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Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention 12,50 Euro | ISSN 2190-0485 Nr. 1 | 2018 Sichere und gesunde Arbeit von morgen Innovative Ansätze präventiver Arbeitsgestaltung für Beschäftigte, Unternehmen, Verbünde und Regionen

Sichere und gesunde Arbeit von morgen Innovative Ansätze ... · 4 præview Nr.1 | 2018 5 Maria Zevaco Die Autorin Dr. Maria Zevaco ist als Projektbevollmächtigte beim Projektträger

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Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention 12,50 Euro | ISSN 2190-0485 Nr. 1 | 2018

Sichere und gesunde Arbeit von morgenInnovative Ansätze präventiver Arbeitsgestaltungfür Beschäftigte, Unternehmen, Verbünde undRegionen

inhalt

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Impressum

Arbeitsgestaltung der Zukunft – Das Förderprogramm „Präventive Maßnahmen für die sichere und gesunde Arbeit von morgen“

Maria Zevaco

Diskussionen, Kooperationen, Freundschaften – die Fokusgruppe „Individualisierte und präventive Arbeitsgestaltung“

Kurt-Georg Ciesinger

Arbeit 4.0 – Bedarfe des Personal- und Gesundheits-managements in deutschen Unternehmen

Alexander Purbs, Philipp Lechleiter

Arbeitsgestaltungswissen als Ressource in Zeiten digitalisierter Arbeit – Befunde zum Ausmaß des Wissensstandes betrieblicher Akteure

Anja Gerlmaier, Laura Geiger

Mehr Lebenszeit – weniger Stress: ein Rahmenmodell zur Ökonomie, Soziologie und Psychologie von Zeitkonflikten

Carolin Wendt, Jana Biemelt, Jan Dettmers, Axel Czaya

Familienzeit 4.0 – Anforderungen an bedarfsgerechte KinderbetreuungEva Manovi

Stressmonitoring im „Praxistest“ – das Projekt BalanceGuardTanja Dayß, Jella Heptner, Emanuel Beerheide

Wer, wie, was? Einsatzmöglichkeiten für das Stressmonitoring mit BalanceGuardKurt-Georg Ciesinger, Jörg Schlüpmann

Präventive Tätigkeitswechsel für nachhaltige Erwerbsverläufe – das Projekt TErrAMichael Niehaus, Rainer Thiehoff

TErrA – Tätigkeitswechsel in der Praxis Michael Niehaus, Rainer Thiehoff

Präventive Arbeitsgestaltung in der IntralogistikDirk Marrenbach, Martin Braun, Oliver Scholtz

Herausforderungen für die Prävention in Kleinstunternehmen am Beispiel der Forstwirtschaft

Carolin Kreil, Jana Kampe, Edgar Kastenholz

Präventionskultur in Klein- und KleinstbetriebenJana Kampe, Carolin Kreil, Edgar Kastenholz

Von der Erfassung bis zur kontinuierlichen Gestaltung: Präventionskultur im DIALOG

Jana Kampe, Carolin Kreil, Edgar Kastenholz

Welche Fälle? Zur statistischen Verortung von FallstudienWenzel Matiaske

Eine kommende Dimension der Arbeitsforschung: Region Wenzel Matiaske

Muddling-through statt Management? Die Praxis des BGM in kleinen Unternehmen Jörg Schlüpmann, Jana Hausmann, Kurt-Georg Ciesinger

Das Memorandum „Arbeit und Technik 4.0 in der professionellen Pflege“Paul Fuchs-Frohnhofen, Kurt-Georg Ciesinger

Bildnachweis Porträts: Fotostudio Kofman (S.5, Zevaco); Christoph Bastert (S.9, Purbs/Lechleiter); Carolin Weinkopf (S.11, Gerlmaier); Aneta Woznica (S.13, Wendt); Fabian Sommer (S.13, Dettmers); Jan Dumkow (S.13, Czaya); Förde-Fotograf Fischer (S. 15, Manovi); Picture People (S.17, Dayß); Xing (S.17, Heptner); Joe Kramer Fotodesign (S.17, Beerheide); Dagmar Siebecke (S. 19, S. 37, S. 38, Ciesinger); Fotoate-lier Clemens Gütersloh (S.19, S. 37, Schlüpmann); UweVölkner (S. 21, S. 23, Thiehoff); Fraunhofer IAO (S.25,Marrenbach, Braun, Scholtz); Foto Hahn Dresden (S. 27,S. 29, S. 31, Kreil); Daniel Reinhardt (S. 27, S. 29, S. 31,Kampe); Katja Büchler (S. 27, S. 29, S. 31, Kastenholz);Hilla Südhaus (S. 37, Hausmann).

Die Artikel dieser Ausgabe der præview basieren auf denErgebnissen öffentlich geförderter Vorhaben. Die Projekte

æ BalanceGuard – Entwicklung und Erprobung einesAssis tenzsystems für ganzheitliches Beanspruchungs-monitoring und gesunde Arbeit (FKZ 02L14A190-195)

æ INGEMO – Initiative betriebliche Gestaltungskompe-tenz stärken – Ein neues Präventionsmodell fürUnter nehmen und Beschäftigte (FKZ 02L14A020-023)

impressum

præview – Zeitschrift für innovative Arbeits-gestaltung und Prävention9. Jahrgang 2018 – ISSN 2190-0485Erscheinungsort Bielefeld

Herausgeber: Jörg SchlüpmannVerlag: Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Assistenz OWL e.V.(a3 OWL e.V.)v.i.S.d.P.: Frank-Peter OltmannLektorat: Sabine SchollasDruck: print24.deLayout: Q3 design GbR, Dortmund

Bezugsadresse /Kontakt:Zeitschrift præview c/o a3 OWL e.V.Herforder Straße 74, 33602 Bielefeld http://a3-owl.info, [email protected]

æ Lebenszeit 4.0 – Zeitgerechte Region am BeispielNordstadt+ (FKZ 02L14A220-225)

æ MEgA – Maßnahmen und Empfehlungen für diegesun de Arbeit von morgen (FKZ 02L14A000)

æ PREVILOG – Präventive Prinzipien und Methoden deralterns- und marktgerechten Arbeitssystemgestaltungin der Intralogistik (FKZ 02L14A200-206)

æ proSILWA – Prävention für sichere und leistungs fähigeWaldarbeiter (FKZ 02L14A270-274)

æ TErrA – Tätigkeitswechsel zum Erhalt der Arbeits -fähigkeit (FKZ 02L14A140-146)

werden im Förderschwerpunkt „Präventive Maßnahmenfür die sichere und gesunde Arbeit von morgen“ vomBundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

Art Directors’ Comment

„Die beste Methode, eine gute Idee zu haben,besteht darin, viele gute Ideen zu haben.“Linus Pauling

Die exklusiv für diese Zeitschrift entstandenenFotografien visualisieren das Spannungsfeld vontypografischer Formensprache und malerischanmutender Ikonografie.

Collagenartiges Zusammenwirken der Bildwel-ten, die Interaktion zwischen Gegenständlich-keit und Abstraktion, von Transparenz und Opa-zität lassen sich aus ungewohnter Perspektiveund Kontext entdecken und auf Innovations-potenzial detektieren.

Wir laden die Leserinnen und Leser dieser Aus-gabe herzlich zu dieser expressiven Bilderreiseein.

Renate Lintfert und Hans Waerder, Q3 design

Sichere und gesunde Arbeit von morgenInnovative Ansätze präventiver Arbeitsgestaltungfür Beschäftigte, Unternehmen, Verbünde undRegionen

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Maria Zevaco

Die AutorinDr. Maria Zevaco ist als Projektbevollmächtigtebeim Projektträger Karlsruhe verantwortlich fürden Forschungsschwerpunkt „Präventive Maß-nahmen für die sichere und gesunde Arbeit vonmorgen“ des Bundes ministeriums für Bildungund Forschung.

kleinen Ausschnitt der Forschungsschwerpunkteaus den Projekten dar.

In den insgesamt 153 Teilvorhaben arbeiten 70Unternehmen, davon 45 KMU, an den Themenmit und stellen somit einen direkten Praxisbezugund eine starke Anwendungsnähe sicher. Schonvor Ende der Laufzeit der Förderprojekte spürenviele Unternehmen deutliche, teilweise mess-bare Fortschritte im Bereich der betrieblichenPrävention.

Um die Ergebnisse der Projekte auch anderenInteressenten außerhalb der Förderung zugäng-lich zu machen, engagieren sich viele Netzwerkewie Verbände und Handwerkskammern in denProjekten. Die Forschungseinrichtungen undUniversitäten bringen die Ergebnisse in Vorle-sungen, Praktika und wissenschaftliche Arbeitenein, sodass zukünftige Personalverantwortlichemit einem modernen Verständnis von Arbeits-gestaltung und Kompetenz-, Personal- und Or-ganisationsentwicklung in den Beruf eintreten.Und natürlich verbreiten die Wissenschaftlerdie Erkenntnisse und Tools auch über Publika-tionen und Vorträge auf nationalen und inter-nationalen Veranstaltungen.

Die dritte wichtige Gruppe, die an der Erarbei-tung und Verbreitung der Ergebnisse arbeitet,sind die Sozialpartner und Verbände, die teil-weise direkt am Vorhaben beteiligt sind oderindirekt durch Mitarbeit in Beiräten und als Be-rater ihren Beitrag leisten.

Wissenschaftlich begleitet werden die Aktivi-täten durch das Projekt MEgA (Maßnahmen

Die junge Generation, die jetzt in das Arbeits-leben eintritt, hat teilweise andere Vorstellungenvon dem Zusammenspiel zwischen Arbeit undPrivatleben. Auch dies gilt es in der Personal-führung zu beachten. Hinzu kommt eine stär-kere Individualisierung, die schon seit Jahrenzu beobachten ist. Deshalb müssen sich auchdie betrieblichen Angebote an die Arbeitnehmerim Bereich Gesundheitsmanagement und Per-sonalpolitik stärker an der Lebensphase des Ein-zelnen orientieren. Für diesen Zweck sind ins-besondere für kleine und mittlere Unternehmenund ihre Mitarbeiter innovative Lösungsansä -tze sowie neue Strategien zum Transfer von Er-folgskonzepten in die Praxis zu entwickeln.Nicht zuletzt sollte die Arbeit in einer Gesell-schaft, in der Erwerbsarbeit eine derart hoheIdentifikationskraft besitzt, so gestaltet werden,dass sie gesundheitserhaltend, lernförderlich,nachhaltig, inklusiv und sinnstiftend für mög-lichst jede und jeden wird. Die zunehmendentechnischen Möglichkeiten der Digitalisierungund Robotik können gerade hier potenzielle Lö-sungen in dieser Richtung bieten.

Deutschland ist ein hochentwickeltes Industrieland mit hervorragend

ausgebildeten Fachkräften. In vielen Unternehmen herrschen hohe

Standards in Bezug auf die Gesundheits- und Personalpolitik. Durch

den demografischen Wandel und die zunehmende Digitalisierung wer-

den deutsche Unternehmen und die Gesellschaft als Ganzes allerdings

vor neue Herausforderungen gestellt. Es gilt, alle Mitarbeiter für die

technologischen Neuigkeiten in der Arbeitswelt fit zu machen und ihre

körperliche und geistige Gesundheit so lange wie möglich zu erhalten.

Arbeitsgestaltung der Zukunft – Das Förderprogramm „Präventive Maßnahmen für die sichere und gesunde Arbeit von morgen“Maria Zevaco

Die Bundesregierung ist sich des hohen Stellen -wertes der Erwerbsarbeit, der Gesundheit alsschützenswertem Gut und der sozialen Verant-wortung von Politik und Unternehmen im Um-gang mit Chancen und Risiken der Digitali -sierung bewusst. Um diesen Prozess aktivmitzugestalten, fördert sie im Rahmen des For-schungsprogramms „Innovation für die Produk-tion, Dienstleistung und Arbeit von morgen“und der dazugehörigen Programmlinie „Zukunftder Arbeit“ zahlreiche Forschungsprojekte, dieBeschäftigte für den digitalen und demogra -fischen Wandel stärken und die Wettbewerbs -fähigkeit sowie den Standortvorteil deutscherUnternehmen sichern sollen.

Mit dem Wissenschaftsjahr 2018 „Arbeitsweltender Zukunft“ fördert das BMBF ebenso einenbreiten Dialog zum Thema: „Wie können wir dieArbeit der Zukunft gestalten?“ und unterstreichtdadurch deren Bedeutung für Politik, Wirtschaft,Wissenschaft und Gesellschaft.

Im Rahmen des Förderschwerpunktes „Präven-tive Maßnahmen für die sichere und gesundeArbeit von morgen“ arbeiten Wissenschaftler,Unternehmer und Vertreter von Sozialpartnernund Verbänden an der Entwicklung von Konzep -ten der präventionsorientierten Personalent-wicklung zum wirksamen betrieblichen Arbeits-und Gesundheitsschutz und an modellhaften,übertragbaren Ansätzen zur personenindividu-ellen, präventiven Arbeitsgestaltung zur Verbes -serung der Gesundheit und der Arbeitsqualität.

Seit 2015 sind 29 Verbünde damit beschäftigt,Konzepte und Modelle zur betrieblichen Präven -tion zu erstellen, Verbesserungen aufzuzeigenund einen Wandel in der Praxis zu initiieren.Dabei werden auch smarte Technologien ge-nutzt, um einen zukunftsfähigen Arbeits- undGesundheitsschutz zu entwickeln. Die For-schungsprojekte des Förderschwerpunktes wer-den vom BMBF gefördert und vom ProjektträgerKarlsruhe betreut.

Unter den Projekten finden sich sowohl Anwen -dungsszenarien von relativ jungen Branchen,wie z.B. der Offshore-Windindustrie (BestOff),als auch von „klassischen“ Branchen, wie derForstwirtschaft (proSILWA). Ein großer Fokus imFörderschwerpunkt liegt auf Projekten, die sichmit der Pflegearbeit befassen (empcare, Stress-Rekord, Pflege-Prävention 4.0). Die Vereinbarkeitvon Familie und Beruf (Lebenszeit 4.0), die ge-sundheits- oder altersbedingten Veränderungender Arbeitsfähigkeit (TErrA), Stressbewältigung(STÄRKE) und die Verbesserung des betrieblichenGesundheitsmangements in kleinen Unterneh-men (e-Regiowerk) stellen beispielhaft nur einen

und Empfehlungen für die gesunde Arbeit vonmorgen) der Arbeits- und Organisationspsycho-logie Heidelberg. MEgA erarbeitet ganzheitlicheKonzepte und Methoden zur gesundheitlichenFörderung insbesondere für kleine und mittlereUnternehmen.

Darüber hinaus gibt es fünf Fokusgruppen, inde nen Vertreter verschiedener Projekte an Kon-zepten folgender Gestaltungsfelder arbeiten:

1. Innovative Führung und präeventions -orientierte Personalentwicklung

2. Arbeits- und Gesundheitsschutz im Pflege-und Dienstleistungssektor

3. Präventionsallianzen4. Individualisierte und präventive Arbeits -

gestaltung5. Innovative Arbeitsformen und Assistenz -

systeme

Die Fokusgruppe 4, die sich in den vergangenenJahren mit der individualisierten und präventi-ven Arbeitsgestaltung befasst hat, legt nun indieser Zeitschrift Zeugnis über ihre Arbeit ab.Sie bietet damit Interessenten die Möglichkeit,sich über die einzelnen, an der Fokusgruppe be-teiligten Projekte zu informieren. Darüber hi-naus liefert sie Input über den aktuellen Wissens -stand in diesem Bereich und Anregungen fürdie Zukunft der Arbeitsgestaltung.

Wir danken allen, die sich mit ihrer Arbeit inihren Projekten und in den Fokusgruppen ein-gebracht haben, und wünschen Ihnen, liebeLeserin nen und Leser, eine interessante und in-spirierende Lektüre!

Kurt-Georg Ciesinger

chen und keiner hat Lust, die Zeit mit „aufgehübschten“Berichten zu verschwenden – nicht einmal, wenn derProjektträger dabei ist.

Wir haben uns viel Zeit für dieses gegenseitige Ken-nenlernen der Projekte, Branchen und Insti tutionen ge-nommen. Wir haben uns reihum bei den Partnern ge-troffen und so auch die Menschen hinter den Projektenkennengelernt. In der Rückschau war es wahrscheinlichgenau das, was unsere Zusammenarbeit am Ende soeinfach gemacht hat. Denn irgendwann kristallisiertesich eine andere Art von Fokusgruppen-Identität heraus:Wir sind eine Gruppe von erfahrenen Forschern, die sichgegenseitig gut kennen, schätzen und gern zusammen-arbeiten. Die thematische Klammer der Fokusgruppekönnen wir allerdings immer noch nicht genau verbali-sieren, aber das ist auch längst nicht mehr nötig.

Im Laufe der Zeit haben wir auf dieser fachlichen undkollegialen, oft freundschaftlichen Basis eine ganzeReihe von gemeinsamen Aufgaben gestemmt: Wir habenein eBook zur Fokusgruppe veröffentlicht, außerdemeine gemeinsame Ausgabe der Zeitschrift præview (dielesen Sie gerade); wir werden im Februar eine gemein-same Tagung veranstalten (die Ankündigung liegt die-sem Heft bei). Wir haben eine gemeinsame Session aufder PASIG-Jahrestagung in Salzburg organisiert. Wirsind dabei eine Denkschrift zu verfassen, die wir aufunserer Tagung vorstellen möchten. Und wir haben engeKontakte zu den anderen Projekten und Fokusgruppendes Förderschwerpunkts gepflegt und freuen uns, indieser Ausgabe das Memorandum „Arbeit und Technik4.0 in der professionellen Pflege“ der Fokusgruppe 2 zuveröffentlichen.

Die Nähe und Bindung zwischen den Menschen, diesich im Laufe der Zeit eingestellt haben, war der Nähr-boden für bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit:TErrA kooperiert mit Lebenszeit 4.0 und proSILWA, Ba-lanceGuard mit MEgA und InGeMo ganz intensiv mitPREVILOG. Diese Kooperationen gehen weit über denengen Rahmen der Projekte und des Förderschwerpunktshinaus.

Von daher ist das Konzept der Fokusgruppe bei uns auf-gegangen – und ich glaube, ich kann hier für alle Be-teiligten unserer Fokusgruppe sprechen: Schade, dasses schon so bald vorbei ist!

Diese Schnittstellenpotenziale sind erfahrungs-gemäß dem Forschungsförderer transparenterals den Fokusgruppen selbst. Nick Kratzer, Spre-cher der Fokusgruppe 5, brachte es in seinemlaunigen Statement anlässlich der ersten För-derschwerpunkttagung auf den Punkt: „Wirdachten, Fokusgruppe 5, die letzte also, das istdann Rudis Resterampe.“ Ich vermute, die meis-ten von uns in Fokusgruppe 4 hatten ähnlicheGedanken, auch wenn wir nicht numerisch dieLetzten waren.

Auch die Namen der Fokusgruppen sind bei derIdentitätsfindung nicht immer hilfreich, so wiein unserem Fall: Wir hatten vielleicht vage Fan-tasien dazu, was „Individualisierte und präven-tive Arbeitsgestaltung“ bedeuten könnte, aberauch nach fast drei Jahren gemeinsamer Arbeitkeine schlüssige Idee, weshalb gerade das dieKlammer um unsere Projekte sein sollte.

Das Ziel der Fokusgruppenarbeit ist es, sich aus-zutauschen, Synergien und Anknüpfungspunktezwischen den Projekten zu identifizieren undim Idealfall irgendetwas zusammen auf dieBeine zu stellen. Das damit verbundene inhalt-liche Problem ist mit der oben dargestelltenHete rogenität der Projekte hinreichend be-schrieben. Vielleicht gravierender ist jedoch dasRessourcen- und damit Motivationsproblem:Die Fokusgruppenarbeit ist in der Projektkal -kulation meist nicht „eingepreist“, die Anfor-derungen belasten damit die meist ohnehin vonKürzungen betroffenen Projektressourcen zu-sätzlich. Fokusgruppenarbeit kommt also ontop, für Gotteslohn. Unter welchen motivato-rischen Voraussetzungen daher manche Fokus-gruppensitzungen ablaufen, kann sich jederleicht ausmalen.

Von vielen geliebt, von einigen gehasst, ist die Vernetzungsform der Fokusgruppe ein Spezifikum der Forschungs-

förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Die Idee dahinter ist zunächst bestechend logisch:

Die Projekte eines Förderschwerpunktes sind jedes für sich einzigartig und originell, haben aber dennoch unter -

einander zum Teil größere Überschneidungen. Dies können Branchenansätze sein, ähnliche Methoden oder auch

kompatible oder komplementäre Entwicklungsziele. Um Dopplungen in der konkreten Projektarbeit zu vermeiden,

aber mehr noch um Synergien zu nutzen, richtet das BMBF Fokusgruppen ein, d.h. Arbeitsgruppen aus thematisch

„benachbarten“ Projekten, die Schnittmengen aufweisen könnten.

Diskussionen, Kooperationen, Freundschaften –die Fokusgruppe „Individualisierte und präventiveArbeitsgestaltung“Kurt-Georg Ciesinger

Von daher ist die Aufgabe des Fokusgruppen-sprechers zwar ehrenvoll, aber nicht immerdankbar. So war einer meiner ersten Gedanken,als ich die Funktion übernahm und die Projekt-liste erhielt: „Da habe ich aber Glück gehabt:tolle Projekte, tolle Kollegen“. Die Liste der be-teiligten Forscher und Institute las sich wie dasWho-is-who der Arbeitsforschung. Entspre-chend kannten sich viele Beteiligte bereits un-tereinander: eine gute Basis für die Vernetzung.Die Themen der Projekte waren mir vertraut,einige Branchen z.B. aber nicht. Ich freute michdaher – und so ging es wahrscheinlich allen,immerhin nahmen an der ersten Sitzung über20 Personen teil – auf die erste Sitzung, um ei-nige Kollegen wiederzusehen, andere kennen-zulernen und in den Diskussionen hinter dieKulissen der Antragslyrik schauen zu können.Und die Projekte der Fokusgruppe 4 haben wirk-lich spannende Themen:

BalanceGuard entwickelt ein webbasiertes As-sistenzsystem sowie begleitende Informations-und Beratungsangebote, die Beschäftigte undBetriebe im Umgang mit Belastungs- und Be-anspruchungssituationen unterstützen sollen.

InGeMo erarbeitet und verbreitet Methodenzur Stärkung der organisationalen Gestaltungs-kompetenz, die die psycho-sozialen Gesund-heitsressourcen von Beschäftigten in der Me-tall- und Elektroindustrie verbessern können.

Lebenszeit 4.0 untersucht betriebliche, fami-liäre und andere lebensweltliche Faktoren in derRegion, die Zeitstress für Beschäftigte entstehenlassen. Es werden Konzepte entwickelt, die (au-ßer-)betriebliche und gebietsbezogene Stress-faktoren reduzieren helfen.

MEgA ist nicht nur das koordinierende Meta-projekt, sondern speist eigene Forschungsbeiträ -ge, vor allem die Ergebnisse der Unternehmens-befragung zum Thema Treiber und Hemmnissebei der Umsetzung von modernem HR- undGesundheitsmanagement, in die Arbeit derFokus gruppe ein.

PREVILOG entwickelt und erprobt Vorgehens-weisen, Modelle und Methoden zur präventivenGestaltung von Arbeitssystemen der Intralogis-tik. Ziel ist es, die Attraktivität, Wettbewerbs -fähigkeit, Lern- und Gesundheitsförderlichkeitzu sichern und zu steigern.

proSILWA erarbeitet Präventions- und Kom-petenzentwicklungskonzepte zur Verbesserungdes Arbeits- und Gesundheitsschutzes in kleins-ten und familienbetrieblich organisierten Forst-unternehmen.

TErrA fokussiert Modelle überbetrieblicher Tä-tigkeitswechsel in regionalen Netzwerken, umdie Arbeitsfähigkeit von Mitarbeiterinnen undMitarbeitern u.a. durch individuelle Kompetenz-entwicklung dauerhaft zu erhalten.

Der Austausch über den jeweiligen Bearbei-tungs- und Erfahrungsstand der Verbundpro-jekte nahm nicht nur in der ersten Sitzung, son-dern auch in allen Folgetreffen immer dengrößten Raum ein. Anders als auf Tagungenstand aber nicht die Präsentation einer „Hoch-glanzoptik“ im Vordergrund, sondern der ehr -liche Bericht aus den Höhen und Tiefen derkonkreten Projektarbeit. Das ist das Schöne,wenn erfahrene Wissenschaftler unter sich sind:Man braucht sich gegenseitig nichts vorzuma-

Der Autor Kurt-Georg Ciesinger ist Leitender Projekt koordinatorbei der DAA, Geschäftsführer der gaus gmbh medienbildung politikberatung und Sprecher der Fokusgruppe4 „Individualisierte und präventive Arbeitsgestaltung“im Förderschwerpunkt „Präventive Maßnahmen für diesichere und gesunde Arbeit von morgen“.

7præview Nr. 1 | 20186

Alexander Purbs, Philipp Lechleiter

LiteraturGraumann, S., Bertschek, I., Weber, T., Ebert, M. & Ohnemus, J.

(2017). Monitoring-Report kompakt. Wirtschaft DIGITAL 2017.Berlin: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi).

Pelster, K. (2011). Führung und Gesundheit in klein- und mittel-ständischen Unternehmen. In B. Badura, A. Ducki, H. Schröder,J. Klose, & K. Macco (Hrsg.), Fehlzeiten-Report 2011 (S. 97-102). Berlin, Heidelberg: Springer.

Sonntag, K. (Hrsg.) (2016). Personalentwicklung in Organisatio-nen. Göttingen: Hogrefe.

Stracke, S. & Schöneberg, K. (2016). Die demografische Entwick-lung: Trends und Folgen für die Unternehmen. In F. W. Ner-dinger, P. Wilke, S. Stracke & U. Drews (Hrsg.). Innovation undPersonalarbeit im demografischen Wandel. Wiesbaden: Sprin-ger Gabler.

Warning, A. & Weber, E. (2017). Wirtschaft 4.0. Digitalisierungverändert die betriebliche Personalpolitik. Nürnberg: Institutfür Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagenturfür Arbeit (IAB).

von Großunternehmen wiederum ist wichtig,die Teilnahmezahlen an den vorhandenen Maß-nahmen zu steigern. In KMU wird der Fokuseher auf eine verbesserte Kommunikation desvorhandenen BGF-Angebots gelegt. Die Wirk-samkeit der vorhandenen BGF-Maßnahmen zusteigern, erachten alle Befragten als wesentlich.Neben der verhaltensorientierten Präventionsehen die Befragungsteilnehmer auch in derpräventiven Arbeitsgestaltung zentrale Bedarfe.So berichten alle Befragten, dass die digitaleKommunikation verbessert werden muss. InGroßunternehmen ist zudem die Erfolgsmes-sung des BGM ein zentrales Anliegen.

MEgA-Toolbox „Gesunde Arbeit 4.0“Anhand der eben beschriebenen Bedarfe wirddie MEgA-Toolbox „Gesunde Arbeit 4.0“ – einonlinebasiertes Tool mit kategorialer Suchfunk-tion – entstehen. Sie wird Unternehmen, ins-besondere KMU, individualisierte, praxistaug-liche Ansätze, Tools und Leitfäden für das HRMund Gesundheitsmanagement zur Verfügungstellen. Grundlage der MEgA-Toolbox sind dieErgebnisse aus dem Projekt MEgA, der Fokus-gruppe „Individualisierte und präventive Ar-beitsgestaltung“ und den weiteren 24 Verbund-projekten des BMBF-Förderschwerpunktes„Präventive Maßnahmen für die sichere undgesunde Arbeit von morgen“. Die MEgA-Tool-box „Gesunde Arbeit 4.0“ wird Ende 2018 unterwww.gesundearbeit-mega.de verfügbar sein.

Neben der Digitalisierung der Arbeit darf diedemografische Transformation nicht vergessenwerden. Die deutsche Gesellschaft schrumpft,altert und stellt Unternehmen vor große Heraus -forderungen (Stracke & Schöneberg, 2016). So-mit ändert sich also nicht nur die Art der Arbeit,sondern ebenfalls die Erwerbspopulation selbst.

Angesichts dieser Entwicklungen müssen Un-ternehmen befähigt werden, ihre Beschäftigtenmotiviert, qualifiziert und gesund zu erhalten(Sonntag, 2016). Ein wirkungsvolles Manage-ment von Personal und betrieblicher Gesund-heit erscheinen unverzichtbar. Insbesonderekleine und mittlere Unternehmen (KMU) stehenhierbei vor besonders großen Aufgaben. Ge-ringe finanzielle und personelle Ressourcen(Pelster, 2011) erschweren es, mit dem digitalenWandel Schritt zu halten und ein präventivesHuman Resource Management (HRM) und Ge-sundheitsmanagement zu etablieren. Dochauch für Großunternehmen gilt es, die neuenAnforderungen der digitalisierten Arbeitswelterfolgreich zu bewältigen.

Die Herausforderungen einer digital vernetztenArbeitswelt zu erforschen, ist das Ziel des vomBundesministerium für Bildung und Forschung(BMBF) geförderten Projekts „Maßnahmen undEmpfehlungen für die gesunde Arbeit von mor-gen“ (MEgA). Mithilfe einer Online-Befragungkonnten zentrale Handlungsbedarfe deutscherKMU und Großunternehmen erhoben und iden-tifiziert werden. Diese Bedarfe geben Aufschlussdarüber, wie sich die Digitalisierung in Unter-nehmen unterschiedlicher Größe erfolgreich ge-stalten lässt.

Die digitale Transformation der Arbeitswelt schreitet stetig voran. Moderne Informations-

und Kommunikationstechnologien (IKT) wie cyber-physische Systeme, künstliche Intelligenz,

Cloud Computing und Big Data geben der digitalisierten Arbeitswelt ein konkretes Gesicht.

Insgesamt kommen immer mehr und immer neue digitale Technologien im Erwerbskontext

zur Anwendung (Graumann et al., 2017). Dadurch verändern sich nicht nur die Anforderun-

gen, sondern auch gesamte Tätigkeiten (Warning & Weber, 2017). Folglich erleben Beschäf-

tigte den digitalen Wandel deutlich. Unklar ist allerdings vielfach, welche konkreten Folgen

sich daraus für die Belegschaft ergeben.

Arbeit 4.0 – Bedarfe des Personal- und Gesund-heitsmanagements in deutschen UnternehmenAlexander Purbs, Philipp Lechleiter

BedarfsbefragungDie befragten Unternehmensvertreter (N=329)berichteten von zahlreichen Bedarfen im Hu-man Resource- und Gesundheitsmanagementvor dem Hintergrund der digitalen Transforma-tion. Hiervon sind 221 in deutschen KMU und108 in deutschen Großunternehmen beschäf-tigt. Die Befragungsteilnehmer sind überwie-gend als Führungskräfte und größtenteils inDienstleistungs- und produzierenden Unter-nehmen tätig.

Digitale Transformation Betrachtet man zuerst den Stand der Digitali-sierung, erscheinen Großunternehmen „digita-lisierter“ als KMU. So finden moderne Informa-tions- und Kommunikationstechnologien (hier:Künstliche Intelligenz, Cloud Computing, BigData Analysen sowie cyber-physische Systeme)in Großunternehmen mehr Anwendung. Alleinmobile Endgeräte werden über alle Unterneh-mensgrößen hinweg häufig genutzt (79%).

Auch die zukünftige Wirkung der Digitalisierungauf das eigene Unternehmen wird von den Be-fragten aus Großunternehmen stärker einge-schätzt. Überraschenderweise sehen die KMU-Vertreter das eigene Unternehmen besserhinsichtlich des digitalen Know-hows aufge-stellt. Allerdings finden die komplexeren IKTauch eher in Großunternehmen Anwendung.Ungefähr die Hälfte aller Befragten nimmt auf-grund der Digitalisierung eine Informationsflutund eine Verunsicherung in der Belegschaftwahr. Einigkeit herrscht bei 96% aller Befragtendarüber, dass der digitale Wandel eine stetigeKompetenzentwicklung notwendig macht.

Human Resource ManagementPersonalgewinnung, Qualifizierung und Wis-senstransfer erachten die Befragten als die zen-tralen Bedarfsbereiche eines wirkungsvollenPerso nalmanagements in der Arbeit 4.0. Dengrößten Bedarf bildet die Gewinnung von Fach-kräften, 75% aller Befragten ist auf der Suche.Die KMU-Vertreter sehen weiterhin die Bindungder vorhandenen Fachkräfte als zentral an.Großunternehmen betonen eher, dass nebenFachkräften auch Führungskräfte dringend ge-sucht werden. Im Zuge der Rekrutierungsbestre -bungen berichten insbesondere die Befragtenaus Großunternehmen (70%), die Arbeitgeber -attraktivität steigern zu wollen. Bei der Qualifi -zierung von Beschäftigten erachten die Vertre-ter aus KMU besonders Soft Skills als wesentlich.Insbesondere die Sozialkompetenz und das Füh-rungsverhalten sollen geschult werden. In Groß-unternehmen wird der Qualifizierungsbedarfvorrangig beim Umgang mit IKT gesehen. Sosollen die Beschäftigten anhand von Trainingsfür die IKT-Nutzung und für die virtuelle Zu-sammenarbeit befähigt werden. Einen fundier-ten Wissenstransfer vor dem Hintergrund derdigitalen Transformation zu etablieren, ist füralle Befragten ein wesentlicher Aspekt.

GesundheitsmanagementIm Gesundheitsmanagement sollen vor allemdie Beschäftigten stärker involviert werden. Sosehen 61% aller Befragten in der Sensibilisie-rung der Beschäftigten für die betriebliche Ge-sundheitsförderung (BGF) sowie für die eigeneGesundheit einen zentralen Bedarf. In KMU fin-det sich eine hohe Nachfrage nach betrieblichenBewegungs- und Sportprogrammen. Vertretern

98 præview Nr. 1 | 2018

Die AutorenAlexander Purbs, M.Sc., und Dr. Philipp Lech-leiter sind in der Arbeits- und Organisations-psychologie der Universität Heidelberg imProjekt MEgA beschäftigt. Forschungsschwer-punkte sind hierbei das Personal- und Gesund -heitsmanagement in kleinen und mittlerenUnternehmen sowie die Gestaltung der moder-nen Arbeitswelt.

Arbeits- und Gesundheitsschutzakteure

Führungskräfte

Wissensarbeiter/-innen

Qualifizierte Facharbeiter/-innen

Angelernte Arbeiter/-innen

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66

59

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90

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11præview Nr. 1 | 2018

Anja Gerlmaier, Laura Geiger

Die AutorinnenDr. Anja Gerlmaier und Laura Geiger sindwissen schaftliche Mitarbeiterinnen der For-schungsabteilung Arbeitszeit und Arbeits -organisation des Instituts Arbeit und Qualifi-kation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen.

Facharbeiter. Angelernte und Führungskräfteschneiden durchschnittlich am schlechtesten ab.

Das Wissen um Gesundheitsrisiken und Gestal-tungspotenziale im Unternehmen spielt einebedeutsame Rolle im Rahmen der Gesundheits-förderung. Die Befunde zum Gefahren- und Ar-beitsgestaltungswissen zeigen aber, dass dasWissen um gesundheitliche Risikopotenziale beiallen betrieblichen Akteursgruppen im Unter-suchungssample als ausbaufähig zu bewertenist. Dies gilt insbesondere für die Gruppe derFührungskräfte. Hier besteht das Risiko, dassaufgrund von fehlenden Wissensbeständen überdie Risiken psychischer Belastungen und ge-sundheitlicher Auswirkungen von Stress keinPräventionshandeln, sowohl bei Führungskräf-ten als auch bei Mitarbeitenden, zu erwartenist, da von den Akteuren selbst keine hand-lungsrelevante Gefährdung erlebt wird. Auchim Bereich des Arbeitsgestaltungswissens konn-ten im Untersuchungssample erhebliche Defizitefestgestellt werden. Auch hier sind es vor allemFührungskräfte, die über ein erstaunlich gerin-ges Maß an Arbeitsgestaltungswissen im Hin-

10

Wenngleich der Gesetzgeber seit 2013 von Un-ternehmen fordert, im Rahmen der verpflich-tenden Gefährdungsbeurteilung auch psychischeBelastungen zu ermitteln und anschließend zuvermindern (§ 5 Arbeitsschutzgesetz), fehlt esin vielen Betrieben an arbeitswissenschaftlichemKnow-how, um dies umzusetzen. Unklar ist auch,inwiefern die für den Arbeits- und Gesundheits-schutz zuständigen betrieblichen Akteure (wieFührungskräfte und Arbeitsschutzexperten) qua-lifiziert sind, um die Ursachen von Stress undpsychischer Erschöpfung zu erkennen und effi-zient zu verringern.

Aktuelle Studien zur Belastungssituation vonBeschäftigten in der Metall- und Elektroindus-trie zeigen, das hier auch im Bereich der Pro-duktion bzw. der produktionsnahen Wissens -arbeit ein Handlungsbedarf besteht: In derIndustrie sind zwischen 27% und 34% der Mit-arbeitenden durch Zeitdruck stark belastet (DGB2015). Durch regelmäßig anfallende Überstun-den bleibt weniger Zeit zur Erholung – Stress-folgen und Erschöpfungssymptome werden vonBeschäftigten und Führungskräften oft erst vielzu spät erkannt. Gleichzeitig sind in vielen Be-trieben belastungsreduzierende Effekte, etwavon Kurzpausen oder von regelmäßigen Tätig-keitswechseln nicht bekannt, weshalb diese Res-sourcen ungenutzt bleiben.

Im Rahmen des Projektes InGeMo soll die be-triebliche Gestaltungskompetenz zur Entwick-lung und Förderung psychosozialer Gesund-heitsressourcen in der Metall- und Elektroin-dustrie gestärkt werden. Dazu gehört auch dieDurchführung von Qualifizierungsmaßnahmenfür Führungskräfte, Mitarbeitende und Arbeits-

Psychische Belastungen in der Arbeit nehmen seit Jahren stetig zu. Dies betrifft nicht nur Beschäftigte

im Gesundheits- oder Dienstleistungssektor, sondern auch Beschäftigte in der Metall- und Elektro -

industrie. Die viel diskutierten Verursachungsfaktoren wie Arbeitsverdichtung und Zeitdruck werden im

Zuge der Digitalisierung eher zu- als abnehmen. Dies erfordert zukünftig neue betriebliche Präventions-

konzepte zur Förderung und Erhaltung der psychischen Gesundheit. Im Rahmen des BMBF-geförderten

Vorhabens InGeMo wurde im Bereich der Produktion und produktionsnaher Wissensarbeit untersucht,

über welches arbeitswissenschaftliche Gestaltungswissen Führungskräfte, betriebliche Arbeitsschutz -

experten und Mitarbeitende verfügen, um Stress in der Arbeit zu reduzieren.

Arbeitsgestaltungswissen als Ressource in Zeiten digitalisierter ArbeitBefunde zum Ausmaß des Wissensstandes betrieblicher Akteure Anja Gerlmaier, Laura Geiger

schutzakteure bzw. Betriebsräte, bei denen ar-beitswissenschaftliche Gestaltungskompetenzaufgebaut werden soll.

Das Wissen über Gesundheitsrisiken und ihreUrsachen in der Arbeit stellt wichtige Voraus-setzungen für eine gesundheitsgerechte Ar-beitsgestaltung und Prävention dar (Lennartz,2012; Hamacher & Wittmann, 2005). Im Rah-men des Projektes wurde daher mit dem „Stress-Quiz“ ein Instrument entwickelt, das zum einendie Kenntnisse der Akteure über die Wirkungenvon Stress und psychischer Belastung auf dieGesundheit bzw. die Produktivität (stressbe -zogenes Gefahrenwissen) und außerdem dieKenntnisse, die betriebliche Akteure im Hinblickauf eine gesundheitsförderliche Gestaltung vonArbeitstätigkeiten aufweisen (arbeitsbezogenesGestaltungswissen) erfasst.

An der Hauptbefragung im Projekt nahmen 622Personen aus fünf Kooperationsunternehmenteil. Dabei handelte es sich um 82 Führungs-kräfte, 54 Arbeitsschutzexperten und -expertin -nen, 110 Angelernte, 203 Facharbeiter/-innensowie 173 Wissensarbeiter/-innen.

Im Hinblick auf stressbezogenes Gefahrenwissenwurde u.a. abgefragt, welche Auswirkungen dau-erhafter Stress auf die körperliche Gesundheithat. Hier wissen 92% der Befragten, dass chro-nischer Stress das Herzinfarktrisiko ungünstigbeeinflusst und 48%, dass das Risiko von Rü-ckenschmerzen durch chronischen Stress erhöhtist. Nur 29% wussten hingegen, dass chronischerStress das Demenzrisiko im Alter erhöht und nuretwa jeder zehnte Befragte (11%), dass chroni-scher Stress die Wundheilung verzögern kann.

Betrachtet man die Ergebnisse aller Items dieserSkala (Abb. 1), zeigt sich, dass die Mehrheit derBefragten zwar über grundlegendes Gefahren-wissen, etwa zu den Auswirkungen von Stressoder psychischer Belastungen, verfügt (durch-schnittliche Antwortrichtigkeiten zwischen 44%und 80 %), weitergehende Wissensbeständeüber Gefahrenpotenziale von Stress, die für eineangemessene Gefahrenabschätzung sinnvollwären, jedoch bei vielen Befragten gering aus-geprägt sind.

Im Hinblick auf das arbeitsbezogene Gestal-tungswissen wurde bspw. untersucht, was dieBefragten über die Wirkung von Kurzpausenbei der Arbeit wissen. Die positive Wirkungs-weise von Kurzpausen auf die Erholung schätz-ten die Befragten überwiegend richtig ein. 58%der Befragten wussten, dass diese zur Entspan-nung beitragen und 73%, dass sie die Leistungs -fähigkeit steigern. 17% der Befragten glaubtenhingegen fälschlicherweise, dass eine Pause vonfünf bis zehn Minuten Dauer nicht ausreiche,um sich danach erholt zu fühlen, 96% wussten,dass die Unterbrechung durch kurze PausenDenkprozesse nicht stört.

Im Vergleich zum Gefahrenwissen liegen diedurchschnittlichen Antwortrichtigkeiten beimGestaltungswissen mit zwischen 69% und 85%etwas höher (Abb. 1). Interessant ist außerdem,wie sich die Wissensbestände der verschiedenenbetrieblichen Akteursgruppen (Führungskräfte,operative Mitar beitende, Arbeitsschutzakteure)unterscheiden. Bei beiden untersuchten Kon-strukten schneiden die Arbeits-und Gesund-heitsschutzakteure und die Wissensarbeiter ambesten ab (Abb. 2). Darauf folgt die Gruppe der

blick auf die psycho-soziale Gestaltung von Ar-beit verfügen. Einschränkend muss hier daraufhingewiesen werden, dass die Ergebnisse derBefragung aufgrund der unterschiedlichen Un-ternehmensgrößen und Wirtschaftsbereiche(Automobilindustrie, Stahlbereich, Werkzeug-bau) nicht als repräsentativ für die Metall- undElektroindustrie anzusehen sind.

Um aber die Chancen digitalisierter Arbeit zuentfalten und die Risiken dieser Entwicklungzu beherrschen, werden kompetente Arbeits-gestaltungsakteure in den Unternehmen drin-gend benötigt. Die Ergebnisse verdeutlichen,dass der Bedarf an betrieblichen Qualifizie-rungsmaßnahmen zur Verbesserung der Arbeits-gestaltungskompetenz hoch ist.

Abb. 2: Arbeitsbezogenes Gestaltungs- und stressbezogenes Gefahrenwissen derAkteursgruppen. Durchschnittliche Antwortrichtigkeit in Prozent, n=622

Arbeitsbezogenes Gestaltungswissen

insgesamt (Skalenmittelwert)

Effekte von Arbeitsunterbrechungen auf Leistungsfähigkeit

Effekte von Kurzpausen auf Arbeitsleistung und Gesundheit

Kenntnisse zur Vermeidung von Stress bei Arbeitsunterbrechungen

Kenntnisse zur Förderung der geistigen Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter

Kenntnisse zur aktiven Erholung

Stressbezogenes Gefahrenwissen

insgesamt (Skalenmittelwert)

Auswirkungen von Zeitdruck auf die Arbeitsqualität und Gesundheit

Auswirkungen von Stress auf die Gesundheit

Einfluss entgrenzter Arbeitsweisen auf die Gesundheit

Einfluss überlanger Arbeitszeiten auf die Gesundheit

75

85

77

75

70

69

57

45

44

Abb. 1: Prozentualer Anteil richtiger Antworten für die verschiedenen abgefragtenAspekte zum Gefahren- und Gestaltungswissen, n=622

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90

57

80

54

59Arbeitsbezogenes Gestaltungswissen

Stressbezogenes Gefahrenwissen

LiteraturDeutscher Gewerkschaftsbund (2015). DGB-Index Gute Arbeit: Der

Report 2015. Wie die Beschäftigten die Arbeitsbedingun gen inDeutschland beurteilen. Berlin: Institut DGB-Index Gute Arbeit.

Hamacher, W. & Wittmann, S. (2005). Lebenslanges Lernen zumErwerb von Handlungskompetenzen für Sicherheit und Gesund -heit. Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz undArbeitsmedizin; Fb 1052. Bremerhaven: Wirtschaftsver lag NW.

Lenartz, N. (2012). Gesundheitskompetenz und Selbstregulation.Göttingen: V&R unipress.

13præview Nr. 1 | 2018

Carolin Wendt, Jan Dettmers, Axel Czaya

Die Autorinnen, die AutorenCarolin Wendt und Jana Biemelt sind Diplom-Psychologinnen und Wissenschaftliche Mit -arbeiterinnen im Projekt Lebenszeit 4.0 an derMedical School Hamburg (MSH).

Prof. Dr. Jan Dettmers ist Professor für Arbeits-und Organisationspsychologie an der MSH.

Dr. Axel Czaya ist Wissenschaftlicher Mit -arbeiter an der Helmut-Schmidt-UniversitätHamburg.

LiteraturBronfenbrenner, U. (1994). Ecological models of human devel -

opment. International Encyclopedia of Education. Vol. 3, 2.Auflage. Oxford: Elsevier.

Hobfoll, S. E. (2001). The influence of culture, community, andthe nested-self in the stress process: Advancing Conservationof Resources theory. Applied Psychology: An International Re-view, 50 (3), S. 337-370.

Peeters, M., Montgomery, A., Bakker, A., Schaufeli, W. (2005).Balancing Work and Home: How Job and Home Demands AreRelated to Burnout. International Journal of Stress Manage-ment, Vol. 12 (1), S. 43-61.

ten Brummelhuis, L., ter Hoeven, C., de Jong, M., Peper, B. (2013).Exploring the linkage between the home domain and absencefrom work: Health, motivation, or both? Journal of Organiza-tional Behavior, Vol. 34 (3), S. 273-290.

1 Mitarbeiterbefragungen 2017 bei Adelby 1 (N=104) und derStadt Flensburg (N=235). Durchführung Helmut-Schmidt-Uni-versität & Medical School Hamburg.

2 Interviewstudie 2017. Durchführung durch Europa-UniversitätFlensburg & Medical School Hamburg.

3 Elternbefragung 2017 bei Praxispartner Adelby 1 (N=266).Durchführung Adelby 1.

4 Bericht zur kommunalen Betreuungssituation 2017. Erstellungdurch Europa-Universität Flensburg.

5 Online-Tagebuch-Studie 2017. Durchführung Medical SchoolHamburg.

12

Die Doppelbelastung von Familien- und Berufs-leben wirkt sich oft negativ auf Wohlbefindenund Arbeit aus: So berichten berufstätige Elternmit zugleich hohen Anforderungen in der Familieüber mehr Stress und sind häufiger krankge-schrieben (Peeters et al., 2005; ten Brum melhuiset al., 2013). Um die Vereinbarkeit der beidenLebensbereiche zu fördern, müssen verschiedeneSystemebenen betrachtet werden, in denen Zeit-konflikte entstehen. Im Projekt Lebenszeit 4.0haben wir dafür ein Rahmenmodell erarbeitet,das auf der Conservation of Resources Theory(COR; Hobfoll, 2001) und dem ökosystemischenAnsatz (Bronfenbrenner, 1994) basiert.

Die COR geht davon aus, dass Menschen überindividuelle und soziokulturelle Ressourcen ver-fügen. Dazu gehören u.a. psychische Ressourcen(z.B. Coping-Strategien), Bedingungsressourcen(z.B. Arbeitszeitmodelle) und Energie-Ressour-cen (z.B. Wachheit). Kommt es zu Belastungen,müssen Ressourcen investiert werden. Ist derTermindruck bei der Arbeit beispielsweise tem-porär erhöht, erfordert dies den Einsatz vonZeit und Konzentration. Halten die Belastungenan oder kommen weitere hinzu, können sichRessourcen erschöpfen. Der ökosystemische An-satz ermöglicht es, die Ressourcen verschie -denen Systemebenen zuzuordnen, in die dasIndividuum eingebettet ist. So wird das Wohl-befinden des Einzelnen nicht nur von internenRessourcen und Belastungen beeinflusst. Auch

In der Rush Hour des Lebens befinden sich berufstätige Eltern täglich im Balanceakt zwischen den Anforderun-

gen von Familie und Beruf. Ein häufiges Problem sind Zeitkonflikte, die auf verschiedenen Ebenen entstehen:

Je nach Brennweite finden sich Ursachen und Lösungen dafür in regionalen, betrieblichen, familiären Rahmen-

bedingungen oder individuellen Eigenschaften und Verhaltensweisen – und in deren Zusammenspiel. Das vom

BMBF geförderte Verbundprojekt Lebenszeit 4.0 berücksichtigt sowohl die ökonomische, soziologische als auch

psychologische Sichtweise. Zur Zusammenführung der Erkenntnisse haben wir ein theoretisches, prozessorien-

tiertes Rahmenmodell entwickelt. Anhand erster Befunde aus der Stadt Flensburg und dem Umland zeigen wir,

wie sich die Ergebnisse der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen miteinander verbinden lassen – und so

Anknüp fungspunkte für Maßnahmen schaffen.

Mehr Lebenszeit – weniger Stress: ein Rahmenmodell zur Ökonomie, Soziologieund Psychologie von Zeitkonflikten Carolin Wendt, Jana Biemelt, Jan Dettmers, Axel Czaya

die Bedingungen seiner direkten Umgebung(Mikrosysteme, z.B. Familie, Arbeit), externerSysteme (Exosystem, z.B. kommunale Struktu-ren) und die Übergänge zwischen den Systemen(Mesosystem, z.B. Fahrtweg) spielen eine Rolle.Das Rahmenmodell berücksichtigt die unter-schiedlichen Systemebenen sowie deren Res-sourcen und Belastungen (s. Abb.). Es erlaubt sodie systematische Einordnung der deskriptivenErgebnisse der verschiedenen Wissenschafts-disziplinen. Zudem lassen sich Wirkzusammen-hänge zwischen den verschiedenen Komponen-ten ableiten, was eine Testung der Prozesseermöglicht. Ergebnisse mit Fokus auf morgend-liche Zeitkonflikte sollen dies veranschaulichen:

Im Mikrosystem Arbeit ist das Arbeitszeitmodellein wichtiger Aspekt. Auf (zeit-) ökonomischerEbene zeigt sich, dass die befragten Unterneh-men in Flensburg ein breites Spektrum an Ar-beitszeitmodellen anbieten, die sich entspre-chend auf die Zufriedenheiten der betroffenenMitarbeiter auswirken.1 Vor allem für berufs -tätige Eltern sind flexible Arbeitszeiten einewichtige Ressource am Morgen, die Stress ent-gegenwirkt.2 In den familiären, morgendlichenAbläufen werden u.a. instrumentelle Unterstüt-zung (z.B. Aufgabenteilung mit Partner) oderKontrolle (z.B. Routinen planen und einhalten)als stressmindernd empfunden. Zeitdruck wirdu.a. durch trödelnde oder bockige Kinder ver-stärkt.2

Der Pendelweg (Mesosystem) wird von Flensbur-ger Eltern als Ressource wahrgenommen, wenner Entspannung (z.B. Musik hören) ermöglicht,mit dem Fahrrad zurückgelegt wird und mög-lichst kurz ist.2 Der Fahrtweg von Beschäftigtenin Flensburg liegt bei durchschnittlich elf Kilo-metern, für die sie im Mittel 21 Minuten benö-tigen.2 Als Belastung wird v.a. ein hohes Ver-kehrsaufkommen genannt. Dabei wird der PKWvon über der Hälfte der befragten Beschäftigtengenutzt, um zur Arbeit zu gelangen.1,3

Ein weiterer Faktor bei der Entstehung von Zeit-konflikten ist das Betreuungsangebot für Kinder(Exosystem). Gegenwärtig liegt die Abweichungvon Bedarfs- und Versorgungsquote in Flens-burg für Kinder unter drei Jahren bei acht Pro-zent und für die Drei- bis Sechsjährigen beineun Prozent.4 Wenn ein Kind im Alter zwischendrei und 6,5 Jahren betreut wird, geschieht dieszu 95% durch eine Kita.4 Trotz einer sehr hohenZufriedenheit mit den Betreuungszeiten derKita s lag bei 70 % der befragten Eltern derWunsch nach mehr Flexibilität innerhalb derÖffnungszeiten vor.3

In einer Online-Tagebuchstudie haben wir dieWirkmechanismen zwischen den bisher deskrip-tiven Aspekten untersucht. Es zeigte sich, dassmorgendliche Erlebnisse in der Familie und aufdem Fahrtweg die Energie-Ressourcen des In-dividuums beeinflussen und sich darüber auf

die tagesspezifische Arbeitsleistung auswirken:Kommt es morgens zu belastenden Erlebnissenin der Familie oder während des Pendelns, istder Elternteil bei Ankunft bei der Arbeit er-schöpfter und schlechter gelaunt als an Tagen,an denen solche Probleme ausbleiben.5 Es trittein Verlust an affektiven und energetischenRessourcen ein. Eine gedrückte Stimmung undein niedriges Energielevel bei Arbeitsbeginn wir-ken sich wiederum negativ auf die Arbeitsleis-tung aus. Arbeiten die Eltern allerdings in Gleit-oder Vertrauensarbeitszeit, sind sie trotz mor-

Prozessorientiertes Rahmenmodell des Projektes Lebenszeit 4.0

Jedes System enthält Ressourcen und Belastungen

Exosystem: Regionale Faktorenz.B. Versorgungsstruktur

Mikrosystem: Home Domain (Familie)z.B. Partnerschaft,morgendliche Stres -soren/Ressourcen

Mikrosystem: Work Domain

(Arbeit)z.B. Arbeitszeit -modell, Unter -nehmenskultur

Mesosystem:Übergänge

Anfahrt

Individuum:z.B. Zeitdruck, Erschöpfung

gendlicher Belastungen weniger erschöpft alsEltern, die morgendlichen Anforderungen ge-genüberstehen und feste Arbeitszeiten haben.5

Um Zeitkonflikte aufzulösen oder zu verhindern,können die Akteure an den unterschiedlichenKomponenten und Ebenen des Rahmenmodellsansetzen. Dies umfasst z.B. verkehrspolitischeEntscheidungen der Kommune, erweiterte Öff-nungszeiten von Betreuungseinrichtungen,flexib le Arbeitsgrenzen der Unternehmen oderindividuelle Coping-Strategien.

15præview Nr. 1 | 2018

Eva Manovi

Die AutorinEva Manovi (Dipl.-Päd.) ist Koordinatorin desProjekts „Lebenszeit 4.0“ bei Adelby 1 Kinder-und Jugenddienste und war vor dem ProjektEinrichtungsleiterin einer Kita und Qualitäts-beauftragte für den Träger Adelby 1.0.

LiteraturKlinkhammer, N. (2008). Flexible und erweiterte Angebote in der

Kinderbetreuung. Entwicklungstrends – Ansätze – Kontrover-sen. Zusammenfassung einer Recherche. München: DeutschesJugendinstitut e.V.

Kleemiß, H. (2011). Rhythmus, Konstanz, Rituale und ihre Be-deutung für die pädagogische Arbeit mit Kindern in den erstendrei Lebensjahren. Verfügbar unter: https://www.kita-fachtexte.de/uploads/media/FT_kleemissII_rhythmus_2011.pdf,letzter Zugriff am 08.06.2018.

Kupfer, H. (2013). Wie fühlen sich die Kinder dabei? ZeitpolitischesMagazin, 10. Jg., Ausg. 23, S. 8-10.

Schäfer, B. (2015). Flexible Betreuungsangebote und das Wohl-befinden von Kindern: Ein Spannungsverhältnis? Erfahrungenund Erkenntnisse aus der internationalen Forschung. München:Deutsches Jungendinstitut e.V.

Zeiher, H. (2013). Einführung: Erwerbsarbeit und Sorgezeit fürKinder. Zeitpolitisches Magazin, 10. Jg., Ausg. 23, S. 1-5.

rechtzeitig begegnet werden konnte. Darüberhinaus ist der Umfang der Flexibilisierung indiesem Modell verhältnismäßig gering. So konn-ten in diesem Betreuungsmodell sowohl die Be-darfe der Eltern als auch die Bedarfe der Kinderbedient werden.

AusblickEs sind mittlerweile viele gelungene Ansätzeflexibler Kinderbetreuung erprobt, die zur Stress -entlastung der Familien beitragen. Durch dieInvestitionen des Bundes in verbesserte Qualitätin Kitas sind gute Voraussetzungen geschaffen,die Kinderbetreuung auch in Zukunft flächen-deckend bedarfsgerechter gestalten zu können.Hinsichtlich der Finanzierung jedoch sind dieTräger momentan noch stark abhängig von al-ternativen Lösungen (Klinkhammer 2008).

Wenngleich flexible Kinderbetreuung eine ge-lungene Reaktion auf den gesellschaftlichenWandel darstellt, darf nicht außer Acht gelassenwerden, dass diese sich niemals aus der Not-wendigkeit begründen darf, dem Beruf in einemfremdbestimmten Maße nachkommen zu müs-sen. Vielmehr sollte in einer sozialgerechten Ge-sellschaft, in welcher der Wert der Familien-und Sorgezeit anerkannt wird und die Gesund-erhaltung von Arbeitnehmern im Fokus steht,das Familienwohl der impulsgebende Faktor fürveränderte Arbeits- und Betreuungsmodellesein.

Familienfreundliches Arbeiten darf weder in Ab-hängigkeit zu den Zugangsmöglichkeiten zuflexibler Kinderbetreuung stehen, noch abhän-gig von der Bereitschaft der Arbeitgeber sein,ihren Mitarbeitern familienfreundliche Arbeits-zeitmodelle anzubieten. Hier bedarf es allge-meingültiger politischer Entscheidungen, die inerster Linie den Bedürfnissen von FamilienRechnung tragen.

14

Bedarfe der BeteiligtenDie Bedarfe des Kindes bemessen sich an seinemWohlbefinden und seiner seelischen Gesundheit.Eine von Vertrauen geprägte, einfühlsame Be-ziehung und dem Kind zugewandte Haltungbeschreiben eine gesunde Bindung zum Kind,vermitteln ihm Sicherheit und unterstützen da-mit das Wohlbefinden des Kindes in der Ein-richtung maßgeblich (Kleemiß, 2011). Weiterbrauchen Kinder Berechenbarkeit (Kupfer, 2013):Eine Erwartungshaltung zum Tagesablauf auf-zubauen, ist von immenser Bedeutung, damitsich das Kind auf das Betreuungssetting ein-lassen kann. Auch die ritualisierten Tagesabläufeschaffen verlässliche und berechenbare Struk-turen, die dem Kind Orientierung im Alltagsge-schehen ermöglichen. Neben diesen individu-ellen Bedürfnissen steht das soziale Bedürfnisnach Zugehörigkeit (Schäfer, 2015). Kinder be-nötigen einander, um ihre Beziehungs- und Bil-dungsfähigkeit auszubilden. Sie möchten sichals Teil einer Gruppe erleben und eine Rolle imsozialen Gefüge einnehmen.

Eltern bedürfen einer Kinderbetreuung, die siezeitlich entlastet, um beruflichen und privatenVerpflichtungen nachkommen zu können. DieÖffnungszeiten der Einrichtung müssen hierbeiden zeitlichen Bedarfen der Eltern entsprechen.Weiter müssen sich die Eltern mit der Qualitätund Arbeitsweise der Einrichtung identifizierenkönnen. Auch die gute Erreichbarkeit und dieFinanzierbarkeit spielen für Eltern eine Rolle.

Anforderungen an bedarfsgerechte KinderbetreuungEine im Sinne der Kinder und Eltern bedarfsge-rechte Kinderbetreuung bemisst sich demnachdaran, inwiefern der Anspruch nach hoher pä-dagogischer Qualität gewährleistet und gleich-zeitig ein bestimmtes Maß an Flexibilität erreichtwird (Schäfer, 2015).

Der Wandel hin zu Zwei-Verdiener-Familien mit häufig variablen Arbeitszeiten und -räumen

sowie die zunehmende Pluralisierung von Familienmodellen ziehen den Bedarf nach veränderten

Kinder betreuungsmodellen nach sich. Die teilweise gegenläufigen Bedarfe der Kinder und Eltern

bewegen sich in einem Spannungsfeld, das in der Gestaltung neuer Betreuungsmodelle zu

berück sichtigen ist. In Flensburg wird ein Modell bedarfsgerechter Kinderbetreuung erprobt.

Familienzeit 4.0 – Anforderungen anbedarfsgerechte Kinderbetreuung Eva Manovi

Die Potenziale der flexiblen Kinderbetreuungliegen in der Entzerrung und Stressentlastungin einem eng getakteten Alltag. Wenngleich dieKita einen Bildungsauftrag erfüllt, sollte der Bil-dungswunsch der Eltern für ihre Kinder jedochnicht der Anlass zur Fremdbetreuung sein. Dieflexible Kinderbetreuung soll den Eltern ermög-lichen, ihr Kind während der Arbeitszeit gut be-treut zu wissen, und ihnen mehr Zeit geben,selbst der Erziehung und Bildung ihrer Kindernachkommen zu können (Zeiher, 2013). Den-noch bleibt zu berücksichtigen, dass dem Kinddurch die flexible Kinderbetreuung ein erhebli-ches Maß an Anpassungsfähigkeit zugesprochenwird. Mit welchem Maß an Flexibilität ein Kindumgehen kann, ist neben individuellen Faktorenauch abhängig von bestimmten Persönlichkeits-merkmalen sowie vom Stand seiner kognitivenEntwicklung. Hier ist höchste Professionalitätdes Personals gefordert, die Bedarfe des Kindesrechtzeitig zu erkennen, seine Interessen stell-vertretend zu formulieren, mit den Eltern undKollegen zu kommunizieren und zu vertreten.Besondere Kompetenzen der Beobachtung undGesprächsführung sind hierfür erforderlich. Fer-ner muss das Personal seinem Bildungs- undErziehungsauftrag nachkommen, was in einerflexiblen Betreuung, in dem die Kinder unterUmständen zu sehr unterschiedlichen oder häu-fig wechselnden Zeiten betreut werden, sehranspruchsvoll sein kann. Zudem sind die Mit-arbeiter gefordert, einen Alltag zu schaffen, indem sich das Kind als wirksames Mitglied derGruppe empfindet, soziale Bindungen eingehtund aufrechterhält. Nur mit einer engen Zu-sammenarbeit im Team sowie einem passge-nauen Betreuungskonzept und entsprechenderGruppenbelegung kann diesen Herausforderun-gen begegnet werden.

Den Mitarbeitern wird die Verantwortung zuteil,einerseits die Betreuungsbedarfe der Eltern zuerfüllen, andererseits für die Bedarfe der Kinder

einzustehen. Um in diesem Spannungsfeld agie-ren zu können, braucht es ein vertrauensvollesVerhältnis sowie eine Haltung den Eltern ge-genüber, die von der Überzeugung geprägt ist,dass jene stets die bestmögliche Lösung für ihrKind und ihre Familie suchen. Auf dieser Basiskönnen gemeinsame, individuelle Lösungen ge-funden werden, die den Bedarfen der Kindergerecht werden und den Eltern gleichzeitig einMaß an Flexibilität einräumen.

Modellprojekt Flensburg Im Rahmen des Projektes Lebenszeit 4.0 wurdein einer Kita in Flensburg ein Projekt umgesetzt,welches pro Kind an maximal acht Tagen imMonat die kostenfreie Zubuchung von einer zu-sätzlichen Stunde ermöglicht. In der inhaltlichenGestaltung des Angebotes wurden pädagogischeInhalte gewählt, die auf die betreuten Kinderder Einrichtung zugeschnitten sind. Es handeltsich also um ein pädagogisches Zusatzangebotfür die Kinder der Einrichtung, welches außer-halb der regulär gebuchten Betreuungszeit liegt.Das Angebot wurde auf der Grundlage einerBedarfserhebung gestaltet. Es wird durch dieBetreuungspersonen der Einrichtung durchge-führt, die den Kindern vertraut sind. Ist die fle-xible Nachmittagsgruppe nicht ausgebucht,kann eine teilweise Zusammenlegung mit derregulären Gruppe der Spätbetreuung erfolgen,sodass die Betreuung der Kinder immer in einerGruppe stattfindet.

Die ersten Evaluationen haben gezeigt, dass dasAngebot intensiv genutzt wird und hinsichtlichdes Umfangs und der pädagogischen Inhaltepositiv bewertet wird. Laut Angabe der Elternführt das Angebot zu einer Stressentlastung in-nerhalb des Alltags der Familien.

In der Entwicklungsphase des Modells wurdenEltern und Mitarbeiter beteiligt, sodass päda-gogischen und organisatorischen Bedenken

17præview Nr. 1 | 2018

Tanja Dayß, Jella Heptner, Emanuel Beerheide

Die Autorinnen, der AutorTanja Dayß und Jella Heptner sind Wissen-schaftliche Mitarbeiterinnen am Landes -institut für Arbeitsgestaltung des LandesNordrhein-Westfalen, Emanuel Beerheide leitet dort die Fachgruppe „Gesundheitsmana-gement, psychosoziale Faktoren“ .

Das ProjektIm Verbundprojekt BalanceGuard arbeitet eininterdisziplinäres Team zusammen. Beteiligtsind neben dem Landesinstitut für Arbeits -gestaltung Nordrhein-Westfalen als Verbund-koordinator die CGM HSM und die DeutscheAngestellten-Akademie als Entwicklungs -partner. Praxispartner sind der CaritasverbandHannover und Manpower Deutschland.

gestimmten Datenschutzerklärung – voraus.Unternehmen können anhand der Auswertun-gen gemeinsam mit den Beschäftigten und be-gleitet durch Organisationsberater/-innen ausdem BalanceGuard-Projekt Handlungsbedarfefür den Arbeits- und Gesundheitsschutz iden-tifizieren, die Arbeitsorganisation verbessernund somit zielgerichtet unternehmensspezifi-sche Stressfaktoren reduzieren und Ressourcenfördern. Ein Beispiel für eine Auswertung an-hand von Daten einer Erprobungsgruppe ist inder Abbildung zu sehen. Diese macht deutlich,dass Unterbrechungen bei der Arbeit in diesemFall häufig mit Zeitdruck einhergehen. Auf die-ser Grundlage können, zum Beispiel in Work-shops mit den Beschäftigten, die spezifischenUrsachen für die Unterbrechungen ermitteltund konkrete Verbesserungsmaßnahmen ent-wickelt werden.

Auf Basis der Erfahrungen im Rahmen des Ba-lanceGuard-Projektes lässt sich festhalten, dassmit dem Einsatz eines Stressmonitoring-Toolsim betrieblichen Setting die Sensibilität für dasThema gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltungerhöht und konkrete Verbesserungen angesto-ßen werden können. Voraussetzung dafür istein Prozess, der alle relevanten betrieblichenAkteure und die Beschäftigten von der Fragen-auswahl bis zu den Interpretations- und Maß-nahmenworkshops beteiligt. Die Interessen derBeschäftigten müssen ernst genommen werden,individuelle und organisationale Ressourcen zurVerfügung stehen und Prozesse fachlich internoder extern unterstützt werden. Nur dann kannder Einsatz eines Stressmonitoring-Tools wich-tige Impulse für die Arbeitsgestaltung setzenund der Sinn der systematischen Auseinander-setzung mit dem Thema Gesundheit und Arbeitvermittelt werden.

16

Hier haben das im Projekt BalanceGuard(www.balanceguard.de) entwickelte Stressmo-nitoring sowie die Begleitangebote angesetzt.Das Tool bietet Beschäftigten aller Branchendie Möglichkeit, berufliche und private (psy-chische) Belastungen über einen definiertenZeitraum zu erfassen. Durch die Einbettung inbetriebliche Strukturen und die Verknüpfungder im Rahmen des Projektes entwickeltenBegleit angebote bietet es Unternehmen dieMöglich keit, individuelle und betriebliche Prä -ventionsstrategien zu verzahnen sowie den Ar-beitsschutz und das betriebliche Gesundheits-management zu stärken.

Das Vorgehen beim Einsatz von BalanceGuardfolgt dabei einer „klassischen“ partizipativenOrganisationsentwicklungslogik, die alle rele-vanten betrieblichen Akteure einbindet und dengesamten Prozess als Intervention versteht. Die-ser reicht von der Implementierung über dieErhebung zur Analyse, Auswertung und ge-meinsamen Interpretation bis hin zur Ableitungvon geeigneten Maßnahmen. BalanceGuardbiete t zudem die Möglichkeit einer Evaluationder eingeleiteten Veränderungen. Die Besonder -heit von BalanceGuard liegt in der Längsschnitt-betrachtung, auf deren Grundlage sowohl ta-gesspezifische als auch immer wiederkehrendeProblemkonstellationen sowie Verbesserungs-optionen identifiziert werden.

Für die Akzeptanz des Tools und eine kontinu-ierliche Teilnahme der Beschäftigten kommt derPhase der Implementierung ein hoher Stellen-wert zu. Voraussetzung dafür sind die Über -zeugung und das Commitment der Entschei-dungsträger/-innen im Unternehmen. Einegemeinsam entwickelte und verbindliche Da-

In einer Arbeitswelt, in der die Flexibilitäts- und Mobilitätsanforderungen steigen und die Grenze zwischen der

privaten Lebenswelt und der Arbeitswelt nicht mehr so klar gezogen werden kann, stoßen Beobachtungsinstru-

mente, die punktuell den Ist-Stand erheben, an ihre Grenzen. Denn Belastungs- und Beanspruchungssituationen

zeigen sich komplexer und dynamischer und ihr Zusammenspiel muss nicht immer eindeutig sein. Erforderlich

ist daher eine individuelle, ganzheitliche und längsschnitthafte Betrachtung, um das Zusammenwirken von Ver-

haltens- und Verhältnisprävention auf individueller und betrieblicher Ebene wirkungsvoll zu gestalten.

Stressmonitoring im „Praxistest“ –das Projekt BalanceGuardTanja Dayß, Jella Heptner, Emanuel Beerheide

tenschutzerklärung bildet das Fundament desEinsatzes. Um möglichst viele Beschäftigte zuerreichen und den Nutzen des Tools zu verdeut-lichen, ist eine systematische Kommunikations-strategie zielführend. Dies kann u.a. die Durch-führung von Informationsveranstaltungen unddie Verteilung von Informationsmaterial bein-halten. Als besonders wichtig haben sich diedirekte Ansprache und Begleitung herausge-stellt, die es den potenziellen Nutzerinnen undNutzern ermöglicht, niedrigschwellig Fragen zustellen, Anregungen zu geben und Bedenkenzu äußern.

Die Erhebung mit dem Tool BalanceGuard funk-tioniert ähnlich wie ein digitales Tagebuch. Esführt seine Anwender/-innen durch ein Set vonFragen, das vorab gemeinsam unternehmens-oder gruppenspezifisch ausgewählt wurde. DieNutzer/-innen erhalten bei regelmäßiger Ein-gabe ein verlässliches Bild über ihre Belastungs-und Beanspruchungssituation. Sie bekommenz.B. individuelle Verläufe ihrer Stressfaktorenund Ressourcen sowie ihrer Beanspruchung zu-rückgespiegelt. Die stärksten Stressfaktoren undRessourcen werden dabei hervorgehoben. Zu-dem sind Zusammenhänge zwischen Merkma-len der beruflichen und privaten Situation mitder Beanspruchung abrufbar. Zusätzlich sindim Tool kurze themenspezifische Handlungs-empfehlungen hinterlegt. Wie auch bei vielenanderen BGM- und BGF-Maßnahmen zu beob-achten, nimmt die Nutzungsquote im Zeitver-lauf ab. Die Einrichtung eines automatischenReminders und die wiederholte Thematisierung,beispielsweise im Rahmen von Besprechungen,fördert die regelmäßige Teilnahme. Ebenfallsempfiehlt es sich, den Zeitrahmen zur Erhebunggemeinsam mit den Nutzern und Nutzerinnenzu definieren.

Um die Nutzer/-innen bei der Interpretation ih-rer Ergebnisse und den Schlussfolgerungen ausdiesen zu unterstützen, wurde im Rahmen desProjektes die Möglichkeit geschaffen, die eigeneBelastungs- und Beanspruchungssituation ineiner individuellen, telefonischen Beratung mitprofessionellen Coaches der „Schnellen Hilfe“zu besprechen. Alternativ oder ergänzend dazukann der Einsatz des BalanceGuard auch durchbetriebsinterne Gesundheits-Coaches begleitetwerden. Die Deutsche Angestellten-Akademiehat dazu das Bildungsprogramm „BetrieblicherGesundheits-Coach“ entwickelt. Es vermitteltinteressierten Beschäftigten, neben Grundlagendes Betrieblichen Gesundheitsmanagements,Kenntnisse über weitergehende externe Unter-stützungsangebote sowie ein tiefergehendesVerständnis des Stressmonitorings mit Balance -Guard. Absolventen und Absolventinnen werdensomit befähigt, ihre Kollegen/Kolleginnen beiFragen rund um das Monitoring zu unterstützenund BGM-Prozesse zu begleiten. Dieses Unter-stützungsangebot zeichnet sich dadurch aus,dass Ergebnisse direkt miteinander diskutiertund interpretiert und auch Fragen zur Hand-habung des Tools, zum Datenschutz etc. aufkurzem Weg geklärt werden können.

Unternehmen, die das Assistenzsystem Balance -Guard für ihr betriebliches Gesundheitsmana-gement und zur Organisationsentwicklung nut-zen möchten, können anonymisierte und aufGruppenebene zusammengefasste Auswertun-gen der arbeitsbezogenen Belastungsfaktorenund Beanspruchungen erhalten. Dies setzt je-doch, neben einer ausreichend großen Teilneh-merzahl von mindestens sechs Personen proAuswertungsgruppe, die Zustimmung der Be-schäftigten zur Weitergabe der anonymisiertenDaten – unter Einhaltung der gemeinsam ab-

Zeitdruck: Ich stand unter hohem Zeitdruck. Arbeitsunterbrechungen: Ich wurde bei meiner Arbeit […] gestört oder unterbrochen.

Arbeitsunterbrechungen und Zeitdruck im Zeitverlauf (r=.59, hohe Korrelation), Fallstudie BalanceGuard 2018

5

4,5

4

3,5

3

2,5

2

1,5

1trifft garnicht zu

trifftvoll zu

Arbeitsunter brechungen

Montag

Diensta

g

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Zeitdruck

19præview Nr. 1 | 2018

Kurt-Georg Ciesinger, Jörg Schlüpmann

LiteraturCiesinger, K.-G. & Schimke, B. (2018). Stressmonitoring als Ver-

hältnisprävention – Organisationsberatung auf der Basis vonDosiMirror. transfær – Impulse für Arbeit, Bildung, Gesundheit,Lebensqualität, 02/2018, S. 16-17.

Ciesinger, K.-G. & Siebecke, D. (2018). Mehr als nur Stressmoni-toring – DosiMirror-Einsatzszenarien für Betriebe und Be-schäftigte. transfær – Impulse für Arbeit, Bildung, Gesundheit,Lebensqualität, 02/2018, S. 18-19.

Hausmann, J. (2017). „Schnelle Hilfe“ auch für kleine Unterneh-men – Ein Angebot externer betrieblicher Sozialarbeit. transfær– Impulse für Arbeit, Bildung, Gesundheit, Lebensqualität,01/2017, S. 14-15.

Schlüpmann, J. (2016). Jede Hilfe beginnt mit der Problemanalyse– Individuelles Belastungsmonitoring als Startpunkt von Em-ployee Assistance Programmes. præview – Zeitschrift für inno -vative Arbeitsgestaltung und Prävention, 01/2016, S. 26-27.

Anwendung durch Berater und TherapeutenBalanceGuard kann auch grundsätzlich in be-ratenden und therapeutischen Kontexten ein-gesetzt werden. In diesen Fällen stellt der Be-rater oder Therapeut seinen Klienten das Systemzur Verfügung, z.B. um diagnostische Aspektezu objektivieren. BalanceGuard kann hier vorallem die gängigen Selbstaufschreibungsme-thoden auf Basis von Papier und Bleistift erheb -lich vereinfachen und damit auch die Nutzungs-wahrscheinlichkeit erhöhen.

Arbeitsmediziner, Sicherheitsfachkräfte und an-dere Akteure des Arbeitsschutzes können mitBalanceGuard die subjektive Wahrnehmung vonBelastungssituationen messen. Generell könnendurch die Wahl und Kombination der geeigne-ten Parameter auch die Wirkungen von Inter-ventionen des Arbeits- und Gesundheitsschut-zes evaluiert werden (s.o.).

BalanceGuard eignet sich zudem hervorragendals „Frontend“ für betriebliche Sozialarbeit bzw.Employee Assistance Programs: EAP-Dienstleis-ter können auf der Basis von kontinuierlichenAufschreibungen der Belastungen, Ressourcenund Beeinträchtigungen der Klienten unmit-telbar Hypothesen über Wirkungszusammen-hänge formulieren und gemeinsam mit demKlienten besprechen (Schlüpmann, 2016).

In der Gesamtschau der Anwendungsmöglich-keiten wird deutlich, dass BalanceGuard vor al-lem eines leistet: Das System produziert Daten,die betriebliche und individuelle Tatbeständesystematisieren, objektivieren und transparentmachen. Professionelle Strukturen des Arbeits-schutzes, des betrieblichen Gesundheitsmana-gements oder der Beratung und Therapie pro-fitieren (und lernen) davon ebenso wie dereinzelne Teilnehmer selbst.

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Das Gesamtsystem BalanceGuard, bestehendaus Software und Coaching/Beratung wurdezunächst dafür entwickelt, das tägliche Belas-tungsgeschehen in Unternehmen und bei deneinzelnen Beschäftigten zu analysieren, um da-raus individuelle wie betriebliche Maßnahmenabzuleiten. Im Zuge der Erprobung kristallisier-ten sich jedoch weitere Einsatzmöglichkeiten,auch mit anderen Zielgruppen, heraus. Hierkann man die individuelle und betriebliche An-wendung sowie die Nutzung durch Dritte un-terscheiden.

Anwendung durch EinzelpersonenDie Erfahrungen der bisherigen Anwendungenzeigen, dass ein unterschätzter Effekt von Ba-lanceGuard die „Objektivierung der subjektivenEinschätzung“ ist. Menschen sind nicht beson-ders gut in der Lage, retrospektiv-summativ ihreeigene Belastungssituation abzuschätzen. Wennman einen Probanden also fragt, wie seine Ar-beitsbelastung in den letzten Wochen war, sowird die Beurteilung stark durch Extremereig-nisse (z.B. besonders starke, aber punktuelle Be-lastungen) und Recency-Efekte (die letzten Tagewerden deutlich stärker gewichtet) verfälscht.BalanceGuard visualisiert die Belastungsver -läufe der letzten Wochen und trägt damit zur„Objektivierung“ der eigenen Einschätzung bei.Diese Überprüfung der eigenen Einschätzungist bei der Ableitung von Handlungsoptionenextrem wichtig.

Durch die Gegenüberstellung der Belastungs-und Beanspruchungsindikatoren gibt Balance-Guard Hinweise auf die individuellen Wirkungs-

Im vorangegangenen Artikel wurde das Prinzip des BalanceGuard-Unterstützungssystems dargestellt:

Basierend auf einer Stressmonitoring-Software bewerten die Beschäftigten jeden Tag ihre Belastungen und

Ressourcen, ihr Befinden und ihre Beschwerden. Die Software „rechnet aus“, welche spezifischen Bedingungen

in Arbeit und Privatleben den individuellen Teilnehmer besonders (positiv oder negativ) beanspruchen. Hieraus

können die Probanden bereits viel über ihr individuelles Stresserleben und -verhalten lernen. Das begleitende

Unterstützungssystem bietet darüber hinaus Coachings an, in denen die Beschäftigten ihre Ergebnisse mit

Exper ten besprechen können. Auf Unternehmensebene können die Daten aller Teilnehmer anonymisiert zu -

sammengeführt und im Sinne einer „Längsschnitt-Beschäftigtenbefragung“ ausgewertet werden. So werden

Verhaltens- und Verhältnisprävention integriert.

Wer, wie, was? Einsatzmöglichkeiten für dasStressmonitoring mit BalanceGuardKurt-Georg Ciesinger, Jörg Schlüpmann

mechanismen. Die meisten Beschäftigten leidenbei starkem Zeitdruck oder schwierigen Kunden.Es gibt aber durchaus Probanden, die geradeunter diesen Bedingungen „aufblühen“, weil siediese z.B. als positive Herausforderung empfin-den. Zu erkennen, wie man selbst auf spezifischeSituationen reagiert, ist zentral für die Entwick-lung eines individuellen Gesundheitsbewusst-seins.

Umgekehrt kann BalanceGuard auch dazu die-nen, die eigenen Gesundheitsstrategien und -ak-tivitäten zu evaluieren: Geht es mir tatsächlichbesser, wenn ich Sport mache oder mich ge-sünder ernähre; hat das Selbstmanagement-Training etwas an meinem Zeitdruck und mei-nem Stressempfinden geändert? In der Regelsollten diese Evaluationen mit Unterstützungeines Experten durchgeführt werden, um vorabsinnvolle Zielgrößen und auch den zeitlichenErwartungshorizont zu definieren.

In diesem Zuge lernen Probanden die Zusam-menhänge ihrer eigenen Gesundheit sehr fun-diert und detailliert kennen. Dies muss nichtimmer eins-zu-eins mit Ratgeberwissen oderauch arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissenübereinstimmen. Jeder Mensch hat seine eigenePersönlichkeit und Biografie, die sich auch imKontext von Stresserleben und Gesundheitsver-halten auswirken. Die Diskussion dieser Erfah-rungen mit einem ausgebildeten Coach, wie siedurch BalanceGuard ermöglicht wird, kann da-bei außerordentlich hilfreich für die Beschäf-tigten sein.

Anwendung durch UnternehmenDie Betriebe können ihren Beschäftigten durchden Einsatz der umfangreichen Angebote desBalanceGuard-Systems wesentliche Unterstüt-zungen anbieten und kommen damit der Für-sorgepflicht z.B. durch die Bereitstellung vonCoachingstrukturen nach. Insbesondere aber dieNachverfolgung von Problemstellungen in denCoachings der Beschäftigten durch sog. Repor-tings (Hausmann, 2017), wenn sich z.B. gleich-artige Probleme in Abteilungen oder an Stand-orten häufen, ist ein wichtiger Ansatzpunkt fürverhältnispräventive Maßnahmen. Dies mussselbstverständlich unter sorgfältiger Wahrungder Anonymität und im Rahmen einer betrieb-lichen Vereinbarung der Interessenvertretungenerfolgen. Die Zusammenschau von betrieblichenAuswertungen der BalanceGuard-Daten (Ciesin -ger & Schimke, 2018) und den aggregierten Er-gebnissen der Coachings ist eine hervor ragendeDatenbasis für das betriebliche Gesundheitsma -nagement, allerdings aufgrund der Daten schutz -anforderungen nur in größeren Unternehmen.

Wie auf der individuellen Ebene können auchBetriebe ihre Gesundheitsstrategien und -ange-bote mit BalanceGuard evaluieren (siehe auchCiesinger & Siebecke, 2018). Die Maßnahmenund Ziele der BGM-Aktivitäten werden durch dieParameter von BalanceGuard abgebildet und sodie Effekte verfolgt. Bei genügend großen Teil-nehmerzahlen können durch multivariate Ana-lysen sogar die Effekte der Maßnahmen isoliertwerden; im Prinzip kann man so herausfinden,welchen Effekt eine spezifische Schulung auf dieBeanspruchungssituation der Teilnehmer hatte.

Die AutorenKurt-Georg Ciesinger ist Leitender Projekt -koordinator in der Abteilung Entwicklung undMarketing der Deutschen Angestellten-Akade mie GmbH.

Jörg Schlüpmann ist stellvertretender Zweig-stellenleiter Westfalen und Leiter der AbteilungEntwicklung und Marketing der DAA.

21præview Nr. 1 | 2018

Michael Niehaus, Rainer Thiehoff

Die AutorenMichael Niehaus ist wissenschaftlicher Mitar-beiter der Bundesanstalt für Arbeitsschutzund Arbeitsmedizin (BAuA) und stellvertreten-der Leiter der Gruppe „Wandel der Arbeit“.

Dr. Rainer Thiehoff ist Mitarbeiter der BAuA.Als Mitinitiator des TErrA-Projektes hat er hierseine umfangreichen Erfahrungen aus demAufbau der Initiative Neue Qualität der Arbeit(INQA) und des Demographie-Netzwerkes(ddn) einfließen lassen.

kleine und mittlere Unternehmen schon längstund viel unmittelbarer. Ein kleines Unternehmenhat in der Regel keine Chance, interne Lösungenfür einen Tätigkeitswechsel zu finden. Erst ineinem regionalen Verbund mit anderen könnteein Austausch von Beschäftigten auf alternativeArbeitsplätze stattfinden.

Systemgrenzen stellen aber nicht nur die Un-ternehmensgrößen dar. Auch die berufliche Bin-dung vieler Beschäftigter ist ein Hindernis. Sosind die Berufsförderungswerke mit dem An-gebot von Hausmeistertätigkeiten für Berufs-unfähige sehr erfolgreich, kämpfen aber mitder Akzeptanz bei den Beschäftigten.

Transdisziplinäre GestaltungNeben der Förderung der Flexibilität und derSystemgrenzenüberwindung ist die Stellschrau -be transdisziplinärer Gestaltung des Tätigkeits-wechsels von entscheidender Bedeutung. DieBeteiligung aller Betroffenen ermöglicht dieEntwicklung sachgerechter und nachhaltig wir-kender Lösungen. Die Compliance, also die Be-reitschaft, das selbstentwickelte Ergebnis um-zusetzen, ist bei diesem Vorgehen besondershoch. Dazu werden gemeinsam mit den Be-schäftigten, den Wissenschaftlern und den ge-sellschaftlichen Entscheidungsträgern vor Ortpraxisgerechte Tätigkeitswechsel entwickelt.

Dieses Vorgehen beteiligt die Beschäftigten beider Gestaltung der Tätigkeit und/oder dem Mat-ching ihrer Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kom-petenzen mit dem Angebot des aufnehmendenUnternehmens. Damit werden u.a. das Erfahrenvon Selbstwirksamkeit verbessert und das Erle-ben von Wertschätzung ermöglicht.

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Frühzeitige Veränderungen der beruflichen Tä-tigkeit könnten dies verhindern. Präventive Maß-nahmen sollten sich dabei nicht allein auf dieGesundheit beziehen. Die biografisch bedingtenVeränderungen des Leistungsvermögens und derArt zu arbeiten machen auch qualifikatorischeAnpassungen notwendig, um den Tätigkeitsan-forderungen begegnen zu können. MisslingendeBelastungssteuerung und fehlende alterns-/al-tersgerechte Gestaltung der Tätigkeit belastenzudem die Motivation. Die Arbeit an der persön -lichen Einstellung darf daher nicht fehlen, wennpräventive Tätigkeitswechsel erfolgen sollen.

Präventive überbetriebliche TätigkeitswechselErzwungene, aber auch präventive Tätigkeits-wechsel sind sowohl auf der Beschäftigten- alsauch auf der Unternehmensseite mit erhebli-chen Anstrengungen verbunden. Beschäftigtemüssen Gesundheitsmaßnahmen durchführen,etwas Neues lernen und sich für die neue Auf-gabe motivieren. Unternehmen müssen den Ar-beitsplatz umgestalten, Betriebsabläufe ändernoder gar ihre Personalplanung revidieren.

Speziell überbetriebliche Tätigkeitswechsel sinddaher bei Unternehmen unbeliebt. Hier zeigtsich das jahrzehntelang geübte, humankapital-theoretisch geprägte Denken, Ausbildung, Qua-lifikation und Erfahrung als Investitionen in ei-nen Beschäftigten zu betrachten, die möglichstlange zu Rückflüssen an das Unternehmen füh-ren sollen. Dies begünstigt gegenseitige Bindun -gen, die präventiven überbetrieblichen Tätig-keitswechseln entgegenstehen können.

Volkswirtschaftlich gesehen ist das Festhaltenan solchen Bindungen sogar schädlich, es ver-

Das Projekt TErrA – Überbetriebliche Tätigkeitswechsel zum Erhalt der Arbeits fähigkeit in regionalen Netzwerken

entwickelt ein innovatives, in Regionalnetzwerken verankertes, erwerbsbiografisches Arbeits- und Gesundheits-

schutzinstrument für die Arbeitswelt von morgen. TErrA bietet zudem eine geschäftsmodellbasierte nachhaltige

Umsetzung zahlreicher Forschungsergebnisse zur Gestaltung von Erwerbsbiografien.

Präventive Tätigkeitswechsel für nachhaltigeErwerbsverläufe – das Projekt TErrAMichael Niehaus, Rainer Thiehoff

Der Blick in die Zukunft des Erwerbslebensmacht deutlich, dass sich die beruflichen Tätig -keiten immer schneller verändern. Einer Zunah -me von kreativen, planerischen, steuernden,kommunikativen und sozial-interaktiven Tätig-keiten steht die Abnahme standardisierbarer,manueller und kognitiver Routine-Tätigkeitengegenüber. Während die relativen Bedarfe anGering- und Mittelqualifizierten sinken, steigtder Bedarf an Hochqualifizierten. Dieser Ver-änderungsdruck auf Beschäftigte und Unter-nehmen wird durchgängig noch höher einge-schätzt als die massive Bedrohung durch denArbeitsplatzabbau in der Folge fortschreitenderDigitalisierung.

Damit setzt sich ein Trend fort, den der demo-grafische Wandel vor über einem Jahrzehnt ein-geleitet hat. Eine einzige berufliche Tätigkeit biszum Rentenalter ausüben zu können, wird vonder Regel zur Ausnahme. Ein besonders hohesRisiko besteht bei Tätigkeiten, die mit dauerhafthohen körperlichen oder psychischen Belastun-gen einhergehen. Die Folgen dieser Belastungensind gesundheitliche Beeinträchtigungen, die biszur Erwerbsunfähigkeit führen können.

Typische ErwerbsverläufeBetrachtet man typische Erwerbsverläufe, sozeigt sich im Laufe eines Erwerbslebens min-destens einmal die Notwendigkeit, wegen ein-getretener gesundheitlicher Beeinträchtigungenoder gewandelten Leistungsvermögens, Verän-derungen an der Arbeit, Umschulungsmaßnah-men oder gar einen Berufswechsel vorzuneh-men. Abgesehen von Ausnahmen ist der Anstoßzu Tätigkeitswechseln, sowohl seitens der Be-schäftigten als auch der Unternehmen, häufigerzwungen.

hindert die optimale Allokation der Ressourcen– also für den richtigen Arbeitnehmer den rich-tigen Platz zu finden. Gerade durch die fort-schreitende Digitalisierung wissen Unternehmenhäufig gar nicht, welche Tätigkeiten sie in Zu-kunft überhaupt benötigen. Festlegungen undBindungen erfordern daher eine höhere Flexi-bilität bei den Beschäftigten, die Tätigkeit imUnternehmen oder auch außerhalb des Unter-nehmens anzupassen oder zu verändern.

Flexibel bleibenStatt ausschließlich in die Qualifikation zu in-vestieren, sollten Unternehmen auch die Neu-roplastizität (des Gehirns) ihrer Beschäftigtenfördern. Um flexibel zu bleiben, ist eine konti-nuierliche Auseinandersetzung mit denkbarenalternativen Tätigkeits- oder Beschäftigungs-möglichkeiten hilfreich. Jeder Mensch verfügtüber sogenannte Reservemotivationen, die dannzum Tragen kommen, wenn eine einmal ge-wählte Tätigkeit, z.B. auf Grund eines Unfalls,nicht mehr ausgeübt werden kann. Je häufigerman im Verlauf eines Arbeitslebens zum Um-denken gezwungen war oder dieses freiwilliggetan hat, umso leichter fällt es, sich auf ge-sundheits-, alters- oder digitalisierungsbedingteTätigkeitsveränderungen einzustellen.

Tätigkeitswechsel sind möglich, wenn das Un-ternehmen groß genug ist, um alternative Be-schäftigungsmöglichkeiten anzubieten oderdurch geschickte reintegrierende Geschäftsmo-dellentwicklung zu schaffen. Beispiel dafür istdas Scan-Center der ThyssenKrupp Steel Europein Duisburg-Ruhrort, in dem viele Betroffeneeine neue Beschäftigung finden konnten. Aberauch große Unternehmen stoßen in der letztenZeit zunehmend an ihre Grenzen. Diese spüren

Regionale Unternehmens-netzwerkeÜberbetriebliche präventive Tätigkeitswechselbenötigen neben diesen Komponenten nocheine Plattform, über die das angestrebte Mat-ching realisiert werden kann. Statt der nur fürgroße Unternehmen möglichen Mikrosteuerungoder der überregionalen Makrosteuerung desArbeitsmarktes wird vom Projekt TErrA die Re-gion als Handlungsebene genutzt.

Das Matching präventiver überbetrieblicher Tä-tigkeitswechsel soll im Rahmen regionaler Un-ternehmensnetzwerke erfolgen. Durch solcheNetzwerke ist die Nähe zu den Unternehmenund den Stakeholdern einer Region gegeben.Sowohl die abgebenden als auch die aufneh-menden Unternehmen kennen sich in der Regel.Je länger ein regionales Unternehmensnetzwerkbereits zusammenarbeitet, umso besser sind da-mit die Voraussetzungen für gegenseitiges Ver-trauen und damit für einen erfolgreichen Aus-tausch der Beschäftigten zum Tätigkeitswechsel.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass sichHilfenetzwerke der Anbieter von Sozial-, Bera-tungs- und Unterstützungsleistungen bilden,die vor allem KMU zugutekommen. Außerdemlassen sich in den regionalen Netzwerken ge-meinsam nutzbare Leistungen organisieren (z.B.betriebliche Gesundheitsförderung, BEM-Maß-nahmen oder auch spezielle Gefährdungsana-lysen und -beratungen), die ein einzelnes kleinesUnternehmen sonst nicht finanzieren könnte.

23præview Nr. 1 | 201822

Das Projekt TErrA, dessen Konzept im vorangegangenen Artikel beschrieben wurde, bestätigt die Vorteilhaftig-

keit präventiver Tätigkeitswechsel in Unternehmensnetzwerken. Abb. 1 skizziert die Möglichkeiten regionaler

Unternehmensnetzwerke durch eine mesoökonomische Steuerung. Die ehemals unternehmensinterne strate -

gische Personalplanung kann nun innerhalb neuer Systemgrenzen auf Basis besserer Informationen und besser

passender Allokationschancen getroffen werden. Außerdem steht eine regionale Plattform zur Verfügung, die

für eine schnellere Wissensdiffusion und gemeinsame Lösungsentwicklung genutzt werden kann.

TErrA – Tätigkeitswechsel in der PraxisMichael Niehaus, Rainer Thiehoff

Die AutorenMichael Niehaus ist wissenschaftlicher Mitar-beiter der Bundesanstalt für Arbeitsschutzund Arbeitsmedizin (BAuA) und stellvertreten-der Leiter der Gruppe „Wandel der Arbeit“.

Dr. Rainer Thiehoff ist Mitarbeiter der BAuA.Als Mitinitiator des TErrA-Projektes hat er hierseine umfangreichen Erfahrungen aus demAufbau der Initiative Neue Qualität der Arbeit(INQA) und des Demographie-Netzwerkes(ddn) einfließen lassen.

Michael Niehaus, Rainer Thiehoff

Das aufnehmende Unternehmen erhält eine ge-sunde, qualifizierte und vor allem motivierteFachkraft, die sonst auf dem Arbeitsmarkt im-mer schwerer zu bekommen ist. Doch den größ-ten Nutzen verzeichnen die Sozialversicherungendurch vermiedene Frühverrentung, Arbeitslo-sigkeit und Erkrankungen – und damit die Ge-sellschaft insgesamt.

TErrA zeigt einen Weg, Anpassungen an Verän-derungen der Arbeitswelt durch präventions-gesteuerte Tätigkeitswechsel vorzunehmen. Da-mit wird eine passende Reaktion auf den vonvielen Arbeitsmarktforschern konstatierten ho-hen Veränderungsdruck in Richtung beruflicherTätigkeiten aufgrund der digitalen Transforma-tion ermöglicht.

Digitale Transformation und demografischerWandel machen es den Unternehmen immerschwerer, den Beschäftigten soziale Stabilitätfür ihre Tätigkeiten zu bieten. An die Stelle derUnternehmen könnten durch TErrA zunehmendregionale Netzwerke treten, die durch die Orga-nisation überbetrieblicher Tätigkeitswechsel eineneue Form sozialer Stabilität entwickeln. Davonkönnten dann endlich auch die Beschäftigten inkleinen und mittleren Unternehmen profitieren.

Fazit: Fördernde und hemmende FaktorenFür die praktische Realisierung überbetrieblicherTätigkeitswechsel wurden durch TErrA Heraus-forderungen auf mehreren Ebenen identifiziert.Auf der Ebene des Beschäftigten zeigt sich, dassein überbetrieblicher Tätigkeitswechsel mit

Diese gemeinnützig angelegte Konstruktion er-innert stark an die erfolgreichen Hubökonomien,die durch die Geschäftsmodellveränderungenim Zuge der digitalen Transformation entstan-den sind. Unternehmen wie Amazon, Alibabaoder Google organisieren den Kontakt zwischenAnbietern und Nachfragern auf direktem Wegund schöpfen durch intelligente Gestaltung derGeschäftsbeziehungen eine hohe Produktivität.

Der Beratungs- und MatchingprozessZiel des Beratungsprozesses ist die Passung vonArbeitsanforderungen (der neuen Tätigkeit) undder Leistungsfähigkeit des Beschäftigten. Dazuhat TErrA einen Prozess modelliert und erprobt,der Beschäftigten- und Unternehmensseitespiegelbildlich zusammenführt (Abb. 2).

In der Orientierungsphase stehen unternehmens-seitig Informations- und Sensibilisierungsmaß-nahmen sowie der Einbezug der betrieblichenStakeholder (Interessenvertretungen, Arbeits-mediziner etc.) an. Bei der Beratung einzelnerBeschäftigter geht es zunächst um die Eröff-nung von Perspektiven und Alternativen. Da Tä-tigkeitswechsel für viele Beschäftigte neu sind,bestehen hier Unsicherheiten. Daher kommt derPerspektivfindung im nächsten Schritt einegroße Bedeutung zu.

Bei der Entwicklung eines (alternativen) Lebens-plans helfen Instrumente wie der TalentKompassoder die LebensPlanTafel. Natürlich werden auchdie fachlichen und überfachlichen Qualifikatio-nen berücksichtigt. Ein besonderes Augenmerkliegt dabei auf der Gesundheit. Im Matching-prozess soll verhindert werden, dass jemand,der schon „Rücken hat“, wieder einer Tätigkeitnachgeht, die für den Rücken besonders belas-tend ist.

Auf der Unternehmensseite liegen in größerenUnternehmen die notwendigen Informationenin der Personalabteilung vor. Aber bei kleinerenUnternehmen werden hier im BeratungsprozessInstrumente wie das Jobprofiling oder eine Tätig -keitsanalyse eingesetzt, um die für das Matchingnotwendigen Informationen zusammenzutragen.

In der Realisierungsphase wird der Mitarbeitervon der alten in die neue Tätigkeit umgesetzt.Je nach Rahmenbedingungen im Netzwerk sindhierzu arbeits- und tarifrechtliche Aspekte zuberücksichtigen. Im leichtesten Fall kündigt derBeschäftige in seinem alten Unternehmen undschließt zeitgleich einen neuen Arbeitsvertrag ab.

Die Erfahrung zeigt, dass der TErrA-Matching-prozess nachbetreut werden muss. Unternehmenund Beschäftigte brauchen auch nach einemerfolgten Tätigkeitswechsel die Möglichkeit derUnterstützung, z.B. in Form von Coaching oderQualifizierung.

Kosten und NutzenWirtschaftlicher Nutzen von Tätigkeitswechselnzeigt sich überraschenderweise in der Erschlie-ßung neuer Geschäftsfelder. Das neuerrichteteScan-Center von ThyssenKrupp Steel Europe, indem in großem Stil Unternehmensdaten digi-talisiert werden, kann dies belegen.

Im Projekt stellte sich heraus, dass Insourcingeine geeignete Strategie zur Realisierung vonpräventiven Tätigkeitswechseln sein kann. Pro-zesse, die zuvor von externen Firmen übernom-men wurden, werden wieder eingegliedert. Eingutes Beispiel dafür bietet auch die DavidsDienstleistungswerkstatt GmbH in Schleswig.Der Unternehmer gründete neben den bereitsbestehenden Betrieben einen weiteren, soge-nannten Integrationsbetrieb in Kooperation mit

dem Integrationsamt. In diesem erfolgt die Rei-nigung und Wartung der Maschinen aus denanderen Betrieben.

Ist es für ein Unternehmen grundsätzlich vor-teilhaft, in die Flexibilität, Qualifikation undFähig keiten eines Beschäftigten zu investieren,wenn dieser auf Grund eines angestrebtenTätig keitswechsels das Unternehmen verlässt?Das dafür entwickelte Kosten-Nutzen-Analyse-Instru ment zeigt ein differenziertes Bild. In denFällen, in denen ein interner Tätigkeitswechselmöglich ist, ist es meist sinnvoll, diesen anzu-streben. Gibt es aber keine Alternative zu einemüberbetrieblichen Tätigkeitswechsel, sei es, weilder Beschäftigte auf Grund von gesundheitli-chen Beeinträchtigungen oder Leistungswandelnicht mehr weiterbeschäftigt werden kann oderweil seine bisherige Tätigkeit durch Verände-rungen des Marktes wegfällt, dann kann auchdieser wirtschaftlich sinnvoll sein.

Soziale Innovation: gemeinnützigePlattform für TätigkeitswechselWenn die mesoökonomische Steuerung prä-ventiver überbetrieblicher Tätigkeitswechsel aufeiner regionalen Unternehmensplattform ge-lingt, dann ist der wirtschaftliche Nutzen füralle Beteiligten hoch. Die Beschäftigten müssenbei einem regionalen Wechsel die vergleichs-weise geringsten Mobilitätskosten aufbringen– aber bekommen die Aussicht auf eine dauer-hafte neue Tätigkeit mit geringeren Belastun-gen, höherer Lernförderlichkeit und bessererMotivation. Das abgebende Unternehmen istnicht mehr gezwungen, einen Mitarbeiter un-terhalb seiner Leistungsfähigkeit oder Qualifi-kation zu beschäftigen. Sowohl unproduktiverAufwand als auch Wertschätzungsverluste wer-den vermieden.

Abb. 1: Regionale Unternehmensnetzwerke

Abb. 2: Matchingprozess

Ängsten und Beharrungstendenzen verbundenist. Ein neuer Arbeitsplatz und neue Aufgaben-felder können die Motivation fördern, aber auchÄngste auslösen.

Eines der wichtigsten Kriterien, welches für dieBeschäftigten im Vordergrund steht, sind dieEinkommenschancen. Eine Vielzahl der Beschäf-tigten kann sich einen Tätigkeitswechsel nurunter der Bedingung vorstellen, dass diesernicht mit finanziellen Einbußen einhergeht. Aufder Ebene der Unternehmen zeigen sich einefehlende Sensibilisierung für präventive Tätig-keitswechsel als auch fehlendes Wissen bezüg-lich der praktischen Umsetzung. Unvermeidbarist, dass ein Tätigkeitswechsel Weiterbildungs-und Gesundheitsförderungsmaßnahmen erfor-dert, die in der Regel mit Kosten verbunden sind.

Unternehmen A Unternehmen B

Beratung

Unternehmen C Unternehmen D

ÄltereMA

Info-Pool

Potentialanalyse/Arbeitsgestaltung

Potentialanalyse/Arbeitsgestaltung

FKs

Azubis

Bedarfe/Ressourcen

Bedarfe/Ressourcen

Bedarfe/Ressourcen

Bedarfe/Ressourcen

Beratung

Potentialanalyse/Arbeitsgestaltung

Potentialanalyse/Arbeitsgestaltung

Kunden

1 4

Tätigkeitsanalyse

Job-Profiling

Kompetenzkompass

Vakanzen

Perspektiv-findung

Lebensplan

Überfachliche Kompetenzen

Fachliche Kompetenzen

Gesundheit

Geschäftsfeld-entwicklung

Personal-entwicklung

Organisations-entwicklung

MATCHING

Realisierung

MATCHING

Qualifizierungs-beratung

Bewerbungstraining

Finanzielle Beratung

Orientierung Nachbetreuung32

Unternehmen

Mitarbeiter/-in

25præview Nr. 1 | 2018

Dirk Marrenbach, Martin Braun, Oliver Scholtz

Die AutorenDr.-Ing. Dirk Marrenbach studierte an der TechnischenUniversität Dortmund Maschinenbau mit dem Schwer-punkt Materialflusstechnik. In zahlreichen Industrie- undForschungsvorhaben hat er Erfahrungen in der Gestal-tung von Förder-, Lager- und Kommissioniersystemen er-langt. Seine aktuellen Forschungsinteressen liegen in derganzheitlichen, präventiven Gestaltung von Intralogistik-systemen und der Weiterentwicklung der dazu erforderli-chen Methoden und Modelle.

Dr.-Ing. Martin Braun studierte Arbeitswissenschaft undFabrikbetriebslehre und ist in der angewandten Arbeits-forschung tätig. Sein aktu eller Forschungsschwerpunktliegt in der zukunftsfähigen Gestaltung menschengerech-ter Arbeit in Produktion und Logistik angesichts der digi-talen Transformation. Braun ist Lehrbeauftragter an derUniversität Stuttgart und der Hamburger Fernhochschule.

Dipl.-Ing. Oliver Scholtz studierte Maschinenbau an der Technischen Universität Karlsruhe. Seine Tätigkeits-schwerpunkte liegen in der Planung und Optimierung vonGanzheitlichen Produktionssystemen, was die Logistikpla-nung und die alter(n)sgerechte Gestaltung von Arbeiteinbezieht. Er ist Lehrbeauftragter an der Dualen Hoch-schule in Stuttgart.

KontaktFraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO, Nobelstraße 12, 70569 Stuttgart, 0711 970-2176,[email protected]

erhöhen die Aufmerksamkeitsspanne und wirken motiva-tionsförderlich. Mitsprache und Mitgestaltung sind Wege,um soziales Vertrauen zu stärken.

In mehreren PREVILOG-Workshops erfolgte eine ergono-mische und informatorische Optimierung diverser Waren-eingangs- und Kommissionierarbeitsplätze. Eine partizipa-tive Einbindung der Beschäftigten in den Analyse- undGestaltungsprozess vertiefte nicht nur deren Verständnisfür die Nutzenpotenziale der Prävention, sondern erhöhteauch deren Akzeptanz für konkrete Gestaltungslösungen.Impulse und Maßnahmen für eine präventive Gestaltungintralogistischer Systeme werden in der verbleibenden Pro-jektlaufzeit in Form eines Handlungsleitfadens dokumen-tiert.

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Ohne Intralogistik läuft nichtsAls drittgrößter Wirtschaftsbereich in Deutsch-land beschäftigt die Logistikbranche etwa 2,8Millionen Menschen. Die Kernaufgaben derIntra logistik liegen in der innerbetrieblichenFörderung, Lagerung, Kommissionierung, Sor -tierung und Verpackung von Gütern aller Art.Intralogistische Unternehmen sehen sich mithohen Flexibilitäts-, Kosten- und Wettbewerb-sanforderungen konfrontiert. Die geforderteFlexi bilität wird häufig durch den Einsatz vonSaison- und Leiharbeitskräften bewältigt. Per-sonelle Maßnahmen reichen jedoch immerselte ner aus, um kurzfristige und ungeplanteLeistungsschwankungen zu kompensieren. InZeiten des sozio-demografischen Wandelsschränkt der Wettbewerb um das begrenzt ver-fügbare Arbeitskräfteangebot diesen Lösungs-weg immer stärker ein. Neueinstellungen ge-stalten sich in der Logistikbranche immerschwieriger, da die Beschäftigungsattraktivitätunter langen Arbeitszeiten, einseitigen körper-lichen Belastungen und monotonen Routine-tätigkeiten mit geringen Entscheidungs- undHandlungsspielräumen leidet.

PREVILOG zeigt integrative Perspektiven aufDas Forschungs- und Transferprojekt „PräventivePrinzipien und Methoden der alterns- undmarktgerechten Arbeitssystemgestaltung in derIntralogistik (PREVILOG)“ greift die skizziertenHerausforderungen auf. Als Garanten der be-trieblichen Flexibilität werden sowohl die be-triebliche Organisation als auch der leistungs-fähige Mensch betrachtet. PREVILOG ergänztbetriebswirtschaftliche Zielsysteme um tätig-keitsadäquate Kriterien zur Erhaltung und För-derung des menschlichen Leistungsvermögens.Hierbei auftretende Ziel- und Wertkonflikte giltes vorausschauend zu integrieren. Dazu werdenpragmatische Instrumente zur Analyse, Gestal-tung und Bewertung intralogistischer Systemeentwickelt und erprobt.

Auf der Suche nach einem zukunfts-fähigen GestaltungsparadigmaDie gegenwärtige Gestaltung intralogistischerSysteme folgt weitgehend den Grundsätzen desLean Managements. Dies mündet in standardi-

Präventive Arbeitsgestaltung in der IntralogistikDirk Marrenbach, Martin Braun, Oliver Scholtz

sierte Prozesse unter Abschirmung störenderUmwelteinflüsse. Ein derart deterministischerGestaltungsansatz ermöglicht eine hohe Pro-duktivität bei hoher Qualität und Termintreue.Die Lean-Organisation hat Regelungsmecha-nismen nach der Logik von Zielvereinbarungund Leistungskontrolle implementiert. DieserManagement-Regelkreis funktioniert allerdingsnur unter stabilen Umweltbedingungen.

Intralogistische Systeme weisen zumindest tem-porär instabile Verhaltensweisen auf. Um dieunspezifische Anpassungsfähigkeit der flexiblenOrganisation zu erhöhen, erweisen sich Pro-blembewusstsein und Eigeninitiative der arbei-tenden Menschen als erfolgskritisch. Die flexibleOrganisation setzt ermöglichende Strukturele-mente voraus, die es präventiv zu entwickelngilt. Digitale Identifikations-, Informations- undKommunikationssysteme unterstützen derarti -ge Strukturen. Unter der Prämisse der „SmartLogis tics“ entwickelt sich die betriebliche Or-ganisation in Richtung dezentral gesteuerterFlexibilität.

Systemplanung unter neuem VorzeichenAus tradierter Sicht beschränken sich Präventi-onsziele auf die Einhaltung gesetzlicher Min-destanforderungen für Sicherheit und Ergono-mie. Die Konzeption flexibler Unternehmens-systeme aus dezentralen, informationsverarbei-tenden Einheiten stellt die Logistikplaner vorneue methodische Herausforderungen. Es gilt,kulturelle und soziale Elemente im Arbeitssys-tem zu berücksichtigen.

Prävention ist das Vermögen eines lebendenSystems zur Selbstoptimierung, um sich seinenäußeren und inneren Veränderungen anzupas-sen. Innerhalb gewisser Grenzen sind lebendeSysteme in der Lage, ihr fragiles Verhalten durchRückkopplung und Überkompensation zu sta-bilisieren. Zentraler Indikator einer derartigenSelbstoptimierung lebender Systeme ist die Ge-sundheit.

Der gesunde Mensch ist in der Lage, für sichselbst und für andere zu sorgen. Er kann seineEntscheidungsfähigkeit stärken, um langfristigeKontrolle über seine eigenen Lebensverhältnisse

auszuüben. Er passt sich veränderlichen Um-weltbedingungen proaktiv an (d.h. Ambigui-tätstoleranz oder Resilienz), ohne die Unabhän-gigkeit seiner individuellen Existenz aufzugeben(d.h. Antifragilität).

Stärken von Mensch und Maschine berücksichtigenDie fortschreitende Digitalisierung eröffnet neu-artige Anwendungs- und Nutzenpotenziale inder Intralogistik. Maschinen der „nächsten Ge-neration“ substituieren nicht nur körperlicheArbeitstätigkeiten, sondern übernehmen vor al-lem informatorische Aufgaben. Unter der An-nahme, dass sich repetitive Algorithmen (z.B.Disposition, Maschinensteuerung, Datenerfas-sung) und kraftbetonte Tätigkeiten (z.B. Lasten -handhabung) automatisieren lassen, fokussierendie Aufgabenfelder des Menschen auf jene Ele-mente, die in besonderem Maße einen gesundenAusgleich der Arbeitsverhältnisse durch Diffe-renzierung und Integration erfordern. Diese An-forderungselemente finden sich in qualifiziertenBerufen, die ein hohes Maß an Problemlösungs-fähigkeit sowie Kommunikations- und Argu-mentationsfähigkeit aufweisen. Sie finden sichebenso in Bereichen einfacher sensomotorischerTätigkeiten, wo situative Adaptionsfähigkeit undflexibles Handeln, körperliche Geschicklichkeitund Fingerfertigkeit gefordert sind. Ambigui-tätstoleranz und Antifragilität ermöglichen esdem Menschen, auch unter instabilen Bedin-gungen wirksam zu handeln. Derartige Fähig-keiten kann „intelligente“ Technik bis auf Wei-teres nicht ersetzen. Günstige Voraussetzungenfür ein proaktives, menschliches Handeln wer-den vielmehr durch eine präventive Arbeitsge-staltung geschaffen.

Partizipative Gestaltung steigert die WirksamkeitDie Art und Weise, wie Menschen zusammen-arbeiten, wirkt sich maßgeblich auf Produkti -vität, Zielerreichung und Gesundheit aus. Einzentraler Potenzialfaktor gesunder Kooperati-onsformen ist die soziale Unterstützung (inForm von Anleitung, Aufmerksamkeit und Rück-meldung). Sie fördert die individuelle Fähig-keitsentwicklung und trägt zur Steigerung derAmbiguitätstoleranz bei. Soziale Interaktionen

und Unternehmer bei der Umsetzung von Prä-ventionsmaßnahmen konfrontiert sind.

So bestätigen die Ergebnisse aus Befragungenund Gesprächen mit den Unternehmern undeinzelnen Mitarbeitern die extreme Heteroge-nität dieser Branche. Es gilt die starke Indivi-dualität, sowohl hinsichtlich der Unternehmer-persönlichkeiten als auch der verschiedenenTätigkeitsbereiche und Arbeitsprozesse, in derZusammenarbeit und Erarbeitung von Maßnah-men zu berücksichtigen.

Des Weiteren erfährt das Thema Arbeitssicher-heit und Gesundheitsschutz in den KKU oftnicht die notwendige Beachtung. Vielmehr wirdes als lästige „Pflichtübung“ und Zusatzaufgabezum ohnehin schwierigen Alltagsgeschäft ge-sehen. Anders als in den Großbetrieben derstaatlichen Forstunternehmen gibt es meist keingeregeltes Management in diesem Bereich. Sel-ten gibt es Mitarbeiter, denen Verantwortlich-keiten im Arbeitsschutz übertragen werden.Vielmehr werden diese oft vom Unternehmerselbst neben dem Tagesgeschäft wahrgenom-men. In wenigen Fällen wird diese Aufgabe aneine externe Sicherheitsfachkraft delegiert. Da-raus folgt, dass erfolgreiche Prävention in ganzentscheidender Weise vom persönlichen Enga-gement des Unternehmers und seiner Bereit-schaft abhängt, in entsprechende Maßnahmenzu investieren.

Erfahrungen im Projekt proSILWA zeigen, dassviele Unternehmer ohne die Unterstützung vonExternen, wie Forschern, Beratern, Auditorender Zertifizierungssysteme oder Auftraggebern,manche Schwachstellen in ihrem Arbeitslebennicht erkennen bzw. nicht erkennen wollen, umweniger Aufwand und mehr Zeit für das „rich-tige“ Arbeiten zu haben. Insbesondere Gefähr-dungsbeurteilungen werden oft unzureichendoder unsystematisch erledigt. Dabei stellen dieseeine wichtige Voraussetzung hinsichtlich derUnfallvermeidung, der Verringerung der Krank-heitstage sowie der Aufdeckung organisatori-scher Schwachstellen dar.

Ein weiterer herausfordernder Aspekt ist der so-ziale und emotionale Druck, dem die Unterneh-mer ausgesetzt sind. Anders als in mittelstän-

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Carolin Kreil, Jana Kampe, Edgar Kastenholz

Die Autorinnen, der AutorDipl.-Ing. Carolin Kreil ist WissenschaftlicheMitarbeiterin an der Professur für Arbeits -wissenschaft der Technischen UniversitätDresden.

Jana Kampe, M.Sc.-Psych., ist Wissenschaft -liche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Arbeits-,Betriebs- und Organisationspsychologie derFriedrich-Schiller-Universität Jena.

Der forstliche Arbeitswissenschaftler EdgarKastenholz koordiniert das Verbundprojekt„proSILWA“ am Kuratorium für Waldarbeitund Forsttechnik (KWF) e.V.

dischen Unternehmen kann die emotionale undpersönliche Bindung zwischen Chef und Angestell-ten durch die unmittelbare Nähe und das gemein-same Arbeiten sehr groß sein, eng verbunden miteiner je nach Betroffenheit stärker empfundenenVerpflichtung gegenüber dem anderen. So entstehtin vielen Forstunternehmen wirtschaftlicher Druckvor allem dadurch, dass im Sinne der Wirtschaft-lichkeit und Gewährleistung der pünktlichen Ge-haltszahlung teilweise die eigenen personellen Ka-pazitäten überschätzt und Aufträge angenommenwerden, die mit den vorhandenen Ressourcen nichtzu bewerkstelligen sind. Daraus wiederum ergebensich Stresssituationen, die sich negativ auf die Kon-zentration und die Sorgfalt der ausgeführten Arbeitsowie die eigene Gesundheit auswirken.

Zuletzt spielt die Qualifikation des Unternehmerseine entscheidende Rolle, welche mit steigenderBetriebsgröße immer stärker gefordert ist. Vieleder im Rahmen des Projektes betreuten Kleinst-unternehmer haben sich erst im Laufe der Zeitvom Alleinunternehmer zum Arbeitgeber und da-mit gleichzeitig zur Führungsperson mit Vorbild-wirkung entwickelt. Häufig waren Unternehmerzunächst mit einer rein forstwirtschaftlichen oderanderen handwerklichen Ausbildung als Alleinun-ternehmer tätig. Mit steigender Auftragslage unddem Einstellen von eigenen Mitarbeitern wuchsenauch die an sie gestellten Anforderungen. Es zeigtsich, dass den einstigen Alleinunternehmern teil-weise notwendige Management- und Führungs-kompetenzen fehlen, was die Prävention im Betrieberschwert. Hinzu kommt, dass durch mangelhaftePlanung und Führung Sicherheitsrisiken begünstigtwerden.

Ein Präventionskonzept, das sich diesen Heraus-forderungen stellen will, muss an den vorhandenenRessourcen, also den fachlichen, sozialen und mo-tivationalen Stärken des Unternehmens ansetzen,aktuelle Probleme konkret bewältigen und Präven-tionsmaßnahmen umsetzen, die der jeweiligen in-dividuellen Situation eines Unternehmens gerechtwerden. In welcher Form der proSILWA-Prozessdies leistet, zeigen die weiteren Beiträge des Pro-jektes in diesem Heft.

26

Beide Systeme bergen ihre jeweils spezifischenGesundheitsgefahren. Die motormanuelle Holz -ernte ist eine der unfallträchtigsten und phy-sisch am stärksten beanspruchenden Berufs -tätigkeiten überhaupt. Im Gegensatz dazu sindMaschinenführertätigkeiten geprägt durch hohementale Belastungen, Alleinarbeit und Mono-tonie. Damit sind Arbeitssicherheit, Gesund-heitsschutz und -förderung bei der Waldarbeitvon großer Bedeutung und in allen Verfahrens-beschreibungen und Arbeitsaufträgen zu be-rücksichtigen und hervorzuheben.

In der Praxis ist die Umsetzung von Präventi-onsmaßnahmen jedoch, wie in vielen anderenBranchen, nach wie vor unbefriedigend. Diesgilt besonders für kleine und kleinste Unter-nehmen (KKU), die Waldarbeiten im Auftragvon Waldbesitzern oder der holzverarbeitendenIndustrie als Dienstleistungen ausführen. Sieleisten mehr als die Hälfte des Holzerntevo -lumens und stellen dafür einen Großteil desArbeits kräftepotenzials in der Waldarbeit inDeutschland. Dabei bilden sie eine heterogeneund fragmentierte Branche, in der die weit über-wiegende Zahl der Unternehmen aus wenigerals fünf Personen besteht und Einpersonenbe-triebe recht häufig zu finden sind.

Die Herausforderungen, wirksame Präventions-maßnahmen in die Praxis umzusetzen, teilendie forstlichen Dienstleistungsunternehmen mitvielen anderen Branchen. In Deutschland mach-ten im Jahr 2015 rund 2,4 Millionen kleine undmittlere Unternehmen einen Anteil von unge-fähr 99% aller Unternehmen aus, wovon zweiMillionen Kleinstbetriebe sind. Die Problematik

Rund ein Drittel der Landesfläche Deutschlands ist bewaldet. Die Wälder

werden mit den Zielen bewirtschaftet, Holz zu produzieren und zu nutzen,

einen Erholungsraum für die Bevölkerung zu bieten und natürliche bio -

logische Ressourcen zu schützen und zu erhalten. Die Bewirtschaftung

umfasst neben Management und Verwaltung zu einem Großteil die Holz -

ernte. Diese erfolgt einerseits im motormanuellen Verfahren unter Einsatz

von Motorsägen für die Fällung und Aufarbeitung sowie durch Seilwinden

für den Transport zur Waldstraße oder aber durch Holzerntemaschinen,

sogenannte Harvester, mit anschließendem Transport durch Tragschlepper.

Herausforderungen für die Prävention in Kleinst-unternehmen am Beispiel der ForstwirtschaftCarolin Kreil, Jana Kampe, Edgar Kastenholz

der Umsetzung von Arbeitssicherheit und Ge-sundheitsschutz in Kleinstunternehmen ist, wieaus der „ESENER-Erhebung“ der EU-OSHA her-vorgeht, dass mit geringerer Unternehmens-größe die Anforderungen des Arbeitsschutzesschwieriger zu bewältigen sind, da weniger Mit-arbeiter und somit weniger Ressourcen zur Ver-fügung stehen. So führen Kleinstunternehmenin nur 69% aller Fälle Gefährdungsbeurteilun-gen durch. Bei größeren Unternehmen sind esimmerhin 96%. Als Hauptgründe hierfür gebendie Befragten an, dass „Risiken und Gefahrenbereits bekannt sind (83% der Betriebe) und eskeine größeren Probleme gibt (80%).“1 Es man-gelt demnach an der Umsetzung wirkungsvollerPrävention.

Bei Forstunternehmen wird dies dadurch ver-stärkt, dass es kaum formale intermediäre Struk-turen, wie bspw. die Kammern im Handwerk,gibt, die die Bemühungen zur Verbesserung vonSicherheit und Gesundheit fördern. Hinzukommt, dass diese Unternehmen an ständigwechselnden Arbeitsorten in ländlichen Räumentätig sind.

Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel des Pro-jektes proSILWA (Prävention für sichere undleistungsfähige Waldarbeit), Konzepte zu entwi -ckeln, mit denen eine erfolgreichere Umsetzungvon Präventionsmaßnahmen in den BereichenTechnik, Organisation, Kommunikation und Per-sonal in KKU der Forstbranche gefördert werdenkann. In Zusammenarbeit mit elf kleinsten undkleinen forstlichen Dienstleistungs unternehmenwurde herausgearbeitet, mit welchen grundle-genden Herausforderungen Forscher, Berater

1 https://osha.europa.eu/de/tools-and-publications/publications/reports/esener-ii-summary.pdf/view.

29præview Nr. 1 | 201828

Was genau verstehen wir unter Präventionskultur und wie ist sie mitunserem Vorgehen verknüpft? Der Begriff Präventionskultur ist im Vergleichzu seinen „Verwandten“ Sicherheitskultur oderGesundheitskultur noch relativ jung und somitauch in geringerem Umfang beschrieben underforscht (vgl. Marschall, 2017). Bevor dieserBegriff Aufmerksamkeit und Anwendung erfuhr,sind in vielen Untersuchungen Sicherheits- oderGesundheitskultur, seltener auch beide Konzeptegemeinsam betrachtet worden.

Präventionskultur hat eine normative Aus -richtung. Während eine Sicherheits- und Ge-sundheitskultur ganz unterschiedliche Formenannehmen kann, ist eine Bezeichnung als Prä-ventionskultur erst dann angemessen, wenn einBetrieb eben nicht – wie in der Regel üblich –rein korrektiv vorgeht. Präventionskultur ist so-mit eine Form der Sicherheits-Gesundheits kultur,doch nicht jede Sicherheits-Gesund heitskulturist auch eine Präventionskultur. Prävention sollMaßnahmen umfassen, mit denen Arbeitsun-fälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Ge-sundheitsgefahren vorbeugend verringert bzw.Sicherheitsgefahren vorausschauend beseitigtwerden. Die Idee, eine Präven tionskultur zuschaffen, gibt also eine Richtung vor, die auchdem Kern des Arbeitsschutzgesetzes (1996) so-wie der entsprechenden EU-Richtlinie (1989)gerecht wird. Darin finden sich normative Stan-

Das Verbundprojekt „proSILWA – Prävention für sichere und leistungsfähige Waldarbeit“ verfolgt bei der Um-

setzung wirksamer Maßnahmen in Forstunternehmen eine individuelle Bedarfsorientierung und versucht, der

jeweiligen Arbeits- und Betriebssituation gerecht zu werden. Da Prävention in forstlichen Klein- und Kleinst -

unternehmen in besonderer Weise darauf angewiesen ist, dass Unternehmer und Mitarbeiter aus eigener

Motiva tion heraus aktiv werden, zielt proSILWA darauf ab, eine Kultur der Prävention zu fördern. Dieser Beitrag

verdeutlicht, aufbauend auf den Herausforderungen für Sicherheit und Gesundheit in forstlichen Kleinstunter-

nehmen (siehe den vorangegangenen Artikel in diesem Heft), wie das Ziel, die Entwicklung einer „Präventions-

kultur“, den Rahmen für wirksame Prävention stecken kann und wie sich darin bedarfsorientierte und situations -

gerechte Maßnahmen umsetzen lassen. In dem nachfolgenden Beitrag werden dann abschließend die Projekt-

phasen und ausgewählte Methoden des proSILWA-Prozesses dargestellt.

Präventionskultur in Klein- und KleinstbetriebenJana Kampe, Carolin Kreil, Edgar Kastenholz

dards wie: Arbeitsschutz sollte umfassend, in-tegrativ, systematisch, kooperativ und eigenver-antwortlich, aktiv und präventiv sowie in einenkontinuierlichen Verbesserungszyklus eingebet-tet sein (vgl. Elke, 2000, S. 39). Dies sind wie-derum Charakteristika einer Präventionskultur.

Sicherheits-, Gesundheits- oder Präventions-kultur können gut anhand der drei Ebenen desUnternehmenskulturmodells von Schein (1985)beschrieben werden. Die drei Ebenen sind un-bewusste Grundannahmen, teils bewussteWerte und Einstellungen sowie sichtbare Arte-fakte in Betrieben (vgl. u.a. Elke, 2001; Zimolong,Elke & Bierhoff, 2007). Unser Verständnis be-rücksichtigt die Idee verschiedener Ebenen undwir verbinden sie mit einem reziproken Prozess-ansatz, wie er auch von Cooper (2016, RevisedReciprocal Safety Culture Model) beschriebenwird. Daraus resultiert das im Projekt proSILWAzu Grunde gelegte Rahmenmodell (vgl. Abb.).

Wir konzipieren Präventionskultur demnach alsResultat einer Wechselwirkung zwischen prä-ventionsbezogenen Merkmalen in Denken, Füh-len, Situation und Verhalten des Betriebes bzw.der Betriebsangehörigen, die sich auf Basis derPerson-Situation-Interaktion erklären, auf Basisdes alltäglich gezeigten Verhaltens direkt be-obachten und beschreiben und schließlich imZusammenhang mit Erfolgsindikatoren evalu-ieren lässt.

Was bedeutet dies konkret für den proSILWA-Ansatz?Entscheidend für wirkungsvolle Prävention ist,dass die Mitglieder eines Unternehmens Maß-nahmen selbstbestimmt und in eigener Initiativeumsetzen. Dies ist besonders in Kleinstunter-nehmen essenziell. Wie ein Betrieb aber seinenindividuellen Weg zu einer erfolgreichen Prä-ventionskultur gestaltet, gibt das Modell be-wusst nicht vor. Zwar wird angenommen, dassdie oben beschriebenen normativen Standardsdiesen Weg begleiten und prägen sollten, wel-che Konfiguration der im Modell abgebildetenElemente aber tatsächlich für den einzelnenBetrieb erfolgreich ist, bleibt offen. Diese Auto -nomie in Bezug auf die Gestaltung von Elemen -ten und Prozessen wird der Idee des Arbeits-schutzgesetzes gerecht, das Pflichten und Zielezwar klar definiert, Umsetzungswege und -mit-tel jedoch nicht einheitlich vorgibt (siehe u.a.ArbSchG § 3(1)).

Dieses Verständnis einer dynamisch-entstehen-den und individuell-förderbaren Kultur der Prä-vention betten wir in dem proSILWA-Präventi-onskonzept in ein zyklisches Vorgehen ein, dasauf eine Verstetigung im Sinne der kontinuier-lichen Weiterentwicklung ausgerichtet ist. Die-sen Prozess sowie ein ausgewähltes Elementbeleuchten wir im nachfolgenden Beitrag ge-nauer.

Die Autorinnen, der AutorJana Kampe, M.Sc.-Psych., ist Wissenschaft -liche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Arbeits-,Betriebs- und Organisationspsychologie derFriedrich-Schiller-Universität Jena.

Dipl.-Ing. Carolin Kreil ist WissenschaftlicheMitarbeiterin an der Professur für Arbeits -wissenschaft der Technischen UniversitätDresden.

Der forstliche Arbeitswissenschaftler EdgarKastenholz koordiniert das Verbundprojekt„proSILWA“ am Kuratorium für Waldarbeitund Forsttechnik (KWF) e.V.

LiteraturCooper, M. D. (2016). Navigating the safety culture construct: a

review of the evidence. Franklin, Indiana: BSMS.Elke, G. (2000). Management des Arbeitsschutzes. Wiesbaden:

Deutscher Universitätsverlag.Elke, G. (2001). Sicherheits- und Gesundheitskultur I – Hand-

lungs-und Wertorientierungen im betrieblichen Alltag. In B.Zimolong (Hrsg.), Management des Arbeits- und Gesundheits-schutzes, S. 171-200. Wiesbaden: Springer Gabler.

Kampe, J. (2018). Prävention als Teil des betrieblichen Wertesys-tems: Erfassung von Präventionskultur in Klein- und Kleinst-betrieben. In R. Trimpop, J. Kampe, M. Bald, I. Seliger & G.Effen berger (Hrsg.), 20. Workshop Psychologie der Arbeitssi-cherheit und Gesundheit. Voneinander lernen und miteinanderdie Zukunft gestalten!, S. 97-100.

Marschall, J. (2017). Präventionskultur – Scoping Review: Nutzenvon Präventionskultur und Möglichkeiten ihrer Gestaltung.Berlin: IGES Institut.

Schein, E. H. (1985). Organizational culture and leadership: Adynamic view (2. printing). The Jossey-Bass social and beha-vioral science series. San Francisco/Calif.: Jossey-Bass.

Zimolong, B., Elke, G., & Bierhoff, H.-W. (2007). Den Rücken stär-ken: Grundlagen und Programme der betrieblichen Gesund-heitsförderung. Göttingen: Hogrefe.

Jana Kampe, Carolin Kreil, Edgar Kastenholz

Das dynamische Mehrebenen-Präventionskultur-Modell(Kampe, 2018; in Anlehnung an Cooper, 2016)

WerteEinstellungenGrundüberzeugungenNormenetc.

unsichtbar

psyc

holo

gisc

h

„Muster für Verhalten“

FührungsstilKommunikationStrukturen und ProzesseQualifikationWissenTechniketc.

sichtbar

situ

atio

nsbe

zoge

n

„Rahmenbedingungen für Verhalten“

Fokus der präventions-bezogenen Aufmerksamkeit

Ausmaß an präventions-bewusstem Verhalten

Bezug auf eigene Person

Bezug auf andere Personen

gelebt

Präventionskultur

verh

alte

nsbe

zoge

n

„Muster von Verhalten“

ErfolgsindikatorenSicherheit - Gesundheit – Produktivität – Qualität

31præview Nr. 1 | 201830

Der Prozess besteht aus aufeinanderfolgendenSchritten und lässt sich in zwei übergeordnetePhasen einteilen: Die erste (Schritte 1 bis 2)dient der Erhebung und Wiedergabe vielfältigerInformationen, die zum Verständnis und derBeschreibung der aktuellen Situation des Un-ternehmens beitragen sollen. Dabei wurden dieInformationen mithilfe des interdisziplinärenProjekt-Expertenteams gesammelt, analysiertund an die Unternehmer in Form individuellerErgebnisprofile zurückgespiegelt.

In der anschließenden Phase (Schritte 3 bis 4)wird angestrebt, eine Präventionskultur zu ge-stalten. Dazu werden partizipativ Pläne entwi-ckelt, die betriebliche und personenbezogeneBesonderheiten berücksichtigen. Außerdem tra-gen erste flankierende Wegbereiter zur erfolg-reichen Umsetzung der geplanten Maßnahmenbei, wie etwa betriebs- und themenspezifischeAnsprechpartner und Netzwerke. In der Umset-zungsphase setzen wir einerseits auf die Kom-petenz und Eigenverantwortung der Unterneh-mer und Beschäftigten, stehen aber jederzeitunterstützend und beratend zur Seite und ach-ten auf den Einsatz sinnvoller Evaluationsme-thoden. Der Prozess orientiert sich an Phasen-modellen der sozialen und organisatorischenEntwicklung (u.a. Kauffeld, 2011).

In unseren beiden vorherigen Beiträgen in diesem Heft wurden die besonderen Herausforderungen in forstlichen

Klein- und Kleinstbetrieben sowie der entsprechende Ansatz im Verbundprojekt „proSILWA – Prävention für

sichere und leistungsfähige Waldarbeit“ beschrieben. Unser Verständnis einer gelebten Präventionskultur ist mit

der Idee von Selbstbestimmung und Eigeninitiative der Unternehmer und Beschäftigten verbunden. Mit einem

motivierenden Einbezug dieser „Präventionstreiber“ soll die betriebsindividuelle Dynamik der verschiedenen

Präventionskultur-Ebenen und -Elemente Berücksichtigung finden. Im Folgenden stellen wir dar, wie dies in

dem proSILWA-Prozess (Abb. 1) umgesetzt wird.

Von der Erfassung bis zur kontinuierlichenGestaltung: Präventionskultur im DIALOGJana Kampe, Carolin Kreil, Edgar Kastenholz

Ein Kernelement des proSILWA-Prozesses ist derpersönliche ErgebnisDIALOG zwischen Betriebs-angehörigen (zumeist der Unternehmer, teilsUnternehmer und Mitarbeiter oder Unterneh-mer und Ehefrau) und einem kleinen interdis-ziplinären Beratungsteam des Projekts (max.drei Personen). In Anlehnung an Studien vonElo et al. (1998) und Kauffelds Organisationent-wicklungsmodell (2011) dient dieser Bausteindazu, Betroffenheit zu erzeugen, Akzeptanz zuschaffen, Widerstände abzubauen, Dringlichkeitdarzulegen, Koalitionen aufzubauen und Sinn-bezüge herzustellen (s. Schritt 2: Präventions-kultur reflektieren). Außerdem sollen die DIA-LOGE Visionen und Ziele definieren, Konsensund Partizipation fördern sowie Maßnahmenund Implementierungsschritte sowie -struktu-ren planen.

Die inhaltliche Basis der DIALOGE bildet dasproSILWA-Profil. Durch die vorgeschaltetenschriftlichen Ergebnisberichte waren den Un-ternehmern die Analyseergebnisse bereits be-kannt, sodass ein „Common Ground“ vorlag.Neben den konkreten inhaltlichen und strate-gischen Aspekten der DIALOGE sind die eherimpliziten Mechanismen dieser Gespräche be-sonders interessant. Sie lassen sich u.a. mit Hilfeder Theorie der Selbstaufmerksamkeit undSelbstreflexion (Greif, 2008) erläutern. Der durch

die DIALOGE intendierte Prozess ist in Abb. 2dargestellt.

Der Großteil der Gesprächspartner reagierte beiden DIALOGEN ähnlich der in Abb. 2 unter 4.1a)und 4.2 dargestellten Varianten, ging also kon-struktiv und ressourcenorientiert vorwärts. Eherdefensive und vermeidende Tendenzen zeigtensich äußerst selten. Damit können durch denproSILWA-Prozess die Grundlagen für eine be-triebliche Präventionskultur gelegt werden. Na-türlich muss die Entwicklung kontinuierlich ge-fördert werden.

Einige Unternehmer gaben das Feedback, sichbewusster und häufiger mit Fragen der Sicher-heit und Gesundheit zu befassen. Dieser Mecha -nismus ist ebenso kulturstiftend wie konkreteVereinbarungen, Umsetzungen und Evaluatio-nen von Maßnahmen.

Insgesamt bestätigte sich bei der Umsetzungdes proSILWA-Präventionskonzepts bisher dieAnnahme, dass Unternehmer und ihre Teamsentscheidend für den Präventionserfolg sind.Ihre Werte, Bedürfnisse und Einstellungen sindunbedingt zu berücksichtigen – ebenso wie dieheterogenen situativen Begebenheiten in denverschiedenen Klein- und Kleinstbetrieben.

LiteraturElo, A.-L., Leppänen, A., & Sillanpää, P. (1998). Applicability of

survey feedback for an occupational health method in stressmanagement. Occupational Medicine, 48 (3), S. 181-188.

Greif, S. (2008). Coaching und ergebnisorientierte Selbstreflexion:Theorie, Forschung und Praxis des Einzel- und Gruppencoa-chings. Innovatives Management. Göttingen u.a.: Hogrefe.

Kampe, J. & Habenicht, H. (2018). ProSILWA Werkstatt: Der pro-SILWA-Prozess zur Stärkung von Sicherheit & Gesundheit.Inter forst 2018. Abrufbar unter https://www.kwf-online.de/index.php/forschungsprojekte/prosilwa, letzter Zugriff am15.8.2018.

Kauffeld, S. (2011). Arbeits- und Organisationspsychologie fürBachelor. Springer-Lehrbuch. Berlin: Springer.

Abb. 1: Der proSILWA-Präventionsprozess mit verschiedenenMethodenbausteinen (Kampe & Habenicht, 2018)

1. Stimulierung derAufmerksamkeitdurch Präventions-kultur-Feedback

2. Aktivierungder präventions-bezogenen Aufmerksamkeit

4.1 Motivation zur Verringerungder Diskrepanzena) Veränderungb) Verteidigung

4.2 Ergebnisorien-tierte Reflexion und Aktivierung von Ressourcen(Personen u. Umgebung)

4.3 Vermeidungvon Stimuli,die präventions-bezogene Aufmerk-samkeit erzeugen

3. Aktualisierung und Intensivierungkonkreter Präventi-onskultur-Merkmale

Abb. 2: Prozess der Aufmerksamkeitsrichtungund Reflexion der eigenen Präventionskultur (in Anlehnung an Greif, 2008)

Ergebnisrückmeldung an Betriebe· Einzelwerte in Spinnennetzgrafik· Schriftliche Erläuterung· Passgenaue Maßnahmenvorschläge

Persönliche ErgebnisDIALOGE

Präventionskultur reflektieren 2Umsetzung von Maßnahmen

Eigeninitiativ und kooperativ

Parallele Beurteilung von Prozess undErgebnissen (Evaluation)

Präventionskultur gestalten 4

Gemeinsame Planung konkreter Schrittein persönlichen ErgebnisDIALOGEN

Festlegung von Ansprechpartnern

Bedarfsbezogener Telefonkontakt

Themenspezifische Netzwerkbildung

Präventionskultur planen 3

Leitfadengestützte Gespräche

Begehungen und Beobachtungen

Fragebögen und Checklisten

Sichtung von Dokumenten

Präventionskultur erfassen 1 Die Autorinnen, der AutorJana Kampe, M.Sc.-Psych., ist Wissenschaft -liche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Arbeits-,Betriebs- und Organisationspsychologie derFriedrich-Schiller-Universität Jena.

Dipl.-Ing. Carolin Kreil ist WissenschaftlicheMitarbeiterin an der Professur für Arbeits -wissenschaft der Technischen UniversitätDresden.

Der forstliche Arbeitswissenschaftler EdgarKastenholz koordiniert das Verbundprojekt„proSILWA“ am Kuratorium für Waldarbeitund Forsttechnik (KWF) e.V.

Jana Kampe, Carolin Kreil, Edgar Kastenholz

33præview Nr. 1 | 2018

Wenzel Matiaske

Der AutorProf. Dr. Wenzel Matiaske ist Professor fürBetriebs wirtschaftslehre, insbesondere Leader -ship and Labour Relations an der Helmut-Schmidt-Universität – Universität der Bundes -wehr in Hamburg.

LiteraturBenzecri, J.-P. (1992). Correspondence analysis handbook. New

York: Marcel Dekker.Etzioni, A. (1968). The Active Society: A Theory of Societal and

Political Processes. New York: Free Press. Gröneweg, C., Holtmann, D. & Matiaske, W. (2015). Innovativität

und Fortschrittsfähigkeit – Personalwirtschaftliche Implika-tionen. Personalquarterly, 67 (3), S. 14-23.

Kirsch, W. (1979). Die Idee der fortschrittsfähigen Organisation.In R. Wunderer (Hrsg.), Humane Personal- und Organisati-onsentwicklung, S. 3-24, Berlin: Duncker & Humblot.

Ridder, H.-G. (2016). Case Study Research: Approaches, Methods,Contribution to Theory (Sozialwissenschaftliche Forschungs-methoden 12). München, Mering: Hampp.

Kelle U., Langfeldt B. & Reith F. (2016). Mixed Methods in derOrganisationsforschung. In S. Liebig, W. Matiaske & S. Rosen-bohm (Hrsg.), Handbuch Empirische Organisationsforschung.Wiesbaden: Springer Gabler.

Lazarsfeld, P. F. (1944). The controversy over detailed interviews– an offer for negotiation. Public Opinion Quarterly, 8 (1), S.38-60.

Ampelmodell umgesetzt worden. Die Ausprä-gungen im ersten Quartil der Variablen (0-25%der Fälle) sind rot dargestellt. Die positiven Aus-prägungen (75-100%) sind dagegen grün mar-kiert. Der mittlere Bereich unterhalb und ober-halb der 50%-Marke des Medians ist durch diegelbe Farbe charakterisiert. Die räumliche Näheder Variablen im Biplot indiziert die starke As-soziation von Fortschrittsfähigkeit und Innova-tivität. Fälle in der standardisierten Branchen-befragung, die eine hohe Fortschrittsfähigkeit– grün charakterisierte Werte in den BereichenResponsivität, Erkenntnis- und Handlungsfä-higkeit – aufweisen, sind in der Regel auch inhohem Maße durch Innovativität charakterisiert.Die rund 2.000 Punkte der befragten Organisa-tionen sind aus Gründen der Übersichtlichkeitnicht in der Grafik ausgewiesen. Als Fälle werdennur die Betriebe aus den Einzelfallstudien alssupplementäre Variablen aufgenommen.

In der CA können die Entfernungen zwischenden Variablen – hier Responsivität, Erkenntnis-und Handlungsfähigkeit sowie Innovativität –

32

Einleitung – ein Fall, aber welcher?In der Arbeitsforschung und verwandten Ge-bieten wie der Organisations- und Personalfor-schung ist die Fallstudie eine häufig anzutref-fende Methodik. Dies hat verschiedene Gründe(Ridder, 2016). Insbesondere werden in diesenFeldern variablenreiche Datensätze benötigt undes sind oft Informationen aus verschiedenenPerspektiven (Mehr-Personen-Problematik) oderaus unterschiedlichen Daten-Quellen zusammen -zubringen. Die Forschungsförderung verstärktdie Neigung zur Fallstudie als Instrument derWahl mit dem gewünschten Transfer zwischenTheorie und Praxispartnern. Bei allen Vorzügenweisen Fallstudiendesigns den entscheidendenNachteil auf, dass eine Verallgemeinerbarkeitder Befunde kaum möglich ist. Auch ausgefeiltetheoretische Überlegungen zur Auswahl derFälle und Interpretationen mit Blick auf Ver-gleichbarkeit können Grundgesamtheit, Stich-probenpläne und Signifikanztests nicht ersetzen.

Abhilfe könnten sogenannte Multi-Method-De-signs schaffen, die in den vergangenen Jahrennicht mehr nur diskutiert werden, sondern auchverbreitet Einsatz finden (Kelle et al., 2016). Inerster Linie wird man in den genannten For-schungsfeldern an sequenzielle Designs denken,in welchen die qualitative (Fallstudien-)For-schung einer quantitativen, großzahligen Un-tersuchung vorbereitend vorausgeht. Auch eineandere Reihenfolge ist möglich. Einer derVorden ker der Multi-Method-Methodik – PaulLazarsfeld (1944) – argumentierte, dass ein ent-scheidender Vorzug qualitativer Einzelfallfor-schung darin besteht, die in quantitativen Ana-lysen durch Ausreißer vom Trend verursachteVarianz aufzuklären.

Doch wie man die Sache auch dreht, es läuftauf sequenzielle Designs (qual. ➝ quan. ➝ qual.)hinaus, für die in projektförmiger Forschungweder genügend Zeit noch Ressourcen zur Ver-fügung stehen. Darüber hinaus sind für denzweiten Schritt, von quantitativer zu qualitati-ver Forschung, datenschutzrechtliche Bedenkenrelevanter denn je. Diese Probleme lassen sichjedoch, wie im Weiteren gezeigt wird, lösen.Mittels gezielter Überlappung von Informatio-nen (Variablen) zwischen qualitativen Erhebun-

Welche Fälle? Zur statistischen Verortung von FallstudienWenzel Matiaske

gen und standardisierter großzahliger Primär-oder Sekundärforschung einerseits sowie derNutzung multivariater, typologisierender Ana-lysetechniken andererseits können Fallstudiengewissermaßen statistisch „verortet“ werden.Anhand eines Beispiels aus der Innovationsfor-schung wird dieses simultane Mixed-Method-Design veranschaulicht.

Methodik – Zuordnung von FällenDas vorgeschlagene simultane Mixed-Method-Design nutzt standardisierte Sekundärdaten,wie sie im Forschungsfeld beispielsweise vonEurostat, Destatis, GESIS oder DIW/SOEP zurVerfügung gestellt werden, oder eigens konzi-pierte Erhebungen. Diese Datensätze dienennicht allein der Verbesserung des Samplings derzugleich durchgeführten Fallstudien, sondernauch deren „statistischer Verortung“. Verortungmeint, dass die Fallstudien in eine Realtypologieauf Grundlage der standardisierten Daten ein-geordnet werden. Zur Einordnung wird eine ge-meinsame Schnittmenge von Informationenqualitativer und quantitativer Daten benötigt.Je reichhaltiger und je spezifischer die Gemein-samkeiten zwischen den Datensätzen sind, destobesser wird die Verortung sein.

Realtypologien werden i.d.R. mittels Verfahrender Clusteranalyse ermittelt. Auf Grundlage derÄhnlichkeit, definiert durch die Ausprägungender dem Vergleich zugrunde gelegten Variablen,werden Fälle zu Gruppen zusammengefasst.Hier werden Korrespondenzanalysen (CA) be-vorzugt, die Variablen und Fälle zugleich abbil-den können (Benzecri, 1992). Ferner ist derengrafische Repräsentation im Biplot Laien leichterzugänglich als die Ergebnisdarstellung von Clus-teranalysen. Korrespondenz- und Clusteranaly-sen lassen sich allerdings auf Grundlage soge-nannter Chi-Quadrat-Distanzen leicht koppeln,was Missverständnisse in der Interpretation ver-meiden hilft. Innerhalb dieser Realtypologienwerden die Fallstudien als zusätzliche oder, inTerminologie der CA, als supplementäre Fälleeingeordnet. Supplementäre Fälle werden ge-wissermaßen im Nachhinein in eine Analyse aufgroßzahliger Basis eingeordnet, ohne diese selbstzu beeinflussen.

Anwendung – ein Fallbeispiel Der BMBF-Verbund Innografie beforschte Mög-lichkeiten und Randbedingungen der Innovati-vität kleiner und mittelständischer Unternehmen(Gröneweg et al., 2015). Mittels standardisierter,telefonischer Befragung der Personalleitungenvon KMU in den Zielbranchen – ProduzierendesGewerbe, Gesundheits- und Sozialwesen undKommunale Eigenbetriebe – wurden in reprä-sentativen Teilstichproben für die Branchen ins-gesamt über 2.000 Datensätze gewonnen (Bran-chenbefragung). Zeitlich überlappend wurdenelf Fallstudien in Betrieben dieser Branchendurchgeführt. In den Fallstudien wurden u.a.Begehungen, Dokumente und qualitative Inter-views mit Führungskräften, Betriebs- und Per-sonalräten sowie Mitarbeitern als Datenquellengenutzt. Darüber hinaus kamen standardisierte(Mitarbeiter-)Befragungen zum Einsatz, in deneneine Teilmenge der Variablen der telefonischenBranchenbefragung ebenfalls Verwendung fand.

Neben Variablen der Organisationsdemografiefragten wir nach Instrumenten in personalpo-litischen Handlungsfeldern wie Selektion, Inte-gration/Sozialisation, Aufgaben- und Anreizge-staltung oder Kontrolle und Personalführung.Auf der theoretischen Folie des Konzepts fort-schrittsfähiger Organisationen (Etzioni, 1968;Kirsch, 1979) gelten die spezifischen Instru-mente dieser Handlungsfelder als Indikatorender Dimensionen – Reponsivität, Erkenntnis-und Handlungsfähigkeit – des Konstruktes. Inmultivariaten Analysen der Branchenbefragungwurden diese Variablen zu Skalen verdichtetund deren Wirkung auf die ebenfalls mit mehre -ren Indikatoren erhobene Innovativität geprüft.Regressionsanalysen unter Einbezug „harter“Variablen wie Branche, Ertragslage oder Anteilder Beschäftigten in F&E belegen die Assoziationder Dimensionen der Fortschrittsfähigkeit mitder Innovativität von KMU.

Zur Verortung des reichhaltigen Fallstudienma-terials in den Befunden der Branchenbefragungwird die CA zur Analyse der gemeinsamen Va-riablen genutzt. Die Abbildung zeigt von denVariablen nur die Dimensionen der Fortschritts-fähigkeit und die Zielvariable Innovativät. Diesesind anhand des Interquartilabstandes in ein

bzw. zwischen den Fällen als „echte“ räumlicheDistanzen interpretiert werden. Die Distanz zwi-schen Variablen und Fällen folgt jedoch unter-schiedlichen Maßstäben oder Metriken. Für dieInterpretation des Zusammenhanges zwischenVariablen und Fällen kann allerdings deren ge-meinsame Expansion vom Ursprung des Plotsherangezogen werden. Die gemeinsame Rich-tung der Fälle – die Buchstaben stehen für dieEinzelfallstudien – mit den Variablen vom Ur-sprung aus zeigt, dass Betrieb B exemplarischfür hohe Innovativität und Fortschrittsfähigkeitsteht. Schwach ausgeprägt sind die Variablendagegen in den Fällen D und J. Im mittlerenBereich liegt der Fall I. In der Ergebnisdarstellungwerden zweckmäßigerweise die Fallstudien B,I, D und J berücksichtigt, um die Variation derBranchenbefragung zu erläutern.

Zum Schluss – ein BildDie vorgeschlagene Methodik ersetzt nicht diesprichwörtlichen tausend Worte. Das Bild hilftjedoch, die dichten Fallstudienbeschreibungenden auf großzahliger Basis ermittelten zentralenTendenzen zuzuordnen.

-1.5 -1.0 -0.5 0.0 0.5 1.0 1.5

-1.0

-0.5

0.0

0.5

1.0

1.5

2.0

InnovativitätResponsivität

Handlungsfähigkeit

Erkenntnisfähigkeit

Innovativität +Responsivität +

Erkenntnisfähigkeit +

Innovativität –Responsivität –

Handlungsfähigkeit –

Erkenntnisfähigkeit –

A

EF

D

J

I

Handlungsfähigkeit +

G

C

H

Dim 1 (28.28%)

B

35præview Nr. 1 | 2018

Wenzel Matiaske

Der AutorProf. Dr. Wenzel Matiaske ist Professor fürBetriebs wirtschaftslehre, insbesondere Leader -ship and Labour Relations an der Helmut-Schmidt-Universität – Universität der Bundes -wehr in Hamburg.

LiteraturBehrends, T. & Martin, A. (2006). Personalarbeit in Klein- und

Mittelbetrieben: Empirische Befunde und Ansatzpunkte zuihrer theoretischen Erklärung. Zeitschrift für KMU und Entre-preneurship, H. 1, S. 25-49.

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Grözinger, G. & Matiaske, W. (Hrsg., 2005). Deutschland regional– Sozialwissenschaftliche Daten im Forschungsverbund. Mün-chen, Mering: Hampp.

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Maretzke, S. (2013). Regionales Einkommen in Abhängigkeit vonregionalen Strukturunterschieden. Informationen zur Raum-entwicklung, H. 1, S. 67-84.

Schlömer, N., Kay, R., Rudolph, W. & Wassermann, W. (2008).Arbeitnehmerbeteiligung in mittelständischen Unternehmen.WSI Mitteilungen, H. 5, S. 254-260.

Söllner, R. (2014). Die wirtschaftliche Bedeutung kleiner undmittlerer Unternehmen in Deutschland. Wirtschaft und Statis -tik, H. 1, S. 40-50.

Sydow, J. & Duschek, S. (2011). Management interorganisatio-naler Beziehungen: Netzwerke, Cluster, Allianzen. Stuttgart:Kohlhammer.

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Region in der Arbeitsforschung?Den Debatten zum Megatrend Globalisierungzum Trotz erlebt die Regionalforschung auchin den Sozial- und Wirtschaftswissenschaftenseit rund zwei Dekaden eine erstaunliche Re-naissance (Grözinger & Matiaske, 2005). Bei nä-herer Betrachtung ist erkennbar, dass einigeThemen rund um Arbeit – wie Beschäftigung,Entgelt oder Qualifikation – aufgrund der ge-ringen Mobilität des Faktors Arbeit in Relationzum Kapital „immer schon“ regional verankertsind. Dass in der volkswirtschaftlich dominiertenArbeitsmarktforschung und am Rande auch inder betriebswirtschaftlichen Organisations- undPersonalforschung regionale Gesichtspunkteeine Rolle spielen, ist allerdings kein Argumentdafür, dass diese Dimension auch in der Ar-beitsforschung selbst von Bedeutung sein sollte.Individuum, Gruppe und Betrieb erschienen viel-mehr bislang als Ebenen ausreichend, um zen-trale Fragestellungen der menschengerechtenGestaltung von Arbeit zu beantworten.

Jedoch reichen Themen, welche die Arbeitsfor-schung in jüngerer Zeit beschäftigen – z.B. Ko-operationen über Betriebsgrenzen hinweg, In-novation und selbst Fragen der Vereinbarkeitvon Arbeits- und privatem Leben – über denDreiklang der Ebenen hinaus und verweisen aufdie Region als zu erschließender Dimension.Doch bevor die These anhand der angesproche-nen Beispiele erläutert wird, ist die Verbindungdieser Themen mit Unternehmensgröße zu skiz-zieren und ein Blick auf die räumlich höchstungleiche Verteilung von Großunternehmen inDeutschland zweckmäßig.

Kleine Unternehmen, große UnternehmenKleine und mittlere Unternehmen (KMU), diegut 99% der Unternehmen in Deutschland aus-machen, beschäftigen rund 60% der Arbeit-nehmer (Söllner, 2014). In Kleinstunternehmen(bis zu neun Mitarbeiter/-innen) sind rund 16%der Arbeitnehmer beschäftigt. Kleine Unterneh-men (10-49 MA) sind Arbeitgeber für 22% undmittlere Unternehmen (50-249 MA) für etwa19% der Beschäftigten. KMU tragen insgesamtetwa 47% zur Bruttowertschöpfung bei, wobeiauf die Unternehmen dieser Größenklasse nurrund 40% der Bruttoinvestitionen in Sachan-

Eine kommende Dimension der Arbeitsforschung: RegionWenzel Matiaske

lagen entfallen. Diese Zahlen verdeutlichen so-wohl die ökonomische Bedeutung von KMU alsArbeitgeber als auch deren vielzitierte vermin-derte Ressourcenausstattung im Vergleich zugroßen Unternehmen.

Jedoch sind die wenigen Großunternehmen Ori-entierungspunkte – nicht nur in der betriebs-wirtschaftlichen Forschung und Lehre. Verständ-licherweise, denn die betriebswirtschaftlichenTeildisziplinen finden in der funktional diffe-renzierten Unternehmung institutionelle An-sprechpartner in Vorständen und Abteilungen.Das Argument ließe sich allerdings nicht nurfür betriebswirtschaftliche Teildisziplinen wieBeschaffung und Absatz, Personal und Organi-sation, Finanzierung, Rechnungswesen undSteuern usw., sondern auch für andere Diszip-linen der Arbeitsforschung entfalten. Selbstver-ständlich sind beispielsweise auch Organisati-ons- und Personalentwicklung, Personalführungund Diversitätsmanagement oder Arbeitsschutzund betriebliches Gesundheitsmanagement inder großen Unternehmung institutionalisiert.Die betriebliche Mitbestimmung, wichtiger Pra-xispartner der Arbeitsforschung, korreliert mitder Unternehmensgröße. Nur in 10% der mit-bestimmungsfähigen Betriebe existiert ein Be-triebsrat. Mit der Unternehmensgröße steigtdieser Anteil sprunghaft an. Bereits in der Grö-ßenklasse der Unternehmen von 100 bis 249MA haben bereits 60% einen Betriebsrat (Schlö-mer et al., 2008).

Der Eindruck, dass kleine Unternehmen lediglichgeschrumpfte Großunternehmen sind und sichan deren funktionaler Differenzierung und Pro-fessionalisierung orientieren lassen, den nichtnur die Lektüre von Lehrbüchern, sondern auchdie Rezeption einer Vielzahl spezialisierter Stu-dien hinterlässt, ist nicht nur genealogischgrundlegend falsch. KMU sind keine Großunter -nehmen mit beschränkter Ressourcenausstat-tung, sondern finden funktionale Äquivalentefür (manche) ausdifferenzierte Problemlösungin Großunternehmen (Behrends & Martin, 2006).Dies auch im Zusammenwirken mit anderenUnternehmen, wie die jüngere Forschung zuAllianzen, Netzwerken und Clustern belegt(Sydo w & Duschek, 2011). Daran wird anzu-knüpfen sein.

Wirtschaftliche und soziale RaumordnungUnternehmen verteilen sich recht ungleich inder Fläche. Insbesondere östliche, aber auch inden als ländlich klassifizierten Raumordnungs-regionen im Norden und Südwesten Deutsch-lands sind deutlich geringere Betriebsgrößentypisch als in städtischen Regionen oder solchenmit Verdichtungsansätzen (Maretzke, 2013). Soweisen beispielsweise die Uckermark, die RegionFlensburg-Schleswig oder die Rheinpfalz ledig-lich einen Anteil von bis zu 2% mittlerer undgroßer Unternehmen (mehr als 250 MA) auf,wohingegen dieser Anteil in Bielefeld, Osthessenoder Heilbronn deutlich über 4% liegt (INKARBezug: Raumordnungsregionen, 2014). Mit demAnteil größerer Unternehmen in der Regionkorreliert das Niveau der Arbeitnehmerentgelteebenso wie die Patentintensität. Es sind abernicht nur ökonomische, sondern auch infra-strukturelle Variablen und Aspekte der Daseins-fürsorge, welche mit dem Besatz an größerenBetrieben in der Region kovariieren. Mit Blickauf die exemplarisch genannten Themen sinddies beispielsweise die Verfügbarkeit von Breit-band-Anbindungen ans Internet, die Verkehrs-infrastruktur und der öffentliche Nahverkehrsowie die Bereitstellung von Kindertagesstättenoder Pflegeeinrichtungen.

Arbeitsforschung und RaumstrukturKMU sind anders als größere Unternehmen al-lein nicht in der Lage, die an Arbeitgeber vonverschiedenen Seiten gestellten Anforderungenzur Innovation oder zur Vereinbarkeit zu erfül-len. Während aber Themen wie Innovation be-reits seit den 1980er Jahren (Bruder & Ellwein,1980) im Fokus der Forschung und Förderpraxisstehen, ist die Entwicklung bezüglich „weicher“Faktoren erst am Anfang. Vor dem Hintergrunddes Arbeitsangebotes in Zeiten des demografi-schen Wandels ist es jedoch geboten, Fragenwie z.B. der Vereinbarkeit auf KMU und vor al-lem auch auf überwiegend klein- und mittel-ständisch geprägten Regionen zu fokussieren.Die Arbeitsforschung wird analytisch Wegstre-cken und Nahverkehr betrachten und praktischLösungen im Verbund von KMU, Trägern undKommunen zur Schaffung von Betreuungsmög-lichkeiten erarbeiten, um „gute Arbeit“ und Ver-einbarkeit nicht nur in Zentren, sondern auchin der Peripherie zu ermöglichen.

Anteil der Betriebe mit mehr als 250 SV-Beschäftigten anden Betrieben insgesamt in ‰

bis unter 2,782,78 … 3,23,2 … 3,63,6 … 4,014,01 und mehr

Raumbezug: RaumordnungsregionenZeitbezug: 2014Datengrundlage: Unternehmensregister

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Jörg Schlüpmann, Jana Hausmann, Kurt-Georg Ciesinger

Die Autorin, die AutorenJörg Schlüpmann ist stellvertretender Zweig-stellenleiter Westfalen und Leiter der AbteilungEntwicklung und Marketing der DeutschenAngestellten-Akademie GmbH.

Jana Hausmann ist Diplom-Pädagogin undFachberaterin für Betriebliches Gesundheits-management. Sie ist pädagogische Mitarbei-terin der DAA und stellvertretende Projekt -leiterin des Projektes BalanceGuard.

Kurt-Georg Ciesinger ist Leitender Projekt -koordinator in der Abteilung Entwicklung undMarketing der DAA.

erfolgversprechend sind. Die Stabilisierung desBGM-Prozesses hängt entscheidend davon ab,ob in der Anfangsphase Erfolge erzielt werden.Die eine oder andere Führungskraft in einemUnternehmen ist vielleicht selbst Fachmann/-frau für Gesundheitsmanagement oder Aspek-ten davon, z.B. als ehemalige Leistungssport -lerin, als Hobbykoch oder durch persönliche Be-troffenheit von Krankheit und Beschwerden.Solche „zufällige Expertise“ kann dem BGM-Prozess einen erheblichen Schub geben.

Evaluation und Fortschreibung in einem kleinen UnternehmenFür ein kleines Unternehmen genügt sicherlichein pragmatisches Verfahren:

1. Nach jeder Maßnahme (z.B. einem Trainings-kurs) werden die Teilnehmer/-innen befragt,ob ihnen die Maßnahme gefallen und ob sieihnen subjektiv geholfen hat. Damit geht dieFrage einher: Lohnt es sich, diese Maßnahmezu wiederholen?

2. Nach einem Jahr setzt man sich im Kreis derBelegschaft zusammen und lässt die Aktivi-täten des BGM Revue passieren: Was hattenwir uns vorgenommen? Was haben wir tat-sächlich getan? Was war erfolgreich, waseher nicht? Wie wollen wir im nächsten Jahrweiter vorgehen?

Diese Vorgehensweise ist ein sehr entschlacktesEvaluationsverfahren, stellt und beantwortetaber die gleichen Fragen und verfolgt die glei-chen Ziele wie eine formale und aufwändigeEvaluation in Großunternehmen.

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Aber es ist auch nicht nötig, extrem formali-sierte Strukturen in einem kleinen Betrieb zuinstallieren, denn bei allen Problemen und Res-triktionen von kleinen Unternehmen haben sieauch erhebliche Vorteile gegenüber großen.

Zunächst einmal ist die Sozialstruktur in kleinenUnternehmen sehr transparent, denn man kenntsich. Man kennt auch meist die gegenseitigenProbleme und redet mehr oder weniger offendarüber. Aufwändige Analysen erübrigen sichdamit oft, denn man weiß, wer Übergewicht,wer Rückenprobleme und wer Stresssymptomehat. Man muss dieses Wissen nur einmal syste-matisiert zusammenfassen.

Der zweite große Vorteil sind die kurzen Wegevon der Idee bis zur Entscheidung und Umset-zung. Ist die Leitung von etwas überzeugt, dannmuss sie nicht das Einverständnis von höherenHierarchieebenen einholen. Das verkürzt diePlanungszeiten ganz erheblich.

Drittens können Maßnahmen viel zielgenauerals bei Großunternehmen geplant werden. Wäh-rend die Ernährungsberatung in einem Groß-unternehmen an tausenden Beschäftigten undihren Problemen orientiert sein muss, geht esin einem Kleinunternehmen nur um Herrn Mül-ler oder Frau Schulz.

Viele Schritte, die in einem größeren Unterneh-men formal umgesetzt werden müssen, könnendaher in einem kleinen Unternehmen pragma-tisch, intuitiv und „miniaturisiert“ erfolgen. Wiealso sollten die Schritte eines BGM in einemkleinen Unternehmen ganz konkret aussehen?

Betriebliches Gesundheitsmanagement umfasst, wie jeder systematisch

angelegte Veränderungsprozess, folgende logische Schritte: Zieldefinition,

Analyse, Maßnahmenableitung, Durchführung, Evaluation und Fort-

schreibung. Dieses Vorgehen ist im Prinzip in kleinen und großen Unter-

nehmen gleich. Es muss aber sehr unterschiedlich „interpretiert“ werden,

damit sich kleinere Unternehmen nicht überfordern.

Muddling-through statt Management? Die Praxis des BGM in kleinen Unternehmen Jörg Schlüpmann, Jana Hausmann, Kurt-Georg Ciesinger

Zieldefinition in einem kleinen UnternehmenWenn der Gesundheitsprozess in einem kleinenUnternehmen gelingen soll, ist die Leitung (In-haber/-in, Geschäftsführung) der Dreh- undAngel punkt. Auch wenn die Idee vielleicht vonjemand anderem kommt, muss die Unterneh-mensleitung hinter dem Projekt stehen undsollte den Prozess initiieren. Verantwortlich fürdas BGM muss aber nicht zwangsläufig eineLeitungsperson selbst sein. Im Gegenteil hat essich als sinnvoll erwiesen, hier andere Personeneinzubeziehen, weil die Leitung in der Regel imAlltagsgeschäft stark belastet ist. Vielleicht ha-ben ganz andere Personen im Unternehmen In-teresse an der Thematik oder sogar eine entspre -chende Vorbildung im Bereich Gesundheit.

Analyse in einem kleinen UnternehmenDas Ziel der Analyse ist herauszubekommen,welche Gesundheitsgefährdungen im Betriebvorliegen und welche Unterstützungsbedarfebestehen. In einem Großunternehmen ist dasein komplizierter Prozess. In einem Kleinunter-nehmen fragt man einfach die Beschäftigtendirekt. Das kann formell geschehen, indem derVerantwortliche alle Mitarbeitenden interviewt.Man kann sich aber auch einfach in der Mittags -pause zusammensetzen oder abends treffen.Wer will, kann auch einen Fragebogen verteilen,aber meist ist das in kleinen Unternehmen garnicht nötig.

Die Themen, die behandelt werden müssen, sindaber die gleichen wie bei einer komplexen Mit-arbeiterbefragung: Arbeitsplatz, Arbeitsinhalte,Organisation, Führung, eigenes Präventionsver-halten, Arbeitszufriedenheit, Stressempfinden,Befinden und Gesundheit.

Maßnahmenableitung in einemkleinen UnternehmenEs bietet sich auch in kleinen Unternehmen an,die Ergebnisse der Bedarfserhebung schriftlich,z.B. in Form von kleinen Listen, festzuhalten.Diese Listen mit Problemen, Wünschen und kon-kreten Bedarfen werden mit den Kollegen bespro -chen. Wiederum ist es in kleinen Unternehmenmöglich, dies mit wenig formellem Aufwandam Rande des Arbeitstages zu besprechen.

Die Maßnahmenableitung muss sich am Mach-baren orientieren. Nur Maßnahmen, die dieMöglichkeiten des Kleinunternehmens nicht fi-nanziell oder personell übersteigen, sollten pro-jektiert werden. Vor allem muss bedacht werden,dass die Maßnahmen auch längerfristig reali-sierbar sein müssen.

Es ist aber auch möglich, sich externer Unter-stützung zu bedienen, vor allem bei den Kran-kenkassen, Berufsgenossenschaften und derRentenversicherung. Manche Branchen- oderUnternehmensverbände und Gewerkschaftenbieten ebenfalls kostenlose oder -günstige Hil-fen an. Die vereinbarte Maßnahmenliste sollteim Betrieb „veröffentlicht“, also z.B. am schwar-zen Brett ausgehängt werden.

Durchführung in einem kleinen UnternehmenDie Umsetzung muss unbedingt schrittweiseerfolgen, sonst verzettelt man sich gerade ineinem kleinen Unternehmen. Zudem ist es un-wahrscheinlich, dass alle Beschäftigten gleich-zeitig an allen Angeboten teilnehmen möchten. Erfahrungsgemäß ist es vorteilhaft, mit Themenzu beginnen, die gleichermaßen dringlich und

Qualität des BGM in kleinen Unternehmen In der wissenschaftlichen Diskussion wird oftin Zweifel gezogen, ob ein pragmatisches Vor-gehen wie das beschriebene noch ein „echtes“betriebliches Gesundheitsmanagement ist. Wirkönnen aber nur alle Verantwortlichen in klei-nen Unternehmen bestärken: Ja, das ist es!

BGM bedeutet, dass ein Unternehmen sich sys-tematisch darum bemüht, seinen Beschäftigtengute Arbeitsbedingungen zu bieten und sie beider eigenen Gesundheitsfürsorge zu unterstüt-zen. Der Prozess darf nicht beliebig und punk-tuell, sondern soll überlegt sein. Gesundheits-prävention muss aus den Bedarfen herausentwickelt und soll einer Wirksamkeitsprüfungunterzogen werden. Alle diese Kriterien werdenauch durch das oben beschriebene pragmati-sche Verfahren erfüllt.

Zudem ist BGM in kleinen Unternehmen einProzess, der alle Beschäftigten persönlich ein-beziehen kann und so ganz eng an den indivi-duellen Bedarfen ausgerichtet ist. Ein BGM-Prozess in kleinen Unternehmen, der vonTransparenz, Partizipation und Engagement ge-tragen ist, kann so durchaus ebenso effektivsein wie in einem Großunternehmen mit deut-lich höherem Ressourceneinsatz.

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Paul Fuchs-Frohnhofen, Kurt-Georg Ciesinger

Die AutorenDr.-Ing. Paul Fuchs-Frohnhofen ist Geschäfts-führer der MA&T Sell & Partner GmbH inWürse len und Sprecher der Fokusgruppe 2„Neue Ansätze des Arbeits- und Gesundheits-schutzes im Pflege- und Dienstleistungs -sektor“ im Förderschwerpunkt „PräventiveMaßnahmen für die sichere und gesunde Arbeit von morgen“ des Bundesministeriumsfür Bildung und Forschung.

Kurt-Georg Ciesinger ist Leitender Projekt -koordinator bei der DAA, Geschäftsführer dergaus gmbh medien bildung politikberatungund Sprecher der Fokusgruppe 4 „Individuali-sierte und präventive Arbeitsgestaltung“.

LiteraturFuchs-Frohnhofen, P., Altmann, T., Döring, S., Felscher, A. & Weih-

rich, M. (Hrsg., 2017). Neue Ansätze des Arbeits- und Gesund-heitsschutzes im Pflege- und Dienstleistungssektor. Weimar:Bertuch.

Fuchs-Frohnhofen, P., Blume, A., Ciesinger, K.-G., Gessenich, H.,Hülsken-Giesler, M., Isfort, M., Jungtäubl, M., Kocks, A. & Weih-rich, M. (2018). Memorandum „Arbeit und Technik 4.0 in derprofessionellen Pflege“. Würselen: Verlag der MA&T GmbH.

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Der demografische Wandel trifft vor allem denPflege- und Dienstleistungssektor. Durch eineimmer älter werdende Gesellschaft steigt ei-nerseits die Nachfrage an ambulanten Pflege-leistungen, anderseits macht es der Fachkräfte -mangel besonders schwierig, geeignete Nach-wuchskräfte zu finden. Die Auswirkungen sindvor allem für das Pflegepersonal spürbar: IhrArbeitsalltag ist häufig durch emotionale Be-lastungen, Zeitdruck und enge Arbeitstaktunggekennzeichnet – bei gleichzeitig ungünstigenfinanziellen Rahmenbedingungen. In diesemSpannungsfeld liegt die Arbeit der Fokusgruppe2 „Neue Ansätze des Arbeits- und Gesundheits-schutzes im Pflege- und Dienstleistungssektor“im Förderschwerpunkt „Präventive Maßnahmenfür die sichere und gesunde Arbeit von morgen“des Bundesministeriums für Bildung und For-schung.

Die fünf Forschungsverbünde der Fokusgruppebefassen sich sowohl mit einer nachhaltigenPersonalentwicklung und Gesundheitsförderungals auch mit einer präventiven Arbeitsgestaltungfür Pflegepersonal und Führungskräfte.

Das Memorandum „Arbeit und Technik 4.0in der professionellen Pflege“Paul Fuchs-Frohnhofen, Kurt-Georg Ciesinger

Um alltägliche Belastungen zu reduzieren, kom-men Maßnahmen der Verhaltens- und Verhält-nisprävention zum Einsatz. Mit den durch diebeteiligten Verbundprojekte entwickelten Trai-nings, Coachings und smarten Technologien solles gelingen, die Attraktivität der Pflegeberufezu steigern und dem Fachkräftemangel entge-genzuwirken.

Die Fokusgruppe erarbeitete eine Broschüre, umLösungsansätze im Pflege- und Dienstleistungs-sektor aufzuzeigen (Fuchs-Frohnhofen et al.,2017). Diese gemeinsame Arbeit der Expertenund die Diskussionen um die künftige Gestal-tung von „Arbeit und Technik 4.0“ in der Pflegemündete in ein Memorandum (Fuchs-Frohn -hofen et al., 2018), dessen Kurzfassung hier ab-gedruckt ist.

Die ausführliche Langfassung des Memoran-dums steht auf der Internetseite www.memo-randum-pflegearbeit-und-technik.de zum Down-load bereit.

Ausgangspunkt dieser Positionierung ist ein Ver-ständnis von Pflege als Interaktionsarbeit anund mit Menschen, die einer besonderen Ge-staltung und Wertschätzung bedarf.

Die Unterzeichnenden sind sich einig, dassPflege kräfte stärker als bisher von Technik pro-fitieren sollten. Hierfür sind sie in die Gestaltungvon Technik einzubeziehen, die sie und ihre kon-krete praktische Arbeit betrifft.

Nur hierdurch kann sichergestellt werden, dassdie Beschäftigten in Bezug auf professionellePflegearbeit von einem zunehmenden Technik-einsatz profitieren können. Denn bislang zeigtsich empirisch eine unzureichende Einbindungprofessioneller Pflege in Prozesse der Technik-entwicklung und Technikeinführung. Das Inno-vationspotenzial neuer Technologien in derPflege arbeit wird auf diese Weise nicht zu-kunftsweisend genutzt.

Für eine gute Gestaltung von Arbeit 4.0 in derPflege bedarf es einer konsequenten, inter -disziplinären und zielgerichteten Entwicklung,Einfüh rung und Folgenabschätzung sozio-techni scher Innovationen gemeinsam mit derprofessionellen Pflege. Technikeinsatz in derPflegearbeit muss im Sinne der Gesundheit undder „guten Arbeit“ der Pflegenden sowie imSinne der Lebensqualität der Pflegeempfänger/-innen präventiv und kontinuierlich unterstüt-zend wirksam werden.

Die Unterzeichnenden dieses Memorandums re-gen an:

æ die besondere Bedeutung von Pflegearbeitals Interaktionsarbeit anzuerkennen, wertzu -schätzen (auch ökonomisch!) und bei jedemVeränderungsprozess zu beachten,

æ vorhandene pflegeunterstützende bzw. pfle-gerelevante Technik zu sichten, einer kriti-schen Prüfung zu unterziehen und zur För-derung von Arbeitszufriedenheit und Ge-sundheit anzupassen bzw. einzuführen,

æ Entwicklungs- und Einführungsprozesse fürTechnikunterstützung in der professionellenPflege als sozio-technische Innovationspro-zesse zu betreiben,

æ nicht nur technische Funktionalität zu entwi -ckeln, sondern die Einbindung neuer Techno -logien in pflegerische Arbeits- und Organisa -tionsprozesse samt deren Spezifika rechtzei tigund ausreichend zu berücksichtigen,

æ die relevanten Akteurinnen und Akteure derPflege explizit an diesen Prozessen zu betei-ligen und ausreichende Ressourcen zur Mit-wirkung und Qualifizierung einzuplanen,

æ die Bewährung in der Praxis als wichtigesErfolgskriterium für neue Technologien inder Pflege zu definieren,

æ geeignete Maßnahmen zu entwickeln, umbestehende Belastungen und künftige Risikenzu reduzieren, denen Pflegekräfte durch die(digital-)technikgetriebene Formalisierungvon Arbeitsprozessen ausgesetzt sind,

æ die Förderung der Gesundheit und die Ar-beits- und Lebensqualität von Pflegendenund Pflegeempfängerinnen und -empfän-gern als Zielkrite rium beim Technikeinsatzanzuerkennen,

æ eine die Spezifika der professionellen Pflegeberücksichtigende Technikfolgenabschätzungzum integrativen Bestandteil der Technikent -wicklung im Bereich der Pflege zu machen.

Das Memorandum richtet sich an Politik undVerbände, an Leitungskräfte und Beschäftigtein Pflegeeinrichtungen sowie an Unternehmenim Umfeld von pflegebezogener Technologie-entwicklung; außerdem an Forschungsförderer,Stiftungen und Wissenschaft.

Wir fordern die zuständigen Akteurinnen undAkteure auf, die genannten Anregungen bei derEntwicklung, Planung und Einführung neuerTechnologien für eine gute Gestaltung von Pfle-gearbeit 4.0 zu berücksichtigen.

Von der Politik erwarten wir eine Gestaltungguter Rahmenbedingungen für die Pflegearbeitsowie die Berücksichtigung der oben genanntenAusrichtungen bei der Entwicklung von Aus-schreibungen und Förderprogrammen.

Paul Fuchs-Frohnhofen, Andreas Blume, Kurt-Georg Ciesinger, Helga Gessenich, Manfred Hülsken-Giesler, Michael Isfort, Marc Jungtäubl, Andrea Kocks, Martina Patz, Margit Weihrich

Die Langfassung des Memorandums finden Sie unter www.memorandum-pflegearbeit-und-technik.de.

Memorandum „Arbeit und Technik 4.0 in der professionellen Pflege“ – Kernaussagen

Das hier vorliegende Memorandum „Arbeit und Technik 4.0 in der professionellen

Pflege“ stellt die gemeinsame Positionierung der Unterzeichnenden zur nach -

haltigen und zukunftsfähigen Gestaltung und Implementierung von technischen

Innovationen im Arbeitsbereich von Pflegekräften dar.