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Reader zum Thema SELBSTERFAHRUNG für BERATER_INNEN Zusammengestellt und verfasst von Günther Gettinger

Selbsterfahrung Reader Für BeraterInnen

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Page 1: Selbsterfahrung Reader Für BeraterInnen

Reader

zum Thema

SELBSTERFAHRUNG für BERATER_INNEN

Zusammengestellt und verfasst von

Günther Gettinger

Page 2: Selbsterfahrung Reader Für BeraterInnen

Gettinger©2015

Seite -1-

Inhaltsverzeichnis

Warum Selbsterfahrung? ........................................................................................................................ 2

Das moderne Leben: der Glaube an die Macht der Technik und der Wissenschaft ............................... 4

ICH FÜRCHTE MICH SO VOR DER MENSCHEN WORT .............................................................................. 5

CLIMATE CHANGE NOW……… .................................................................................................................. 6

Die Grundlage menschlichen Zusammenlebens ..................................................................................... 7

Zygmunt Bauman prägte den Begriff ‚Flüchtige Moderne‘ für unsere heutige Zeit .............................. 8

Man braucht Feinde und Außenseiter, um sich selbst definieren zu können: innere und äußere

Konflikte sind damit vorprogrammiert .................................................................................................. 10

Selbsterfahrung für und von BeraterInnen ........................................................................................... 12

What you see is all there is (‘WYSIATI’)? ............................................................................................... 14

Wir leben, wissen aber nicht, wie ......................................................................................................... 21

Verstehen auf Anhieb ist höchst unwahrscheinlich! ............................................................................ 27

Voraussetzungen für Verstehen in dialogischer Kommunikation ......................................................... 28

CLEARNESS COMMITEES ....................................................................................................................... 29

Kollegiale Beratung................................................................................................................................ 31

Die sechs Hüte ....................................................................................................................................... 36

Dynamic facilitation ............................................................................................................................... 37

SZENISCHES VERSTEHEN ÜBEN ............................................................................................................. 38

Zuhören ................................................................................................................................................. 43

ZUM SCHLUSS, DER ABER IMMER EIN ANFANG IST…….. ...................................................................... 44

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Warum Selbsterfahrung?

“Selbsterfahrung ist die Herausforderung, sich selbst besser kennen zu lernen, ineffiziente Verhaltens-

und Denkmuster zu reflektieren sowie Vergangenheitsfixierungen loszulassen. Stärken werden

ausgebaut, um in eine Zukunft zu gehen, die mehr Qualität und Bewusstheit

darstellt…..Selbsterfahrung ist das gezielte, methodisch initiierte und bewusste Reflektieren und

Nacherleben der eigenen Gefühle und Gedanken.

Zentral ist hierbei die Reflexion, aber auch die Veränderung und Erweiterung der

Selbstwahrnehmung. Auch die persönlichen Kompetenzen und gewohnheitsmäßige

Verhaltensmuster sollen aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet und hinterfragt werden.

Sich selbst besser zu verstehen und kennenzulernen ist das Ziel. Eigene Bedürfnisse und Wünsche

sollen wahrgenommen und akzeptiert werden. Ein gestärkter Selbstwert und ein positiver,

wohlwollender Zugang zur eigenen Persönlichkeit und Gefühlswelt, sind das Resultat.”

So die heute vorherrschende Vorstellung von Selbsterfahrung.

Und Wikipedia dazu: „Der Begriff Selbsterfahrung ist einerseits ein populärwissenschaftlich

psychologischer Ausdruck für das Kennenlernen und Reflektieren über das Erleben und Agieren der

eigenen Person (Selbst) insbesondere in herausfordernden Situationen. Im Rahmen einer Ausbildung

zum Psychotherapeuten, Familientherapeuten, Coach oder Supervisor bezeichnet Selbsterfahrung

andererseits den Prozess im Rahmen eines Rollentauschs, bei dem der (angehende) Therapeut die

anzuwendenden Arbeitsweisen und Methoden in der Klientenrolle an sich selbst erfährt. Der Ausbilder

bzw. Supervisor ist dabei der Coach.“1

***

Aus meiner Sicht lässt sich Selbsterfahrung jedenfalls in aller Kürze so zusammenfassen:

► Lernen, Geduld zu haben mit dem ‚Ungelösten im Herzen‘ und versuchen, dieses Ungelöste (‚die zentralen Fragen des Lebens‘) selbst lieb zu gewinnen, so als wäre das alles eine ‚verschlossene Stube und ein Buch, das in einer sehr fremden Sprache geschrieben ist‘ (Rilke). - Dann wird sich einem, wenn man Ausdauer hat, der Sinn der Lebensfragen wie von selbst erschließen - weil man dann endlich begriffen hat, wer und was man wirklich ist (und wer und was NICHT ist).

Nun, der / die aufmerksame LeserIn wird vielleicht erfassen, dass die Standard-Definition von

Selbsterfahrung in dieser Sichtweise zwar enthalten ist, diese aber darüber auf (vielleicht)

befremdliche Weise – d.h. ins ‚Jenseits‘ aller konkreten Problem- und Lösungsorientierungen -

hinausreicht. Warum und wie? -- Der vorliegende Reader will dazu ein vertiefender Hinweis sein –

und damit zugleich eine brauchbare Übungshilfe in Sachen ‚Selbsterfahrung‘, sowohl für Profis als

auch für ‚Laien‘2.

Günther Gettinger, Graz im Herbst 2015

1 https://de.wikipedia.org/wiki/Selbsterfahrung

2 Aber jeder ist für sein eigenes Leben der einzig wahre ‚Profi‘! Diese Unterscheidung wird sinnlos, wenn es um

‚das Ganze der Person, das Ganze des Lebens‘ – also um das ‚WAHRE SELBST‘ – geht, und nicht nur um

Anwendung und Gewinnung von Spezialwissen (‚Expertise‘) in spezifischen Kontexten. Aber kann sich dieses

‚Selbst‘ dann überhaupt ‚selbst erfahren‘? - Ja, wenn es um das ‚Körperselbst‘ in bestimmten Kontexten geht,

um die Erfahrung der ‚Einzigartigkeit‘ jedes Lebewesens ‚Hier-und-Jetzt‘. Wer aber ist dann der ‚Erfahrende‘

dieser ‚Einzigartigkeit‘? – Dazu gibt es Hinweise in den nachfolgenden Texten.

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Ich bin, und weiß nicht wer.

Ich komm, und weiß nicht woher.

Ich geh, und weiß nicht wohin.

Mich wundert, dass ich so fröhlich bin.

Alte Volksweise

„Man muss Geduld haben mit dem Ungelösten im Herzen und versuchen, die Fragen selbst lieb zu

haben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben

sind.

Es handelt sich darum, ALLES zu leben.

Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht eines fernen Tages in die Antworten hinein.”

– R. M. Rilke

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Das moderne Leben: der Glaube an die Macht der Technik und der Wissenschaft

„Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende

allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas

anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit

erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da

hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das

aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab,

muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern

technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als

solche.“

Max Weber, Wissenschaft als Beruf, München 1919

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ICH FÜRCHTE MICH SO VOR DER MENSCHEN WORT

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.

Sie sprechen alles so deutlich aus:

Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,

und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,

sie wissen alles, was wird und war;

kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;

ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.

Die Dinge singen hör ich so gern.

Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.

Ihr bringt mir alle die Dinge um.

Aus: Rilke, Die frühen Gedichte

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CLIMATE CHANGE NOW………

2015: “On July 20th, James Hansen, the former NASA climatologist who brought climate change to

the public's attention in the summer of 1988, issued a bombshell: He and a team of climate scientists

had identified a newly important feedback mechanism off the coast of Antarctica that suggests mean

sea levels could rise 10 times faster than previously predicted: 10 feet by 2065. The authors included

this chilling warning: If emissions aren't cut, "We conclude that multi-meter sea-level rise would

become practically unavoidable. Social disruption and economic consequences of such large sea-level

rise could be devastating. It is not difficult to imagine that conflicts arising from forced migrations

and economic collapse might make the planet ungovernable, threatening the fabric of civilization.

Hansen's new study also shows how complicated and unpredictable climate change can be. Even as

global ocean temperatures rise to their highest levels in recorded history, some parts of the ocean,

near where ice is melting exceptionally fast, are actually cooling, slowing ocean circulation currents

and sending weather patterns into a frenzy. Sure enough, a persistently cold patch of ocean is

starting to show up just south of Greenland, exactly where previous experimental predictions of a

sudden surge of freshwater from melting ice expected it to be. Michael Mann, another prominent

climate scientist, recently said of the unexpectedly sudden Atlantic slowdown, "This is yet another

example of where observations suggest that climate model predictions may be too conservative

when it comes to the pace at which certain aspects of climate change are proceeding."3

Aktuelle Hotspots (2015), hier: Indien

3 http://www.rollingstone.com/politics/news/the-point-of-no-return-climate-change-nightmares-are-already-

here-20150805#ixzz3j383WT6V

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Die Grundlage menschlichen Zusammenlebens

„In allen Gesellschaftsschichten bestätigen Menschen einander in ihren menschlichen Eigenschaften

und Fähigkeiten, und eine Gesellschaft kann in dem Maße menschlich genannt werden, in dem ihre

Mitglieder einander bestätigen. Die Grundlage menschlichen Zusammenlebens ist eine zweifache und

doch eine einzige: der Wunsch jedes Menschen, von den anderen als das bestätigt zu werden, was er

ist, oder sogar als das, was er werden kann, und die angeborene Fähigkeit der Menschen, seine

Mitmenschen in dieser Weise zu bestätigen. Dass diese Fähigkeit so weitgehend brachliegt, macht die

wahre Schwäche und Fragwürdigkeit der menschlichen Rasse aus. Wirkliche Menschlichkeit besteht

nur dort, wo sich diese Fähigkeit entfaltet.

Soweit Buber.

Ein anderes sehr zutreffendes Zitat stammt von William James: »Eine unmenschlichere

Strafe könnte nicht erfunden werden als dass man, wenn dies möglich wäre, in der Gesellschaft

losgelassen und von allen ihren Mitgliedern völlig unbeachtet bleiben würde.«

Aus: Paul Watzlawick, Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns. Wien: Picus-Verlag, 1992, S. 20f

Zitat von Martin Buber aus: »Distance and Relations«, Psychiatry 20, 97(1957).

Seelenblindheit

„Dabei scheint das emotionale Trauma in Form von massiver Beschämung durch Seelenblindheit an

Wichtigkeit keineswegs hinter körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbrauch zurückzustehen.

Damit meine ich, dass das Kind nicht in seiner Identität, seinen Bedürfnissen und Gefühlen gesehen

und gehört wird. Systematisch nicht gesehen zu werden, verursacht tiefe Scham und damit

Ressentiment und eine Anspruchsforderung, die gewaltige Auswirkungen haben.“

„Ein notwendiges Element darin ist die Abwehr durch Dehumanisierung des anderen, v.a. in der Form

von „Kategorisierung“: Die Kategorie, der der Mensch zugehört, sei es Klasse, Nation, Religion, Rasse

oder Geschlecht, wird als das Wesentliche hingestellt und der Person übergestülpt; ihr Eigenwert wird

ausgeklammert.

Die Kategorien von Freund und Feind, der Zugehörigkeit zur eigenen Identität und der des Fremden,

werden den Personen aufgezwungen; man wird blind für ihren Eigenwert und ihr Dasein als

Selbstzweck. Mit dem Sinn der erlittenen Seelenblindheit herrscht eine allgemeine Atmosphäre der

Entmenschlichung aller Beziehungen, und besonders auch der Sexualität.“

Aus: Léon Wurmser, ‚Verstehen statt Verurteilen‘4

4 http://edoc.hu-berlin.de/humboldt-vl/143/all/PDF/143.pdf

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Zygmunt Bauman prägte den Begriff ‚Flüchtige Moderne‘ für unsere heutige Zeit5

Merkmale:

• Beschleunigter sozialer Wandel als Dauerphänomen

• Verhaltensweisen für ein Leben in diesem Zustand des beständigen Wandels entwickeln.

• Sich nach einem Präzedenzfall zu richten, ist kein guter Rat mehr

• Gewohnheitsmäßiges und überliefertes Handeln ist nicht mehr zukunftstauglich

• Keine vorherrschenden Autoritäten mehr, sondern einen Wettbewerb von Autoritäten, die

sich sehr häufig gegenseitig widersprechen

• Die Verantwortung für die Wahl zwischen diesen Autoritäten fällt gänzlich der betreffenden

Person zu

• Der Einzelne wird verstärkt dazu gezwungen, ganz für sich alleine anwachsende

Widersprüche des Sozialsystems zu lösen

• Jeder muss ein Gefühl der Verantwortung entwickeln und gleichzeitig enorme Risiken

eingehen, die untrennbar mit Selbstbestimmung und Emanzipation verbunden sind

• Politiker und Vorgesetzte verstehen sich nicht mehr als Vorgesetzte und ‚Leader‘, sondern als

Moderatoren und Coaches. Jeder muss sich in Zukunft selber führen, selber für sein Leben

vorsorgen, ganz individuell. Institutionen bieten wenig bis keinen Halt mehr

• Abbau des Sozialstaats; kaum Schutz der Bürger vor sozialem Abstieg, sondern dieser steht

vor einem Sicherheitsstaat, der ihn vor inneren und äußeren Bedrohungen schützen will

• Individuelle Flexibilität wird zum besten individuellen Zukunftsvorsorge erklärt

• Der Einzelne stehe heute permanent ‚unter Strom’; das führt zu Verunsicherung und

existenziellen Ängsten, das Leben wird tendenziell zu einer ‚chronischen Identitätskrankheit’

• Es herrscht das Diktat der Entfesselung des „Selbst“: „Verwirkliche dich selbst, entdecke dich

selbst!“, Sei du selbst!“

• Das unerfüllbare Diktat der Selbstverwirklichung versetze den Einzelnen immer öfter in eine

Sphäre vollendeter Einsamkeit: depressive Grundverstimmung und Flucht in manische

Hektik und Ablenkung seien unvermeidliche Ergebnisse; Burnout und Zustände tiefer

Erschöpfung

• Auflösungserscheinungen der Apparate und Instanzen, Verlust an Glaubwürdigkeit und

Vertrauen; Wut, Desorientierung und Aufbruchsstimmungen; die Zeit ist aus den Fugen,

jeder auf sich zurück geworfen

Die Subjektivierung des Sozialen – das ‚unternehmerische Selbst‘

"Das unternehmerische Selbst lebt im Komparativ: Es reicht nicht aus, einfach nur kreativ, findig,

risikobereit und entscheidungsfreudig zu sein, man muss kreativer, findiger, risikobereiter und

entscheidungsfreudiger sein als die Konkurrenz. Die Einsicht, dass es ein Genug nicht geben kann,

erzeugt den Sog zum permanenten Mehr. Weil die Anforderungen keine Grenzen kennen, bleiben

die Einzelnen stets hinter ihnen zurück. Dem Plus ultra, das Schumpeter als Maxime des

5 Bauman, Zygmunt (2003): Flüchtige Moderne, Frankfurt am Main.

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Entrepreneurs identifiziert, entspricht das konstitutive Ungenügen eines jeden, der sein Leben nach

dieser Maxime auszurichten versucht. Die unternehmerische Anrufung verbindet ein Versprechen

mit einer Drohung, eine Ermutigung mit einer Demütigung, eine Freiheitsdeklaration mit einem

unabweisbaren Schuldspruch. Wenn sie damit lockt, dass jeder seines Glückes Schmied sei, erklärt

sie im gleichen Zug, an seinem Unglück sei jeder selbst schuld. Auf der einen Seite ist ihr Anspruch

totalitär. Nichts soll dem Gebot der kontinuierlichen Verbesserung im Zeichen des Marktes entgehen.

Keine Lebensäußerung, deren Nutzen nicht maximiert, keine Entscheidung, die nicht optimiert, kein

Begehren, das nicht kommodifiziert werden könnte. Auf der anderen Seite bleibt die Produktion

unternehmerischer Individuen gemessen an ihrem Anspruch stets eine failing operation. Einen

hundertprozentigen Unternehmer gibt es so wenig wie einen reinen Markt. Die entrepreneuriale

Anrufung konfrontiert die Individuen deshalb mit einer doppelten Unmöglichkeit – mit der,

tatsächlich ein unternehmerisches Selbst zu werden, wie mit jener, die Forderung zu ignorieren,

eines werden zu sollen. Niemand muss und kann dem Ruf unentwegt folgen, aber ein jeder hat doch

beständig jene Stimme im Ohr, die sagt, es wäre besser, wenn man ihm folgte. Der Sog zieht noch in

den sublimsten Lebensäußerungen, und seine Kraft bezieht er gerade daraus, dass keine Zielmarke

existiert, bei der man halt machen könnte. So wenig es ein Entkommen gibt, so wenig gibt es ein

Ankommen. Anders ausgedrückt: Unternehmer ist man immer nur à venir – stets im Modus des

Werdens, nie des Seins." - Ulrich Bröckling

„Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsfigur“ (Frankfurt/M. 2007)

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Man braucht Feinde und Außenseiter, um sich selbst definieren zu können: innere und

äußere Konflikte sind damit vorprogrammiert

Ich und Nicht-Ich, Wir und die Anderen.

Ich und Du – wir. Wir gegen ‚sie‘. Ich gegen Dich. Ich gegen mich. ‚Wer ist stärker, ich oder ich?‘ fragt

Karl Valentin.

Zu jedem Sittendrama braucht es zumindest 3 Personen. Denn bei dreien ist immer einer zu viel. 2

gegen 1 – das bekannte ‚Drama-Dreieck‘.

„Moralische Empörung“, pflegte der gelernte Österreicher Helmut Qualtinger zu sagen, „ist der

Heiligenschein der Scheinheiligen.“

Moralisieren kann verstanden werden als der verabsolutierende Kampf des ‚Guten‘ gegen ‚das Böse‘

(der Guten gegen die Bösen, intrapersonal ebenso wie interpersonal). - Dass ‚gut‘ und ‚böse‘ aber

Relativbegriffe sind, das entgeht dem Moralisten.

„Niemand kann moralisch sein, d.h., niemand kann vorgegebene Konflikte harmonisieren, ohne ein

tragfähiges Arrangement zwischen dem Engel und dem Teufel in sich zu schließen. Diese zwei Kräfte

oder Tendenzen hängen gegenseitig voneinander ab, und das Spiel klappt so lange, wie der Engel

immer wieder gewinnt, aber nicht der dauerhafte Sieger ist, und der Teufel verliert, aber niemals

verloren geht... .

Nicht ohne Grund erfordern die formalen Regeln des Boxens, des Judosports, des Fechtens und

sogar des Duellierens, dass die streitenden Parteien sich vor ihrer Auseinandersetzung begrüßen.

Soweit man überhaupt in die Zukunft sehen kann, wird es immer Tausende und Abertausende von

Menschen geben, die Schwarze, Kommunisten, Russen, Chinesen, Juden, Katholiken, Beatniks,

Homosexuelle und »Haschbrüder« ablehnen und hassen. Diese gehässigen Vorurteile werden nicht

ausgelöscht, sondern nur geschürt werden, wenn man diejenigen beleidigt, die sie haben. Die

abwertenden Schimpfworte, mit denen wir sie bepflastern – Faschisten, Rechtsfanatiker, Nichtwisser

–, können zu den stolzen Emblemen und Symbolen werden, unter denen sie sich zusammentun und

stark fühlen.

Es hilft auch nichts, wenn wir der Gegenseite öffentlich durch artige und nicht gewalttätige Sit-ins

und Demonstrationen entgegentreten, während wir gleichzeitig unser kollektives Ich stärken, indem

wir sie im Geheimen beleidigen. Wenn wir Gerechtigkeit für Minoritätengruppen und friedliche

Auseinandersetzungen mit unseren natürlichen Feinden – seien es nun Menschen oder andere

Lebewesen – wollen, müssen wir zunächst mit der Minorität und dem Feind in uns selbst

klarkommen, denn der Schurke sitzt ebenso sehr in uns wie in der Welt »draußen« – besonders wenn

wir erkannt haben, dass die Welt draußen ebenso sehr dem eigenen Selbst entspricht wie die Welt

innen.

....

Ist es denn wirklich so Zeit raubend und so mühevoll, einfach nur zu verstehen, dass man Feinde und

Außenseiter braucht, um sich selbst zu definieren, und dass man ohne irgendeine Gegenseite

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verloren wäre? Erkennt man dies, so gewinnt man nahezu im selben Augenblick die Tugend des

Humors; Humor und Selbstgerechtigkeit schließen aber einander aus. Humor ist das Augenzwinkern

eines gerechten Richters, der weiß, dass auch er kein Unschuldsengel ist. Wie könnte er zu Gericht

sitzen und mit »Euer Ehren« angesprochen werden, wenn nicht die armen Kerle da wären, die Tag

für Tag vor ihn geschleppt werden? Durch diese Erkenntnis wird seine Arbeit nicht in Frage gestellt

und seine Funktion auch nicht untergraben. Er spielt die Rolle des Richters umso besser, wenn er sich

dessen bewusst ist, dass nach der nächsten Drehung des Glücksrads er derjenige sein kann, der

angeklagt wird, und dass er schon jetzt auf der Anklagebank sitzen würde, wenn alles über ihn

bekannt wäre.

Wenn man dies als Zynismus betrachtet, dann wenigstens als liebevollen Zynismus – als eine

Einstellung oder eine Atmosphäre, die menschliche Konflikte erfolgreicher dämpft als noch so starke

körperliche Gewalt oder noch so heftiges Moralisieren.

Mit einer solchen Einstellung wird nämlich anerkannt, dass das wahrhaft Gute an der menschlichen

Natur ihr besonderes Gleichgewicht ist zwischen Liebe und Egoismus, Vernunft und Leidenschaft,

Geistigkeit und Sinnlichkeit, Mystizismus und Materialismus, ...... . Vergessen also die beiden Pole Gut

und Böse ihre gegenseitige Abhängigkeit und versuchen sie, einander auszulöschen, wird der Mensch

unmenschlich – zum Engel mit dem Flammenschwert oder zum kalten Sadisten.“

Aus: Alan Watts, Die Illusion des Ich. Arkana, München 1980, Seite 184 ff

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Selbsterfahrung für und von BeraterInnen

Nun, um professionell beraten zu können, ‘allparteilich’ und zugleich ’empathisch’ sein zu können,

braucht man Distanz zu sich selbst. Sonst ‘verwickelt’ man sich leicht in jene Konflikte, welche man

professionell zu lösen als BeraterIn gefordert ist. Was aber macht diese ‘Selbsterfahrung’ nun genau

aus? Wozu muss sie befähigen? Wie genau muss man sein ‘Selbst’ erfahren haben? Wie kann man

sich selber ‘erfahren’? Herkömmlich wird unter Selbsterfahrung folgendes verstanden:

“Selbsterfahrung ist die Herausforderung, sich selbst besser kennen zu lernen, ineffiziente

Verhaltens- und Denkmuster zu reflektieren sowie Vergangenheitsfixierungen loszulassen. Stärken

werden ausgebaut, um in eine Zukunft zu gehen, die für Sie mehr Qualität und Bewusstheit

darstellt…..Selbsterfahrung als gezieltes, methodisch initiiertes und bewusstes Reflektieren und

Nacherleben der eigenen Gefühle und Gedanken.

Zentral ist hierbei die Reflexion, aber auch die Veränderung und Erweiterung der

Selbstwahrnehmung. Auch die persönlichen Kompetenzen und gewohnheitsmäßige

Verhaltensmuster sollen aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet und hinterfragt werden.

Sich selbst besser zu verstehen und kennenzulernen ist das Ziel. Eigene Bedürfnisse und Wünsche

sollen wahrgenommen und akzeptiert werden. Ein gestärkter Selbstwert und ein positiver,

wohlwollender Zugang zur eigenen Persönlichkeit und Gefühlswelt, sind das Resultat.”

OK. Klingt irgendwie nach ‘großem Versprechen’, nach ‘Werbeprospekt’. Warum macht das nicht

jede/r (vor allem PädagogInnen) sofort, wenn ‘Selbsterfahrung’ soviel kann? Warum steht das nicht

im Zentrum der allgemeinen Lehrerausbildung?

Man versteht es nicht, wenn man bei den herkömmlichen Definitionen und Angeboten verweilt.

Ich beginne daher mit Gene Gendlin , dessen Ansatz weit über die üblichen kognitive

Rekonstruktionen des ‘eignen Selbst’ im Kontext von Beratung hinausgeht.

Eugen Gendlin6 (er ist bekanntlich, der Nachfolger des Erfinders der ‚klientenzentrierten

Gesprächstherapie’, Carl Rogers) hat eindrücklich dargelegt, dass es zwei grundlegende Tatsachen

(‘Geheimnisse’) gäbe, deren sich jeder Berater / jede Therapeutin bewusst sein sollte:

„Tatsache 1

Wenn ich mit auf meinen Berater-Sessel setze, weiß ich, dass jeder Beratungsprozess ein großer

Prozess ist. Der geht ziemlich von selber. Dazu ist es aber nötig, dass jemand auf dem Berater-Sessel

sitzt, dass also ein Mensch da ist. Dieses Da-Sein ist ein ganz bestimmtes Gefühl, das ich gerne

beschreiben möchte. Wenn dieses Gefühl da ist, dann kommt die passende Beziehung zwischen

Berater und Klient ziemlich von selbst zustande.

Ich setze mich also hin, und schiebe alle meine Sachen auf die Seite.

Meine eigenen Probleme und Gefühle und die Stimmung in der ich gerade bin, und alles was mir

fehlt, das kommt alles da hin (links neben mich). Auch alle Techniken die ich kenne, stelle ich dorthin.

6 Gene Gendlin, ‘Focusing in der Praxis’, Klett Cotta 1999. Seite 40 ff

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Und dann bin ich da. Denn ich weiß: Wenn ein anderer Mensch da ist, dann ist alles verändert. Was

immer die andere Person da gerade durchleben und durchmachen muss, wenn jemand da ist, dann

wird’s schon gehen.

Dieses Da-Sein ist keine Kunst. Es ist etwas ganz Einfaches. Wenn man diese Einfachheit nicht kennt,

glaubt man, das Da-Sein wäre etwas, das man langsam lernen muss. Aber das ist nicht so. Dieses

Dasein besteht darin, dass ich mich nicht verstecke. Ich stelle alle meine Sachen auf die eine Seite

und dann bin ich da….Am Anfang habe ich das nicht gekonnt. Da war ich viel zu ängstlich und es

erschien mir so wichtig, das Richtige zu tun und der Richtige zu sein.

Und ich wusste doch: Der Richtige bin ich doch nicht. Jetzt weiß ich, dass es nicht darauf ankommt,

wer das ist, sondern darauf, dass jemand da ist. IM AUGENBLICK, IN DEM EIN ANDERER MENSCH

WIRKLICH DA IST, VERÄNDERN SICH DIE PROBLEME UND ALL DIE DINGE, DIE IM KLIENTEN DRIN SIND.

Das ist ein Geheimnis, und diese Geheimnis kenne ich.

Tatsache 2

Das zweite Geheimnis ist vermutlich leichter zu verstehen: IN JEDEM MENSCHEN IST JEMAND DRIN.

Es ist immer jemand drinnen. Die Person, die im Klienten oder der Klientin drin ist, diese Person, die

dort drin wohnt, die kann man immer positiv fühlen. Diese Person die da drin wohnt, ist ja selber da

mit ihren miserablen Sachen – genau so wie jeder andere Mensch – und muss mit diesen Sachen

irgendwie auskommen, genauso wie ich mit meinen.

Wenn man auf das Verhalten, die Inhalte des Klienten reagieren muss, dann kann man nicht immer

positiv sein. Denn dieser Inhalt ist oft ziemlich mies. Wenn ich aber auf die Person, die dort drinnen

wohnt, reagiere, dann kann ich’s immer positiv. Was immer da mies ist, die Person selber muss

versuchen, damit irgendwie klarzukommen. Und es ist immer jemand drinnen, der versucht, ein

Leben zu führen. Auch bei Leuten, die den scheinbar einfachen Weg gehen und sich schlecht

benehmen.

Daraus folgt: die positive Beziehung zwischen der Person des Beraters und der Klientin ist immer

wichtiger als jede Methode. Dann geht der Beratungsprozess ziemlich von selber, dann wird gewusst,

wann von mir als Berater welche Methoden anzuwenden sind (die ich natürlich kennen muss).“

Tatsache 3

Was uns Gendlin aber verschweigt, ist das dritte Geheimnis: dass es nichts Schwereres gibt, als die

Einfachheit dieser beiden Geheimnisse zu begreifen, und zwar so, dass man sie in jeder

Beratungssituation ‘einfach’ leben kann. Dazu muss man sich als Person schon ziemlich gut kennen.

Andernfalls kann man seine ‘Gewohnheiten’ und ‘Überzeugungen’ und ‘Ängste’ nicht einfach zur

Seite stellen. Und ohne diese Selbstkenntnis, Selbsterfahrung kann man auch nicht von den

Gewohnheiten und Überzeugungen seines Gegenübers absehen, um die ‘Person’ hinter all den

Masken und Inszenierungen direkt wahrzunehmen.

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What you see is all there is (‘WYSIATI’)?

„Wir erleben immer mehr als wir

sagen können“ – Hans Peter Dürr

‚WYSIATI‘ ist Kahnemans7 Formulierung für die Tatsche der Fokussierung unserer Wahrnehmung auf

bewusst Wahrgenommenes. ‚Wir sehen nicht, was wir nicht sehen und dass wir nicht sehen‘ (Heinz

von Foerster). Was wird nicht wahrgenommen? Das was unbewusst (ubw) ist, außerhalb des Fokus

unserer bewussten Wahrnehmung liegt. Riesige ‚blinde Flecken‘ der Wahrnehmung, das UBW,

steuern dann das BW. WYSIATI ist ein Stichwort (Akronym) für diese kognitiv-emotionalen Prozesse.

►► Wir treffen innerhalb weniger Sekunden unser Urteil über jemanden oder über eine Situation,

in der wir uns befinden. Dabei verwenden wir die uns bis dahin zugänglich gewordenen

Informationen. Danach bestätigen wir uns zumeist nur mehr unsere schnell getroffenen

Entscheidungen.

Zu diesem Sachverhalt äußert sich auch der bekannte Schreiber Rolf Dobelli:

„Klar ist, dass Menschen die Welt zuerst durch Geschichten erklärt haben, bevor sie begannen,

wissenschaftlich zu denken. Die Mythologie ist älter als die Philosophie. Das ist der Story Bias:

Geschichten verdrehen und vereinfachen die Wirklichkeit. Sie verdrängen alles, was nicht so recht

hineinpassen will…….. Fazit: Von der eigenen Biografie bis hin zum Weltgeschehen – alles drechseln

wir zu »sinnhaften« Geschichten. Damit verzerren wir die Wirklichkeit – und das beeinträchtigt die

Qualität unserer Entscheidungen. Zur Gegensteuerung: Pflücken Sie die Geschichten auseinander.

7 Daniel Kahneman, (2012): Schnelles Denken, Langsames Denken., München: Siedler

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Fragen Sie sich: Was will die Geschichte verbergen? Und zum Training: Versuchen Sie, Ihre eigene

Biografie einmal zusammenhangslos zu sehen. Sie werden staunen.”8

Ein etwas seltsamer Ratschlag: wer kann seine Biographie schon ‚zusammenhanglos‘ sehen? Dann ist

sie ja keine Biographie mehr. Aber es gibt wohl etwas anderes gemeint: es gibt unendlich viele

mögliche Versionen, wie man seine Lebensgeschichte erzählen könnte. Und manche davon fühlen

sich dann stimmiger und lebendiger machend an als andere. Und eine davon ist vermutlich die

stimmigste…..kalt, wärmer, kälter, ganz heiß…... . - Ja, solch ein Suchspiel ist das, was man

‚Selbsterfahrung‘ nennt.

► Selbsterfahrung: Ausleuchten des UBW. Aber wie? Schwierigkeiten: a) Ein unendliches Gebiet

(‚Die Seele ist ein weites Land‘) b) Auch die Wahrnehmung des Analytikers wird ja durch das

bestimmt, was er analysieren will: das UBW. Und bei Selbstanalyse gilt das sowieso. c) Man muss

dabei das ‚Tempo‘ massiv rausnehmen, d.h. sich entschleunigen. Sowas macht nervös, man verliert

die vertrauten Rhythmen und Haltegriffe, die vertrauten Ablenkungen. d) Wann ist man fertig? Es ist

eine unendliche Geschichte (und in der Zwischenzeit entstehen neue Probleme…), und so etwas kann

einem wirklich entmutigen. Man weiß nicht, wann genug wirklich genug ist.

Persönliche ‚Maskerade‘: die Person (‚personae dramatis‘) als ‚Maske‘ eines Schauspielers.

Man kann das o.a. auch so sagen: Wir sind uns selbst ein Rätsel, wir sind uns selber fremd. Vor lauter

Verstellung und Rollenspiel. Wir sind Maskierte. Und wer ist hinter all den Masken, wer ist der

Schauspieler? Wer bin ich wirklich? Im Aufsatz ‚Männliche Masken und sexuelle Scharaden in Mythos

und Literatur‘9 schreibt der Kulturwissenschaftler und profunde Kenner der Psychoanalyse Prof. Dr.

Hartmut Böhme:

„Unter Maskerade verstehe ich zweierlei: (1) Maskerade ist ein anthropologischer

Elementarmechanismus, der auf Grund des den Menschen kennzeichnenden Selbstbewusstseins,

also seiner Exzentrizität, unvermeidlich ist. Diese Form der Maskerade wird schon im Mythos – z.B. in

der biblischen Schöpfungsgeschichte – mit der Scham, als Bewusstsein der je eigenen

Geschlechtlichkeit, verbunden (Gen 3, 1-24).

Es gibt keine Kultur, die nicht elementare wie kunstvolle Techniken der Maskerade ausgebildet hat.

Selbstverständlich gilt dieser Zwang zur Maskerade für Männer wie für Frauen – und erst recht für

alle Grenzgänger zwischen den Geschlechtern, zwischen Menschen und Göttern, zwischen Menschen

und Tieren, also für jene Komposit-Wesen, die in den Mythen ihr fabelhaftes Wesen treiben10. Der

aufs Spiel gestellte, riskanter Existenz ausgesetzte, mithin exzentrische Mensch ist, auch wenn er

8 Rolf Dobelli, Die Kunst des klaren Denkens. Hanser 2011

9

https://www.google.at/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&cad=rja&uact=8&ved=0CCEQFjAAahUK

EwifxuubjKjHAhXJuhQKHWWPAwA&url=http%3A%2F%2Fpublikationen.ub.uni-

frankfurt.de%2Ffiles%2F11729%2FBoehme_maskerade.pdf&ei=vp7NVZ_vEMn1UuWeDg&usg=AFQjCNEB2Csn2

AxFwgmhl8-5NoSC9rQ2dg&sig2=fiDOwyzFkoVHS59W4deD8w&bvm=bv.99804247,d.bGQ 10

Böhme, Hartmut: „Im Zwischenreich. Von Monstren, Fabeltieren und Aliens.“ In: ZDF-Nachtsudio

(Hg.): Mensch und Tier. Geschichte einer heiklen Beziehung. Frankfurt am Main 2001, S. 233-258.

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arbeitet und produziert, ein homo ludens, ein durch und durch performatives Lebewesen11. In allen

vier, von Roger Caillois ausgemachten Spieltypen, im Agôn, in der Alea, und besonders in Mimicry

und Ilinx entwickeln die Menschen vielfältige, kulturell differente Formen der der Maskerade12.

Mensch-Sein heißt, sich verkörpern zu müssen – biographisch spätestens von dem Zeitpunkt an, wo

das der Sprache und des Rollenspiels mächtige, also zu sozialem Handeln befähigte Kind über die

Mechanismen der Differenzierung von Wahrheit und Lüge, Sein und Schein, Sein und Sollen, Mann

und Frau, Lebenkönnen und Sterbenmüssen verfügt. Vorher ist das Kind sein Körper, nun hat es ihn

oder beginnt, ihn zu haben, d.h. es verkörpert sich – und wird fortan viele Masken tragen, aber

niemals mehr keine. Kulturgeschichtlich liegen diese Differenzierungen – und mit ihnen die

Fähigkeiten zur Maskerade – sicherlich um 40000 v.u.Z. vor. Es gibt keine maskenlose Existenz. Zum

Menschen werden heißt auch, über die Techniken der simulatio und dissimulatio verfügen zu lernen,

die im Zeitalter der Renaissance und des Barock, aufgrund des hier erstmals systematisch

reflektierten Theatral-Verhaltens des Menschen, konzeptualisiert wurden13. Dies bildet den

Hintergrund für die im 20. Jahrhundert in der Soziologie verwendete Rollen- und Theater-Theorie als

Modell sozialen Verhaltens14.

Das bis in die Psychoanalyse reichende Phantasma maskenloser Authentizität ist ein von der Hof-

Kritik lanciertes bürgerliches Hirngespinst, ja, es ist selbst die Maskierung eines tiefsitzenden

Begehrens: nämlich hinter die Maske zurück in den authentischen Zustand paradiesischer

Hüllenlosigkeit zurückzukommen. Ein Mensch ohne Maske aber wäre kein Mensch. Maskerade ist ein

humanogener Mechanismus, der freilich tief in der biologischen Evolution verankert ist: in den

Tarnungen und der Mimikry, in den Spielformen, im Balz- und Imponierverhalten und den

Täuschungsmannövern der Tiere15. Von daher ist klar, dass Maskerade nicht nur eine kulturelle

Überschuss-Produktion darstellt, sondern in Selbsterhaltungsfunktionen verankert ist. Auch von der

anderen Seite her, dem Göttlichen, zeigt sich, dass gerade Götter, insofern sie 'als Götter' sich

erweisen, aus der prinzipiell entzogenen Essentialität heraustreten und sich verkörpern müssen oder

durch Menschen verkörpert werden. Die Maske ist das Medium, das Göttern allererst ihren Auftritt

in der Menschenwelt, also ihre Offenbarung erlaubt. Es ist lehrreich, dass Offenbarung, performative

Verkörperung und Maskierung dasselbe sind.

Der angeblich sokratische Satz, von Johann Georg Hamann zitiert: "Rede, daß ich Dich sehe!"16, wäre

auch so zu formulieren: 'Maskiere dich, daß ich dich sehe!'. Maskenlosigkeit wäre dagegen der

11

Plessner, Helmuth: „Die Frage nach der Conditio Humana“. In: Gesammelte Schriften Bd. VIII.

Frankfurt am Main 1983, S. 136-217. – Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im

Spiel. Reinbek bei Hamburg 1956. 12

Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Frankfurt am Main 1982. 13

Vgl. Schweska, Marc: Simulatio und Dissimulatio. Problematisierung von Macht und Moral von der

Renaissance bis zur Aufklärung. Magister-Arbeit Berlin 2000. – Röller, N.: „Simulation“. In: Ritter, Joachim (Hg.):

Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9. Basel Stuttgart 1974, Sp. 795-797. 14

Goffman, Erving: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Frankfurt am Main 1971. – Goffman,

Erving: Wir alle spielen Theater (The Presentation of Self in Everyday Life 1957). München Zürich 1969.

– Ders.: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Frankfurt am Main 1971. 15

Groos, Karl: Die Spiele der Menschen. Jena 1899. – Ders.: Die Spiele der Tiere. Jena 1896. –

Buytendijk, Frederik J. J.: „Wesen und Sinn des Spiels. Das Spielen der Menschen und der Tiere als

Erscheinungsform der Lebenstriebe“. In: Nervenarzt 33. H. 12 (1962), S. 525–53. – Sommer, Volker:

Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch. München 1992. 16

Hamann, Johann Georg: Sokratische Denkwürdigkeiten (1759) / Aesthetica in nuce (1762). Hg. v.

Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart 1968, S. 87.

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absolute Entzug, wäre Negative Theologie und Negative Anthropologie, Gott und Mensch ohne

Verkörperung. Das erst sind wahrlich Monstren.

(2) Die zweite Form der Maskerade ist diejenige, welche die elementare Maskerade verdoppelt bzw.

kulturell erweitert. So wie das Theater nur die ausdifferenzierte Form kulturell universaler

Theatralität ist, so ist der Schauspieler nur der professionelle Parasit der universalen Maskerade.

Doch zugleich ist er die Markierung einer Differenz. Denn während die meisten der Rollen, die wir

spielen, und der Masken, die wir tragen, uns in unserer Personalität identifizieren, können Masken

auch Potentialitätsräume eröffnen und das Repertoire des Denkbaren, Vorstellbaren, Erlaubten und

Erreichbaren vergrößern. Maskeraden determinieren einerseits das alltägliche Handeln; andererseits

kreieren sie das Außer- und Überalltägliche, das Virtuelle und Imaginäre. Masken verkörpern uns in

dem, was wir innerhalb eines sozialen Settings sind, und in Masken verkörpern wir das Andere

unserer selbst, alles Sub- und Transhumane, das Unerlaubte und Ausgrenzte, das Verdrängte und

Tabuierte, das Unerreichbare und Mächtige, das Gefürchtete und das Begehrte, das Heilige und das

Profane. Darin erst realisieren Mann wie Frau ihre Natur, nämlich, nach Nietzsche, das "noch nicht

festgestellte Thier"17 zu sein, d.h. eine Maske zu tragen, welche die grandiosen Metamorphosen und

kleinen Veränderungen, das Neue und den Horizont des Möglichen eröffnet.

Doch es kann zu dieser Art der Maskerade auch gehören, das sie sich selbst maskiert. So erfindet der

die Masken der Ohnmacht und Demut tragende Mensch die Götter, die omnipotent und erhaben

sind: die Götter nämlich sind maskierte Masken seiner selbst, seines phantasmatischen Wunsches,

stolz und mächtig, willkürlich und souverän im endlichen Reich der Natur und seines Lebens zu

agieren.“

Es gibt also keine ‚Authentizität?

Der bekannte Grazer Psychotherapeut Siegfried Essen merkt dazu (im Kontext systemischer

Strukturaufstellungen)18 treffend an: „Authentizität wäre dann Gegenwärtigkeit“.

“Später, am Bühnenrand sitzend bleibt mir das Wissen: Die Rollen sind verschiedene Perspektiven

auf das Geschehen das durch uns hindurchfließt. Wesenhaft gibt es keinen Unterschied. Ich fühle

mich bereichert um die Erfahrung, alles sein zu können, oder auch entleert zu sein vom Glauben an

eine feste Ich-Struktur. Manchmal kommt es mir vor, als hätte nicht ich eine Rolle gespielt, sondern

als hätte die Rolle mich gespielt.

Die größte Überraschung, die ein Anfänger bei der Übernahme einer fremden Rolle erlebt, besteht

wohl darin, dass es möglich ist, ohne Rücksicht auf meine Selbstentwürfe, in einem fremden Kontext

stimmig zu handeln. Wiederholtes Rollenspiel dieser Art kann also von der Vorstellung befreien, nur

in dieser einen Rolle, „Ich-Selbst“ genannt, authentisch handeln, leben und sein zu können. Welch

ein Skandal gegenüber dem Selbst. Klammheimlich wird seine unaufhaltsame

17

Nietzsche, Friedrich: „Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“. In:

Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. 15 Bde. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari.

München/Berlin New York 1988, Bd. 5, S. 81. 18 Aus: Siegfried Essen, Präsenz im Spiel. http://www.siegfriedessen.com/

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Dekonstruktion eingeleitet und das begleitet von dem wunderbaren Geschmack von Kontakt und

Freiheit. Darf das denn wahr sein, dass es uns in einer fremden Rolle leichter gelingt, authentisch zu

handeln, als im Namen der so mühsam aufgebauten eigenen Identität?! Sollte der Begriff der Treue

zu sich Selbst ein Versicherungsbetrug sein? Was, wenn wir den roten Faden, der unser

gegenwärtiges Handeln mit dem früheren verbindet, gar nicht brauchten oder wenn es ihn gar nicht

gäbe? Dann wäre die Geschichte, die ich mir und anderen immer wieder erzähle, wenn ich gefragt

werde, wer ich bin, nur eine Geschichte, und ich verbrauchte die Hälfte meiner Lebensenergie mit

den redundanten Versuchen, sie glaubwürdig zu rekonstruieren, nur um mir den Glauben an meine

eigene Kontinuität zu bewahren. Was, wenn auch die Einheit des Selbst nur eine Illusion wäre? Dann

wäre jede Unterscheidung von den anderen „Selbsten“ unwichtig, ein Spiel des Geistes. Jede

Getrenntheit wäre dann aufgehoben. Statt dessen wäre Authentizität Gegenwärtigkeit.”

Und in dasselbe Horn stößt Alan Watts:

„Das Wichtigste ist, dass wir eine neue Art Bewusstsein brauchen – was bedeutet: Jeder Mensch sollte

sich vergegenwärtigen, dass sein wahres Selbst nicht nur sein bewusstes Ich ist. Nehmen wir

beispielsweise den Scheinwerfer eines Autos. Sie beleuchten die Straße vor dem Auto, jedoch nicht das

Kabel, das die Leuchte mit der Batterie der Beleuchtungsanlage verbindet. Man könnte also sagen,

dass sich der Scheinwerfer in einem gewissen Sinne nicht dessen bewusst ist, wie er leuchtet; und

genau in diesem Sinne sind wir uns über den Ursprung unseres Bewusstseins nicht im Klaren. Wir

wissen nicht, wie wir wissen…… .Wir sind also im Grunde unwissend und ignorant; das heißt, wir

ignorieren, und es gelangt nicht in den Bereich unserer Aufmerksamkeit oder unseres bewussten

Gewahrseins, wie es uns gelingt, bewusst zu sein, oder wie wir es schaffen, unser Haar wachsen zu

lassen, unsere Knochen zu formen, unser Herz zu schlagen und mit unseren Drüsen all die Sekrete zu

produzieren, die wir brauchen. Wir tun dies alles, wissen aber nicht, wie wir dies anstellen. Unter dem

oberflächlichen Selbst, das seine Aufmerksamkeit auf dieses und jenes richtet, gibt es noch ein

anderes Selbst, das im Grunde eher ‚wir’ als ‚ich’ ist. Je bewusster Sie sich dieses unbekannten Selbst

werden – falls Sie sich seiner bewusst werden -, umso klarer wird Ihnen seine unauflösliche

Verbundenheit mit allem anderen, was ist.“19

Solche Formulierungen können nicht mehr als Andeutungen sein, Hinweise, Metaphern, Gleichnisse.

Es geht also ums ‚gegenwärtig sein‘, ums ‚gewärtig sein‘, darum, ganz dabei zu sein, bei dem, was

gerade vor sich geht, was man gerade macht. Und drauf zu kommen, was einem hindert, so ‚präsent‘

zu sein, sich bewusst zu sein, dass man jetzt diese und diese Rolle voll und ganz spielt, sie aber

deshalb nicht ist. Ein Schauspieler, der vergisst, dass er ein solcher ist, während er eine Rolle

verkörpert, der ist ein schlechter Schauspieler.

Eine neue Art Bewusstsein

Aber auch das ist nur eine Metapher! Und eine sehr dürftige dazu, denn sie verführt uns, ‚einen Geist

in der Maschine‘ zu suchen, ‚das kleine Männchen‘, das irgendwo in meinem Körpergefüge sitzt und

alles wahrnimmt und steuert. So ist es aber nicht, wie der Quantenphysiker Erwin Schrödinger so

treffend festgestellt hat:

„Es wird uns ganz schwer, uns klarzumachen, daß die Lokalisierung der Persönlichkeit im Leibe nur

symbolisch, nur für den praktischen Gebrauch bestimmt ist. Wenn wir mit den Kenntnissen, die wir

19

Alan Watts, Das Tao der Philosophie. 2003 Theseus, Berlin

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davon haben, dem seelenvollen Blick ins Innere nachgehen, stoßen wir allerdings auf ein überaus

interessantes, unerhört verwickeltes Getriebe: Milliarden von Zellen sehr spezialisierten Baues und

unübersehbar komplizierter, jedoch augenscheinlich auf weitgehende gegenseitige Kommunikation

abzielender Anordnung; hämmernde elektrische Stromstöße, die unablässig, aber in fortwährend

rasch wechselnder Verteilung pulsieren, von Nervenzelle zu Nervenzelle fortgeleitet, wobei in jedem

Nu Zehntausende von Kontakten gebildet und wieder blockiert werden; chemische Umsetzungen, die

damit Hand in Hand gehen; all dies und anderes treffen wir an und entdecken schließlich vielleicht

mehrere Strombündel, die durch lange Zellfortsätze, motorische Nervenfasern, zu gewissen

Armmuskeln fließen, welche uns daraufhin zögernd und zitternd die Hand zum langen Abschied

reichen, während andere Strombündel eine Drüsensekretion anregen und Tränen das traurige Auge

umfloren.

Nirgends aber auf diesem ganzen Wege treffen wir die Persönlichkeit an, stoßen wir nirgends auf das

Herzweh und die bange Sorge, die diese Seele bewegen und wovon die Wirklichkeit uns doch so

gewiss ist, wie wenn wir sie selbst erlitten – und das tun wir ja auch.

Das Bild, das die physiologische Analyse uns von irgendeinem anderen Menschen entwirft, und wär

es unser nächster Freund, erinnert mich frappant an Poes Meisternovelle von der “Maske des roten

Todes”. Ein junger Prinz hat sich mit seinem Gefolge auf ein einsames Schloß zurückgezogen, um der

furchtbaren Seuche zu entfliehen, die im Lande wütet und der “rote Tod” genannt wird. Nachdem

die Herrschaften sich dort die ersten Tage der Abschließung auf diese und jene Art vertrieben haben,

wird ein Tanzfest arrangiert, ein Maskenball, selbstverständlich nur für die Insassen des Schlosses.

Eine der Masken, ein hochgewachsener Mann, hat sich tief verschleiert und ganz und gar in

scharlachrot gekleidet. Er stellt ganz offenbar allegorisch die Seuche dar, den “roten Tod”. Schon

dieser freche Mutwille läßt jedermann erschaudern, außerdem weiß niemand, wer es ist, man

fürchtet einen Eindringling, man weicht ihm aus, zieht sich von ihm zurück. Aber endlich, um den

Bann zu brechen, nähert sich der roten Maske ein Verwegener, und mit plötzlichem kühnen Ruck

reißt er Gesichtsmaske und Kopfschleier fort. Es zeigt sich, sie waren leer.

Nun, unsere Schädel sind nicht leer, aber was sich darin vorfindet, so interessant es ist, ist doch

wahrhaftig nichts, wenn es um Gefühlswerte und das Erleben einer Seele geht. Dies gewahr zu

werden, mag uns im ersten Augenblick erschüttern. Wir überwinden den Schrecken aber leicht,

wenn wir bedenken, daß die Überlegung ja genauso auf uns selber zutrifft – und doch ‘sind’ wir. Bei

tieferem Nachdenken liegt sogar ein Trost in dieser Erkenntnis. Wenn Sie vor dem entseelten

Leichnam eines nahen Freundes stehen, den Sie schwer vermissen werden, ist es eher tröstlich zu

wissen, daß dieser Leib ‘nie wirklich’ der Sitz seiner Persönlichkeit war, sondern nur symbolisch oder

semantisch, nicht vielmehr als eine richtige Briefanschrift oder Telefonnummer.

All dies wurde gesagt von dem Standpunkt aus, dass wir die altehrwürdige Unterscheidung zwischen

Subjekt und Objekt akzeptieren. Zwar müssen wir das im täglichen Leben “aus praktischen Gründen”

tun, aber mir scheint, wir sollten sie im philosophischen Denken aufgeben. Es sind die gleichen

Gegebenheiten, aus denen die Welt und mein Geist gebildet sind. Die Welt gibt es für mich nur

einmal, nicht eine existierende ‘und’ eine wahrgenommene Welt. Subjekt und Objekt sind nur eines.

Man kann nicht sagen, die Schranke zwischen ihnen sei unter dem Ansturm neuester physikalischer

Erfahrungen ausgefallen; denn diese Schranke gibt es überhaupt nicht.”20

20

Erwin Schrödinger, Geist und Materie, Zürich 1989

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Und sein Kollege Hans Peter Dürr21:

„Im Grunde gibt es Materie gar nicht. Jedenfalls nicht im geläufigen Sinne. Es gibt nur ein

Beziehungsgefüge, ständigen Wandel, Lebendigkeit. Wir tun uns schwer, uns dies vorzustellen.

Primär existiert nur das ‚Eine’, und das ist Zusammenhang; das Verbindende ohne materielle

Grundlage. Wir könnten es auch Geist nennen. Etwas, was wir nur spontan erleben und nicht greifen

können….. „Wir verwenden lauter Substantive, wo wir Verben nehmen sollten. Das prägt unser

Denken. Wenn wir über die Quantenphysik sprechen, sollten wir eine Verb-Sprache verwenden. In

der subatomaren Quantenwelt gibt es keine Gegenstände, keine Materie, keine Substantive, also

Dinge, die wir anfassen und begreifen können. Es gibt nur Bewegungen, Prozesse, Verbindungen,

Informationen. Auch diese genannten Substantive müssten wir übersetzen in: Es bewegt sich, es läuft

ab, es hängt miteinander zusammen, es weiß voneinander. So bekommen wir eine Ahnung von

diesem Urgrund der Lebendigkeit. Besser gesagt: Wir ahnen und erleben.“

Und warum tun wir uns so schwer, dass zu verstehen?

„Weil unser Gehirn nicht darauf trainiert ist, die Quantenphysik zu verstehen. Mein Gehirn soll mir im

Wesentlichen helfen, den Apfel vom Baum zu pflücken, den ich für meine Ernährung brauche. Unsere

Umgangssprache ist eine Apfelpflücksprache. Sie hat sich herausgebildet, weil sie enorm

lebensdienlich ist. Bevor ich eine Handlung ausführe, spiele ich diese erst einmal in Gedanken durch,

um zu erfahren, ob sie zum gewünschten Ziel führt – ja oder nein? Das ist die zweiwertige Logik. Aber

diese zweiwertige Ja-oder-Nein-Logik ist eben nicht die Logik der Natur. Die Quantenphysik

beschreibt die Natur viel besser, denn in der Quantenwelt herrscht die mehrwertige Logik, also nicht

nur Ja und Nein, sondern auch Sowohl/Als-auch, ein Dazwischen. Eben das Nicht-Greifbare, das

Unentschiedene. Daran müssen wir uns gewöhnen.“

► Dieses Nichtgreifbare, das noch Unentschiedene, das sich jederzeit entsprechend der Umstände

entscheiden kann – das also wäre meine wirkliches ICH? Und primär nicht das Bekannte, Gewusste?

Und wie hängt das Bekannte mit diesem Nichtgreifbarem zusammen? Simone Weil hat eine

atemberaubend präzise Formulierung dafür gefunden: Es ist der ‚offene Geist, die ‚freischwebende

Aufmerksamkeit‘:

„Die Aufmerksamkeit besteht darin, das Denken auszusetzen, den Geist verfügbar, leer und für den

Gegenstand offen zu halten, die verschiedenen bereits erworbenen Kenntnisse, die man zu benutzen

genötigt ist, in sich dem Geist zwar nahe und erreichbar, doch auf einer tieferen Stufe zu erhalten,

ohne dass sie ihn berührten. Der Geist soll hinsichtlich aller besonderen und schon ausgeformten

Gedanken einem Menschen auf einem Berge gleichen, der vor sich hinblickt und gleichzeitig unter

sich, doch ohne hinzublicken, viele Wälder und Ebenen bemerkt. Und vor allem soll der Geist leer sein,

wartend, nichts suchend, aber bereit, den Gegenstand, der in ihn eingehen wird, in seiner nackten

Wahrheit aufzunehmen.“

Dann, in einer solchen Aufmerksamkeitsstimmung, stimmt unsere ursprüngliche Intuition: WYSIATI,

‘What you see is all there is.’ – Aber das gilt dann auch nur jetzt, immer nur jetzt, nur für diesen

Augenblick.

21

Die Zitate Zitate stammen aus einem mit ‚Am Anfang war der Quantengeist’ übertitelten Interview mit Hans Peter Dürr, siehe:

https://sites.google.com/site/gettingertrainingresources/documents/Quantengeist%2C%20D%C3%BCrr.pdf?attredirects=0&d=1

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Wir leben, wissen aber nicht, wie

“A quiet mind is all you need. All else will happen rightly, once

your mind is quiet. As the sun on rising makes the world active,

so does self-awareness affect changes in the mind. In the light

of calm and steady self-awareness inner energies wake up and

work miracles without effort on your part.” – M. Nisargadatta*

Das ICH der meisten Menschen ist das ‚tätige Ich‘, das ‚aktive ICH‘. Diesem tätigen (und sich seiner

selbst bewussten) Ich liegt das ‚spontane ICH‘, das ‚SEIN‘ (das ‚ICH BIN‘ ohne einen Zusatz) zugrunde.

Diese ICH BIN weiß nichts von sich, es weiß nur, dass es ist: im Gefühl der Präsenz. Dieses ICH BIN ist

zugleich alles und nichts, es ermöglicht jedwedes tätig sein, ohne selbst eine spezifische Tätigkeit von

jemandem Bestimmten zu sein. Es ist somit der erlebbare Ausdruck des Lebens selbst, das Erleben

ungebrochenen Lebendigseins, Leben und Gelebtwerden vom ‚Grund der Seele‘ der Seele her.

Dieses ICH BIN ist uns allen gemeinsam, darin unterscheiden wir uns nicht, es ist der Boden, dem

unsere tätigen Ichs entspringen (und zu dem sie immer wieder zurückkehren – zeitlich im Schlaf und

in den Senilität des hohen Alters oder in Nahtoderlebnissen).

„Das Wichtigste ist, dass wir eine neue Art Bewusstsein brauchen – was bedeutet: Jeder Mensch sollte

sich vergegenwärtigen, dass sein wahres Selbst nicht nur sein bewusstes Ich ist. Nehmen wir

beispielsweise den Scheinwerfer eines Autos. Sie beleuchten die Straße vor dem Auto, jedoch nicht das

Kabel, das die Leuchte mit der Batterie der Beleuchtungsanlage verbindet. Man könnte also sagen,

dass sich der Scheinwerfer in einem gewissen Sinne nicht dessen bewusst ist, wie er leuchtet; und

genau in diesem Sinne sind wir uns über den Ursprung unseres Bewusstseins nicht im Klaren. Wir

wissen nicht, wie wir wissen…… .Wir sind also im Grunde unwissend und ignorant; das heißt, wir

ignorieren, und es gelangt nicht in den Bereich unserer Aufmerksamkeit oder unseres bewussten

Gewahrseins, wie es uns gelingt, bewusst zu sein, oder wie wir es schaffen, unser Haar wachsen zu

lassen, unsere Knochen zu formen, unser Herz zu schlagen und mit unseren Drüsen all die Sekrete zu

produzieren, die wir brauchen. Wir tun dies alles, wissen aber nicht, wie wir dies anstellen. Unter dem

oberflächlichen Selbst, das seine Aufmerksamkeit auf dieses und jenes richtet, gibt es noch ein

anderes Selbst, das im Grunde eher ‚wir’ als ‚ich’ ist. Je bewusster Sie sich dieses unbekannten Selbst

werden – falls Sie sich seiner bewusst werden -, umso klarer Ihnen seine unauflösliche Verbundenheit

mit allem anderen, was ist.“**

Das tätige Ich muss dauernd tätig sein, sonst stirbt es – vor Langeweile und Besorgtheit. Das tätige

Ich ist glücklich, wenn es tätig sein kann und wenn es ruhen kann, um danach wieder ordentlich tätig

sein zu können. Es ist das ‚Kümmerer-Ich‘, das ICH, das glücklich ist, wenn es sich um etwas kümmern

kann und darin vom Ergebnis des Tuns und von anderen Tätern bestätigt wird.

Das tätige Ich braucht daher ständig Abwechslung (Freud sagt über unser aktives Ich: es ist „so

eingerichtet, dass wir nur den Kontrast intensiv genießen können, den Zustand nur sehr wenig.“)

* Maharaj Nisargadatta (originaler Familienname Maruti Shivrampant Kambli) war ein Zigarettenverkäufer in

Bombay (in einem Bidi-Laden verkaufte er diese von Hand gerollte Zigaretten). Als Weisheitslehrer vermittelte

er Suchenden seine Einsichten in Form von Dialogen im Dachgeschoss seines bescheidenen Hauses. **

Alan Watts, Das Tao der Philosophie. 2003 Theseus, Berlin

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Monotones tätig sein ist seine Vorhölle, Nichtstun-Können (Stichwort ‚Ohnmacht‘) seine Hölle,

nämlich die Hölle der Langeweile.

Die Reichen in Sklavenhalter- und Feudalgesellschaften mussten daher auf ganz bestimmte Art und

Weise tätig sein, nämlich als raffinierte Müßiggänger, bewandert in Kunst, Philosophie, Wissenschaft

und Politik – das waren die ‚Künste des freien Mannes‘. Diese musste er beherrschen, um frei sein zu

können, um als Freier in Freiheit leben zu können. Ohne früher oder später in Langeweile, Sorgen

und Schwermut unterzugehen. Man nannte dieses Tun damals ‚Muße‘ – scholé (siehe dazu die

‚Geschichten aus Tausendundeinernacht‘).

Ein Reicher und Mächtiger musste sich ständig Geschichten ausdenken (oder ausdenken lassen), und

der Name ‚Geschichten aus Tausend-und-einer-Nacht‘ trifft den Nagel auf den Kopf. Ohne diese wäre

sein Leben unerträglich geworden, wäre er vor Kummer umgekommen. Kummer angesichts der

Vergänglichkeit alles Seins (aber uns heutigen modernen Menschen geht es kaum anders: wie viele

Stunden verbringen wir täglich vor dem Fernseher mit dem Konsum von Geschichten?). Wer in

irgendwelche Abenteuer verstrickt ist, der kann, ja muss sich bewähren. Der geht darin völlig auf, der

ist von seiner Einsamkeit und inneren Leere befreit. Und so hat der Müßiggänger nur wirklich Muße,

wenn er als raffinierter Müßiggänger tätig ist. Diese Art von tätig sein nennt er dann Freiheit

(‚Freizeitbeschäftigung‘).

► Nimm dem Müßiggänger seine intellektuellen und kulturellen Vergnügungen, seine subtil-

raffinierte Art des tätig seins, und er wird Dir sofort sein Elend offenbaren.

Das kontemplative Leben (‚vita contemplativa‘) ist – wie einleitend schon skizziert - noch einmal

etwas ganz anderes. Es ist nicht das Gegenteil das aktiven Lebens (‚vita activa‘), das ‚Aussteigerleben‘

auf einer Insel abseits des Mainstreams. Es ist ein Leben aus der SEINSGEWISSHEIT heraus, aus der

ewigen Fülle und Erfülltheit. Es ist das Leben des weise gewordenen Menschen. An nichts mangelt

es solchen Menschen mehr, denn sie sind mit der Welt und den je gegebenen Umständen eins

geworden. Sie sind mit sich und der Welt ‚im reinen‘. Sie leben vom ‚Grund der Seele‘ her, alles

geschieht ihnen, sie – als getrennte Wesen - tun nichts. Sie sind, und das genügt (denn kein

Lebewesen kann existieren, ohne spontan aktiv zu sein). ‚Übe das Nichtstun‘, sagt LaoTse, ‚und alles

ist getan‘. Das Leben lebt sich durchs sie, und die Weisen sind Zeugen dieser Lebendigkeit. Sie

hängen an nichts, wollen nichts, müssen nichts – und dennoch bewirken sie unvergleichlich mehr als

alle Tätigen zusammen: ihr Tun macht spontan wieder wett, was die ‚Aktiven‘ ins Ungleichgewicht

gesetzt haben – und weiter ständig setzen (ohne wahrhaben zu können, was sie da tun). Sie leben,

und wissen sehr genau, dass und wie sie leben. Somit wissen sie auch, spontan, voll und ganz zu

leben. Alles, was sie tun, ist heilsam.

Sie leben das, wonach sich jeder Mensch sehnt, ohne dass er verstünde, wonach er sich sehnt. Sie

sind wirklich voll und ganz im Leben angekommen und nichts kann sie mehr davon trennen. Weil sie

sich von allem getrennt haben und ständig trennen, was sie aus dem Lebensfluss schleudern könnte.

“Von mir”, sagt Simone Weil, “wird nichts gefordert als Aufmerksamkeit, eine so völlige

Aufmerksamkeit, dass das ‘ich’ verschwindet.’ Die erforderliche Passivität besteht im Einklammern

des eigenen Wissens, der eigenen Wünsche, Erwartungen und Pläne. Diese Art von ‘Warten’ ist

damit aber kein rein passives ‘Abwarten’, sondern ein offenes ‘ausspannen’ des Geistes. Vorschnelle

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Einordnungen und Abschließungen werden aktiv zurück gewiesen. Diese Öffnung des Geistes für das

jeweils aktuell Neue ist damit eine Übung, vielleicht die schwerste überhaupt.

Simone Weil: „Die Aufmerksamkeit besteht darin, das Denken auszusetzen, den Geist verfügbar, leer

und für den Gegenstand offen zu halten, die verschiedenen bereits erworbenen Kenntnisse, die man

zu benutzen genötigt ist, in sich dem Geist zwar nahe und erreichbar, doch auf einer tieferen Stufe zu

erhalten, ohne dass sie ihn berührten. Der Geist soll hinsichtlich aller besonderen und schon

ausgeformten Gedanken einem Menschen auf einem Berge gleichen, der vor sich hinblickt und

gleichzeitig unter sich, doch ohne hinzublicken, viele Wälder und Ebenen bemerkt. Und vor allem soll

der Geist leer sein, wartend, nichts suchend, aber bereit, den Gegenstand, der in ihn eingehen wird, in

seiner nackten Wahrheit aufzunehmen.“

Dieses Ich wird nur tätig, wenn Tätigkeit gebraucht wird. Sonst ruht es, ruht es in dieser Form von

Achtsamkeit. – Was hindert Dich und mich, diese Form von Achtsamkeit zu leben? Jetzt, genau jetzt.

Immer nur jetzt. Wenn Du das jetzt erkennst, dann bist Du jetzt frei von diesen Zwängen.

So einfach – und zugleich so ‚schwer‘ - ist es, zu leben und zu wissen, wie. Jetzt, immer nur jetzt.

***

Vergleiche damit die bekannte und berühmt gewordene Interpretation dieser Sachverhalte durch

einen Gelehrten des späten 19. Und frühen 20. Jhdts, Sigmund Freud. Nachstehend ein Auszug aus

seiner Schrift ‚Das Unbehagen in der Kultur‘):

„Die Frage nach dem Zweck des menschlichen Lebens ist ungezählte Male gestellt worden; sie hat

noch nie eine befriedigende Antwort gefunden, läßt eine solche vielleicht überhaupt nicht zu.

Manche Fragesteller haben hinzugefügt: wenn sich ergeben sollte, daß das Leben keinen Zweck hat,

dann würde es jeden Wert für sie verlieren. Aber diese Drohung ändert nichts. Es scheint vielmehr,

daß man ein Recht dazu hat, die Frage abzulehnen. Ihre Voraussetzung scheint jene menschliche

Überhebung, von der wir soviel andere Äußerungen bereits kennen. Von einem Zweck des Lebens

der Tiere wird nicht gesprochen, wenn deren Bestimmung nicht etwa darin besteht, dem Menschen

zu dienen. Allein auch das ist nicht haltbar, denn mit vielen Tieren weiß der Mensch nichts

anzufangen — außer, daß er sie beschreibt, klassifiziert, studiert — und ungezählte Tierarten haben

sich auch dieser Verwendung entzogen, indem sie lebten und ausstarben, ehe der Mensch sie

gesehen hatte. Es ist wiederum nur die Religion, die die Frage nach einem Zweck des Lebens zu

beantworten weiß. Man wird kaum irren, zu entscheiden, daß die Idee eines Lebenszweckes mit dem

religiösen System steht und fällt.

Wir wenden uns darum der anspruchsloseren Frage zu, was die Menschen selbst durch ihr Verhalten

als Zweck und Absicht ihres Lebens erkennen lassen, was sie vom Leben fordern, in ihm erreichen

wollen.

Die Antwort darauf ist kaum zu verfehlen ; sie streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden

und so bleiben. Dies Streben hat zwei Seiten, ein positives und ein negatives Ziel, es will einerseits die

Abwesenheit von Schmerz und Unlust, anderseits das Erleben starker Lustgefühle. Im engeren

Wortsinne wird „Glück" nur auf das letztere bezogen. Entsprechend dieser Zweiteilung der Ziele

entfaltet sich die Tätigkeit der Menschen nach zwei Richtungen, je nachdem sie das eine oder das

andere dieser Ziele — vorwiegend oder selbst ausschließlich — zu verwirklichen sucht.

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Es ist, wie man merkt, einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt. Dies

Prinzip beherrscht die Leistung des seelischen Apparates vom Anfang an; an seiner Zweckdienlichkeit

kann kein Zweifel sein, und doch ist sein Programm im Hader mit der ganzen Welt, mit dem

Makrokosmos eben sowohl wie mit dem Mikrokosmos. Es ist überhaupt nicht durchführbar, alle

Einrichtungen des Alls widerstreben ihm; man möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch „glücklich"

sei, ist im Plan der „Schöpfung" nicht enthalten. Was man im strengsten Sinne- Glück heißt,

entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach

nur als episodisches Phänomen möglich. Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation

ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen; wir sind so eingerichtet, daß wir nur den Kontrast intensiv

genießen können, den Zustand nur sehr wenig. Somit sind unsere Glücksmöglichkeiten schon durch

unsere Konstitution beschränkt. Weit weniger Schwierigkeiten hat es, Unglück zu erfahren. Von drei

Seiten droht das Leiden, vom eigenen Körper her, der zu Verfall und

Auflösung bestimmt sogar Schmerz und Angst als Warnungssignale nicht entbehren kann, von der

Außenwelt, die mit übermächtigen, unerbittlichen, zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann, und

endlich aus den Beziehungen zu anderen Menschen. Das Leiden, das aus dieser Quelle stammt,

empfinden wir vielleicht schmerzlicher als jedes andere ; wir sind geneigt, es als eine gewissermaßen

überflüssige Zutat anzusehen, obwohl es nicht weniger schicksalsmäßig unabwendbar sein dürfte als

das Leiden anderer Herkunft.“

***

Geschichten aus Tausend und einer Nacht…..

► Er werde in Zukunft nur noch für eine einzige Nacht heiraten und seine Ehefrau am nächsten

Morgen töten, um vor ihrer Bosheit und Arglist in Sicherheit zu sein…….

„Man hat erzählt - doch Gott allein kennt das Verborgene, und nur Er weiß, was einst wirklich

geschah in den längst vergangenen Geschichten der Völker – dass es in alter Zeit, als noch die Könige

der Sasaniden herrschten, im Inselreich von Indien und China zwei Könige gab. Sie waren Brüder. Der ältere hieß Schahriyar, der jüngere Schahsaman. Schahriyar, der ältere der beiden, war ein

gewaltiger Ritter und kühner Held, an dessen Feuer man sich besser nicht zum Wärmen setzte,

dessen Kriegstrommel niemals verstummte und der auf keine Blutrache verzichtet hätte. Er herrschte

über die entferntesten Länder und über alle Menschen. Die Länder waren ihm ergeben und seine

Untertanen ihm gehorsam. Seinem Bruder Schahsaman gab er das Land von Samarkand als

Königreich und setzte ihn dort als Sultan ein.“ – Nach zehn Jahren wollte Schahriyar seinen Bruder

wieder sehen und schickte daher nach ihm. Schahsaman empfing die vornehme Gesandtschaft seines

Bruders und machte sich für die Reise bereit. „Dann zog er, mit allem Notwendigen für die Reise

versehen, aus der Stadt hinaus. Er verbrachte die Nacht bei dem Wesir seines Bruders. Gegen

Mitternacht aber kehrte er noch einmal in die Stadt zurück und begab sich zu seinem Palast, um seiner Frau Lebewohl zu sagen. Als er den Palast betrat, fand er seine Frau schlafend, und neben ihr

lag ein anderer Mann. Es war einer von den Bediensteten in der Küche. Die beiden hielten einander

eng umschlungen.“ Der König begann zu denken. „Ich bin ja noch kaum aus meiner Stadt! Wie wird

es erst zugehen, wenn ich mich auf die Reise gemacht habe zu meinem Bruder nach Indien? Und was

wird nach meinem Tode hier geschehen? Nein, nein, auf die Frauen ist kein Verlass! Und er geriet in

eine unbezwingbare Wut.......er zog sein Schwert, erschlug die beiden – nämlich den Koch und seine

Frau - , schleifte sie an den Füßen zum Palast hinaus und warf sie in den Wallgraben hinab. Dann eilte

er wieder hinaus vor die Stadt zum Wesir des Bruders und ordnete den sofortigen Aufbruch an.“

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Sein Bruder empfing ihn freundlich und bereitete ihm eine schöne Zeit. Doch Schahsaman, der seine

Schmach vor allen verbarg, verzehrte sich in Selbstmitleid und Kummer. „>Kein Mensch<, so dachte

er, >hat jemals so etwas erlebt!< Sein Gemüt wurde wie von Maden zerfressen. Er aß wenig, wurde

blass, durch den Kummer veränderte sich sein ganzer Zustand, und so ging es immer weiter bergab

mit ihm, bis sein Körper völlig abgemagert war und seine Hautfarbe gänzlich verändert aussah.“

Seine Bruder, der von den Hintergründen nichts wusste, dacht nur, dass sein Bruder Heimweh hätte

und plante ihn wieder nach Hause zu schicken. Vorher begab sich König Schahriyar aber noch auf

eine zehntägige Jagd. Was jedoch musste Schahsaman während der Abwesenheit seines Bruders

erfahren? Er musste mit ansehen, wie die Königin, die Frau seines älteren Bruders, diesen in seiner Abwesenheit mit einem Sklaven betrog, und nicht nur einmal, sondern beständig. Und das im Haus

des mächtigsten Herrschers der Welt! „Bei Gott“, sagte er sich, „mein Unglück ist leichter zu ertragen

als das Unglück meines Bruders.....Seinen eigenen Kummer vergaß er, und über sein Unglück tröstete

er sich schnell hinweg.“

Sein Bruder wollte natürlich, wie man sich leicht denken kann, erfahren, was den schier

wundersamen Stimmungswandel seines Bruders bewirkt hatte. Nach langem Zögern verriet ihm

dieser den Grund. Schahriyar ließ seine Frau hinrichten und tötete eigenhändig all seine Sklavinnen

und Dienerinnen und nahm andere an ihrer Stelle. „Und nun tat er vor sich selbst ein Gelöbnis: Er

werde in Zukunft nur noch für eine einzige Nacht heiraten und seine Ehefrau am nächsten Morgen

töten, um vor ihrer Bosheit und Arglist in Sicherheit zu sein, denn >auf der ganzen Welt<, so stellte er

fest, >gibt es keine einzige anständige Frau<“. Und so hielt er es auch, viele Jahre............bis

Schahrasad, die ältere der beiden Töchter seines Großwesirs, sich dem König zur Frau darbot und

diesen listig mit unglaublich schönen Geschichten umgarnte.......“>Morgen erzähle ich euch etwas

noch Köstlicheres, Spannenderes und Aufregenderes, wenn ich bis dahin am Leben bleibe und dieser König mich nicht tötet.......<“ - Mahdi, Musin (Hrsg.): Tausendundeine Nacht. C.H. Beck, München

2004

Dazu der Psychotherapeut Arno Gruen:

„Die Sucht nach Macht zerstört die Seele des Mannes22. In seinem blinden Beharren darauf mindert

er sich selbst und die Frau, die er dazu braucht, herab, um sein Image des Mächtigen zu bestätigen.

Es ist dieses Image, das – bewußt oder unbewußt – zum Sinn seines Seins geworden ist. Echte Liebe kann nicht entstehen, da niemand da herausgefordert werden möchte, wo er sensibel ist. Nur das,

was jenes Image bestätigt, wird zum Annehmbaren innerhalb einer menschlichen Beziehung. Das

Selbst, das einem jeden möglich gewesen wäre, wird gehaßt, weil es auch das Erleben der

Hilflosigkeit und des Leidens umfaßt. Echte Verpflichtung, echtes Erkennen des anderen und sich

selber werden vermieden. Wir leben Scharaden, und wenn diese nicht funktionieren, werden wir

wütend und töten….

…. Es ist das Image der Stärke, der Entschlossenheit, der Macht und Furchtlosigkeit, des Wissens und

der Kontrolle, ein Image ohne Angstgefühle oder Schuldbewußtsein, in dem ein Mann seine

“Persönlichkeit” findet. Nur durch die Entwicklung dieses Image kann er sich selbst erspüren. Nicht

was er wirklich fühlt oder fühlen könnte, wird entscheidend für ihn, sondern ein Image – also eine

Abstraktion, eine Metaphysik des Heldentums –, in dessen System und Logik er sich bewegt und

fühlt. Es ist dieses Denken, das letztlich dem Vermeiden der Wirklichkeit gewidmet ist und uns lenkt.

Wie sieht nun diese Wirklichkeit aus? Eine Gefühlswelt, die durchsetzt ist mit Erfahrungen der

Unzulänglichkeit, Hilflosigkeit, des Leids, der Verzweiflung und der Angst vor dem Versagen. Eine

Welt, in der Gefühle der Ohnmacht und der Wut ständig auf Unverwundbarkeit und

Unanfechtbarkeit ausgerichtet sein müssen. Nicht alle von uns, und nicht alle, die solche Gefühle

22

Aber Frauen sind nicht so ohnmächtig, ganz im Gegenteil. A. Gruen ist hier sehr einseitig!!!!! Ich erinnere hier

nur an die Macht der Ohnmacht….. Schahrasad in obiger Geschichte beherrscht sogar ihren Tyrann.

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zulassen, werden in ihrem Verhalten davon bestimmt. Aber: Was geschieht, wenn wir sie (wohl die

Mehrheit) zulassen können, wie leicht wir uns verachtet und beleidigt fühlen können!

Natürlich besteht die Wirklichkeit der wahren Gefühlswelt auch aus anderen Erlebnisinhalten: Freude, Ekstase, Mut und Trauer. Aber ich rede nicht von der Freude, die sich einstellt, wenn man

einen anderen überrundet hat, oder der Ekstase, die ein erfolgreicher Wettbewerb auslösen kann;

also all jene Erlebnisse, die schon selber einer “aufgesetzten” Realität entspringen: die

Notwendigkeit, erfolgreich zu sein, um dem Versagen zu entkommen. Ich spreche von der Freude,

die auf Mitgefühl beruht: die Freude an der Entwicklung, des Wachsens eines anderen, sogar einer

Pflanze; das Miterleben von Freude und Leid. Und: Es ist diese Art des Erlebens, die zu der Kraft

führt, die nicht auf ständige Selbstbestätigung angewiesen ist. Diese ist ja nur das Spiegelbild der

Furcht, ein Versager zu sein! Gegen diese Möglichkeit kämpft man und merkt gar nicht, daß man mit

dieser Art Kraft in ständiger Gefahr ist, sie das nächste Mal zu verlieren. Hingegen die Kraft, die aus

dem Erleben des Leids, des Kummers, der Hilflosigkeit, des Krankseins, des bitteren Schmerzes kommt, diese Kraft hat mit jenem transzendenten Erleben zu tun, das zur inneren Stärke führt. Diese

Kraft ist nicht bedingt durch äußere Macht und deren ständige Bestätigung.“

Arno Gruen, Der Verrat am Selbst: Die Angst vor Autonomie bei Mann und Frau. DTV 1985

„Du haftest in der Welt, beschwert von Ketten / doch treibt, was wahr ist, Sprünge in die Wand.“

(Aus: Ingeborg Bachmann, ‚Was wahr ist‘)

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Verstehen auf Anhieb ist höchst unwahrscheinlich!

In unseren Begegnungen setzen wir automatisch gegenseitiges Verstehen voraus. In vielfältigen

alltäglichen Konflikten wird jedoch deutlich, wie schwer trotz gemeinsamer Anstrengungen ein

Verstehen möglich ist. Warum?

Die Beteiligten kommunizieren in dem Glauben, dass

a) ihre Wahrnehmung die Wirklichkeit abbildet, so wie sie ist und

b) dass ihr Denken die Erfahrungen beschreibt, so wie sie aktuell sind.

Wahrnehmen und Denken beruhen jedoch auf Strukturen, die sich in der Vergangenheit als sinnvoll

erwiesen haben. Wir beziehen uns in Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen auf uns bekannte

Erfahrungen und Erinnerungen. Damit denken und handeln vergangenheitsorientiert. Diese

Strukturen (Entscheidungen, Konditionierungen, Überzeugungen) sind einer direkten Wahrnehmung

zunächst nicht zugänglich und verhalten sich darüber hinaus resistent gegenüber Impulsen zur

Veränderung. Diese Zusammenhänge werden in folgendem Modell verdeutlicht:

Stufenleiter der Schlussfolgerungen

Wir wählen beobachtbare Daten aus. Fakten

Wir entwickeln eine Annahme, die uns Annahmen eine erste Orientierung ermöglicht.

Wir untersuchen eigene ähnliche Erfahrungen Bewertungen

aus unserer Vergangenheit und interpretieren

damit die gegenwärtigen Ereignisse.

Wir ziehen Schlüsse aus unseren Bewertungen Schlussfolgerungen

und überlegen, wie zu handeln ist.

Wir handeln aufgrund der getroffenen Handlungen

Schlussfolgerungen, die wir für eine

echte Wiedergabe der Realität halten.

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Voraussetzungen für Verstehen in dialogischer Kommunikation

Die Fähigkeit die Stimme in den Raum zu bringen

Damit ist gemeint, sich seiner inneren Stimmen bewusst zu werden und davon das in den Raum zu

bringen, was nach einiger Zeit in den Vordergrund tritt.

Die Fähigkeit des Zuhörens

Dies bedeutet sich innerlich Raum zu geben, damit das, was der andere sagt, in einem selbst

Resonanz erzeugen kann. (Inhalt und affektive Begleitung)

Die Fähigkeit zu Respekt

Wir versuchen aufmerksam zu sein und die Beiträge der anderen nicht nach inneren

Ordnungsvorstellungen zu beurteilen, sondern zuerst einmal wahrzunehmen, was ist. Darüber hinaus

versuchen wir Fragen zu formulieren, die eine neue Sichtweise auf die Dinge ermöglichen.

Die Fähigkeit, Gedanken in der Schwebe zu halten

Dies ist die Fähigkeit, zwischen Beobachten und Bewerten zu unterscheiden, die Bewertung zeitlich

zu verzögern und somit das Denken zu verlangsamen.

Es gilt die eigenen Gedanken und Impulse zu beobachten, sie in der Schwebe zu halten, sie noch

nicht umzusetzen, sondern eine Weile in diesem Zustand innezuhalten, nicht reaktiv zu handeln.

Das erfordert auch die Fähigkeit, widersprüchliche Aussagen zur gleichen Zeit im Raum zu lassen und

dem Impuls zu widerstehen, sie in einen geordneten Zusammenhang zu bringen.

Rahmenbedingungen dafür:

• Haltbarer Rahmen: Ort, Zeit, Dauer und...

• Rollen- und Status- Eigenschaften aufgehoben

• Verpflichtung, dabei zu bleiben

• Vereinbarung, gemeinsame Erkundung zu erproben

• Kein vorgegebenes Ziel, kein Ergebnis- oder Entscheidungsdruck

• Passende Gruppengröße (nimmt Einfluss auf die Dynamik)

• Kompetente Begleitung

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CLEARNESS COMMITEES

A clearness committee meets with a person who is unclear how to proceed in a keenly felt concern

or dilemma, hoping that it can help this person reach clarity. It assumes that each of us has an Inner

Teacher who can guide us and that the answer sought can be found by the person seeking clearness.

It also assumes that a group of caring friends can help draw out the Spirit’s guidance from and for

that person. The committee members’ purpose is not to give advice or to “fix” the situation; their

task is to listen, setting aside their own prejudices or judgments, to help clarify alternatives, to help

communication if necessary, and to provide emotional support as an individual seeks to find “truth

and the right course of action.”

Once the person seeking help has answered a question, group members ask another question to

deepen everyone's understanding of the situation. The inquiries are understood to emerge from the

shared silence and the common mind, based on the premise that a person's inability to find a way

through such problems is often a consequence of information overload and/or competing values. It's

not that the person doesn't have the knowledge or ability to resolve the issue; rather, that she or he

may need help sorting and seeing through to the roots of the problem. Clearness is achieved when

the person's own resources can be focused, and the light of understanding brought to bear.

In Western culture, in particular, we receive a lifetime of training in the practice of advocacy. We're

taught the importance of presenting and arguing for our views and ideas. We believe that debate, by

which the most strongly advocated idea triumphs at the expense of all others, is the best way to

make decisions or determine right and wrong. At the same time, we neglect to learn inquiry,

respectful questioning that broadens context, explores implications, and elicits alternatives.

Organizing the clearness committee

1. The person seeking clearness always initiates formation of the committee, though a friend may

ask, “Would a clearness committee be helpful?” The focus person may choose several trusted friends

or ask Care & Counsel to form a clearness committee for them. In either case, formation of the

committee should happen through a discernment process, taking care to have variety among its

appointed members.

2. A clerk and a recorder are appointed. The clerk opens and closes the meeting and keeps a sense of

right order in between, making sure that agreed-on guidelines are followed and that everyone who

wishes to speak may do so. (Any member of the committee may intervene if necessary to ensure that

guidelines are followed.) The recorder writes down the questions asked and perhaps some of the

responses and gives this record to the focus person after the meeting.

3. In advance of the meeting, it is helpful for the focus person to write up the matter on which

clearness is sought, identifying it as precisely as possible, giving relevant background factors and any

clues there may be to what lies ahead. This should be made available to committee members. This

exercise is valuable not only for the committee members, but especially for the focus person.

Conducting the clearness committee

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1. The clerk invites the committee to prepare for its work, reminds everyone of the guidelines to be

followed and makes sure there is a common understanding of the degree of confidentiality about the

meeting.

2. All settle into a period of centering silence.

3. When the focus person is ready, s/he begins with a brief summary of the question or concern.

4. Members of the committee hold to a discipline of asking brief, probing question as led by the

Spirit, resisting urges to present solutions or give advice. It is crucial that these questions be asked

not for the sake of satisfying the questioner’s curiosity, but for the sake of drawing out the focus

person’s clarity. The pace of questions should be kept deliberately gentle and relaxed to encourage reflection. Committee members should also trust their intuitions. Even if a question seems “off the

wall,” if it feels insistent it should be asked.

5. The focus person normally answers the questions in front of the group and the response generates

more questions. It is always the focus person’s absolute right not to answer, whether because s/he

does not know the answer, or because the answer is too personal or painful to be revealed in the group. The more often a focus person can answer aloud, the more s/he and the committee has to go

on, but this should never be done at the expense of the focus person’s privacy or need to protect

vulnerable feelings. It is a good idea for the focus person to keep answers fairly brief so that time

remains for more questions and responses.

6. Do not be anxious if there are extended periods of silence. It does not mean that nothing is

happening; in fact, the Spirit may be powerfully at work within the focus person and the committee

members.

7. Well before the end of the session, following at least half an hour of questions and answers, the clerk pauses to ask the focus person how s/he wishes to proceed. This is an opportunity for the focus

person to choose, if it feels appropriate, a mode of seeking clarity other than questions.

Possibilities include:

• Silence out of which people share images which come to them as they concentrate on

the focus person

• Continued questions from the committee

• Reflection on what has been said

• Affirmation of the focus person’s gifts

• Questions to the committee from the focus person.

References Argyris, C. (1990). Overcoming Organizational Defenses. Needham Heights, MA: Allyn and Bacon.

Bohm, D. (1985). Unfolding Meaning. Loveland, CO: Foundation House; reprinted by London and NY:

Routledge, 1994,1995.

Burson, M. (1999). Suspending Assumptions-Literally! In M. Silberman (Ed.) The Team and Organizational

Development Sourcebook 2000. New York: McGraw-Hill, 1999, pp. 101-08.

Philadelphia Yearly Meeting. (1997). "Faith and Practice." Philadelphia: Philadelphia Yearly Meeting of the

Religious Society of Friends.

Ganswindt, G. (1998). Principles of Generative Learning. (learning materials). Wellesley, MA: Shared Learning

International.

Hoffman, J. (1996). Clearness Committees and Their Use in Personal Discernment. Amherst, MA: Twelfth

Month Press. Pamphlet available from the Friends General Conference, 1216 Arch Street, 2B, Philadelphia, PA

19107.

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Kollegiale Beratung

Was ist ‚Kollegiale Beratung?

‚Kollegialer Beratung‘ oder ‚Kollegiales Coaching‘ ist eine bestimmte Form der Begegnung zwischen

Menschen. Es gibt bei einem solchen Treffen keine ‚Experten‘, denn im kollegialen Coaching ist jede

und jeder, der teilnimmt, Experte bzw. Expertin.

Warum ‚Kollegiale Beratung?

Zu ‚Kollegialer Beratung‘ trifft man sich, um ein bestimmtes Thema, ein bestimmtes Ereignis, ein

bestimmtes Problem, welches mich innerlich ‚quält‘, gut miteinander zu ‚lösen‘.

Solche Themen können z.B. sein....

• Austausch darüber, warum etwas gut und warum etwas weniger gut gelaufen ist

• Austausch darüber, was mich sicher und was mich unsicher macht, wenn ich

einen öffentlichen Auftritt habe

• Einander Tipps & Tricks erzählen, wie man schwierige Situationen meistert

• Ich will mich auf eine neue Aufgabe vorbereiten

• Usw.

Wie funktioniert ‚Kollegiale Beratung‘?

1. Kollegiale Beratung findet in einer Kleingruppe von 3 – 9 Leuten statt´ und dauert zwischen

einer Stunde und maximal 1 ½ Stunden pro Fragestellung.

2. Der ‚Fallbringer‘ / die ‚Fallbringerin‘ (also die Person, welche ein Thema mit KollegInnen

klären will), lädt mindesten 2, höchstens 8 Personen zu einer ‚Kollegialen Beratung‘ ein. Die

eingeladenen Personen werden als BeraterInnen eingeladen. Sie können aber auch selbst

Themen mitbringen, das ist sogar sehr erwünscht und sinnvoll.

3. Zu Beginn des Treffens wird ein Moderator, eine Moderatorin gewählt.

4. Dann erzählt der Fallbringer, die Fallbringerin ihr Problem, ihr Anliegen. Die Anderen hören

aufmerksam zu.

5. In der nächsten Runde wird nur nachgefragt, damit man als BeraterIn das von der

Fallbringerin vorgebrachte Anliegen auch wirklich so verstehen kann, wie es gemeint war,

z.B.:

• „Habe ich Dich richtig verstanden, dass Du folgendes von mir / von uns wissen

willst?“

• „Was ist damals genau passiert?“

• „Wer war da alles dabei?“

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• „Warum glaubst Du, hat er das getan?“

• „Wie ist es Dir dabei ergangen?“

Usw.

Man fragt so lange, bis man sich als Berater ein genaues Bild der Situation machen kann. Bis

man die Fragestellung, das Anliegen der Fragestellerin gut verstanden hat. Man gibt aber

noch keine Meinung zum Fall ab, bringt keine Ratschläge vor!

6. In der nächsten Runde schweigt der Fallbringer. Seine oder ihre Aufgabe: gut zuhören! Die

BeraterInnen sagen laut, was Ihnen alles zum Thema einfällt. Sie sollen alles sagen, was

Ihnen so in den Sinn kommt. Es geht dabei noch nicht um das gemeinsame Erarbeiten von

‚Lösungen‘ oder um das gezielte Finden von Antworten.

Es geht darum, laut zu denken, alles zu sagen, was die gehörte ‚Geschichte‘ in mir als

Zuhörerin der Geschichte an Gefühlen und Vorstellungen ausgelöst hat. Z.B.: „Wenn ich an

Deiner Stelle gewesen wäre, dann wäre ich wütend geworden, weil ich das derart ungerecht

empfunden habe, was Dir da passiert ist.“ Oder: „Mir ist dazu die Geschichte vom

Rumpelstilzchen eingefallen, wie es vor Wut geplatzt ist, als es mit dem richtigen Namen

angesprochen worden war.“ Oder: „Ich muss immer daran denken, dass der Weg zur Hölle

mit guten Absichten gepflastert ist.“ Man teilt aber auch mit, wenn einem bestimmte

Antworten auf die gestellte Frage der Fallbringerin eingefallen sind. Usw. usf.

7. In der nächsten Runde nimmt die Fallbringerin wieder teil. Sie sagt, welche Einfälle und

Reaktionen, die sie gehört hat, auf sie welchen Eindruck gemacht haben. Manchmal wird

dann gesagt: „Alles, war Ihr da gesagt habt, ist mir auch schon vorher durch den Kopf

gegangen. Ich fühl mich von Euch gut verstanden. Das tut gut.“ Manchmal heißt es aber

auch: „Oh, so habe ich das noch nie gesehen. Ich finde es aber höchst interessant, es mal von

dieser Seite aus zu betrachten.“ Oder: „Was Du gesagt hat, das hat mich sofort überzeugt.

Genau das ist es!“ Usw. , usf.

8. Nachdem diese Runde zu Ende ist wird in der ganzen Kleingruppe gemeinsam nach Lösungen

gesucht. Manchmal ist von der Fallbringerin schon in der Vorrunde die Lösung genannt

worden. Manchmal müssen noch gemeinsam die Lösungsideen aus der Vorrunde zusammen

getragen und deutlich gemacht werden. Die Fallbringerin entscheidet, was für sie die

Antwort auf ihre Fragestellung ist.

9. Zum Schluss sagen alle Beraterinnen, wie es ihnen während der Arbeit ergangen ist und was

sie selber aus der Fallbesprechung gelernt haben und für sich mitnehmen.

Die Aufgaben des Moderators

Der Moderator / die Moderatorin sorgt für die Einhaltung der Zeit und die Einhaltung des

ordentlichen Ablaufs der ‚Kollegialen Beratung‘.

Ihm / ihr kommt in der Kollegialen Beratung eine Schlüsselrolle zu!

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Er / sie leitet das Gespräch der Gruppe. Und zwar so, dass jeder Teilnehmer /jede Teilnehmerin

maximale Gesprächsfreiheit hat ohne dabei den Ablauf und die Ordnung des Gesamtverlaufs aus den

Augen zu verlieren.

Er steuert das Gespräch der Gruppe durch sogenannte ‚verbale‘ (Worte) und durch ‚ non-verbale‘

(Gesten, Mimik) Zeichen, durch die Art seines Zuhörens und des Fragens.

Fragen stellen.

Der Moderator führt die Gruppe durch seine Fragen. ‚Fragen zu stellen‘ ist eine der wesentlichen

und wichtigsten Aufgaben des Moderators. Fragen wecken und steuern die Aufmerksamkeit der

Gruppenteilnehmer. Sie ermöglichen es, alle Teilnehmer einzubeziehen.

Zuhören.

Der Moderator / die Moderatorin steuert das Gespräch der Gruppe aber auch durch die Art seines /

ihres Zuhörens:

“Es gibt viele Grade des Zuhörens: Mit den Ohren zuhören, Klänge hören oder auf die inneren

Schwingungen hören, Bedeutungen heraushören. Es gibt eine Art des Zuhörens, die auf das

Nichthörbare hört. Wenn man wirklich achtsam ist, dann hört man zu - abwarten und aufmerksam

sein. Um welche Art des Zuhörens es sich aber auch handeln mag, es hat eines gemeinsam: es öffnet

die Tür, damit etwas hineingelangen kann. Wenn wir nicht zuhören können, ist jene Tür geschlossen.

Die Tür der Ohren mag offen sein, die des Geistes jedoch ist geschlossen.” - J.G. Bennett

Wenn wir verstehen wollen, was jemand sagt, müssen wir zuhören. Das Wort Vernunft kommt von

vernehmen, also ‚hören‘. Erst wenn ich mit voller Aufmerksamkeit zuhöre, dann kann ich mein

Gegenüber verstehen. Wirkliches Zuhören ist nicht rein passiv, es ist immer auch aktiv. Es ist beides

zugleich. Zuhören bringt uns zu einem neuen Verstehen.

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Zeit- und Ablaufschema der Kollegialen Beratung

Zeit (Minuten) Runden FallbringerIn BeraterInnen Regeln

5

Start

Wahl des

Moderators und

Reihenfolge der

Fälle festlegen

Wer moderiert?

Wer hat welche

Fragen?

Welche

Reihenfolge?

10

Schilderung des

Fallgeschichte

Erzählen der

Fallgeschichte

und Formulieren

der Frage an die

Runde

Zuhören

Notizen machen

Keine Fragen

stellen!

10

Nachfragen, Infos

sammeln

Informationen

geben

Nachfragen

Was ist mir noch

unklar? Was muss ich noch

wissen

Nur Verständnis-

und

Informationsfragen! Keine Ratschläge!!

15

Freies

Phantasieren

Zuhören!

Alles sagen, was

mir zur

Fallgeschichte

einfällt

Mitteilen von

Vermutungen

und Einfällen

Noch keine

Lösungen

anstreben!

5

Stellungnahme

Fallbringer

Was wurde bei

mir

angesprochen?

Was hat Phantasierunde

bei mir ausgelöst

Zuhören

Keine Diskussionen!

15 Lösungsrunde Gemeinsam mit

Kollegen beraten

Lösungsideen

entwickeln

Keine Diskussionen!

5 Entscheiden Mitteilen, was

die Lösung ist

Zuhören Keine Diskussionen!

10

Schlussbetrachtung

Wie ist es mir

gegangen? Wie

geht es mir jetzt?

Was habe ich

gelernt?

Mitteilen was ich

gelernt habe und

mitnehme.

Feedback an

Moderator

Rückschau halten!

Abschließen

Oft sind die Menschen ohne ‚Seh‘-Behinderung die ‚wirklich Blinden‘, denn viele von ihnen kennen

und sehen ihre eigenen Vorurteile nicht!

Die ‚mentalen Landkarten‘, die wir uns von der Welt machen, verwechseln wir nur zu oft mit der

‚Landschaft‘ (der Wirklichkeit) selbst. Das kann jedem passieren. Daher: Man wird oft erst durch und

in ‚Kollegialer Beratung‘ ‚wirklich sehend‘.

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Zum Schluss daher die berühmte Geschichte von den ‚Blinden Männern und dem Elefanten‘:

Die blinden Männer und der Elefant

Vier blinde Männer gingen in den lokalen Zoo, um herauszufinden, was ein Elefant ist. Der erste

berührte zufällig seine Breitseite und sagte: „Der Elefant ist wie eine Mauer“. Der nächste berührte

auf gleiche Weise seinen Rüssel und sagte: „Der Elefant ist wie eine Schlange“. Der dritte berührte

ein Bein des Elefanten und sagte: „Der Elefant ist wie eine Säule“. Und der letzte erwischte den

Schwanz des Elefanten und sagte: „Der Elefant ist wie ein Seil“.

Anschließend gerieten die vier blinden Männer in heftigen Streit, weil jeder von ihnen dachte, dass seine Sichtweise die einzig gültige wäre: war sie doch in völliger Übereinstimmung mit seinen

sinnlichen Wahrnehmungen/Erlebnissen.

Jeder verstand aber nur den Teil, den er tatsächlich erlebt hatte; keiner verstand den ‚ganzen

Elefanten’. Und obwohl jeder teilweise Recht hatte, waren sie gemeinsam im Irrtum, was die Form

des Elefanten anlangte. Sie konnten aber aufgrund ihrer Blindheit ihren Irrtum nicht sehen.

Man kann es auch so sagen:

► „Aus sich eine ganze Person machen und in allem, was man tut, deren höchstes Wohl ins Auge

fassen – das bringt weiter als jene mitleidigen Begegnungen und Handlungen zugunsten anderer. – Es

kommt nur darauf an, was man als seinen Vorteil versteht; gerade das unreife, unentwickelte, rohe

Individuum wird ihn auch am rohesten verstehen.“ - F. Nietzsche, ‚Wie man wird, was man ist’

>„Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurückführen, erleichtert, beruhigt, befriedigt, giebt

ausserdem ein Gefühl von Macht. Mit dem Unbekannten ist die Gefahr, die Unruhe, die Sorge

gegeben, - der erste Instinkt geht dahin, diese peinlichen Zustände wegzuschaffen. Erster Grundsatz:

irgend eine Erklärung ist besser als keine. Weil es sich im Grunde nur um ein Loswerdenwollen

drückender Vorstellungen handelt, nimmt man es nicht gerade streng mit den Mitteln, sie

loszuwerden: die erste Vorstellung, mit der sich das Unbekannte als bekannt erklärt, thut so wohl,

dass man sie "für wahrhält"… Dass etwas schon Bekanntes, Erlebtes, in die Erinnerung

Eingeschriebenes als Ursache angesetzt wird, ist die erste Folge dieses Bedürfnisses. Das Neue, das

Unerlebte, das Fremde wird als Ursache ausgeschlossen…. Sehen lernen – dem Auge die Ruhe, die

Geduld, das An-sich-herankommen-lassen angewöhnen; das Urteil hinausschieben, den Einzelfall von

allen Seiten umgehen und umfassen lernen. Auf einen Reiz nicht sofort reagieren, sondern die

hemmenden, die abschließenden Instinkte in die Hand bekommen…. das Wesentliche daran ist

gerade, nicht »wollen«, die Entscheidung aussetzen können. < - F. Nietzsche, Götzendämmerung

► Man darf sich aber solchen Perspektivenwechsel nicht als ‚mentalen Spaziergang‘ vorstellen!

Albert Einstein meinte, es sei energetisch leichter ein Atom zu spalten als tiefsitzende menschliche

Vorurteile (d.h. Überzeugungen, Glaubenssätze, stillschweigende Annahmen über sich und die Welt)

zu verändern. Dazu braucht es ein höheres Maß an Energie als zur Einleitung atomarer Kernspaltung

(nämlich ‚reine‘ Achtsamkeit) !!!!!!

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Die sechs Hüte

Die Idee für diese Übung stammt von Edward De Bono (Wie Kinder richtig denken lernen)

Beschreibung:

In einer Problemlösungssituation in einem Team kann jeder einen der sechs Hüte aufsetzen, wobei

jeder Hut ein typisches Denkmuster darstellt. Während der Zeit muss der Träger oder die Trägerin

sich in ihrer gesamten Argumentation darauf konzentrieren, dieses Denkmuster bestmöglich

darzustellen. Hierbei wird schnell deutlich, dass keiner der Hüte allein für die Lösung des Problems

ausreichend ist. Jeder Hut bekommt einen Platz, seinen Wert und wird als wichtiger Beitrag

wertgeschätzt, um Probleme zu lösen und ganzheitlich zu betrachten.

Der weiße Hut.

Objektiv, sachlich; Unter diesem Hut gelten bloß Zahlen, Fakten und Informationen.

Der rote Hut:

Freude, Ärger, Zorn; Unter diesem Hut werden Emotionen, Gefühle und Intuition ausgedrückt.

Der schwarze Hut:

Hier werden negative Aspekte und Urteile und ja-aber-Regeln eingeführt, und warum etwas

misslingen kann oder wird, angesprochen.

Der gelbe Hut:

Heiter, positiv; Dieser Hut steht für optimistisches, positives Denken und drückt aus, warum etwas

klappen kann, vermutlich erfolgreich ist und was dafür spricht, dass es auf jeden Fall funktioniert.

Der grüne Hut:

Wachstum; Hier werden neue Ideen gefördert, provokatives Auftreten, Träumen, Fließen lassen von

Ideen und Anregungen.

Der blaue Hut:

Dieser Hut steuert und überwacht den Denkprozess, ist für die Organisation des Gesprächsablaufes

zuständig, beachtet die Regeln und ist für den zeitlichen Rahmen verantwortlich.

Ablauf:

Nachdem das Problem kurz in Stichworten oder in einem Satz benannt worden ist, kann jeder seinen

Hut aufsetzen und aus seiner Sicht, aus seinem Muster, aus seiner Rolle heraus Stellung zu dem

Problem nehmen. In der Regel findet die Gruppe eine eigene Strategie, welcher Hut, wann, welche

Argumente bringen kann. Eine Möglichkeit besteht auch darin, während des Ablaufes die Hüte zu

wechseln, um so dass Verständnis dafür zu schärfen, dass jeder Hut eine wichtige Perspektive

vertritt.

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Dynamic facilitation

DF ist eine Methode, die John Rough, ein amerikanischer Berater, als Dialogform entwickelt hat, um

das Selbstorganisationspotential von Arbeitsgruppen zu fördern.

DF setzt ein gemeinsam geteiltes Engagement der Gruppenteilnehmerinnen voraus, z.B. wenn:

• Spannungen in der Gruppe nach Auflösung drängen,

• gemeinsame geteilte Probleme,

• oder andere gemeinsame Interessen vorhanden sind Um einen sicheren Experimentierraum zu gewährleisten, werden einige Rahmenvereinbarungen

getroffen:

• jedes Gruppenmitglied kann sich frei äußern, ohne dafür sofort ver- oder beurteilt zu

werden;

• die Ebenen von Gefühl und Verstand werden angesprochen

• Kommunikationsfallen werden sichtbar gemacht

Dabei ist der Begleiter (facilitator) nicht verantwortlich für die Gruppenführung, das Wohlverhalten

der TeilnehmerInnen oder bestimmte Ergebnisse des Prozesses. Sie/er sorgt dafür, dass alle

Sichtweisen gehört und geteilt werden.

Sie/er schreibt alle Kommentare auf vorbereitete Pinwände in die Kategorien:

• Probleme

• Lösungen

• Sorgen

• Daten Auf einer weiteren Pinwand können Gruppenentscheidungen oder –ergebnisse festgehalten werden. Kommentar:

Obwohl es manchmal auch Abweichungen von dieser Einteilung geben kann, sind es jedoch immer Stellungnahmen innerhalb dieser vier Kategorien, welche den Gruppenprozess in eine produktive Richtung bringen. Erfahrungsgemäß ermöglicht diese Vorgehensweise ein flexibles Durcharbeiten aller Sichtweisen und Stimmungslagen mit nachhaltigen Wirkungen und oft überraschenden Durchbrüchen. Der Prozess in der Arbeitsgruppe verläuft gemäß der Eigenlogik der jeweiligen Gruppe sprunghaft und zirkulär. Für alle TeilnehmerInnen, die „kreatives Chaos“ als persönliche Bedrohung empfinden, weil sie an

übliche „Arbeitsordnungen“ gewöhnt sind, kann DF eine besondere Herausforderung darstellen.

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SZENISCHES VERSTEHEN ÜBEN

Und was ist Wissen in Worten anderes als ein

Schatten wortlosen Wissens?

Das Leben und alles, was lebt, ist im Nebel

gezeugt und nicht im Kristall.

Kahlil Gibran

Jede Wissensvermittlung, die mehr als bloße Informationsweitergabe sein will, also jedes

folgenreiche Gespräch, kommt ohne persönliches Commitment nicht sehr weit. Commitment

gegenüber den anerkannten fachlichen Standards der Praxis-Community sind unabdingbare

Voraussetzungen für jeden tiefergehenden Lern- und Erkenntnisprozess (Polanyi in 1958/1964). „Es

ist dieser Akt des Commitments selber, in seiner ganzen Struktur, welcher das immer nur personal

aktualisierbare Wissen davon bewahrt, ‚rein subjektiv’ zu sein. Intellektuelles Commitment ist eine zu

verantwortende Entscheidung, getroffen in voller Anerkennung jener Einsichten und Standards, die

ich nach bestem Wissen und Gewissen für wahr halte.“ (Polanyi in 1958/1964, S. 65).

Was bedeutet ‚pesönliches Commitment‘ in Gesprächssituationen. Es bedeutungsgleich mit

‚szenischem Verstehen‘ des Gesprächs. Das ist für viele Menschen ein unvertrautes Wort.

Was also ist szenisches Verstehen – und wie kann man es üben?

Beim Üben des ‚szenischen Verstehens von Gesprächssituationen geht es primär um das Verstehen

des ‚Gesprächs und der Gesprächspartners in actu‘, womit sich die gesprächsführenden Personen

dabei als ‚persona dramatis‘ (d.h. als ‚Rollen in einem Stück‘) verstehen, also um das Verstehen jener

(aktuellen) Aktionen / Interaktionen bemüht sind, in welchen die Gesprächspartner momentan voll

und ganz aufgegangen sind. Das bedeutet, der Prozess der ‚Handlung‘ und nicht - wie üblich – die

handelnden Personen isoliert von den Handlungssituationen rücken einmal in den Focus der

Aufmerksamkeit. Das sich in vergangenen Augenblicken entfaltete ‚Drama‘ zwischen mir und

meinem Gesprächspartner kommt in den Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit - und nicht das

statistische ‚Normverhalten des Gegenübers oder gar die Etikettierung des Gesprächspartners auf

Basis vorangegangener Erfahrungen (‚Vorurteile‘).

Dazu muss man auf die Details zwischenmenschlicher Begegnung (auf die ‚Zwischentöne‘) achten

lernen (bzw. ‘zwischen den Zeilen‘ zu lesen lernen). Manche Theoretiker (wie Michael Polanyi)

sprechen in diesem Kontext von ‚stillschweigendem Wissen‘ (‚tacit knowing‘) bzw. ‚implizitem

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Wissen‘ vs. ‚explizitem Wissen. - Menschliches Zusammenwirken und Zusammensein entzögen sich

gerade in ihren subtilsten Ausdrucksformen der sprachlichen Explikation, meint der

Kommunikationsexperte Lorenzer nicht zu unrecht. Der sozial und menschlich geteilte Sinn von

Situationen würde von den ‚personae dramatis‘ gemeinsam in Szene gesetzt werden. Die dabei

eingesetzte und emergente ungeheure Masse an NONVERBALEM - mimetisch geteilte Gebärden und

Gesten - würde genau das ausmachen, was Sigmund Freud unter dem ‚ES‘ verstanden hätte. Dieses

sei damit nicht nur als Sphäre ‚unbewusst gebliebener und gewordener Anteile gegenwärtiger Praxis‘

zu sehen, sondern auch als ein unendliches Potential, als Möglichkeitsort noch nicht verwirklichter

Gestaltungmöglichkeiten von Lebens- und Berufspraxis.

Um dieses Potential zu heben, müssen wir uns als interessierte Kommunikationspartner auf eine

Bewegung des Suchens einlassen, die in einer Art gleichschwebender Aufmerksamkeit geschieht

und sich durch Offenheit und Sensibilität auszeichnet. Beim Zuhören drängen sich Gedanken, Fragen,

Affekte, Erinnerungen, Einfälle und Bilder auf. Diese Assoziationen gilt es, unzensiert zuzulassen (‚In

Schwebe halten‘), denn damit öffnen sich neue Bedeutungswege und erschließen sich auf den ersten

Blick nicht sichtbare Nebenperspektiven.

Assoziationen sind Verknüpfungsleistungen – sie bringen Sachverhalte ins Interpretationsspiel, die

nur vermeintlich nicht dahin gehören. „Spielen wir mit dem im Gespräch dargebotenen Infomaterial“,

lautet die entsprechende Aufforderung. Zunächst werden möglichst viele Einfälle zugelassen, es

werden keine bestimmten Deutungswege favorisiert, bis der in der mehr oder weniger irritierten

Wahrnehmung etwas hängen bleibt und sich in den Vordergrund drängt.

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Hören auf das, was nicht gesagt wird (werden soll)

Was wird wie und warum ausgesprochen, also benannt und sprachlich symbolisiert? Was erscheint

verhüllt, umschrieben, verfremdet und damit auf der sinnlich symbolischen Ebene? Was bleibt

unbenannt, eine Lücke, und damit ausgelöscht und unbewusst? Was wird unter gegebenen

Umständen auch besser nicht benannt, nicht ausgesprochen?

Die Linke-Spalte-Übung

1. Erinnern Sie sich an ein Gespräch mit jemandem, das nach Ihrem Empfinden unbefriedigend

verlaufen ist.

2. Teilen Sie ein Stück Papier in zwei Spalten.

3. In der rechten Spalte notieren Sie so genau wie möglich, was Sie sagten und was die andere Person

sagte. Versuchen Sie, den Gesprächsverlauf so genau wie möglich in wörtlicher Rede wiederzugeben.

Zum Beispiel:

Ich sagte: „Ich denke, wir sollten jemand anderen für diesen Job nehmen."

Sie sagte:

„Oh, ich denke, Josef wäre der richtige dafür."

4. In der linken Spalte, parallel zu den Äußerungen der rechten Spalte, schreiben Sie Ihre Gefühle und

Gedanken auf, die Sie nicht äußerten. Zum Beispiel:

Ich dachte:

„Josef ist doch völlig inkompetent." Aber du willst ihn gerne, weil er dein politischer Verbüdeter

ist."

Ich sagte:

„Ich denke, wir sollten jemand anderen für diesen Job nehmen."

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Sie sagte:

„Oh, ich denke, Josef wäre der richtige dafür."

5. Erzählen Sie Ihren 'Fall' einem Partner, und geben Sie ihm eine kurze Einführung in die Situation.

6. Lesen Sie Ihre rechte Spalte vor.

7. Anschließend lesen Sie Ihre rechte und linke Spalte zusammen vor.

8. Der Partner nimmt die Rolle des Coaches ein und stellt folgende Fragen:

„Welche Aussagen - Bewertungen und Meinungen - befinden sich in der linken Spalte?

„Aus welchem mentalen Modell stammen sie?“

„Warum haben Sie sie nicht ausgesprochen?“

„Was wollten Sie durch das Gespräch erreichen?“

„Ist Ihnen das gelungen? Wenn nein, warum nicht?“

Für jede Bewertung der linken Spalte die folgende Frage:

„Warum haben Sie nicht gesagt, was Sie dachten und fühlten?“

„Was waren die Konsequenzen davon, daß Sie nicht sagten, was Sie dachten und fühlten?“

„Wie beeinflusste die linke Spalte das Ergebnis des Gesprächs?“

Mentale Modelle

In unserem Alltag reagieren wir nicht auf die Wirklichkeit, sondern interpretieren „Dinge“

bzw. nehmen sie aufgrund von uns angefertigten Denk-, Fühl-, und Handlungsmustern wahr. Jedes

Individuum empfindet verschiedene Handlungen oder Situationen auf eine bestimmte Art und Weise, welche sich auf frühere Erfahrungen und Ereignisse zurückführen lassen, welche in Form von

mentalen Modellen verarbeitet wurden. Sobald ein ähnliches oder als ähnlich empfundenes Ereignis

eintritt wird das „passende Modell“ abgerufen und unser Verhalten danach ausgerichtet.

Mentale Modelle beeinflussen unser Gesprächsverhalten, wie und was wir hören, wie wir reagiere.

Sie prägen unser Verhalten und geben uns vor, in welcher Art und Weise wir Gesprächssituationen

verstehen und in weiterer Folge helfen sie uns Entscheidungen zu treffen.

Da aber viele dieser Modelle unter unbewusst eingeübt worden waren und damit automatisiert

ablaufen, ist es sehr wichtig, ein Verständnis über Ihre Funktionsweise zu entwickeln und bereit sein sie zu hinterfragen, denn vorgefertigte Denkschemata sind nicht allzeit passend. Dann müssen sie

passend gemacht werden.

„Die Stimmigkeit unserer mentalen Modelle sollte daher stets hin und wieder überprüft werden.“

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Lit.:

Lorenzer, Alfred (2006): Szenisches Verstehen. Zur Erkenntnis des Unbewussten. Herausgegeben von

Ulrike Prokop und Bernhad Görlich. Marburg.

Polanyi, M. (1958/1964): Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy. Revised edition

with a new preface by the author. New York: Harper & Row.

Polanyi, M. (1966/1985): Implizites Wissen. Übersetzt v. Horst Brühmann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

(Orig.: The Tacit Dimension. Garden City, New York: Doubleday & Company.)

Peter M. Senge (1996): DIE FÜNFTE DISZIPLIN, Klett-Kotta,

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Zuhören

Wir hören einfach nie ganz zu; zwischen uns und dem zu Hörenden schiebt sich fast immer diese

Projektionsleinwand unserer eigenen Gedanken, Wünsche, Schlussfolgerungen und Vorurteile. Um

einfach zuhören zu können braucht es ‚innere Stille‘, eine Haltung von Nicht-Wollen und Nichts-

Erreichen müssen, also entspannte Aufmerksamkeit. Erst dieser höchst aufmerksame, aber passive

Zustand des Geistes macht einfaches Zuhören möglich; ein Zuhören, das über das Ziehen

vorschneller Schlussfolgerungen hinausgeht.

Worte verwirren, wenn man nur auf sie hört und reagiert; sie sind nur die äußerliche Erscheinungen

von dahinter liegender Geisteszuständen; um wahrhaft kommunizieren zu können, muss man diese

Geisteszustände unmittelbar erfassen können, dem die Worte entspringen. Das geht nur, wenn man

‚einfach‘ zuhört.

Solche Art von Zuhören findet aber extrem selten statt. Die meisten Zuhörer sind auf schnelle

Resultate aus, auf flotte Zielerreichung. Es geht in Gesprächen fast immer nur um die schnelle und

erfolgreiche ‚Durchsetzung‘ von etwas, und somit gibt es fast nie dieses einfache Zuhören.

► Genau das macht aber den entscheidenden Unterschied aus!

Sigmund Freud: Gleichschwebende Aufmerksamkeit

„Die technischen Regeln, die ich hier in Vorschlag bringe, haben sich mir aus der langjährigen eigenen

Erfahrung ergeben, nachdem ich durch eigenen Schaden von der Verfolgung anderer Wege

zurückgekommen war. Man wird leicht bemerken, daß sie sich, wenigstens viele von ihnen, zu einer

einzigen Vorschrift zusammensetzen… In jedem Falle wird man auf die Technik neugierig sein, welche

die Bewältigung einer solchen Fülle gestattet, und wird erwarten, daß dieselbe sich besonderer

Hilfsmittel bediene.

Indes ist diese Technik eine sehr einfache. Sie lehnt alle Hilfsmittel, wie wir hören werden, selbst das

Niederschreiben ab und besteht einfach darin, sich nichts besonders merken zu wollen und allem, was

man zu hören bekommt, die nämliche »gleichschwebende Aufmerksamkeit«, wie ich es schon einmal

genannt habe, entgegenzubringen. Man erspart sich auf diese Weise eine Anstrengung der

Aufmerksamkeit, die man doch nicht durch viele Stunden täglich festhalten könnte, und vermeidet

eine Gefahr, die von dem absichtlichen Aufmerken unzertrennlich ist. Sowie man nämlich seine

Aufmerksamkeit absichtlich bis zu einer gewissen Höhe anspannt, beginnt man auch unter dem

dargebotenen Materiale auszuwählen; man fixiert das eine Stück besonders scharf, eliminiert dafür

ein anderes und folgt bei dieser Auswahl seinen Erwartungen oder seinen Neigungen. Gerade dies

darf man aber nicht; folgt man bei der Auswahl seinen Erwartungen, so ist man in Gefahr, niemals

etwas anderes zu finden, als was man bereits weiß; folgt man seinen Neigungen, so wird man

sicherlich die mögliche Wahrnehmung fälschen. Man darf nicht darauf vergessen, daß man ja zumeist

Dinge zu hören bekommt, deren Bedeutung erst nachträglich erkannt wird.“

Aus: Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung (1912)

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ZUM SCHLUSS, DER ABER IMMER EIN ANFANG IST……..

Das, was wir als ‘reale Welt’ (erlebte Wirklichkeit) bezeichnen, was ist das?

Nicht nur all das, was uns gerade objektiv ‚umgibt’ (d.h.. was uns entgegen steht, gegenüber steht),

die Welt beinhaltet auch all unsere Beziehungen zu den uns umgebenden Dingen und Menschen, zu

uns selbst, zu all den Ideen über die Welt. ‚Meine‘ Welt ist auch bestimmt durch ‚meine‘ Haltungen,

Haltungen gegenüber Zeit, Eigentum, Menschen, Ideen – sie ist für jeden von uns unsere

tatsächliche Beziehung zum aktuellen Strom der Ereignisse, also zu dem, was wir normalerweise

‚Leben’ nennen. So wie wir das Leben augenblicklich erleben, seine akutelle ‚Bedeutung‘, das

meinen wir, wenn wir von ‚Welt’ / ‚Wirklichkeit’ reden.

Wir sehen diese Welt unterteilt in Nationen, religiöse, ökonomische, politische, soziale und ethnische

Gruppierungen; die Einheit des Weltganzen erscheint uns gespalten, fragmentiert, im Äußeren wie

im Inneren. Tatsächlich sind die äußeren Spaltungen die Manifestationen (Projektionen) der inneren

Spaltungen von uns Menschen.

Aber das Leben in einer fragmentierten Welt wird mit der Zeit für jeden von uns zu einem ‚großen

Problem’, weil wir in einer solchen Welt die meiste Zeit mit ‚inneren’ und ‚äußeren’ Widrigkeiten

konfrontiert werden, mit Stress, Anfeindungen, Missachtungen, Gefahren, etc. Wenn wir uns z.B. an

widersprüchliche Rollenerwartungen anpassen (‚double bind’), dann werden wir ‚neurotisch’ oder

‚psychotisch’, d.h. innerlich ‚zerrissen’. Unser Leben zerfällt dann in ein ‚persönliches Innenleben’ und

eine öffentliche ‚äußere Fassade’; unser Leben verfängt sich in vielfältigsten neurotischen ‚Spielchen’,

die wir mit anderen gemeinsam spielen, vor allem mit unseren ‚Liebsten’.

Um in dieser zerrissenen Welt ‚ganz Ich’ sein zu können, integer, d.h. einfach ‚Da’, muss man also mal

alles in Frage stellen, freimütig untersuchen können; muss man alle ‚stillschweigenden

Voraussetzungen’ unseres Welterlebens erkennen, um sich von ihnen frei machen zu können. Diese

notwendige Neugier ist die selbstverständlichste Sache der Welt, es ist nämlich nichts anderes als die

‚unschuldig kindliche Neugier’ – mit der wir alle als Kinder ausgestattet worden waren. Und zu dieser

Spontaneität müssen wir wieder zurück (jedoch ohne Preisgabe all des pragmatischen Wissens, das

wir in der Zwischenzeit erworben haben) wenn wir aus dem Leben nicht ein ‚unendlich großes

Problem’ machen wollen, eines, das uns letztlich mit der Zeit er- und bedrückt (‚ausbrennt’).

Du musst das Leben nicht verstehen

Du musst das Leben nicht verstehen, dann wird es werden wie ein Fest. Und lass dir jeden Tag geschehen so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen sich viele Blüten schenken lässt. Sie aufzusammeln und zu sparen, das kommt dem Kind nicht in den Sinn. Es löst sie leise aus den Haaren, drin sie so gern gefangen waren, und hält den lieben jungen Jahren nach neuen seine Hände hin.

Rainer Maria Rilke, 8.1.1898, Berlin-Wilmersdorf

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Oder in Picassos Worten:

„ICH SUCHE NICHT, ICH FINDE.“