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59 Sehen anschaulich gemacht: Verbluffende Einsichten in unsere Wahrnehmung ll Rainer Wolf und Dorothea Wolf Unbewuf3t ablaufende Stufen der Bildverarbeitung in unserem Gehirn kann man durch tiefenwerkehrtes Sehen im Selbstversuch analysieren. In rnehreren Schritten gelingt es, sowohl die Form als auch die Bewegung einer Hand, die sich abwechselnd dem Beobachter nahert und von ihm entfernt, tiefenverkehrt zu sehen. Uberraschenderweise funktioniert dabei die Groflenkonstanzleistung nicht mehr, und die wahrgenommene Groji3e der Hand andert sich - abhangig davon, ob das Gehirn die Wahrnehmung der Tiefenumkehr der Bewegmg unterdriickt oder nicht. Die Bildverarbeitung irn rnenschlichen Ge- hirn beruht einerseits auf ,,bottom-up"-Ver- rechnungen, bei denen die Sinnesinforma- tionen ausschliefllich aufgrund der einlau- fenden Sinnessignale ermittelt und weiter ver- rcchnet werden. Andererseits geht man auch von dcr Existenz von ,,top-down"-Prozessen aus, bei denen das Ergebnis hoherer kogni- river Verrechnungsstufen auf tiefere zuriick- wirkt, indem beispielsweise Sinnesdaten um- geeicht oder sogar ganz unterdriickt werden [2,5,6]. Hier hat sich die Psychoanatomze als fruchtbarer Forschungsansatz der Wahrneh- mungspsychologie erwiesen. Man betrachtet das Gehirn zunachst als ,,black box" und ver- sucht, mit Hilfe von Introspektion (Selbst- beobachtung) des Wahrnehmungsinhalts und dem Vergieich mit den vorliegenden Sinnes- reizen, fundamentale Prinzipien der Daten- verarbeitung aufzudecken. Die kunstliche Tiefenumkehr beim Stereosehen beispiels- weise erlaubt einfache Selbstversuche, die uberraschende Einblickc in die Arbeitsweise des eigenen Gehirns gewahren. Widerspriichliche Seh- informationen werden ohne unser Wissen unterdruckt Betrachtet man ruhende oder gar bewegte Objekte Live durch eine tiefenverkehrende Brille (Abbildung I), so ist man dariiber er- staunt, dai3 alles (jedenfalls anfangs) ziemlich normal aussieht. Dabei kann man sich sehr wohl verstandesmafiig klarmachen, wie exo- tisch der Anblick eigentlich sein miifire. Die ebene Plarte eines gedeckten Tisches beispiels- weise, den wir schrag von oben betrachten, ragt bei tiefenverkehrter Wahrnehmung uber- kippend schr;ig nach vome, so da8 alles Ge- schirr herunterfallen solite, und alle Teile lie- gen in Vertiefungen der Tischplatte, die sich ihnen dicht anschmiegt. Warum sehen wir das (anfangs) nicht? h i m tiefenverkehrten Sehen kollidieren die verschiedenen Mechanismen der Tiefenver- rechnung miteinander. Meist erweisen sich dabei die monokukzren Verrechnungsmecha- nismen wie Uberschneidungen, Bewegungs- parallaxe und Schattenwurf als dominant, ebcnso wie unser implizites Wissen von der Welt, wahrend die binokukzren Indizien beim raumlichen Sehen unrerdriickt werden [5, 7, 81. Infolgedessen erscheinen die meisten O b - jekte dem Beobachter normal und meist nur etwa weniger raumlich. In keiner Weise wird uns bewuk, dai3 hier so etwas wie ein ,Zen- surprozej3" in den Sehvorgang eingreift. Nach dem Schema ,,weil nicht sein kann, was nicht sein dadu neigt unser Gehirn dam, alle Seh- informationen zu ignorieren, die unserer All- tagserfahrung radikal widersprechen. So er- schreckend fremdanig die tiefenverkehrte Biologie in wnserer zeit / 25. JUhrg. 1995 / Nr. I 0 VCH Verkzgsgesellschaft mbH, 69469 Weinheim, 1995 0041i-205X/9510102-0059 $5.00 + .25/0 Welt sein kann - Versuche haben gezeigt, dai3 man praktisch a h tiefenverkehrt wahrneh- men kann, wenn man es nur lange genug auf- merksam betrachtet [12]! Mit Geduld stellen wir unser Gehirn auf die Probe Beobachtet man die eigene Hand durch eine tiefenverkehrende Brille, so gelingt es ste- reotiichtigen Menschen, sie tiefenverkehrt zu sehen - allerdings meist erst nach einer La- tenzzeit von einigen Minuten: Man erkennt die hohlen Halbfinger mit den konkav ge- formten Nageln (Abbildung 2). Wenn jedoch die Hand - sei es die eigene oder eine frernde - beginnt, sich dem Beobachter zu nahern oder sich von ihm zu endernen, fAlt es an- fangs schwer, sie wieder als hohle Form zu sehen. Und schon gar nicht gelingt es, ihre Bewegung tiefenverkehrt wahrzunehmen. In der Tat miifhe ja die Hand, wenn sie sich in Wirklichkeit von uns entfernt, in der Wahr- nehrnung naher kommen, und umgekehrt! Das siehc man (zunachst) iiberhaupt nicht. Die stereoskopischen Sinnesdaten fiir die Be- wegung zn der Tiefe werden hier also vollig unterdriickt. Das Ergebnis dieses unbewufiten ,,Zensur- prozesses" steht jedoch keineswegs ein fiir allernal fest. Durch beharrliches Betrachten

Sehen anschaulich gemacht: Verblüffende Einsichten in unsere Wahrnehmung II

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Sehen anschaulich gemacht: Verbluffende Einsichten in unsere

Wahrnehmung ll

Rainer Wolf und Dorothea Wolf

Unbewuf3t ablaufende Stufen der Bildverarbeitung in unserem Gehirn kann man durch tiefenwerkehrtes Sehen im Selbstversuch analysieren. In rnehreren Schritten gelingt

es, sowohl die Form als auch die Bewegung einer Hand, die sich abwechselnd dem Beobachter nahert und von ihm entfernt, tiefenverkehrt zu sehen. Uberraschenderweise funktioniert dabei die Groflenkonstanzleistung nicht mehr, und die wahrgenommene

Groji3e der Hand andert sich - abhangig davon, ob das Gehirn die Wahrnehmung der Tiefenumkehr der Bewegmg unterdriickt oder nicht.

Die Bildverarbeitung irn rnenschlichen Ge- hirn beruht einerseits auf ,,bottom-up"-Ver- rechnungen, bei denen die Sinnesinforma- tionen ausschliefllich aufgrund der einlau- fenden Sinnessignale ermittelt und weiter ver- rcchnet werden. Andererseits geht man auch von dcr Existenz von ,,top-down"-Prozessen aus, bei denen das Ergebnis hoherer kogni- river Verrechnungsstufen auf tiefere zuriick- wirkt, indem beispielsweise Sinnesdaten um- geeicht oder sogar ganz unterdriickt werden [2 ,5 ,6 ] . Hier hat sich die Psychoanatomze als fruchtbarer Forschungsansatz der Wahrneh- mungspsychologie erwiesen. Man betrachtet das Gehirn zunachst als ,,black box" und ver- sucht, mit Hilfe von Introspektion (Selbst- beobachtung) des Wahrnehmungsinhalts und dem Vergieich mit den vorliegenden Sinnes- reizen, fundamentale Prinzipien der Daten- verarbeitung aufzudecken. Die kunstliche Tiefenumkehr beim Stereosehen beispiels- weise erlaubt einfache Selbstversuche, die uberraschende Einblickc in die Arbeitsweise des eigenen Gehirns gewahren.

Widerspriichliche Seh- informationen werden ohne unser Wissen unterdruckt

Betrachtet man ruhende oder gar bewegte Objekte Live durch eine tiefenverkehrende Brille (Abbildung I), so ist man dariiber er-

staunt, dai3 alles (jedenfalls anfangs) ziemlich normal aussieht. Dabei kann man sich sehr wohl verstandesmafiig klarmachen, wie exo- tisch der Anblick eigentlich sein miifire. Die ebene Plarte eines gedeckten Tisches beispiels- weise, den wir schrag von oben betrachten, ragt bei tiefenverkehrter Wahrnehmung uber- kippend schr;ig nach vome, so da8 alles Ge- schirr herunterfallen solite, und alle Teile lie- gen in Vertiefungen der Tischplatte, die sich ihnen dicht anschmiegt. Warum sehen wir das (anfangs) nicht?

h i m tiefenverkehrten Sehen kollidieren die verschiedenen Mechanismen der Tiefenver- rechnung miteinander. Meist erweisen sich dabei die monokukzren Verrechnungsmecha- nismen wie Uberschneidungen, Bewegungs- parallaxe und Schattenwurf als dominant, ebcnso wie unser implizites Wissen von der Welt, wahrend die binokukzren Indizien beim raumlichen Sehen unrerdriickt werden [5, 7, 81. Infolgedessen erscheinen die meisten O b - jekte dem Beobachter normal und meist nur e twa weniger raumlich. In keiner Weise wird uns bewuk, dai3 hier so etwas wie ein ,Zen- surprozej3" in den Sehvorgang eingreift. Nach dem Schema ,,weil nicht sein kann, was nicht sein dadu neigt unser Gehirn dam, alle Seh- informationen zu ignorieren, die unserer All- tagserfahrung radikal widersprechen. So er- schreckend fremdanig die tiefenverkehrte

Biologie in wnserer zeit / 25. JUhrg. 1995 / Nr. I 0 VCH Verkzgsgesellschaft mbH, 69469 Weinheim, 1995 0041i-205X/9510102-0059 $5.00 + .25/0

Welt sein kann - Versuche haben gezeigt, dai3 man praktisch a h tiefenverkehrt wahrneh- men kann, wenn man es nur lange genug auf- merksam betrachtet [12]!

Mit Geduld stellen wir unser Gehirn auf die Probe

Beobachtet man die eigene Hand durch eine tiefenverkehrende Brille, so gelingt es ste- reotiichtigen Menschen, sie tiefenverkehrt zu sehen - allerdings meist erst nach einer La- tenzzeit von einigen Minuten: Man erkennt die hohlen Halbfinger mit den konkav ge- formten Nageln (Abbildung 2) . Wenn jedoch die Hand - sei es die eigene oder eine frernde - beginnt, sich dem Beobachter zu nahern oder sich von ihm zu endernen, fAlt es an- fangs schwer, sie wieder als hohle Form zu sehen. Und schon gar nicht gelingt es, ihre Bewegung tiefenverkehrt wahrzunehmen. In der Tat miifhe ja die Hand, wenn sie sich in Wirklichkeit von uns entfernt, in der Wahr- nehrnung naher kommen, und umgekehrt! Das siehc man (zunachst) iiberhaupt nicht. Die stereoskopischen Sinnesdaten fiir die Be- wegung zn der Tiefe werden hier also vollig unterdriickt.

Das Ergebnis dieses unbewufiten ,,Zensur- prozesses" steht jedoch keineswegs ein fiir allernal fest. Durch beharrliches Betrachten

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einer Hand, dic sich abwechselnd entfernt und dann wieder dern Beobachter niihert, kann man eine schrittweise Annaherung an eine vollstandige 7iefenurnkehr erleben. Zunachst geling es, Teile der Hand tiefenverkehrt zu se- hen: ein Stuck Finger, die Fingerkuppc, dic Handflache. Bald darauf wird meist die ge- samte Hand in ihrer Form tiefenverkehrt wahrgenommen, nicht aber ihre Bewegung. In dieser Phase unseres Experiments sieht man die Hand anwachsen, whrend sic sich real nahert, und schrumpfen, wenn sie sich ent- fernt. Miflt man die Versuchsparameter aus und vergleicht damit die Groflenanderungen, die von Versuchspersonen gemeldet werden, so stellt sich heraus, daB die wahrgenornmene Gro8e sich durchschnittlich im selben Mag Pndert wie das Netzhautbild der Hand [I 11.

Erst nach bis zu einstundiger, geduldiger Be- obachtung kann es gelingen, auch die Bewe- gung der Hand tiefcnverkehrt zu sehen. Und vom selben Moment an stellt man uberrascht fest, da8 die Hand sich nun genau doppelt so stark ausdehnt wie zuvor, aber im umgekehr- utn Rhythmus: Sic schrumpft, wenn sie sich dem Beobachter zu nahern scheint, und dehnt sich gewaltig aus, wahrend sic sich scheinbar cntfernt! Die Hand verhalt sich gerade so wie der Scheinriese Tur-Tur in Michael Endes Kindergeschichte von Jim Knopf. Wie kommt es zu dieser unglaublichen Gro8en- anderung?

Nutzen und Gefahren der lntrospektion

So faszinierend und ubenvaltigend echt uns Selbsterlebtes in solchen Wahrnehmungs- experimenten erscheint: Man mug sich immcr vor Augen halten, daR lntrospektion eine unzuverlassige Erkenntnisquclle ist, die mit groRcr Vorsicht ausgewertet werden mug, will man nicht auf dem Gebict der Esoterik landcn 191. Dafl aber bei unserem Versuch die Wahrnchmung der tiefenverkehrtcn Bewe- gung von einern ganzlich unerwarteten Wech- sel der Objektgrofle beglcitet ist, von der alle unsere Versuchspersonen ubereinstimmend berichtcten, bestatigt, dafl die Tiefenumkehr der Bewegung, die sie dabei introspektiv er- lebutn, genuin war und kcine suggestive Selbsttauschung [ I l l .

Die GroiSenkonstanzleistung wird falsch eingesetzt

Die beobachtete Grogenpulsation der Hand ist namlich eine unausweichlichc Folge unse-

Abb, 1. Einfache Brillen zum tiefenverkehr- ten Sehen, die man leicht selbst bauen kann (Verkleinerungsmafistab 1 : 3). Die Spiegel- brille (a) Iiefert ein tiefenverkehrtes seiten- richtiges Bild. Bei ihr sollte zumindest der kleine Spiegel (ca. 35 x 30 mm) oberflachen- verspiegelt sein, damit keine Doppelbilder entstehen; man kann 2. B. den Spiegel aus einer ausgedienten Spiegelreflexkamera verwenden. Als grofser Spiegel ist ein nor- maler Taschenspiegel (ca. 90 x 75 mm) ge- eignet. Man kann beide Spiegel genau senk- recht an passende Holzblockchen kleben, die dann mit Doppelklebeband auf einern Grundbrettchen befestigt werden, oder man debt die Spiegel an je ein Scharnier, das aufien an einem alten BriIlengestell be- festigt wird (Zweikomponentenkleber!).

Funktionsprinzip: Das rechte Auge be- trachtet die Szene von weiter links als das linke Auge. Der geringe Groflenunter- schied zwischen den Bildern beider Augen fillt kaum ins Gewicht, sofern man nur Gegenstande ansieht, die weiter als 1 m ent- fernt sind. Eine andere Spiegelbrille, bei der zwei groflere Spiegel senkrecht in die Nu- ten eines Holzbrettchens gesteckt sind (b), winkelt den Strahl ab, so daf3 man um die Ecke schaut. Sie bildet - als Nebeneffekt - seitenverkehrt ab, ebenso wie die DOVE- PrismenbriIle (c). Diese besteht aus zwei

rechtwinkeligen Glasprismen (Kantenlan- gen 2 x 2 bis 5 x 5 cm), die mit Vaseline be- strichen werden, damit sie auf einer glatten Unterlage haften. Bei der abgewinkelten Einstellung (rechts) ist das nutzbare Ge- sichtsfeld groaer, und die Basisbreite (und damit die wahrgenommene Raumtiefe) ist nur unmerklich kleiner. Funktionsprinzip bei den BrilIen (b) und (c): Mit dem rechten Auge betrachtet man die Szene normaler- weise schrag von rechts; macht man diese Ansicht seitenverkehrt, so entspricht sie der Ansicht schrag von links, und das linke Auge erhalt entspreehend die Ansicht schrag von rechts. Die PECHAN-Prismen- brille (d) bildet seitenverkehrt und auf dem Kopf stehend ab - letzteres dient dazu, bekannte Objekte zu verfremden, damit sie leichter tiefenverkehrt wahrgenommen werden konnen [6], PECHAN-Dachkant- prismen sind in billigen, geradachsigen Taschenfernglasern enthalten. Sie konnen leicht als komplette Einheit ausgebaut und zum Schutz in passende Rohrchen gesteckt werden. Man klemmt sie im richtigen Augenabstand beweglich zwischen zwei HoIzbrettchen ein, mit denen man sie vor die Augen halt. PECHAN-Prismen eignen sich auch zum stereoskopischen Betrachten von verzerrt-punktsymmetrisch gestalte- ten Gemalden, die nur aus einem einzigen Stereohalbbild bestehen [lo].

Biologie in unserer Zeit / 25. Jahrg. I991 / Nr. I

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Das Experiment 61

res Konstanzleistungs-Algorithmus, dcr nor- malcrweise dafur sorgt, daC gleich groRe Din- ge, die unterschiedlich weit von uns entfernt sind, gleich groB erschcinen, obwohl ihr Nctzhautbild verschieden groR ist. 1st in un- serem Experiment die Hand in Wirklichkeit fern, erzeugt sie ein kleineres Netzhautbild. Durch die tiefenvcrkehrende Brille wird sic aber als nah abgebildet. Folglich konvergie- ren die Augen stark, d. h. die Augenachsen ubcrkreuzen sich in der Nahe. Der groCe Konvergenzwinkel aber cicht die GroRcn- skala so, dafl das Bild in der Wabrnebmung nochmals verkleincrt wird. Denn das Gehirn erwartet ja cin nahes Objckt, also ein entspre- chend grofies Netzhautbild, das aus Griinden der Groflenkonstanz kleiner wahrgenommen werden sollte. Entsprechendes gilt, wenn die Hand in Wirklichkeit nah ist. Die Groflen- konstanzlcistung funktioniert also gerade falscb herum, sie arbcitet mit umgekehrwn Vorzeichen [ 1 I]! Erstaunlicherweise gelingt es, die Hand, die sich tiefcnverkehrt bewcgt, sowohl scharf zu sehcn, als auch zu fusionie- rcn (d. h. als cin einheitlichcs raumlichcs Objekt wahrzunehmen). Dies bewcist, daR Akkomodation und Konvergenz uberra- schenderwcisc auch umgekehrt miteinander gekoppelt werden konncn, also anders als beim normalen Schen.

Unser Gehirn interpretiert die Sehdaten

Warurn aber pulsierte die Hand, als wir die tiefenvcrkehrte Bewegung noch nicht wahr- nahmen, in ihrer Grode umgekehrt und scbw;icber? Wohlgemerkt, es lagen visuell stets identiscbe Bedingungen vor, denn dic Augen folgten in jedem Fail der Hand in ihrer tiefcnverkehrten Bewcgung. Folglich muR im Gehirn die GrliPenkonsranzleistung, dic auf der (dynamischen) Konvergenz beruht, aus- gescbaftet gewesen sein, solangc die Tiefen- umkehr dcr Bewegung vorn Gehirn nicht akzcptiert wurde. Obwohl die Augenachsen nach wie vor abwcchsclnd konvergicrtcn und sich parallel stellten, wurde dieser Umstand bei dcr Bildvcrarbeirung also nicht - wie sonst ublich - zur GroRenkorrcktur benutzt. In dieser Phasc konnte man etwas erleben, was man normalcrweisc nicht wahrnimmt: die reale, unkorrigierte Groflenanderung des eigcncn Netzhautbildes [2 ] ! Die Interpretati- on des einlaufenden Bildes, die unser Gehirn hier ohne unser Wissen vornimmt, enrschci- det also dariiber, welche Algorithmen bei der Vcrrechnung eingesetzt wcrden, und damit dariiber, was wir letzrlich zu sehen bckom-

Abb. 2. Wie man eine Dummy-Hand durch eine tiefenverkehrende Brille sieht. Die Ste- reohalbbilder Iassen sich durch ,Zusam- menschielen" (siehe Teil 1; BIUZ 24, Heft 6 1994) z u m Raumbild einer ,hohlen Hand" fusionieren.

Abb. 3. Durch ,Zusammenschielen" des pseudoskopischen Bildpaars entsteht ein tiefenverkehrtes Raumbild, bei dem der - hier naturlich ruhende - waagerechte Zweig ein ,,Loch" i n den Hintergrund schneidet.

Biologie m mserer Zeit 125. Jahrg. 1991 1 Nr. I

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men. Dies gilt sogar dann, wenn wir ein Auge schlielen, also gar keine raumlichc Informa- tion mehr erhalten. Haben wir zuvor beide Wahrnehmungsalternativen erlebt, dann se- hen wir auch einaugig entweder die echte Be- wegung der Hand und ihre Groflenanderung gemaB der Anderung ihres Netzhautbildes, oder - alternativ - die tiefenverkehrte Bewe- gung, bei der dic Grolenandemng der pendelnden Hand proportional zum Quadrat der Grole des Netzhautbildes ist (,,bistabile Wahrnehmung").

Unset stereoskopisches Sehen lauft uber verschiedene Verarbeitungskanale Bei unserem Experiment stellen wir fest,.dal wir zeitweise tiefenverkehrte Formen wahr- nehmen, aber nicht die tiefenverkehrte Bave- g m g , oder umgekehrt. Das bedeutct: Diesel- be stereooptische Information, die in den ein- deutigen Disparitarsdaten (den Unterschie- den zwischen den beiden Netzhautbildern) enthalten ist, wird von unserem Gehirn bei der Berechnung von Form und Bewegung unterschiedlich gewichtet. Form und Bewe- gung werden also unabhangig voneinander berechnet, in (mindestcns) zwei verschiede- nen, hierarchisch unabhangigen Verarbei- tungskanulen [I, 3, 4, 111. Unsere Versuchs- reihen zcigtcn, da13 die Bewegung der sich entfernenden Hand eher tiefenverkehrt wahr- genomrnen wird afs die umgekehrtc Be- wegung. Fur Bewegungen vorn Bcobachter weg und zu ihm hin mussen also wiederum verschiedene Verrechnungsmechanismen zu- standig sein, die sich psychophysisch durch unterschiedlich starke Unterdriickung der Tiefenumkehr unterscheiden lassen [Ill.

Was wir durch lntrospektion noch lernen konnen

Wenn wir uns bei unserem Experiment relativ zu einem tiefenvcrkehrt betrachteten Objekt seitwarts bewegen, kommt es zu ungewohnli- chen uberschneidungen. Real ferne Objekte, die von nahen Gegenstanden zunehmend ver- deckt werden, scheinen sich kontinuierlich in Nichts aufzulosen und aus dern Nichts plotz- lich wieder zu erscheinen, denn sie werden ja nuher wahrgenornmen als die verdcckenden Gegenstande, konnen also - so schlieflt unser Gehirn unbewult-,,ratiornorph" [5] - gar nicht verdeckt sein.

Noch etwas fallt auf, wenn man die Invert- brille benutzt. Betrachtet man beispiclswcisc

Abb. 4. Durch eine tiefenverkehrende Brille betrachtet, konnen rrinzelne Eilder einer Bildergalerie raumlich umschlagen: Das wahrgenommene Bild ist dann ein Mosaik aus tiefenrichtigen und tiefenverkehrten Abschnitten.

einen waagercchtcn Zweig, der vor einer Hecke im Wind auf und ab schaukelt (Abbil- dung 3), dann ist das ,,Loch", das der Zweig in die tiefenverkehrt wahrgcnommene Hccke schneidet, brciter als dcr Zweig sclbst! Der Lochrand hinter dcm schwankenden Zweig ,,zieht nach" wie von eincr tragen Vidcoka- mera aufgenommen, und die Breite des Loches wachst linear rnit der Geschwindig- keit, mit der sich der Zweig bewegt. Der Leser ahnt schon die Ursache dieses Phano- mens: Offensichtlich ist es die Verarbeitungs- zeit, die unsere Tiefenverrechnungsstelle be- notigt, urn die tiefenverkehrte Gestalt zu ermitteln! Eki unseren Messungen betrug sie anfangs etwa 114 Sekunde [13].

Dime SchluRfolgemng setzt allerdings vor- aus, daR beim menschlichen Sehen die Wahr- nehmung nicht um den Betrag der Verrech- nungszeit vordatiert wird, wie das t ibet bcim Tastsinn nachgewiesen hat. (siehe [6]). In der Tat zeigt der Pulfrich-Effekt, dafl die bei dun- klen Bildern benotigten Iangeren Verrech- nungszeiten nicht durch Vordatieren kom- pensiert werden. (Der Pulfrich-Effekt ist zu beobachten, wenn man ein Pendel betrachtet, das quer zur Blickrichmng hin- und her- schwingt, und dabei vor ein Auge ein Grau- filter halt. Durch die zeitliche Verzogerung der Erregungsverarbeitung in diesem Auge

sieht man das Pendel auch ortlich nachhinken, so d a l es je nach Ekwegungsrichtung zu nah oder zu weit entfernt gesehen wird. Es scheint sich daher auf eincr elliptischen Bahn zu bewegen.)

Angesichts dieses erstaunlichen Nachzich- Effekts stellt sich die Frage, wamm wir beim normalen Stereosehen bewegte Formen nicbr verzogert wahrnehmen. Ursache hierfur ist vermutlich, da13 tiefenrichtige Objekte be- kannter sind als ticfenverkehrte und daher eine kurzerc Verarbeitungszcit benotigen. Auflerdcm konnte unser Gehirn ,Wahrnch- mungsliickcn" durch irnplizit GewuRtes aus- fullen, so dafl sie unscrer Aufmerksarnkeit entgehen [4,8].

Durch die seitcnrichtig abbildende Brille (Typ a) betrachret, dreht sich alles, was als tic- fenverkehrt wahrgenommen wird, mit dem Beobachter mit, und zwar mit der doppcltcn Winkelgeschwindigkeit [5]. Grund genug fur unser Gehirn, die Tiefenumkehr abzulchnen, sobald parallaktische Bewcgungen auftreten! Bci seitenverkehrter Tiefenumkehr dagegen (Brillentypen b - d) gibt es zwar nach wie vor ungcwohnliche Formen und Verdeckungen, aber die paraihktischen Verschiebungen sind wieder so, wie sie der Beobachter aufgrund seiner Eigenbewegung beim tiefenverkehrten

Biologie in unserer Zeit / 25. Jahrg. 1995 1 Nr. 1

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Ras Experiment 63

Objekt erwartet. Dieser Umstand erleichtert die Wahrnehrnung der Tiefenumkehr von Objekten, die in parallaktischer Bewegung beobachtct wcrden: Gcht man urn ein paar Zweige herum, die samt Umgebung tiefen- verkehrr wahrgenommen werden, so schei- nen sie dann relativ zu ihrer Umgebung zu ruhen, was sie ja in Wirklichkeit auch tun.

Auch die Information von der Bildperipherie ist von Bedeutung

Bei unserem Experiment mit der seitenrichtig abbildenden Brille (Typ a) kann man die Tie- fenurnkehr trotz falscher parallaktischcr Ver- schiebungen leichter wahrnehmen, wenn man das Gesichtsfcld augerhalb der bildvertau- schenden Prismen oder Spiegel, in dem man ja nach wie vor ganz normal tiefenrichtig sieht, rnit Klebesrreifen auf den Brillenglisern abdeckt. Die Bildperipherie kann also bci der Verrechnung von Bewegungsparallaxe eine wichtige RolIc spielcn, obwohl wir dort nur ganz unscharf sehen. (Bekanntlich wird nur im Bereich dcr Fovea, det Schgrube, scharf geschen, die der Flache des Daumennagels bei ausgcstreckter Hand entspricht!)

Unser Gehirn verlal3t sich auf die stammesgeschichtliche E rfa h r ung Obwohl man sich des Prozcsses, der einer Wahrnehmungszensur cntspricht, in keincr Weise bewudt ist, kann man seine Effektivitat anhand der Latenzzeiten und Erfolgsraten beirn tiefenverkehrten Sehen quantifizieren [12]. So kann man die vcrschicdencn, mon- okularen und binokularen Indizien fur raum- liche Tiefe in beliebiger Kombinarion so ein- setzcn, da8 sie zusammen- oder gegeneinan- der arbeiten. Auf diese Wcise findet man heraus, fur wic zuvertassig sie unser Gehirn (ohne unser Wissen) halt. Quantitative Un- tersuchungcn zeigen, daR die phylogenctisch junge Errungenschaft des Stereosehens von den bewahrten, evolutionar alten Tiefenin- dizien - wie Uberschneidungen, Bewegungs- parallaxe, Schattenwurf, Konstanzleisrung und der Bekannrheit gelernter Sehobjekte (der ,,familiarity") - leicht besiegt wird 151.

Wie das Gehirn das einlaufende Bild segmentiert

Bci naturlichen Objekten, die man durch einc tiefenverkehrende BriHe betrachtet, erkennt man einen ,,Flickenteppich" von tiefenrichti- gcn und tiefenverkehrten Details, wobei er-

stere mit der Zeit abnchmcn. So ist es bei- spielsweise moglich, kleine Abschnitte einer Hand tiefenverkehrt und andere gleichzeitig tiefenrichtig zu sehen. Blickt man schrag auf eine Reihe von Gemalden in einer Bildergale- rie, so kann es geschchen, dai3 man dasjenige, das man fokussiert, riefenverkehrt sieht, also trapezformig und in tiefenvcrkehrter Orien- tierung (Abbildung 4). Alle anderen aber cr- scheinen unveriindert normal, so dai3 die (ebene!) Wand dort plotzlich cine Stufe auf- zuweisen scheint. Am Muster der lokal ,,Zen- sierten" Bildbereiche kann man ablcsen, nach welchen GestaBPrinzipien das Gesichtsfeld bei der Bildanalyse untcrgliedert wird [2, 1 I]. Solche Selbstversuche, bci dencn wir quasi ,,dern Gehirn uber dic SchuIter schauen", er- lauben also ganz unerwartete Einsichten in seine Funktionsweise - in das, was man ge- meinhin iibcrsieht.

Literatur

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143 G. Roth (1994) Entstehung von Wahrch- mung und BewuBtsein irn Gehirn. BXUZ 24, 33 - 35. 151 R. Wolf (1985) Binokulares Sehen, Raumvcrrechnung und Raumwahrnchmung. Experimentalvorlesung als Videdofilm"),

[6] R. Wolf (1987) Dcr biologische Sinn der Sinnestauschung. Experimentalvorlesung als Videofilm*), BIUZ 17,33 - 49. [7] R. Wolf, D. Wolf (1990) Kein Sehen ohne Illusionen. Aus der Fernsehserie ,,Vom Reiz der Sinne". ZDF, Mainz. 181 R. Wolf, D. Wolf (1990) Vom Schen zum Wahrnehmen: Aus Illusionen entsteht ein Bild der Wirklichkeit. In: A. Maelicke (Hrsg.), Vom Reiz der Sinne. VCH, Weinheim. [9] R. Wolf (1993) Sinnestauschung und ,,New-Age"-Esotcrik: Aktuelle Parawissen- schaftcn kritisch betrachtct. Skeptikcr 4/93;

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137- 169.

BIUZ 15,161 - 178.

88 - 100.

stereopsis is ,,piecemeal": Independent deter- mination of shape and motion-in-depth, and their relationship to size constancy perform- ance. Spatial Vision (submitted). [12] R. Wolf, M. Scholcr, D. Wolf (1995) Binocular depth reversal is controlled by a censorship process based on familiarity cues. Spatial Vision (submitted). [13] R. Wolf, D. Wolf (1995) Computation times for stereopsis as determined by depth reversal of occluding objects in motion (in preparation).

")erhaltlich von den Autoren.

Rainer Wolf, geb. 1941, Studium der Biologic und Physik in Wiirzburg. Nach der Promotion 1968 Forsc hungstatigkeit am Heiligenberg- I n- stitut fur Experimen- telle 3iologie, ab 1972 am Zoologischen In- stitut der Universirat

Wiirzburg, 1985 Habilitation. Forschungs- aufenthalte in Eugene/Oregon und Moskau. Arbeitsgebiete: Experimentelle Analyse der Entwicklung von Insekren und Schleimpil- zen mit Zciaaffcr- und elektronenmikrosko- pischer Technik, Entwicklung neuer mikro- skopischer und expcrimentellcr Methoden sowie Untersuchungen zur Psychophysik dcs menschlichen Sehens.

Dorothea Wolf, geb. 1943, rnedizi- nisch-technische Assistentin und Malerin, arbeitet seit 1969 im Forschungs- team ihres Mannes.

Rainer und Dorothea Wolf, Biozentrum der Universitat, Am Hubland, 97074 Wiirzburg.

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