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Paulus Akademie Zürich, 18. September 2014: Aushöhlung von Demokratie und Marktwirtschaft Gefährdete Ordnungen der Freiheit Martin Rhonheimer Freiheit und Selbstverantwortung des Bürgers Bemerkungen aus moralphilosophischer Sicht 1) Philosophische und theologische Begründung von Freiheit und Ver- antwortung Gemäß der biblischen Schöpfungsgeschichte wurde der Mensch als Mann und Frau dem Ebenbild Gottes gemäß geschaffen. Deshalb ist der Mensch gerufen, sein Leben aufgrund eigener Entscheidungen zu führen. Menschen sind nicht instinktgetrieben, sondern Vernunftwesen und deshalb gleichsam dazu verurteilt, das Gute und jeweils Richtige selber zu erkennen und zu wählen. Eine solche Freiheit begründet Verant- wortung: Verantwortung für das eigene Tun und in gewisser Hinsicht auch für seine Folgen (denn wir sind nicht für alle Folgen unserer Handlungen verantwortlich). Mitmenschen und Institutionen, insbesondere Erzieher, zuallererst die Eltern im Rahmen der Familie, auch Religion und ihre Lehrinstanzen, helfen dem Menschen, Gut und Böse unterscheiden zu lernen. Doch entscheiden, was er tun soll, muss der Einzelne letztlich immer selbst. Auch die Entscheidung, einer Autorität zu folgen, Experten Gehör zu leisten, ja selbst Gehorsam in den verschiedensten Situationen des Lebens, ist letztlich immer eine persönliche Entscheidung, für die jeder Einzelne die Verantwortung trägt. Der Bereich, in dem Gut und Böse klar und allgemein gültig definiert ist, ist aber relativ klein. Er lässt sich vor allem durch einige Verbote abstecken, wie sie die jü- disch-christliche Tradition in den zehn Geboten formulierte, etwa in den Geboten „Du sollst nicht töten“, „du sollst nicht stehlen“, „du sollst nicht die Ehe brechen“, „du sollst nicht lügen“. In diesen wenigen Verbotsnormen findet sich eigentlich schon der gesamte Bereich des moralisch Notwendigen und für alle Gültigen einge- grenzt.

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  • Paulus Akademie Zrich, 18. September 2014:

    Aushhlung von Demokratie und Marktwirtschaft Gefhrdete Ordnungen der Freiheit

    Martin Rhonheimer

    Freiheit und Selbstverantwortung des Brgers

    Bemerkungen aus moralphilosophischer Sicht

    1) Philosophische und theologische Begrndung von Freiheit und Ver-

    antwortung

    Gem der biblischen Schpfungsgeschichte wurde der Mensch als Mann und Frau

    dem Ebenbild Gottes gem geschaffen. Deshalb ist der Mensch gerufen, sein Leben

    aufgrund eigener Entscheidungen zu fhren. Menschen sind nicht instinktgetrieben,

    sondern Vernunftwesen und deshalb gleichsam dazu verurteilt, das Gute und jeweils

    Richtige selber zu erkennen und zu whlen. Eine solche Freiheit begrndet Verant-

    wortung: Verantwortung fr das eigene Tun und in gewisser Hinsicht auch fr seine

    Folgen (denn wir sind nicht fr alle Folgen unserer Handlungen verantwortlich).

    Mitmenschen und Institutionen, insbesondere Erzieher, zuallererst die Eltern im

    Rahmen der Familie, auch Religion und ihre Lehrinstanzen, helfen dem Menschen,

    Gut und Bse unterscheiden zu lernen. Doch entscheiden, was er tun soll, muss der

    Einzelne letztlich immer selbst. Auch die Entscheidung, einer Autoritt zu folgen,

    Experten Gehr zu leisten, ja selbst Gehorsam in den verschiedensten Situationen

    des Lebens, ist letztlich immer eine persnliche Entscheidung, fr die jeder Einzelne

    die Verantwortung trgt.

    Der Bereich, in dem Gut und Bse klar und allgemein gltig definiert ist, ist aber

    relativ klein. Er lsst sich vor allem durch einige Verbote abstecken, wie sie die j-

    disch-christliche Tradition in den zehn Geboten formulierte, etwa in den Geboten

    Du sollst nicht tten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht die Ehe brechen,

    du sollst nicht lgen. In diesen wenigen Verbotsnormen findet sich eigentlich

    schon der gesamte Bereich des moralisch Notwendigen und fr alle Gltigen einge-

    grenzt.

  • 2

    Die meisten Entscheidungen, die fr unser Leben wichtig sind, beziehen sich jedoch

    auf Fragen, in denen es keine allgemeine, fr alle gltige Antwort gibt. Hier ist Krea-

    tivitt, Klugheit und Sachkenntnis gefragt; gefragt ist auch Mut zum Risiko und

    Freude am eigenverantwortlichen Tun. Die Temperamente der Menschen sind al-

    lerdings verschieden. Einige Menschen sind von Natur aus risikofreudiger, andere

    mehr auf Absicherung bedacht; einige besitzen den angeborenen Hang, schwierige

    Dinge gerne anzupacken, andere schrecken vor Schwierigkeiten eher zurck und

    lassen sich durch sie leicht davon abhalten, das Richtige oder Ntige zu tun. Dafr

    sind sie bedchtiger, im Unterschied zu jenen, die sich leicht aus oberflchlicher Be-

    geisterung zu khnen, aber vielleicht unklugen Unternehmungen hinreien lassen.

    Deshalb bedarf verantwortliche Freiheit der Tugenden. Sittliche Tugenden sind

    jene erworbenen Dispositionen, die natrliche Charaktermngel oder charakterliche

    Einseitigkeiten ausgleichen, den Charakter vervollkommnen und menschliches Ent-

    scheiden und Tun auf das Gute ausrichten. Man unterscheidet deshalb vier groe

    Grundtugenden, in denen alle anderen ihren Angelpunkt besitzen (Kardinaltugen-

    den) und auf die hin sie irgendwie geordnet sind: Klugheit, Gerechtigkeit, Mig-

    keit und Tapferkeit.

    2) Konsequenzen fr die staatliche und wirtschaftliche Ordnung

    Aus dem Gesagten ergibt sich eigentlich mit logischer Stringenz, dass die staatliche

    Ordnung eine Ordnung der Freiheitsermglichung sein sollte, die dem Menschen

    nicht auf paternalistische Weise vorgibt, worin sein Glck besteht und wie er sein

    Leben zu organisieren hat. Sie muss vielmehr eine Ordnung sein, die den Brgern

    Freiheit ermglicht, diese vor dem Missbrauch der Freiheit ihrer Mitbrger schtzt

    und davon ausgeht, dass die Brger die Verantwortung fr ihre Handlungen tragen.

    Schlielich sollte sie auch eine Ordnung sein, die es dem Menschen ermglicht, ein

    tugendhaftes Leben zu fhren. Dies nicht im dem Sinne, dass der Staat eine morali-

    sche Erziehungsanstalt wre; vielmehr sollten staatliche Institutionen und Gesetze

    Anreize setzen, die nicht unverantwortliches und lasterhaftes, sondern tugendhaftes

  • 3

    Verhalten und damit Potenzierung der Freiheit begnstigen. Der Staat und die Ge-

    setze sind nicht dazu da, Moral zu lehren. Doch sollten sie rechtliche und institutio-

    nelle Rahmenbedingungen bereitstellen, die jenen Tugenden frderlich sind, die fr

    das menschliche Zusammenleben unabdingbar und mglich sind: Achtung vor dem

    Leben, Respekt vor dem Eigentum, Treue in mitmenschlichen Beziehungen und

    Ehrlichkeit, das Einhalten von Vertrgen, die Fhigkeit, Interesse am Wohl des

    Mitmenschen zu dem man in einer Beziehung z.B. als Arbeitgeber, Nachbar oder

    Erziehungsverantwortlicher steht zu entwickeln, und zwar nicht nur aus Eigenin-

    teresse, sondern indem man sich auch mit den legitimen Interessen dieser Mit-

    Menschen solidarisch betrachtet.

    Deshalb sollte meiner Ansicht nach der Staat auch eine Wirtschaftordnung frdern,

    die Freiheit und Eigenverantwortung untersttzt und entsprechende Anreize setzt:

    Anreize zum eigenverantwortlichen, gerechten, klugen, ehrlichen, initiativen und fr

    die Zukunft nachhaltigen Handeln, das deshalb auch das richtige Ma kennt und

    sich durch den Mut auszeichnet, das Richtige zu tun, auch wenn man dafr gegen

    den Strom schwimmen muss oder nicht den Ansprchen der politischen Korrektheit

    entspricht. Politik und Gesetze hingegen, die falsche Anreize setzen, indem sie Frei-

    heit und Selbstverantwortung dadurch unterminieren, dass sie ihr Gegenteil vorteil-

    hafter erscheinen lassen, arbeiten letztlich gegen den Menschen und gegen die ge-

    meinsamen Interessen aller Mitglieder der Gesellschaft, das heit: gegen das Ge-

    meinwohl.

    Genau aus diesem Grund, so scheint mir, ist fr eine politische und rechtliche Ord-

    nung zu pldieren, die das freie Unternehmertum frdert und konsequent markt-

    wirtschaftlich orientiert ist. Ein auf einer freien Wirtschaftsordnung grndendes

    Gemeinwesen vertraut auf die Krfte der Eigeninitiative, auf unternehmerische Kre-

    ativitt, Innovation und auf dadurch ermglichtes nicht nur quantitatives sondern

    auch qualitatives Wachstum.

  • 4

    3) Warum sind Freiheit und Marktwirtschaft heutzutage wenig at-

    traktiv?

    Freiheit und Marktwirtschaft erscheinen heute aber einer breiten ffentlichkeit zu-

    nehmend als weniger attraktiv. Nachdem man nach der groen Wende im Jahre

    1989 zur Meinung gelangte, nun sei das Ende der Geschichte erreicht und der Tri-

    umph der liberalen Marktwirtschaft sei endgltig, wchst heute nicht nur die Skep-

    sis, sondern beginnt sich geradezu eine Ablehnung der Idee der freien Marktwirt-

    schaft auszubreiten. Laut Umfragen sind heute beispielswiese eine Mehrheit der

    deutschen Brger davon berzeugt, dass die Marktwirtschaft ungeeignet sei, um die

    durch die Finanz- und Wirtschaftskrise der letzten Jahre erzeugten Probleme zu l-

    sen; vor allem aber ist immer mehr die Meinung verbreitet, der Markt knne keine

    soziale Gerechtigkeit schaffen, ja freie Marktwirtschaft fhre zu immer grerer

    Ungleichheit und damit zu Ungerechtigkeit. Der freie, unregulierte Markt sei letzt-

    lich auch schuld an der Finanz- und Wirtschaftskrise. Deshalb seien mehr Regulie-

    rung und mehr Transferleistungen von Reich zu Arm, sprich Umverteilung, vonn-

    ten.

    Ich bin der Meinung, dass solche Vorstellungen und Forderungen, die vor allem von

    sozialistischer Seite, aber auch von normalerweise linkslastigen kirchlichen Gremi-

    en, Kommissionen und Rten, zunehmend aber auch von traditionellen Mittepartei-

    en vorgetragen werden, auf einer falschen Wahrnehmung der Wirklichkeit, aber

    auch auf einer Fehlinterpretation der Geschichte beruhen. Sie beruhen auf der Mei-

    nung, die Finanz- und Wirtschaftskrise sei von den Krften des freien Marktes ver-

    ursacht worden und diese Krise sei ein typisches Beispiel fr Marktversagen, wes-

    halb die Politik nun korrigierend eingreifen msse.

    Ich sehe diese Dinge anders, und ich mchte meine alternative Sicht im Folgenden

    etwas detaillierter darlegen, weil sich meiner Ansicht nach daraus nmlich weitge-

    hend von selbst ergibt, was aus moralphilosophischer Sicht zu dem mir gestellten

    Thema Freiheit und Verantwortung des Brgers zu sagen ist.

  • 5

    Zunchst: Ursache der Finanz- und Wirtschaftskrise war in Wirklichkeit nicht

    Marktversagen, sondern Staatsversagen. Es waren staatliche Eingriffe in den Markt,

    die die Dinge aus dem Lot brachten. Die Euro-Whrungsgemeinschaft, ein durch

    und durch aus politischem Kalkl und nicht aus wirtschaftlicher Vernunft entstan-

    denes Projekt, ermglichte es den Lndern der sdlichen Peripherie, den Kurs un-

    verantwortlicher Budgetpolitik und politisch gesteuerter Kreditvergabe zu fahren,

    wobei sie es versumten, die Lsung ihrer marktfeindlichen strukturellen Probleme

    an die Hand zu nehmen. Dadurch wurde eine gewaltige Kreditblase verursacht;

    Fehlinvestitionen gigantischen Ausmaes, welche die Krfte des freien Marktes und

    echt unternehmerisches Handeln niemals hervorgebracht htten, fhrten schlielich

    dazu, dass diese Lnder zu Sanierungsfllen wurden und das Eurosystem an den

    Rand des Abgrundes schlidderte.

    Begonnen hatte ja, wie wohlbekannt ist, alles mit der Subprimekrise auf dem US-

    amerikanischen Immobilienmarkt, selbst der wohl eklatanteste Fall von Politik- und

    Staatsversagen. Es war das mit Prsident Roosevelt beginnende, von Prsident Clin-

    ton entscheidend gefrderte und dann schlielich mit Prsident George W. Bush zu

    seinem Hhepunkt gelangende Projekt, jedem amerikanischen Brger ein Eigen-

    heim zu ermglichen. Treibende Kraft war also die Politik: Sie verlieh den groen

    Hypothekarinstituten Staatsgarantie, die Gerichte zwangen mit politischem Druck

    die Banken, Hypotheken auch an kreditunwrdige Brger zu verleihen. Die durch

    Staatsgarantie abgesicherten Hypothekarbanken Fannie Mae und Freddie Mac

    schufen darauf die das gesamte Finanzsystem vergiftenden neuen Finanzprodukte,

    die in der Folge, AAA geratet, die Finanzmrkte berschwemmten, die Gier nach

    dem schnellen Geld wach riefen und das Bankwesen weltweit in die Krise strzten.

    All dies war staats- und politikgetriebene Unvernunft, hinter der letztlich die Garan-

    tien der Absicherung durch das staatliche Geldmonopol und den lender of last re-

    sort, das heit das Federal Reserve Board die amerikanische Zentralbank stand.

    Diese ist ein staatlich privilegierter und geschtzter privater Monopolbetrieb, der

    den amerikanischen Banken gehrt und in ihrem Interesse agiert.

  • 6

    Als die Dinge aus dem Ruder zu laufen begannen, wurde die Notenpresse aktiviert,

    und zwar nicht nur am Anfang, um die Banken zur Aufrechterhaltung des Zahlungs-

    verkehrs mit Liquiditt zu versorgen, sondern schlielich auf Dauer, um durch billi-

    ges Geld Konjunktur- und Arbeitsmarktpolitik zu betreiben sowie um durch tiefe

    Zinsen das Problem der immensen ffentlichen und zum Teil auch privaten Ver-

    schuldung ertrglich zu machen und seine Lsung auf die kommenden Generatio-

    nen abzuschieben.

    Meiner Ansicht nach sollte jeder, bevor er leichtfertig von Marktversagen spricht

    und die Ursache der Krise dem freien Markt und dem Kapitalismus in die Schuhe

    schiebt, sich der fundamentalen Tatsache stellen, dass unser Geldsystem kein

    marktwirtschaftliches System ist, dass unsere Finanzmrkte vom System her ein

    Produkt staatlicher Intervention in den freien Markt darstellen und deshalb inner-

    halb von Marktwirtschaft und Kapitalismus in ihrer heutigen Funktionsweise ei-

    gentlich als dysfunktionaler Fremdkrper betrachtet werden mssen. Liberale und

    marktwirtschaftlich orientierte konomen ich denke etwa an Wilhelm Rpke oder

    Ludwig Ehrhard haben daraus die Forderung abgeleitet, das Geld auf jeden Fall

    knapp zu halten und jeglicher Versuchung einer Inflationierung der Geldmenge zu

    widerstehen. Andere, vor allem Anhnger der sterreichischen Schule der National-

    konomie, fordern konsequenter, das staatliche Geldmonopol abzuschaffen und den

    Wettbewerb verschiedener Whrungen zuzulassen, die Geldproduktion also dem

    freien Markt zu berlassen.

    Was auch immer die Lsung sein mag: An der Erhaltung des bisherigen Systems

    staatlicher Interventionen und eines staatlich kontrollierten Geldsystems interes-

    siert sind neben Zentralbankern und Investmentbankern vor allem Politiker,

    denn dieses System vergrert ihre Bedeutung und ihre Macht. Sie hmmern uns

    ununterbrochen ein, nun sei die Stunde der Politik gekommen und die Politik msse

    endlich das Diktat der Logik der Mrkte in die Schranken weisen (was aber unmg-

    lich ist, denn schlussendlich setzt sich die Logik des Marktes immer durch, weil die

    Logik des Marktes die Logik der Natur der Dinge ist).

  • 7

    Zudem knnen Politiker bzw. Regierungen unter den Bedingungen der heutigen An-

    spruchsdemokratie nur wiedergewhlt werden, wenn sie ihre Whler durch immer

    wieder neue Versprechungen bei der Stange halten Versprechungen, deren Einl-

    sung mit steigender ffentlicher Verschuldung einhergeht, was letztlich wiederum

    nur dank der Notenpresse, die sich in den Hnden des Staates befindet, mglich

    ist. Politiker haben demnach auch ein Interesse an der sich aus der zunehmenden

    Verschuldung ergebenden Inflationskultur. Sie hmmern dem Brger die

    Keynesianische Weisheit ein: Dadurch dass ihr mehr konsumiert und euch ver-

    schuldet, erweist ihr der Wirtschaft und der Allgemeinheit einen Dienst, weil ihr

    damit helft, die Wirtschaft anzukurbeln als ob man durch Konsumieren und

    durch Schulden reicher wrde. Schuldenwirtschaft und Inflationskultur passen gut

    zusammen, aber sie passen berhaupt nicht zu einer freien Marktwirtschaft und zu

    dem, was man Kapitalismus nennt: einem freien und nachhaltig-innovativen Un-

    ternehmertum. Denn dieses beruht nicht auf Konsum, Schuldenmacherei und Ver-

    schwendung von Ressourcen, sondern auf Sparen und Investition und die dadurch

    ermglichten realen und nachhaltigen Wohlstandsgewinne (die sich allerdings noch

    nicht unbedingt bei den nchsten Wahlen bemerkbar machen, wohl aber, im Unter-

    schied zur Verschuldung, auch fr die nachkommenden Generationen von Vorteil

    sind).

    Eine solche alternative, wie mir scheint ehrlichere und zutreffendere Diagnose halte

    ich fr notwendig, um zu einer moralischen Beurteilung und zu ethisch relevanten

    praktischen Schlussfolgerungen zu gelangen. Vielleicht haben Sie sich gefragt, wes-

    halb ein katholischer Theologe und Moralphilosoph sich in die Niederungen ko-

    nomischer Analysen und Wertungen hinablsst. Ich denke, das ist ntig, weil man

    ohne solche Analysen und Wertungen auch keine moralisch sinnvollen und relevan-

    ten Aussagen ber Fragen, wie sie zu meinem heutigen Thema gehren, machen

    kann. Moralphilosophie und ebenso Moraltheologie mssen konomisch aufgeklrt

    argumentieren; andernfalls verkommen sie in ihren Urteilen ber wirtschaftliche

    Fragen zum bloen Moralismus.

  • 8

    Das gilt auch und besonders fr die Frage der Beziehung zwischen Eigenverantwor-

    tung und Solidaritt, ja was berhaupt Solidaritt, was soziale Gerechtigkeit und

    entsprechende Verantwortung des Brgers heien knnte.

    4) Eigenverantwortung, Solidaritt, soziale Gerechtigkeit

    Zunchst scheint mir vor allem wichtig, sich von dem verhngnisvollen Vorurteil zu

    lsen, der Markt sei grundstzlich ein Problem, Politik und Staat seien hingegen die

    Lsung. Meiner Meinung nach verhlt es sich genau umgekehrt: Der Markt bedarf

    zwar einer rechtlichen und institutionellen Rahmenordnung, vor allem einer fairen

    Wettbewerbsordnung, mit Regeln, die fr alle ausnahmslos gleich gelten, ohne

    rechtliche Privilegierungen wie Subventionen oder protektionistische Manahmen.

    Was den Staat betrifft, so ist das Wichtigste, seine Macht und Aufgabenbereiche auf

    das notwendige Minimum zu beschrnken. Die Gefahr ist nicht der Markt, sondern

    Staatsglubigkeit. Staatsglubigkeit der Glaube, der Staat knne es prinzipiell bes-

    ser als der Markt ist der direkteste Weg in die brgerliche Verantwortungslosig-

    keit, den Verlust der Freiheit und die alle, auch zuknftige Generationen schdigen-

    de Verschwendung von Ressourcen.

    Die fortgeschrittene, westliche Welt verdankt ihren Reichtum und zwar einen in

    der Geschichte noch nie dagewesenen Massenreichtum bis hinein in die untersten

    Gesellschaftsschichten dem Kapitalismus und den Koordinationsmechanismen

    des freien Marktes. Und man muss hinzufgen: Trotz allem, nmlich trotz aller

    dauernder politischer Behinderungen der fr alle sozialen Schichten wohlstands-

    steigernden Mechanismen des freien Marktes. Diese Behinderungen waren mannig-

    faltig und konstant und gehren eigentlich bis zum heutigen Tag mit zur Geschichte

    des Kapitalismus. Das Erstaunliche ist in Wirklichkeit, wie gut sich trotz aller staat-

    lichen und politischen Behinderungen whrend der letzten hundertfnfzig Jahre die

    kapitalistische und marktwirtschaftliche Dynamik zu entfalten vermochte (und dies

    trotz Kriegen, die dem Kapitalismus und der freien Marktwirtschaft keineswegs fr-

    derlich waren, sondern vielmehr beginnend mit dem Ersten Weltkrieg die

  • 9

    Macht des Staates und seinen Interventionsspielraum ins Unermessliche potenzier-

    ten).

    Meiner Ansicht nach verlangen Solidaritt und soziale Gerechtigkeit in erster Linie,

    Nichtbehinderung des freien Marktes durch politisch motivierte staatliche Eingriffe

    in den Preismechanismus des Marktes, damit die innovative und wohlstandschaf-

    fende Dynamik des Kapitalismus ihr ganzes Potenzial entfalten kann. Dazu brau-

    chen wir eine Kultur der Freiheit, die unternehmerische Initiative, Selbstverantwor-

    tung, Kreativitt und Innovation frdert und dadurch entstehende momentane, aber

    auch strukturelle Ungleichheiten nicht als ungerecht und gar skandals verteufelt,

    sondern ganz im Gegenteil als fr das Gemeinwohl nutzbringend erkennt, weil sie

    eben, im Unterschied zur heute sozialstaatlich ramponierten und ihrer Effizienz be-

    raubten Marktwirtschaft, greren Wohlstand fr alle schaffen.

    Eine solche Kultur der Freiheit erfordert gerade heute, im Zeitalter zunehmender

    Globalisierung, auch offene Grenzen fr die Migration. Alle Menschen sollten die

    Chance haben, in dem Land zu arbeiten, in dem sie arbeiten wollen, und dies zu den

    Lhnen, fr die sie zu arbeiten bereit sind, weil eine solche Arbeit fr sie vorteilhaf-

    ter als das Verbleiben in ihrem Ursprungsland ist. Auch wenn diese Lhne tief sind,

    wird es fr diese Menschen ein Gewinn sein (sonst wrden sie nicht kommen) und

    ihnen ermglichen, sich nach oben zu arbeiten. Auch fr das Einwanderungsland

    sind arbeitswillige Einwanderer auf lange Sicht immer ein wirtschaftlicher Gewinn.

    Nur die Gewerkschaften und ihre Klientel werden durch freie Arbeitsmrkte an

    Macht verlieren und sich deshalb gegenber schlecht qualifizierten und anfnglich

    noch wenig produktiven Einwanderern unsolidarisch verhalten, ja die Offenheit des

    Arbeitsmarktes mit dem ganzen Arsenal emotionaler Appelle bekmpfen, dabei aber

    gerade die rmsten, die Unqualifiziertesten und die Bedrftigsten ausschlieen.

    Auch die egoistische Verteidigung eines national ausgerichteten Sozialsystems, das

    auf unsolidarische Weise die eigenen Schfchen bevorteilt und deshalb der Immig-

    ration Schranken zu setzen sucht oder sie mit flankierenden Manahmen erschwe-

    ren will, scheint mir gerade ein Mangel an wahrer Solidaritt zu sein, die sich auf

  • 10

    alle Arbeit suchenden Menschen, nicht nur auf die bereits hier etablierten Hoch-

    lohnempfnger richten sollte.

    Solidaritt hat deshalb viel mit Freiheit zu tun, obwohl wir uns daran gewhnt ha-

    ben, sie mit Sozialstaat, Umverteilung und Transferleistungen aller Art und

    auch mit Mindestlohn zu identifizieren. Dadurch jedoch wird der Brger in

    der Schweiz etwas weniger und dank Fderalismus und Gemeindeautonomie in er-

    trglicherer und weniger ineffizienter Weise zunehmend vom Staat abhngig. In

    den heutigen Wohlfahrtsstaaten wird ja jeder Brger auch der reichste als po-

    tenzieller Sozialfall behandelt und lckenlos abgesichert.

    Der moderne Sozial- und Wohlfahrtsstaat hat die natrlichen und geschichtlich ge-

    wachsenen gesellschaftlichen Strukturen der Solidaritt zu weiten Teilen zerstrt

    und teilweise auch neue Armut geschaffen, an deren Weiterbestehen die Sozialbro-

    kratie und ihre Lohnempfnger ein Interesse besitzen. Menschen, die in staatlichen

    Institutionen und Brokratien arbeiten, werden aus diesem Grund nicht einfach

    pltzlich zu besseren Menschen oder zu solchen, die nicht mehr ihr Eigeninteresse

    verfolgen. Auch Beamte sind Menschen mit Eigeninteressen, und konkret haben sie

    ein Interesse an der Erhaltung und sogar an der Ausweitung des brokratischen Ap-

    parates, denn dieser bildet ihre Lebensgrundlage und ihre Einkommensquelle und

    sein stetiges Wachsen gibt ihnen mehr Macht und Einfluss oder erffnet neue Auf-

    stiegsmglichkeiten. Politiker hingegen wollen in der Regel wiedergewhlt werden

    und verhalten sich entsprechend.

    Der heutige Sozialstaat hat deshalb nicht nur ein Interesse an der Perpetuierung von

    Armut weshalb er sie immer wieder neu definiert , er ist auch mitverantwortlich

    fr den Niedergang der Familie und den von ihr geschaffenen sozialen Netzen und

    damit gerade fr die Existenz realer Armut. Leider sind es heute oft gerade Liberale,

    die sich aus Angst, die politische Korrektheit zu verletzen, nicht getrauen, fr die

    Strkung gesunder Familienstrukturen einzutreten, oder die gar entgegengesetzten

    Tendenzen das Wort reden, etwa indem sie im Kielwasser einer ursprnglich linken

    Gleichheitsideologie auf Biegen und Brechen eine weit ber die rechtliche Nicht-

    diskriminierung hinausgehende Gleichstellung der Frau und damit zunehmend die

  • 11

    Vergesellschaftung von Familie und Erziehung betreiben. Friedrich Engels, der in

    der Abschaffung der traditionellen Familie und in der totalen Integration der Frau

    in die Arbeitswelt die Lsung erblickte, lsst gren. Frauen sollten selber frei wh-

    len knnen, ob sie sich in die auerfamilire Arbeits- und Berufswelt eingliedern

    wollen; sie sollten dazu nicht gezwungen werden, weil infolge immer hherer Steu-

    er- und Abgabenbelastung und wegen des durch mannigfache berregulierungen

    bewirkten Kaufkraftverlustes des Geldes das Arbeitseinkommen nur eines Fami-

    lienmitgliedes ungengend ist.

    Was wir brauchen, so scheint mir, ist ein neues Gespr fr das Prinzip der Subsidia-

    ritt, fr die grundlegende Aufgabe der Familie als Reproduktionsgemeinschaft und

    Gemeinschaft der Weitergabe von Sozialkompetenz, Kultur und Reichtum, ein tiefe-

    res Gespr fr die segensreiche Funktion des Privateigentums und der daran ge-

    knpften Kultur unternehmerischen Handelns, von Selbstverantwortung und lang-

    fristigem Denken, das zu nachhaltigen Lsungen statt zu kurzfristigen und popul-

    ren politischen Erfolgen fhrt. Ntig ist aber auch die Bereitschaft, die sich daraus

    unvermeidlich ergebende Ungleichheit nicht als ungerecht zu diffamieren, sondern

    ihre Unvermeidlichkeit und ihren Nutzen fr die Gesamtgesellschaft zu erkennen

    (wozu auch der Hinweis darauf gehrt, wie sehr gerade Erbschaftssteuern dem Ge-

    meinwohl abtrglich sind).

    Das sind durchaus Forderungen ethischer Art, wie sie sich dem konomisch aufge-

    klrten Blick auf die moralischen Probleme der westlichen Gesellschaften ergeben.

    Natrlich befinden wir uns in einer moralischen Krise. Aber diese ist nicht aus dem

    Nichts gekommen. Sie selbst ist auch Folge politischer Fehlentscheidungen und da-

    durch geschaffener Strukturen, die falsche moralische Anreize schaffen.

    Strukturen, die falsche Anreize schaffen, entsolidiarisieren die Gesellschaft, machen

    uns auch wirtschaftlich rmer und berauben uns der Ressourcen, die ntig wren,

    damit freie Initiative, ja die oft beschworene Zivilgesellschaft eben, auch fr die Zu-

    kunft tragende Lsungen fr Fragen der sogenannten sozialen Gerechtigkeit fin-

    den knnte. Auch die Kirche, so glaube ich, sollte vermehrt zu Freiheit und Eigen-

    verantwortung ermutigen, anstatt ber Ungleichheit zu klagen und mehr Umvertei-

  • 12

    lung zu fordern. Sie sollte ganz im Sinne des Subsidiarittsprinzips und ihrer Hoch-

    haltung des Privateigentums, das ja sozial verpflichtet und die zugunsten einer als

    staatliche Umverteilung verstandenen Solidaritt zumeist vergessen werden, zu un-

    ternehmerischem Geist aus Freiheit und Selbstverantwortung ermutigen, und zwar

    zu unternehmerischem Handeln in allen gesellschaftlichen Bereichen. Unternehme-

    risch handeln kann man nicht nur im groen Mastab. Man kann und sollte es auch

    und durchaus, um damit Geld zu verdienen im Bereich des Angebots sozialer

    Dienstleistungen, der Altersvorsorge, der Absicherung gegen Risiken wie Unfall,

    Krankheit und Arbeitslosigkeit. Ja, jede Familie, wenn sie fr Kinder offen ist, ist ein

    kleines Wirtschaftsunternehmen oder sollte es sein. Leider hat ihr der Staat be-

    reits die wichtigsten Aufgaben und Entscheidungen entzogen, so dass es auch kein

    Vorteil mehr ist, Kinder grozuziehen.

    Das heit nicht, dass, falls andere Mglichkeiten fehlen, der Staat mglichst auf

    der untersten Ebene der Gemeinde fr Menschen, die in Not geraten sind und sich

    nicht selber helfen knnen, ein soziales Netz aufspannt, das vorbergehende Not zu

    lindern vermag und diesen Menschen eine Chance bietet, sich wieder in den Ar-

    beitsmarkt einzugliedern. Wer aufgrund seines Alters, physischer oder psychischer

    Krankheit oder aus hnlichen Grnden dazu nicht in der Lage ist, darf von der Ge-

    sellschaft nicht im Stich gelassen werden. Allerdings sollte auch hier der Staat nur

    einspringen, wenn die Zivilgesellschaft selbst dazu nicht in der Lage ist; bzw. er soll-

    te die Zivilgesellschaft darin untersttzen, selbst solche Initiativen zu realisieren.

    Das war frher einmal im groen Stil der Fall gewesen. Der moderne Sozialstaat

    stie nicht in ein soziales Vakuum, sondern verdrngte vor allem in den angelschsi-

    schen Lndern, aber auch in Deutschland, eine reiche Kultur auf privater Basis ar-

    beitender sogenannter friendly societies oder fraternal societies, die auf dem Prin-

    zip von mutual aid bzw. der Selbsthilfe beruhten und durch die im 19. und am Be-

    ginn des 20. Jahrhunderts bereits Millionen von Arbeitern eine Absicherung vor

    Krankheit und Arbeitslosigkeit sowie eine Altersvorsorge erhalten konnten. Der mo-

    derne Sozialstaat hat diese Kultur solidarischer zivilgesellschaftlicher Selbsthilfe

    und ihr Entwicklungspotential jedoch weitgehend zerstrt und an deren Stelle den

  • 13

    auf Dauer nicht finanzierbaren und letztlich selbstzerstrerischen Wohlfahrtsstaat

    gesetzt.

    Weil in Zeiten der Globalisierung und immer strkeren Migration nationalstaatlich-

    etatistische Lsungen versagen mssen, sollten meiner Ansicht nach gerade Chris-

    ten konsequent freiheitlich, liberal und marktwirtschaftlich denken, ohne Scheu den

    Kapitalismus und seine enormen Leistungen verteidigen, und gerade weil sie sozial

    sind, sich Lsungen zuwenden, die nicht auf staatlichem Zwang beruhen, sondern

    der Freiheit und den schpferischen Krften des Individuums und des freien Mark-

    tes entspringen.

    Martin Rhonheimer, 2014

    Professor fr Ethik und politische Philosophie an der Philosophischen Fakul-

    tt der Ppstlichen Universitt Santa Croce, Rom

    Mitglied der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft

    Mitbegrnder und Mitglied des Lord Acton Kreises