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Sehen Denken

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A combination of philosophy and photography

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Wasserscheide

Die ältesten Denker unserer abendländischen Kultur waren die so genannten Vorsok-ratiker. Wie die modernen Evolutionstheoretiker interessierten sie sich für die Entste-hung der Welt und betrachteten die vier Elemente als Bausteine, aus denen alle Dinge bestehen. !ales von Milet vertrat die !ese, dass alles aus dem Wasser hervorgegangen sei. Das Wasser war für ihn gleichsam die Ursuppe, deren feste Partikel sich nach dem Zufallsprinzip und nicht infolge eines Urknalls in einem langen Prozess zu Körpern verdichteten, während gleichzeitig die reine Flüssigkeit ausgeschieden wurde und Flüs-se, Seen, Meere bildete. An den Rändern zwischen dunkler, undurchdringlicher Materie und durchsichtiger Wasserober"äche entstanden Pu#erzonen, die das Entstehen lebendiger Wesen mit unterschiedlichen Anteilen an Festem und Flüssigem begünstigten. Die Blutströme in den Organismen trugen zur Entwicklung geistiger Fähigkeiten bei, die ihrerseits Be-wusstseinsströme in Gang setzten, in deren Verlauf eine weitere Scheidung erfolgte: die zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Aussenwelt und Innenwelt. Der Mensch entdeckt bei der Betrachtung des Wassers die grosse Nähe zwischen sich und diesem Element, in dem er sein eigenes Verlangen nach Klarheit widergespiegelt sieht. Er möchte die Untiefen des Weltalls durchschauen und alle Hindernisse, die sei-nen Vorwärtsdrang bremsen, überwinden. Im Fluss des Lebens sucht er seine Form, in-dem er sich an seinen Widersprüchen reibt und an ihnen wächst. „Alles "iesst“ meinte Heraklit, ein anderer Vorsokratiker, deshalb steige man nie zweimal in denselben Fluss. Wenn man jedoch selbst Fluss ist, sehnt man sich nach dem Meer, in dessen Überfül-le jene ursprüngliche Geborgenheit gesucht wird, die wir mit der Vorstellung unserer Herkun$ verbinden.

Annemarie Pieper

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Grenzgänge

Ein Stück Wirklichkeit, in dem ihm eigenen Augenblick erfasst und aus seinen bishe-rigen Bezügen herausgehoben, um fortan seine eigengesetzlichen Zusammenhänge zu konstituieren: Dies könnte die Kurzbeschreibung der Genese einer Welt – der Welt die-ses Bildes sein. Das also entstandene Bild, wiewohl nun ein eigenes Ganzes, verleugnet nicht seinen Ursprungscharakter, Ausschnitt zu sein. Es gibt nicht vor, etwas in seiner Ganzheit darstellen zu wollen. Und doch: Dort, wo der Blick einer Bewegung – Äste, die gegen den Himmel wachsen – nicht bis zu ihrem Ende folgen kann, kommt die Spiegelung ins Spiel und lädt uns dazu ein, den Anfang dieser Bewegung zu ergründen. Dabei ist die Spiegelung selbst allerdings mehr Ahnung als klare Wiedergabe dessen, was sie spiegelt und bleibt so für Interpretationen o#en. Darin mag das san$e Gesetz dieses Bildes liegen: Grenzen zu ziehen und damit Übergänge erst möglich zu machen – nicht abschliessend abzubilden, um anschliessenden Gedanken Raum zu geben.

Rosmarie Paradise

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Waschkiri

Schwarzweiss. Eine lebende Fläche mit knochiger Ausstülpung. Glänzend, wie gerade gewaschen. Eine Kuh, die zum Lachen aus dem Bild geht. Die Karikatur einer Käsepro-duzentin. Das Schwarz dahinter war mal blau, bis es durch den Zivilisations%lter ging. Stellt sich in die Aussicht. So ist das immer in der Schweiz, da steht die Zivilisation, stehen die Produzenten mit ihren Geräuschen und ihrer perfekten Ober"äche vor der Aussicht. Tun so, als gehörten sie dahin und geben sich Mühe, jeden Dahergelaufenen spüren zu lassen, dass er nicht dahin gehört. Sehnsucht, auch Fell und Geräusch zu sein. Ich muss es wissen, ich bin kurzsichtig. Nicht der erste Verirrte, der sich von schweizer Kühen durchfüttern lässt. Die Sonne wärmt meinen Augen das Fell. Was sie berühren, glitzert. Sicht"aum, kleine Härchen, wie auf einem Gipfelkamm, stechen aus der ge-färbten Fläche hervor, verwandeln sie in ein Bild. Ich könnte stundenlang zuschauen. Geht die Sonne auf oder unter, dort wohin die Kuh lacht? Woher weiss ich, dass es eine Kuh ist und kein Bulle? Ich Städter kenne diese Art Fell ohnehin kaum von lebendigen Tieren, sondern als Bettvorleger. Die Adern wirken durchblutet, unten links, das könn-te ein Euter sein. Der Knochenhöcker, so solitär positioniert im Bild, eine Ausstülpung, hinter der Kinobesucher sonstwas vermuten würden. Ein schwarzer Fleck auf dem Fell – nennt man das „Zeichnung“? – wiederholt das Schwarz des Hintergrundes, wirkt wie ein aufgerissenes Loch im unschuldigen Weiss, dann wie eine Rücknahme der Plastizi-tät in die farblose Fläche. Licht und Schatten, Schwarz Weiss, all dies. Heilige Kuh. Und was wäre da noch alles zu interpretieren. Also zunächst eine Beschreibung dessen, was man sieht. Was sehe ich denn, ohne Worte, die immer schon zuviel sagen? Eine Fotogra%e, die einen Ausschnitt von etwas wählt, das ich nicht eindeutig identi%zie-ren kann. Sie betont dadurch Aspekte, die sonst nicht au#allen würden, macht sie erst sichtbar, verrätselt andere. Sie erlaubt keine Gesamtschau, ist zu nah dran. Und zugleich noch nicht im mutmasslichen Berührungsradius dessen, was man sieht. Merkwürdig, wie das Auge Abstände auf "achen Fotogra%en berechnet, als wäre es selbst im Bild. Im Zentrum des Bildes, links unter dem schwarzen Fell"eck, eine Linie, die eher wie eine Narbe aussieht, aber auch eine Ader sein könnte. Eine Adernarbe. Das berühmte verstörende Moment, punctum, das ins Auge sticht, dem Blick zunächst entgeht und keine studierbare Bedeutung hat. Krampfadern, Trombose. Meine Narben.

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Die Fotogra%e wirkt konzentriert und muss sich doch dem, was sie einfängt, überlassen. Die Kuh steht entspannt im Bild, obschon sie sich, rechts ausserhalb des Bildes, sicher-lich ausmärt vor Lachen. Und was wird sie schon links jenseits des Bildrandes tun: Mit dem Schwanz wedeln? Einen Fladen lassen? Sicherlich stände der Rumpf dann nicht so lässig da. Kuhfragment, frei nach Polyklet. Die Biographie einer Kuh, in Anlehnung an Arno Schmidts Halbtrauer: Zeichnungen auf dem Fell, Adernarben, leichte Falten am Hals, Fahne im Wind, das Porträt der Versonnenheit, auf die Kuh gebracht, griechische Mythen und moderne Technik. Fotograf und Kuh, das erinnert von Weitem an die Anekdote von !ales und der la-chenden !rakerin. Denn die Fotogra%e ist auch eine Aufzeichnung dessen, was nicht im Bild ist. Den fotogra%schen Akt kennzeichnet mehr als das, was sich mit Abzügen auf Fotopapier reproduzieren lässt. Der Betrachter dieser Fotogra%e kann nicht umhin, sich den Menschen vorzustellen, der diese Fotogra%e hergestellt hat. Wie er dort, leicht gebückt, steht, hinter der Fotokamera, in den Lichtschacht seiner Objektive versenkt, im Freien, auf einer Wiese, die Beine zwischen dem Stativ postiert wie ein Jäger, die Kuh im Visier, scharf stellend, bedacht den Ausschnitt wählend, den Abstand geniessend, in den Brunnen gestürzt, um besser den Himmel zu sehen: Hört er die Kuh? Geniesst er ihre Regungslosigkeit? Ganz objektivierender Erkenntnisapparat? Versteht er nicht, wie es ist, Kuh zu sein? Freut er sich, dass er unter Kühen lebt, anstatt in einer Welt aus Carrara-Marmor? Was macht der Mensch mit der Welt, indem er fotogra%ert? Die sieben Mägen der Fotogra%e. Eine Kuh verdaut ihr Lachen zu Käse.

Ludger Schwarte

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Unsichtbare Schatten

Das Bild stellt die gewohnte Akzentuierung des Sehens auf den Kopf: Normalerweise gilt unsere Aufmerksamkeit den Dingen; dass sie auch Schatten werfen, wird als neben-sächlich hingenommen. Hier ist ein Schatten das eigentliche !ema. Das schattenwer-fende Geländer ragt noch in den Bildraum, aber im Zentrum steht sein Schatten, wäh-rend das, worauf er fällt, nur verschwommen als ein vorüberfahrendes Auto erkennbar ist. Das Bild erhascht den Augenblick, in dem der Schatten aufs Auto fällt, was das Flüchtige, das ihm ohnehin eigen ist, noch zusätzlich betont. Ein Schatten, der nur kurz aufblitzt, lässt fragen, ob es auch dann einen Schatten gibt, wenn nichts da ist, worauf er fallen kann. Man möchte meinen, genau das will das Bild uns zeigen.Tritt etwas auch nur kurzzeitig in den Bereich eines Schattens, wird während dieser Zeit ein Schatten sichtbar. Was jeweils als Schatten erscheint, ist nur die Schnitt"äche eines Schattens, der als Ganzes unsichtbar bleibt, dabei doch einen begrenzten Raum einnimmt, dessen Grenzen immer dann partiell sichtbar werden, wenn ein Körper ihn durchquert. Wir wollen diesen Schatten „potentiell“ nennen, weil aus ihm das entsteht, was wir als Schatten anzusehen gewohnt sind, und ohne den kein Schatten sichtbar werden kann. Der potentielle Schatten ist kein Ding, kein Körper, er ist nicht wahr-nehmbar, und hat doch eine Gestalt, die aber nur nacheinander sichtbar werden kann und nie simultan als Ganzes erscheint. Ihn als Ganzes vorzustellen, gelingt nur der Phantasie, wobei dieses Phantasiegebilde das Merkwürdige hat, wirklich zu sein, sofern wir etwas, das Wirkungen hat, als wirklich bezeichnen dürfen. Gerät ein Ding in den Bereich eines potentiellen Schattens und ist kleiner als dessen Schnitt"ächen, so sagen wir, es sei „ganz“ im Schatten. Dann zeigt sich nichts von sei-nem Umriss, es wirkt lediglich dunkler als zuvor und verliert an Plastizität. Immerhin sehe ich das Ding im Schatten, wenn es kleiner ist als dieser. Ist es grösser, tritt es gegen-über dem Schatten, der auf es fällt, zurück. Was es ist, ist gleichgültig geworden, sofern es nur als Projektions"äche dient.

Rudolf Ruzicka

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Philosophy ceased to rest entirely with theology and religion. and literature. Photography itself became a medium for expressing and explaining man‘s ways and ac-tions. his pathos and comedy, his anguish and relief. depicting his social and psycho-logical %ght with life and his time in exact studies which hold a moment of time up to the viewer. Here, by means of selection and restriction of the wider view. photography expresses and interprets aspects of our theme: ‘man and his loneliness‘.

Allan Porter

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Gleich-Gültigkeit

Manche Fotogra%en erwecken den Eindruck, als wäre der Auslöser losgegangen, ohne dass der Fotograf es wollte. Auf solchen Bildern gibt es nichts zu sehen, obwohl manches abgebildet ist. Der Betrachter ahnt noch nicht einmal, was der Fotograf hier festhalten wollte. – Es gibt kein Motiv. Aber genau darin besteht die Kunst dieser Fotogra%en. Was wir vor uns haben, ist ein Bild, das nichts ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt. Ein Bild, auf dem nichts wichtiger ist als anderes. Ein Bild ohne Hierarchien. Die abso-lute Gleichberechtigung der Dinge. Die Emanzipation des Banalen. Ein Blick, der nicht wertet, sondern die Dinge hinnimmt, wie sie sind. Ein teilnahmsloser, un-menschlicher Blick. Der Tod des Motivs. Eine Welt ohne Werte. – Man könnte sagen: Motivlose Bilder zeigen, wie die Welt aussieht, wenn wir sie nicht ansehen. Oder mit Baudrillard: „Die Fotogra%e berichtet vom Zustand der Welt in unserer Abwesenheit“.Wittgenstein schreibt: „Der menschliche Blick hat es an sich, dass er die Dinge kostbar machen kann, allerdings werden sie dann auch teurer“. Wenn das stimmt, dann sind die Dinge hier umsonst. So sieht die Welt für jemanden aus, dem sie nichts bedeutet. Die Welt, gesehen mit einem indi#erenten Blick, der nichts versteht und dem nichts wichtig ist. Es ist ein schwieriges Unterfangen, ein Bild zu schiessen, das nichts ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt: keinen Gegenstand, keine Szene, keine Geschichte, kein Detail, noch nicht einmal eine Stimmung. Eine minimale Änderung und schon drängt sich etwas ins Bild und übernimmt das Zepter – die Balance wankt und die Herrscha$slo-sigkeit zerfällt. Auf gewöhnlichen Fotogra%en gruppieren sich die Dinge um visuelle Gravitationszentren, wobei abgebildete Menschen wohl die grösste Anziehungskra$ auf unser Auge ausüben. Beim Anblick motivloser Bilder dagegen verliert sich unser Blick, nichts lenkt ihn, nichts zieht in an, er ist vollkommen schwerelos. Hier ringen die Gegenstände nicht um unsere Aufmerksamkeit. Hier will kein Ding wichtiger sein als die anderen. Diese Bilder wirken ausgewogen, aber nicht weil sich die wichtigen Dinge die Waage halten, sondern weil es hier nichts gibt, das Gewicht hat. Was diese Fotogra%en festhalten, ist die Gleich-Gültigkeit der Dinge.Das Bild lässt uns im Stich. Selbst in der Spiegelung der Statue auf dem Autodach ist nicht zu erkennen, wer hier geehrt wird oder wo wir uns be%nden. Der aus Zement

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gegossene Wegweiser am Strassenrand zeigt die Richtung an, aber nicht für uns. Wir stehen hinter den Kulissen der Welt, sehen zwar noch Zeichen, aber nicht mehr, was sie bedeuten. Auch das parkierte Auto im Vordergrund, das knapp einen Drittel der Bild"äche beansprucht, lässt uns in Dunkeln: es verrät weder Marke, Typ, Jahrgang noch Kennzeichen. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite sehen wir bei näherer Betrachtung einen weissen Rahmen, gemalt an eine steinerne Hauswand. In dem Rah-men: Nichts. Eine Metapher für das ganze Bild: Eine Präsentation von Leere. Alle ge-wünschten Informationen bekämen wir wohl in dem Touristenbüro rechts im Bild, das allerdings nicht den Eindruck macht, als habe es geö#net. In der Welt, die uns hier gezeigt wird, sind wir allein – ganz allein.Gelungene motivlose Fotogra%en sind weder stimmungsvoll, noch wecken sie Gefüh-le. Sie sind rein geistige Übungen. Betrachten wir diese Bilder länger, schwei$ unser Denken ab – kein Wunder, schliesslich zeigen die Bilder, was wir sehen, wenn wir in Gedanken versunken sind und mit leerem Blick vor uns hinstarren. Sie zeigen, was wir sehen, wenn wir vom Sehen abgelenkt sind. Sie halten fest, was wir sehen, wenn wir nicht sehen, sondern denken. Wendet man sich dem Motivlosen zu, so verschwindet es – wie die Unschärfe der Ge-genstände an den Rändern unseres Gesichtsfeldes. Wie Eurydike, wenn sich Orpheus nach ihr umdreht.

Yves Bossart

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Jedes Bild erö#net einen Raum im Raum seines Erscheinens. In seiner Körperlichkeit lässt es uns über die körperliche Welt hinaus blicken. Es lässt uns Sehen sehen und da-mit auf besondere Weise sehend sein.

Martin Seel

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Ich bin mehr zufällig als wirklich suchend auf ein Buch aus dem Mittelalter gestos-sen, das vor kurzem zum ersten Mal in deutscher Sprache erschienen ist. Einer der 24 Philosophen, von denen die Rede ist, hat darin behauptet, Gott sei die unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgendwo ist. Diese De%nition kann man wohl aussagen, aber nicht abbilden. In der Diskussion, ob das Sprachfeld grösser sei als das Bildfeld, würde der verehrte Philosoph vermutlich darauf bestehen, dass die Sprache Dinge beschreiben kann, die das Bild nicht zu zeigen vermag. In einem gewissen Sinn liess ich mich also von unserem Philosophen verführen und habe allen Fotografen Unrecht getan. - Zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen, dass dies im Schlusssatz angetönt ist (sofern es die Unendlichkeit nicht gibt).

Gibt es überhaupt Etwas, das nicht abgebildet werden kann? Ja: die Unendlich-keit. Sie ist die selber bildlose Bilderstürmerin. – Aber: Gibt es die Unendlichkeit?

(Dazu: Kurt Flasch: Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen. München: Beck 2011)Hans Saner

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Ein Zug vielleicht: Gefangenentransport, vergitterte Fenster, dahinter zeichnen sich Umrisse in der Dunkelheit ab. Oder ein Stahlbau: gesichert gegen den Ansturm der Fremden, am Rande der Zivilisation; draussen lauert etwas in der Finsternis. Die Sonne der Menschheit steht tief. Ein schwarzer Schatten schneidet durch das Bild und trennt den Container vom sicheren Grund. Es ist, als starrten uns die Fenster mit aufgerisse-nen Augen an. Wir waren nicht dabei und fühlen uns dennoch schuldig.

Philipp Hübl

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Verkörperte Lebensideale

Gibt es eine Verbindung zwischen Kunst und Leben? Zwischen dem Schönen und dem Guten? Um diese Frage zu bejahen, muss man nicht so weit gehen wie Immanuel Kant, der meinte: „das Schöne ist das Symbol des Sittlichguten“. Es reicht, mit David Hume zu sagen: „We choose our favourite author as we do our friend“. Ob es sich um einen Roman, um ein Bild, ein Musikstück, einen Film, ein Gebäude, ein Auto, ein Kleid oder um einen Lampenschirm handelt – immer gilt: Was uns gefällt, ist wie ein Mensch, den wir mögen: Der Roman ist vielseitig, das Bild wirkt leidenscha!lich, die Musik klingt melancholisch, der Film ist tiefsinnig, das Gebäude wirkt bescheiden, das Auto macht einen ernsten Eindruck, das Kleid sieht unbeschwert aus und der Lampenschirm wirkt selbstironisch. Was mag ich an Chopin? Seine Nachdenklichkeit und Melancholie. Was gefällt mir an Mozart? Die Verspieltheit und Leichtigkeit. Was gefällt mir an diesem Gebäude? Seine Proportionen? Nein, seine Standfestigkeit, das Unbehandelte des Steins, die Beschei-denheit seines Au!retens und die Weisheit, die es ausstrahlt. Ich mag seine menschli-chen Züge. Ein Gegenstand gefällt uns, weil er Charaktereigenscha!en und Gemütszustände ver-körpert, die wir an Menschen schätzen. Das ästhetisch Ansprechende ist ein Sinnbild eines verlockenden Lebensstils, die Verdichtung eines Lebens, wie wir es uns wünschen – ein „Versprechen von Glück“, wie Stendhal schreibt. Wenn wir uns mit einem Freund über den ästhetischen Wert einer Fotogra"e strei-ten, dann geht es nicht bloss um eine Geschmacksfrage, sondern darum, was im Leben wichtig ist und welche Ideale uns antreiben. In Gesprächen über Ästhetik geben wir zu erkennen, wer wir sind und wie wir sein möchten, denn „unser Gefühl für Schönheit und unsere Vorstellung von einem guten Leben sind miteinander verwoben“, wie Alain de Botton meint. Manchmal stossen wir in ästhetischen Gesprächen zu unseren tiefs-ten Sehsüchten vor oder wecken die in uns schlummernden Vorstellungen von einem gelingenden Leben.Lag Platon also doch richtig, als er das Schöne mit dem Guten identi"zierte? Der schö-ne Gegenstand – das Sinnbild einer „schönen Seele“? Gründet der ästhetische Reiz einer anmutig geschwungenen Linienführung in unserer Sehnsucht nach Harmonie

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und Selbstentfaltung? Ist es der leise Klang solcher Lebensideale, der unser ästhetisches Erleben – meist unbemerkt – prägt und einem Gegenstand seine Magie verleiht? Aber: Was macht einen Lebensstil reizvoller, attraktiver als andere? Nicht selten möchte man sagen: „Weil ein solches Leben schön ist – weil die Schönheit dieses Lebens mich zum Weinen bringt“. Darf ich sagen, dass ich meine Freunde mag, weil die Art, wie sie le-ben, mich an Trakls Gedichte erinnert, an die Melodien Puccinis und an Gemälde von Rothko? Nietzsche schreibt: „nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“. Wir sollen also lernen, das Leben als Kunstwerk zu sehen, als Musik vielleicht – mit ästhetischem Wohlgefallen am ewigen Wechselspiel von Har-monie und Dissonanz. Wenn das Schöne die Versinnlichung des Guten ist, eine prägnante Momentaufnahme eines vorbildha!en Lebens, dann ist das Gute vielleicht nicht weniger als das zum Le-ben erweckte Schöne – eine gelebte Symphonie, ein Tanz.

Yves Bossart

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Autorenverzeichnis

Herausgeber und AutorYves Bossart studierte Philosophie an der Universität Luzern, promoviert an der Humboldt-

Universität zu Berlin zum !ema „Ästhetik nach Wittgenstein“ und lebt in Zürich.Fotograf Markward Bossart arbeitet als freischa#ender Fotograf in Luzern. Er arbeitet mit allen Negativ-

Formaten: Kleinbild, Mittelformat, Grossbild und neuerdings digital. Für den Band „Sehen soweit das Denken reicht“ hat er aus seiner knapp 40-jährigen Scha#ensperiode als Fotograf eine enge Auswahl zusammengestellt.

LayoutMichaela Burri arbeitet als Architektin in Aarau und lebt in Zürich.

Ramona Benz studierte Kulturwissenscha$en mit Schwerpunkt Philosophie an den Universi-täten Luzern und Basel und bildet sich zurzeit im Bereich Regie weiter.

Jonas Briner studierte Geschichte und Philosophie an der Universität Luzern und arbeitet als Geschichtslehrer an der Kantonsschule Zug.

Tobias Brücker studierte Kulturwissenscha$en mit Schwerpunkt Philosophie und arbeitet am Seminar für Kulturwissenscha$en und Wissenscha$sforschung der Universität Luzern.

Dr. Orlando Budelacci ist wissenscha$licher Geschä$sführer des Nationalen Forschungs-schwerpunktes „eikones“: Bildkritik. Macht und Bedeutung der Bilder.

Giuseppe Corbino studierte Philosophie und !eologie an der Universität Luzern und arbei-tet zurzeit als Religionslehrer.

Alexandra Elsen studiert Philosophie an der Universität zu Köln.Esther Furger studierte Kulturwissenscha$en mit Schwerpunkt Philosophie an den Universi-

täten Luzern und Basel und arbeitet als Texterin und Projektmanagerin bei einer Agentur für digitale Kommunikation in Basel und Frankfurt am Main.

Alex Grob studiert Philosophie an der Universität Zürich.Prof. Dr. Philipp Hübl ist Juniorprofessor für !eoretische Philosophie an der Universität

Stuttgart. Publikationen: Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie, Ham-burg 2012.

Dr. Dominic Kaegi ist Studiengangmanager des Integrierten Studiengangs Kulturwissen-schaf-ten und Geschä$sführer des Kulturwissenscha$lichen Instituts der Universität Luzern. Pub-likationen: Philosophie der Lust, Zürich 2009.

David Kasparek ist Architekt und arbeitet als Redakteur der Zeitschri$ „der architekt“, als frei-beru"icher Gestalter und als Architekturkritiker in Berlin.

Prof. Dr. Geert Keil ist Professor für Philosophische Anthropologie an der Humboldt-Univer-sität zu Berlin. Publikationen: Handeln und Verursachen, Frankfurt a. M. 2000; Willens-freiheit, Berlin 2007.

Dr. Matthias Kiesselbach ist wissenscha$licher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Stephanie Ludwig ist Architektin, Philosophiestudentin und ehemalige Herausgeberin der Ar-chitekturzeitschri$ „Zeilenbau“, sie lebt in Berlin.

Stephan Padel studiert Philosophie an der RWTH Aachen.Rosmarie Paradise-Dahinden ist diplomierte Musikerin, studierte Philosophie an der Univer-

sität Luzern und schloss 2010 mit dem Lizentiat ab. Seither arbeitet sie freiberu"ich als Lek-torin.

Dr. Frank Pauly studierte Philosophie, Germanistik und Anglistik in Freiburg in Brsg. Pro-mo-tion 2010 bei Prof. Uehlein. Arbeitet zurzeit als freier Autor und wissenscha$licher Bera-ter am !eater Freiburg.

Prof. em. Annemarie Pieper war Professorin für Philosophie an der Universität Basel und ar-beitet als freischa#ende Philosophin und Autorin. Publikationen: Einführung in die Ethik, Tübingen 1991; Selber denken. Ansti$ung zum Philosophieren, Leipzig 1997; Die Klug-scheisser GmbH, Basel 2006.

Allan Porter ist Autor, Herausgeber und Fotograf und lebt in Luzern. Publikationen: 1965-1981 Herausgeber der Zeitschri$ Camera.

Michael Poznic promoviert in Philosophie an der RWTH Aachen.Prof. em. Enno Rudolph war Professor für Philosophie an der Universität Luzern. Publika-

tionen: Ernst Cassirer im Kontext. Kulturphilosophie zwischen Metaphysik und Historis-mus, Tübingen 2003; Odyssee des Individuums. Zur Geschichte eines vergessenen Problems, Stuttgart 1991.

Dr. Rudolf Ruzicka lebt als freischa#ender Philosoph in Basel.Dr. Dr. h.c. Hans Saner studierte Philosophie, Psychologie, Germanistik und Romanistik. Er war

Privat-Assistent von Karl Jaspers und Dozent für Kulturphilosophie an der Musik-Akademie Basel. Er verö#entlichte zahlreiche Bücher zu philosophiehistorischen, kulturkritischen, po-litischen und ästhetischen Fragen und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet.

Jochen Schu# promoviert in Philosophie an der Goethe Universität Frankfurt am Main.Prof. Dr. Ludger Schwarte ist Professor für Philosophie an der Kunstakademie Düsseldorf. Pu-

blikationen: Regeln der Intuition. Kunstphilosophie nach Adorno, Heidegger und Wittgen-stein, München 2000; Philosophie der Architektur, München 2009; Vom Urteilen, Berlin 2012.

Friederike Schmitz promoviert in Philosophie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und lebt in Berlin.

Christian Schnellmann studierte Philosophie an der Universität Bern, arbeitet für das Kunst-museum Bern und lebt in Luzern.

Prof. Dr. Martin Seel ist Professor für Philosophie mit Schwerpunkt theoretische Philoso-phie an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Werke: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt 2003; 111 Tugenden, 111 Laster. Eine Philosophische Revue, Frankfurt 2011.

Till Spieker studierte Philosophie an der RWTH Aachen und nun an der Universität Ham-burg.

Dr. Hartmut Westermann ist wissenscha$licher Mitarbeiter am Seminar für Philosophie der Universität Erfurt. Publikationen: Die Intention des Autors und die Zwecke der Interpreten. Zu !eorie und Praxis der Dichterauslegung in den platonischen Dialogen, Berlin 2002.

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Fotogra%en: aus Licht entstanden, geben sie ihr Licht demjenigen der Welt zurück.Martin SeMartin Seel

Gibt es überhaupt Etwas, das nicht abgebildet werden kann? Ja: die Unendlichkeit. Sie ist die selber bildlose Bilderstürmerin. – Aber: Gibt es die Unendlichkeit?

Hans Saner

„Alles "iesst“ meinte Heraklit … Wenn man jedoch selbst Fluss ist, sehnt man sich nach dem Meer, in dessen Überfülle jene ursprüngliche Geborgenheit gesucht wird, die wir mit der Vorstellung unserer Herkun$ verbinden.

Annemarie Pieper