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Selbstporträt Akademie Reuschberg

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Akademie für Animations- und Clownstheater, Seminarhaus und Showbühne

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Reuschberg voll in Fahrt

Der Motor heult auf. Es knirscht im Getriebe, als der Allradantrieb zugeschaltet wird. Mit jaulendem Turbo-lader fräst sich der ausgemusterte Feuerwehrgerätewa-gen durchs Gelände. Scheinwerfer tasten über nächtli-che Wiesen und Stoppelfelder. Schwankend und rüt-telnd geht es den Hang hinauf, am Waldrand entlang, dann wieder nach unten. 20 Passagiere jubeln zu der abenteuerlichen Umrundung des alten Hofgutes, und der Fahrer lächelt. »Köpfe runter!« heißt es für die auf dem Dach, als das Gefährt unter der alten Blutbuche, dem Schutzbaum des Ortes, durchrauscht. Um Mitter-nacht geht die Jungfernfahrt von ›Rotkäppchen‹ zu En-de. Die künftige Aufgabe, Reisende durch unwegsa-mes Gelände zu kutschieren, wartet in Kreta; den Se-gen für allzeit sichere Fahrt nimmt ›Rotkäppchen‹ aus dem Spessart mit.

Seit wir die Akademie Reuschberg 1991 in einem ehemaligen Kloster im Spessart gegründet haben, las-sen wir uns von Ereignissen überraschen, die in der 2500 Jahre bis zu den Kelten zurückreichenden Ge-schichte des Platzes so mit Gewißheit noch nicht stattgefunden haben. Und dabei fragen wir uns immer wieder: Ist es der Platz selbst, der diese Außergewöhn-lichkeiten hervorbringt, oder sind es die Aktionen, die diesen Platz zu etwas Außergewöhnlichem machen. Der Platz und seine Widmung als Theaterakademie kooperieren. Es ist drei Uhr nachts. Ein Dutzend Clowns drängt sich am offenen Fenster des Theatersaals zusammen und

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bestaunt die sich im Dunkeln abzeichnenden Sche-men zweier Uniformierter. Und auf der anderen Seite, im ehemaligen Klostergarten, stehen zwei Polizisten, die ihrerseits ein Dutzend rotnasiger Figuren bestau-nen – eben Clowns. Auf die Vermutung, daß hier je-mand verfolgt würde, bewegen sich 12 Clownnasen staunend, aber wahrheitsgemäß hin und her. »Viel Spaß dann noch«, wünschen die Polizisten. »Ihnen auch«, tönt es mehrstimmig zurück –

Ein früherer Klassenlehrer verkündete auf der 30jähri-gen Abiturfeier seiner Ehemaligen: »Ich neige zu der Vermutung, daß sie fast ausnahmslos Ihre Träume von einst haben verwirklichen können.« Offengestanden haben wir uns von keinem der beschriebenen Ereig-nisse jemals träumen lassen.

Auch davon nicht: Im Lampenfieber, bevor das Fernsehen auf den Reuschberg kam, stürzt uns aus ei-ner der Garderoben weinend eine Spielerin im Au-gustinenkostüm und mit verwischter Clownschminke in die Arme. Unter Schluchzen preßt sie hervor: »Ich bin kein Clown!« Die Augustine hat sich in diesem Augenblick mit ihren eigenen Tränen getauft: Sie schenkt Gefühl von ihrem eigensten Gefühl – nichts anderes ist das Wesen des Clowns.

Wer sich mit darstellender Kunst und freiem Thea-ter befaßt, stolpert fast zwangsläufig irgendwann über den Clown – eine universale Figur der Bühne, der Manege und der Straße. Die Figur, die wirklich spielt und nicht zur Schau, die deshalb weder ein Schau-spieler sein noch von einem Schauspieler dargestellt werden kann.

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Ein erwachter Traum

Die Akademie Reuschberg als Basisstation für Theater-fortbildungen und Aktivitäten des Ensembles ›Irrwisch‹ zieht weitere Kreise. Sie wird zur Künstlerkolonie. Straßenkünstler, Musiker, Schriftsteller, Circusartisten beleben das Gelände mit Stipvisiten oder als Dauer-gäste. Ein Ankerplatz im bewegten Ozean des Lebens, von dem wiederum kleine Wellen hinausgehen in die Welt. Indientournee: ›Irrwisch‹ zieht vom Experimen-tierfeld im Spessart aufs heiße Pflaster Indiens. »Was transportieren Sie in diesem Mülleimer?« wird einer der 24 Spieler beim Security check am Flughafen ge-fragt. »Meine Krone«, gibt Luftritter Andulin zur Aus-kunft. Die Kontrolle fördert ein mit Stoffetzen kaschier-tes scharfkantiges, spitzzackiges Metallobjekt zutage. »Das sieht gefährlich aus«, vermutet der Sicherheits-beamte mit kritischem Blick. »Das ist es auch«, kom-mentiert eine Kollegin des Luftritters lapidar. »Man darf ihm nicht zu nahe kommen, sobald er es auf dem Kopf trägt.« Andulin gesteht man es auch zu, einem Sicherheitsbeamten an die kugelsichere Weste zu ge-hen mit der Bemerkung: »Na, sie haben kostümmäßig ja auch einiges drauf!« Es ist eine Grenzwanderung zwischen dem Evozieren von Abwehr und dem Erwe-cken des Lachens. Der Funke springt über, die Herzen sind weit, und die Krone landet mit den Irrwischen in Indien. Wenig später sind die Irrwische berührt von der Freude und dem Segen der 1500 Flüchtlingskinder im tibetischen S.O.S.-Kinderdorf von Dharamsala.

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Nach dem Auftritt über den Wolken sammeln sich die Irrwische im Kreis und weinen vor Glück. ›Lachende Kinder – weinende Clowns‹ ist eines der inneren Bil-der aus dem Himalaya. Reuschberg folgt dem Stern, Menschen in Freundschaft miteinander zu verbinden.

Wenn uns jemand fragte, wie wir Humor als Arbeits- und Forschungsfeld entdeckt haben, müßten wir zur Antwort geben: gar nicht. Weil es umgekehrt war. Der Humor hat uns gefunden. Unsere Dissertation ›Identi-tät und Humor‹ wurde zum Türöffner für Vorträge, Workshops und Seminare auf Kongressen, Festivals, Messen und an Hochschulen. Die Weichen für alles weitere waren bereits ge-stellt, als wir uns an der Uni kennenlernten. »Für uns führt sowieso kein Weg aneinander vorbei«, versprach mir Annette im Vorübergehen auf dem Campus. Das hieß, daß wir uns auf demselben Weg befanden und der offenbar ziemlich schmal sein mußte, wenn man darauf nicht einmal aneinander vorbeikam. Wir muß-ten ihn nur noch gehen. Nachdem wir sowohl uns als auch einander gefunden hatten, wurde es ein gemein-samer. Als unsere gemeinsame Dissertation aus einem Stipendium gefördert wurde, wähnten wir uns noch auf der Siegesstraße. Wir genossen die Zeit des Schreibens einer ›Philosophie vorm Kaminfeuer‹ als die schönste unseres bisherigen Lebens. Das Hochgefühl war erkauft um den Preis einer Unkenntnis über die wahre Struktur gesellschaftlicher Institutionen, zu denen auch der Wissenschaftsbetrieb rechnet. Die Dissertation scheiterte; die Grenzen jener Freiheit, die Lehre und Forschung für sich postulieren,

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sind mitunter eng gesteckt. Aber wie anders hätte es auch kommen sollen mit einer Dissertation, die das Scheitern bereits in ihrem Titel trug: Der Clown. Clowns scheitern unentwegt. Aber sie gehen nicht un-ter. Wir zogen uns für eine komplette Neufassung der geschmähten Schrift in die indische Almwirtschaft zu-rück. Oberhalb des mit der Präsenz des Dalai Lama gesegneten Weltdorfes McLeod Ganj fanden wir auf dem Snowview einen Ort der Sammlung, Kraft und Inspiration: ein Klima für das neue Projekt ›Identität und Humor‹, wovon wir in Deutschland nur hätten träumen können. Dennoch: zwischen den letzten Sei-ten riß der Verständnisfaden: Wofür machen wir das eigentlich? Es war im Monsun, als wir auf dem Felsvorsprung vor unserer von Passionsblumen überwucherten Hütte, die schneebetupften Himalaya-Riesen in unserem Rü-cken, einen Weitblick suchten, der uns im Starren auf das leere Papier in der mechanischen Schreibmaschi-ne und im Durchstöbern der 40 Kilogramm mitge-brachter Literatur auf Zitate abhanden gekommen war. Und siehe: statt des erhofften Ausblicks das Gegenteil davon. Eine Nebelschwade hüllte uns ein in zu feinen Tröpfchen kondensierte Nässe, schwer atembar, un-durchsichtig, jedes Geräusch erstickend. Indische Wolken entwickeln während des Monsun eine eigene Persönlichkeit. Sie können zum Beispiel einen Raum durch das Fenster betreten und durch die Hintertür wieder verlassen. Die Irritation, der Widerspruch zwi-schen der erwarteten Fernsicht und der real vorgefun-denen Opazität, war von solch überwältigender Ko-mik, daß wir darüber in Gelächter ausbrachen.

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Und das war dann auch schon das Evidenzerleb-nis: Lachen. Genau dafür machten wir das alles. Da-rüber schrieben wir, danach forschten wir, dafür lebten wir. Im Lachen verewigt sich der Effekt des Spielens, die Selbstaffizierung mit guter Laune entspringt der zugewandten Befassung mit sich selbst und dem, was man liebt. Liebe – welches andere Motiv könnte es geben, überhaupt irgendetwas zu tun?! In diesem Moment öffnete sich die uns umfan-gende Wolke, bildete einen Kanal, durch den die abendlichen Sonnenstrahlen auf uns fielen und unsere Konturen auf die Flanke eines nahen Bergsporns proji-zierten. Unsere Schemen waren gerahmt vom Vollkreis eines Regenbogens, hervorgerufen durch Tränen im Licht. Im zweiten Anlauf überwanden wir die universi-tären Hürden. Nicht, daß die Wissenschaft uns damit gerne anerkannt hat; wir waren einfach nur sturer. Von der Universität nahmen wir den Doktortitel der Philo-sophie mit; wichtiger als das war uns der Segen, den uns der im Sterben liegende Doktor›vater‹ unserer ers-ten Dissertation mit auf den Weg gegeben hat. ›Der Clown‹ war gescheitert; daran gewachsen war unsere Beziehung und die zu unserem todgeweihten Mentor. Drei Monate nach der Disputation gründeten wir die Akademie Reuschberg. Damit wurde ein 14 Jahre lang gehegter Traum wahr.

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Jenseits des Konventionellen

Wer die Akademie aufsucht, handelt zunächst einmal regelwidrig. Er übergeht – sofern er sich mit einem Motorfahrzeug annähert – das Verbotsschild neben dem Landwirtschaftsweg. »Die letzten Häuser von Schöllkrippen liegen weit hinter einem, während man durch die Felder fährt. Schwärme von Vögeln erheben sich in den dunstigen Himmel, ein Raubvogel hüpft verdrießlich ein Stück von seiner Beute weg. Hier draußen kann doch niemand mehr wohnen!« schildert ein Redakteur des Main-Echos seine ersten Eindrücke in einem Zeitungsartikel. »Man glaubt fast, ans Ende der Welt zu kommen«. Das ist es auch – zumindest das Ende der bekannten Welt. Die unbekannte beginnt unter den tief herabhän-genden, eine Arkade aus Laub bildenden Ästen der Einfahrt: Reuschberg im Dornröschenschlaf. Die ältes-ten noch bestehenden Hofteile zeugen von der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg. Vögel durchqueren das verrottete Gebälk und ziegellose Stellen in dem, was längst nicht mehr den Namen Dach verdient. Bei Nacht gehören Ställe, Scheunen und Dachböden den Eulen, Fledermäusen und Mardern. 1728 wurde das Herrenhaus als Jagdsitz für einen Kirchenfürsten er-richtet und 1938 eine Kapelle angebaut: Das verlasse-ne Kloster warb mit idealen Bedingungen für die Um-widmung in ein Theater – wenn man sich das fast flä-chendeckend bis auf anderthalb Meter Höhe ange-häufte Gerümpel und die schwarzen Vorhänge aus Spinnweben wegdachte, die bis zum Boden reichten

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und sich in der Zugluft bauschten. Der Altar markierte die Mitte der Bühne. Mit der Sakristei gab es eine Künstlergarderobe, die Beichtstühle würden zu Zu-schauerklos werden, die ehemaligen Zellen der Mön-che über dem Theaterraum zu Spielerzimmern. »Das packt ihr nie!« lautete die Prognose einer Spielerin zum bevorstehenden Ausbau. Aus diesem Problem-bewußtsein entwickelte sie das Konzept für Zimmer-patenschaften. Spieler übernehmen die Verantwortung für einzelne Zimmer und gestalten jedes nach ihrer eigenen Vorstellung zum Wohlfühlen für die Gäste. Idee und Ort kamen in eins: eine Heimat zu finden für uns und unsere Theaterstudenten, aus denen Mitglie-der des Hausensembles ›Irrwisch‹, Freunde, einige da-runter zu Mitbewohnern wurden. Die Idee keimt immer wieder auf: Die Akademie Reuschberg ist vordergründig nur Theater; dahinter handelt es sich um eine unsichtbare Universität in der Kunst des Alltagshandelns, des Lebens- und Gefühls-managements. Alles ist eine Szene. Es geht um den Prozeß, das ›Wie‹ dessen, was man gerade tut – Le-benskunst. Jetzt – ganz – mit Spaß. Denn: aufeinander bezogen sind wir immer.

Die sinnliche Erfahrung der guten Wünsche eines Himmels voller Blüten – alles ist machbar, alles ist möglich. Rosenblätter regnen auf das Hochzeitspaar herab, bilden einen Blütenteppich zu seinen Füßen. Kostbarkeit des Augenblicks. Der Reuschberg kooperiert – eine Schlange be-sucht uns in der Küche – am Vortag des Elementeritu-als im Rahmen einer Hochzeitszeremonie. Am Ende

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schlägt der Blitz ins Telefon, und ein Regenbogen er-scheint. Synchronizitäten sind Überschneidungen von Innenweltgeschehen und äußeren Ereignissen; Ge-schenke der Kraft. Reuschberg ist Rückzugsort und Denkburg – und einer der wenigen Berge, auf denen eine Werft einge-richtet ist. Sobald das Segelschiff seetüchtig gemacht ist, wird es von Hundert Gästen umrundet. Das ›Stern-enschiff‹ wird mit Sekt bespuckt, um hernach auf dem Mittelmeer zu kreuzen. Nein: wir hätten uns zu Abiturzeiten gewiß nicht träumen lassen, ein Kloster aus dem Dornröschen-schlaf zu erwecken; auch nicht, bis zur Morgendäm-merung auf Knien herumzurutschen, um Pflastersteine zu legen – so beim Umbau einer Scheune zum Theater ›Drachenschuppen‹ mit 400 Sitzplätzen; und nicht, daß es auch tatsächlich voll wird: Zur Eröffnung im Jahr 2004 werden 450 Zuschauer untergebracht. Die am weitesten angereisten kommen aus Rom und Wien. Die Veranstaltungen auf dem Reuschberg sind Kult und Geheimtip zugleich. »Ich hab euch doch gesagt: das hier ist eine ver-zauberte Welt«, beantwortet ein Großvater das wortlo-se Staunen in den Augen seiner Zwillingsenkel, als der große Glücksdrache zwischen Elfen, Fröschen, Rie-senameisen, Schamanen und Phantasiewesen hin-durchschlendert. Eine Welt, die man im Feuerwehrau-to umrunden kann. In der sich Polizisten und Clowns perplex vis-à-vis stehen. Eine Welt mit Clowns auf dem Türmchen der historischen Schmiede – mit der Uhr, deren Zeiger längst stehengeblieben sind. Ein Ort, der es dem Außergewöhnlichen gestattet, sich auf

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ihm zu ereignen, weil es keine Zeit gibt. Der Lebens-rhythmus wird durchbrochen: Theater ist ein Betrieb der Nacht. Das Dunkel zwischen den Kulissen ist die Blue screen für die Hervorhebung der Bühnenakteure als Juwelen im Rampenlicht. Spot an. Alles ist anders. Das Leben spielt nachts. Vor allem: es spielt.

»Dort sind Leute! Denkt Euch, die schlafen nicht!«»Und warum denn nicht?«

»Weil sie nicht müde werden.«»Und warum denn nicht?«

»Weil sie Narren sind.«»Werden denn Narren nicht müde?«

»Wie könnten Narren müde werden?« (Franz Kafka)

»Wäre es für Sie in Ordnung, wenn der Reuschberg zu einem Wallfahrtsort würde?« erinnert sich die Kirche ihres abgestoßenen Besitztums, wo Pater Reinisch pre-digte, bevor er von den Nazis hingerichtet wurde, da er den Fahneneid auf Hitler aus Gewissensgründen ver-weigert hatte; wo Schmähschriften auf das Dritte Reich eingemauert darauf warten, geborgen zu werden. Mitten in die Bauaktivitäten fällt der Besuch eines alten Paters, der hier zuletzt noch gewohnt hat. Es sei der ›Kreuzberg‹ gewesen wegen der vielen Arbeit. Aber mit dreiunddreißig Jahren sei er nach Lourdes gepilgert. Es war die ergriffenste Predigt seines Lebens, und genau dabei kam es zu einer Spontanheilung – erzählt er im Flur der ehemaligen Mönchszellen von seinem Gotteserlebnis, während er auf einem Stuhl Rast hält inmitten von aufgerissenen Wänden und Bauschutt.

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Paradies mit Haken

Reuschberg als regelloser Raum – den Maßstab für die Kooperation liefert die Empathie. Der Versuch, einzig Wohlwollen als Regulativ anzuerkennen. Wo immer das gelingt, hat das Ortlose, die Utopie, einen Rah-men entdeckt, in dem sie von Zeit zu Zeit einzukehren vermag. Indes: seßhaft wird sie nie. Und nie hätten wir geträumt, daß wir so viele Tiere beerdigen müßten wie hier. Das gehört zu den Haken eines Paradieses mit seinen Hirschen, Pfauen und weißen Hunden. Ei-ne Stätte der Begegnung wie schmerzhafter Abschiede. Den Traum sieht jeder. Die Realität dahinter nur, wer will.

Tatsächlich können wir uns an keine Lebensphase er-innern, in der wir etwas lieber getan hätten, als spie-len. Insofern hat der Lehrer bei seiner Rede vor uns Ehemaligen recht: Dieser Traum hat sich erfüllt. Bis es keinen Widerspruch mehr gibt von Arbeit und Leben. Dr. Barbara Nath-Wiser, eine österreichische Ärz-tin, arbeitet in einer Dschungelklinik in Nordindien und stellte ihr Wirken bereits zweimal dem Publikum auf dem Reuschberg vor. »Was Ihr macht, ist gelebte Meditation«, faßt sie ihre Eindrücke vom Leben an der Akademie zusammen. Die Meditation ist bisweilen eine auf Aktenberge, Stapel schmutzigen Geschirrs und körbeweise Wäsche. Karma-Yoga: auch die Uto-pie erspart einem nicht das Holzhacken und Wasser-tragen.

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So sägen wir uns frühmorgens den Weg frei zu unserer Veranstaltung an der Fachhochschule Frankfurt: Der Sturm hat einen Kirschbaum umgeworfen und die Aus-fahrt des Reuschbergs blockiert. An diesem Tag kom-men die Studenten in den Genuß einer besonders kraftvollen Vorlesung. Das Bellen der weißen Hündin aus der Ander-welt lockt alle Workshopteilnehmer in die Küche. Un-ter dem alten Herd sitzt fauchend ein junger Fuchs. Wir halten den Hund fest, die Tür zum Garten steht auf. Der Fuchs springt hinaus und glaubt es nicht: Das muß doch eine Finte sein! Erst dann setzt er über den Kellerabgang hinweg und flieht. Tara, die Hündin, im selben Moment losgelassen, stellt ihn noch am oberen Treppenabsatz. Und kehrt frustriert zurück: Er wollte überhaupt nicht mit ihr spielen.

Highlights liefern Lachsalven, die sich als ekstatische Spontanexplosionen aus der Gruppenküche entladen. Anlaß sind die legendären Küchenszenen, die ›natür-lich wieder keiner filmt.« Da ist es wieder, das Lachen, das Gold der Seele. Es ist der Mühen einer alchimisti-schen Transformation von Leid in Lust wert. »Ich habe hier das Lachen wieder gelernt«, verrät eine Spielerin. Magie. Magic place. Ein Ort, um Kraft zu schöpfen. »›Du strahlst immer so‹, wird mir gesagt, wenn ich vom Reuschberg komme«, fügt sie hinzu. Reuschberg ist ein Lebensgefühl. Reuschberg läßt sich nicht erklä-ren – nur erleben und fühlen. Die Theatermethode er-möglicht eine Intensität, in der man sich innerhalb von Tagen um Jahre näherkommt. Der Reiz des Reusch-bergs liegt in der Teilhabe an einer Nicht-Institution,

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welche die Mensch-zu-Mensch-Begegnung fokussiert. Man kann hier sein, wie man ist. Was für ein Chaos, und – o Wunder! – es funktioniert. Von Show zu Show. ›Archaische Anarchie‹ haben wir die Vorstellung von Gemeinschaft getauft. Sie ist ein Mysterium. Das Mys-terium wirkt. Immer.

Die Akademie Reuschberg ist zu einem Ort geworden, an dem sich Bewegungen gegen den Zeitgeist sam-meln dürfen. Kulturschaffen anstelle von Kulturkon-sum. Ausstieg aus den Regulativen von Macht und Geld. Ideenbörse, Theater als Basis von gemeinsamen Abenteuern, freiwilliger Totaleinsatz der Spieler und Helfer als Reuschberg-Team unter dem Leitgedanken: Mögen alle, die da kommen und gehen, Glück brin-gen und Glück erfahren. Mit Phantasie und Gefühl wird die Gegenmedizin zur rational-materialistischen Weltsicht angemischt. Grundmauern galt es zu restaurieren, die von den Vorbesitzern auf der Suche nach Schätzen angegraben worden waren. Alle, die hier je nach einem ›Schatz‹ gruben, haben etwas übersehen: der Schatz und Reichtum ist der Platz selbst – vom Dach überm Kopf bis zur Wasserquelle, die den Ort seit Jahrtausenden mit Leben speist.

Michael P. Whitcher, der Weltbürger mit amerikani-schem Paß, sieht das genauso. Mit ausgebreiteten Ar-men steht er des morgens in der Küche, um den Vers-ammelten auf dem Reuschberg den Abschiedsmono-log zu halten: »Das Geheimnis des Platzes ist seine Energie. Er ist umgeben von einem Energiefeld, und

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diese Energie ist, was man nennt: die Liebe. Über dem Platz leuchtet der Regenbogen der Liebe.« Im breiten Grinsen von ›Mr. Worldwide Guy‹ bricht sich die Pa-thetik seiner Worte, denn er hat das Prinzip des Thea-ters am Waldrand aufgenommen: Spiel. Und dennoch wird die Liebe zum eigenen Le-bensentwurf immer wieder neu auf die Probe gestellt. Das Vertrauen hat ein Vorbild in der alten Blutbuche gefunden, und Dankbarkeit dient als Wegweiser zu Selbst und Welt. ›Es gibt keinen Zufall‹ – eine gewisse Vorsicht scheint angeraten bei dem, was man träumt. »Humor ist, wenn man’s anders macht«, hat Mi-chael Titze ins Reuschberger Gästebuch geschrieben. Es einmal anders zu machen – das war auf jeden Fall ein Jugendtraum. Wir bleiben dran.

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