmaka im Vergleich zu anderen Medikamenten: Metaanalysen

Die Effektstärken

unterscheiden sich

nicht

aber:

Absolute Responder-

differenz aktive

Substanz versus

Placebo: nur 10-15%

Medikamente aller

medizinischer

Fachrichtungen außer

Psychopharmaka

Psychopharmaka

Metaanalysen

Medikamente für 20

medizinische

Erkrankungen

Medikamente für 8

psychiatrische

Erkrankungen

94

48

16

Aber:Antidepressiva werden an Patienten geprüft, die meist jünger als 65 Jahre sind und außer der

Depression keine andere Krankheit haben. Dies entspricht nicht der Realität in Klinik und Praxis.

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Rückzug der Pharmaindustrie von Forschung und Entwicklung innovativer Antidepressiva

• Zunehmende Akzeptanz psychischer Erkrankungen

• Medikamentenverschreibungen nehmen stark zu, aber

• Hohe Investitionen in öffentliche und private Forschung haben keine besseren Medikamente hervorgebracht

Marktwachstum

Umsatzerlöse sinken

Marktsättigung mit Generika

Falsche Entdeckungs- und Entwicklungsstrategien

Die Entwicklungs-Pipelines sind fast leer.

Große Innovationen sind nicht absehbar

Eine präzise, auf die Patientengruppe mit gemeinsamem Krankheitsmechanismus

orientierte Medikamentenforschung

• Die Folge:

Die Lösung:

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Hemmnisse für Innovation in der Antidepressivaforschung

• Der wirtschaftliche Erfolg:

2005 war der Gesamtumsatz von Antidepressiva etwa 20

Milliarden Euro. Das hat Risikoscheu hervorgerufen

• Der diagnostische Ansatz:

Diagnosen nur auf verbal kommunizierte Information gestützt.

Diagnosen enthalten keine neurobiologischen Daten

• Der therapeutische Ansatz:

Depression als kollektive Normabweichung

Baseballmützen-Strategie: „one-size-fits-all”

Blockbuster

Diagnosen sind unspezifisch

Blockbuster sind unspezifisch

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Stress erhöht die Freisetzung von CRH aus Nervenzellen, die uns “fit” zum bewältigen der bedrohlichen Situation machen

CRH

Erhöhung der

Stresshormone

erst im Gehirn,

dann im ganzen

Körper

Erhöhung von

Ängstlichkeit,

Verlust von Appetit,

Schlaf und sexuellem

Interesse

Erhöhtes Risiko

an einer

Depression zu

erkranken

Stress

Zeit © Wikimedia Commons

Mit Gentests und

Biomarkern

identifizieren wir,

wer ein „CRH“-

Problem hat

CRHR1-Blocker sind

das Mittel der Wahl

bei CRH-

Überaktivität

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Präklinische Forschung: Im Gehirn CRH-überexprimierende Mäuse zeigen Verhaltensänderungen.

Diese werden durch einen CRH-Rezeptorblocker (CRHR1) normalisiert

CRH-überexprimierende Mäuse als Testmodelle für Medikamente, die auf CRH gerichtet sind

Behandlung mit dem CRHR1 Antagonisten DMP 696

Verhaltensexperiment zur Testung

antidepressiver Wirkung

Tag 1 Tag 2 Tag 1 Tag 2

wildtyp Kontrolle

transgen (heterozygot)

transgen (homozygot)

25

© Max-Planck-Institut f. Psychiatrie

CRH-überexprimierende Mäuse zeigen Veränderungen im Schlaf-Elektro-encephalogramm (Schlaf-EEG),

die Analogie zum Schlaf-EEG vieler Patienten mit Depression aufweisen

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Die neue Strategie: CRHR1-Antagonisten

• Abkehr von der “Blockbuster”-Philosophie: “One size fits all”

• Beschränkung auf Patienten, bei denen Veränderungen des CRH/CRHR1 Signalwegs

krankheitsverursachend sind

• Anreicherungskonzept:

Genetische Charakteristika helfen diejenigen Patienten zu identifizieren, bei

denen im Erkrankungsfall CRH erhöht ist (trait)

Schlaf-EEG-Messungen zeigen erhöhte CRH → CRHR1 Signalintensität an

(state)

Durch Gentests und Biomarker (Schlaf-EEG) können diejenigen Patienten

identifiziert werden, die auf CRHR1-Antagonisten gut ansprechen

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Kann sich die Gesellschaft die für das Individuum „maßgeschneiderte“ Personalisierte Medizin leisten?

Verbreiteter Irrtum:

Richtig ist:

Hoher Return of Investment!

Ja sie kann!

Personalisierte Medizin ist teuer für das

Gesundheitssystem und ohne Gewinnchancen für

die Industrie

Entwicklung von neuen „Blockbustern“ ist sehr teuer

und mißlingt seit Jahrzehnten.

Personalisierte Medizin entwickelt Medikamente die

wesentlich (50%) billiger sind, weil durch Stratifizeirung

viel kleinere Patientenzahlen für den Nachweis der

Wirksamkeit reichen

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• Die meisten älteren Menschen nehmen mehr als drei verschiedene Medikamente ein

• Klinische Prüfungen berücksichtigen Arzneiinteraktionen nicht, da Patienten rekrutiert

werden, die nur an der Krankheit leiden, gegen die das Prüfpräperat getestet wird.

• Durch Arzneimittelinteraktionen entstehen Wirkabschwächungen und Nebenwirkungen,

die bei älteren Patienten riskant sind

• „Therapeutisches Drug Monitoring“ (TDM), d.h. Wirkstoffanalyse im Plasma ist der

Cytochrom P450 Isoenzymanalyse vorzuziehen

• Gerade im Alter ist die Wahl des am besten geeigneten Medikaments wichtig um Anzahl

und Dosierung niedrig halten zu können (Leberstoffwechsel; Nierenfunktion)

Die Multimorbidität im Alter erfordert Polypharmazie

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• Nach oraler Gabe muss das Antidepressivum den Magen-Darm-Trakt passieren, der

Abbau in der Leber darf nicht kurzfristig erfolgen und die Blut-Hirn-Schranke muss

passiert werden

• Das Gehirn durchziehen feine Blutkapillaren (>600 km!), in deren Gefäßwänden

„Wächtermoleküle“ (P-Glykoproteine) sind, die den Eintritt der meisten Antidepressiva in

das Gehirn erschweren

• Die „Wächtermoleküle“ werden vom ABCB1-Gen kodiert, das bei Menschen Varianten

aufweist, die seine Funktion bestimmen

• Je nach Genvarianten (Genotyp) kann das gegebene Antidepressivum, sofern es an das

P-Glykoprotein bindet, leicht oder schwer die Blut-Hirn-Schranke passieren

ABCB1-Test zur Abschätzung der Bluthirnschrankenfunktion

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Die Struktur des P-Glycoproteins zeigt die molekulare Grundlage der Schutzfunktion, die den Transport von Medikamenten bestimmt

Allen et al.,Science, 2009

P-Glycoprotein kodiert durch ABCB1

ATP

Blutgefäß

Blut-Hirn-Schranke

Hirngewebe

NBD

NBD

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Genetisch festgelegte Effizienz der “Wächtermoleküle” bestimmt die klinische Wirkung von Antidepressiva

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ABCB1-Test basierte Antidepressivabehandlung ist der erste Schritt zur individualisierten

Depressionstherapie – Vorteile für Patienten und Ärzte

• Bessere Voraussage, ob das Medikament wirken

wird

• Höhere Remissionsraten und dadurch weniger

Rezidive

• Schnellerer Wirkungseintritt

• Entscheidungshilfe für Arzt durch Labordiagnostik

hilft dem Patienten

Vorteile für Patienten und Ärzte

0

20

40

60

80

100

Ohne ABCB1-Test Mit ABCB1-Test%

der

rem

itti

erte

n P

atie

nte

n

p < 0.005

Remissionsrate für ABCB1-getestete und nicht-getestete Patienten

SCHNELLER RICHTIG

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Behandlung mit Antidepressiva, die nicht Substrate des

P-Glykoproteins sind

Durch ABCB1-Test “schneller richtig”

Behandlung mit Antidepressiva, die Substrate des

P-Glykoproteins sind

ABCB1-Testung optimiert die Anwendung heute verfügbarer Behandlungsoptionen

substrates of P-glycoprotein

Time [weeks]

0 1 2 3 4 5 6

no

n-r

em

iss

ion

[%

]

0

20

40

60

80

100

C carrier (N=23)

non carrier (N=110)

ABCB1

Variante 2

ABCB1

Variante 1p = 0.00027

Behandlungsdauer

non-substrates of P-glycoprotein

Time [weeks]

0 1 2 3 4 5 6

no

n-r

em

iss

ion

[%

]

0

20

40

60

80

100

C carrier (N=26)

non carrier (N=72)p = 0.38

ABCB1

Variante 2

ABCB1

Variante 1

Behandlungsdauer

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Hemmnis für Fortschritt: Erforschung der Depression bei Tieren

In der Depressionsforschung sind wir mit heutigen Tiermodellen an Grenzen

gestoßen

Wir können einzelne Symptome (Angst, Schlaf) aber nicht die Krankheit

abbilden

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?

StressTrauma

Gene

Infekte

ErnährungAlter

Schlaf

Alkohol

Rauchen

Das menschliche Gehirn reagiert empfindlich auf äußere Einflüsse: Genetik und Epigenetik

Altern

Klinischer

Phänotyp

Die biologischen Folgen gravierender Einwirkungen von außen unterscheiden sich zwischen Mensch und Tiermodell

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Die Unterschiede in Größe und Komplexität der Gehirne verschiedener Säugetiere ist enorm

Maus Mensch

0,4 g, 70 Millionen Neuronen 1500 g, 90 Milliarden Neuronen

Humanes Hirn und Maushirn: > 1000- facher Unterschied

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Der Mensch ist das Maß

aller Dinge

Protagoras (490-411 B.C.)

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Vielen Dank für Ihr Interesse!

Florian Holsboer