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KREBS : Warum wir ihn nicht besiegen sollten GEFÄHRLICHE SCHÖNHEIT Tumore bestehen nicht nur aus einem Typ Zellen, sondern aus Tausenden, manchmal Millionen unter- schiedlicher Mutationen – wie die Farben dieses 3-D-Bildes einer realen Wucherung zeigen. Je mehr verschiedene Zellen, desto schwieriger – und gefähr- licher – die Therapie: Wenn sie nur einige Zellen beseitigt, haben andere umso mehr Kraft und Raum zu wachsen MEDIZIN 116 Kampf gegen Tumore hieß bislang: sie möglichst zu beseitigen. Schnell und gründlich. Vielleicht ist das genau der falsche Ansatz. Die neueste Forschung weist in eine ganz andere Richtung Text: ANKE SPARMANN A ustherapiert. Ein grausames Wort, es kappt das letzte Fädchen Hoff- nung, das Krebskranke mit dem Leben verbindet. Dabei sieht es am Anfang der Behandlung oft gut aus. Die Therapie schlägt an. Der Tumor schrumpft. Dann jedoch, manchmal schon nach Wochen, zuweilen erst nach Jah- ren, kehrt der Krebs zurück. Oft bildet er Metastasen. Zuletzt zeigt kein Mittel mehr Wirkung. Allein in Deutschland, nur im Jahr 2016, werden Ärzte voraus- sichtlich 224 000 Krebspatienten nicht mehr helfen können. Sie haben alles versucht. Zu viel? In den vergangenen Monaten habe ich mit Forschern gesprochen, die sagen, dass viele Krebskranke sterben, nicht obwohl, sondern weil sie mit hohen Dosen starker Medikamente behandelt wurden. Diese Forscher sprechen weder von tödlichen Ne- benwirkungen, noch halten sie alter- nativ obskure Wunderelexiere bereit. Ihrer Meinung nach verfolgt die Krebs- medizin seit Jahrzehnten ein aussichtslo- ses Ziel – und ihre Mittel sind dazu ver- dammt zu versagen. Doch der Reihe nach. Ein Sommertag in Berlin. Ich bin mit Carlo Maley verabredet. Wie wohl viele denke ich bei Krebs sofort an Chemothe- rapien. An Zellgifte, die Patienten in die Adern geschleust werden, um größtmög- lichen Schaden unter den Tumorzellen anzurichten. Was ist daran verkehrt? „Unsere Vorstellung von Krebs“, ant- wortet Maley, 47. „Die meisten Menschen halten einen Tumor für einen Haufen wild wuchernder Zellen. Doch das Wachstum von Krebs hat System.“ Er vergleicht das Fortschreiten der Krankheit mit der Evo- lution der Arten: So, wie sich das Leben auf der Erde ausdifferenziert habe, entwi- ckele sich auch ein Tumor ständig weiter. „Ein fortgeschrittener Krebs besteht aus Milliarden von Zellen. Keine zwei da- von sind gleich. Sobald wir das begriffen haben“, sagt Maley, „müssen wir uns fra- gen: Wie reagieren die unterschiedlichen Zelltypen auf eine Chemotherapie?“ Allerdings: Carlo Maley hat nie einen Kranken behandelt. Er trägt an diesem Tag auch keinen weißen Kittel, sondern Hemd und Jeans, und ich laufe zu unserem Tref- fen nicht über Klinikflure, sondern durch die Villenkolonie Grunewald. In einem der Gründerzeitbauten ist das Wissen- schaftskolleg zu Berlin untergebracht, wo Maley mit anderen Forschern über Krebs grübelte – alle sind Ökologen oder Biolo- gen wie er selbst. Grundwissen Biologie, Darwin, Evo- lutionsgesetze: Wer am besten an seine Umwelt angepasst ist, der überlebt. Maley: „Genau. Nach einer Chemo bleiben im Körper jene Krebszellen zurück, denen das Medikament nichts anhaben konnte. Diese lesen wir mit der Therapie regelrecht aus. Das ist Wahnsinn. Bei ei- nem Rückfall besteht der Tumor dann nur noch aus diesen resistenten Zellen.“ Was, frage ich Maley, wäre denn die Alternative? „Statt Heilung sollten wir uns zum Ziel setzen, den Verlauf der Krankheit zu verlangsamen“, sagt er. „Patienten könnten mit Krebs leben, statt an ihm zu sterben!“ Braucht die Krebsmedizin Impulse aus anderen Forschungsrichtungen? Müs- sen Ärzte radikal umdenken, um mehr Leben zu retten? Habe ich im Laufe dieser Recherche mit einem künftigen Nobel- GEO 11 2016 117

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KREBS: Warum wir

ihn nichtbesiegen

solltenGEFÄHRLICHE SCHÖNHEITTumore bestehen nicht nur aus einem Typ Zellen, sondern aus Tausenden, manchmal Millionen unter-schiedlicher Mutationen – wie die Farben dieses 3-D-Bildes einer realen Wucherung zeigen. Je mehr verschiedene Zellen, desto schwieriger – und gefähr- licher – die Therapie: Wenn sie nur einige Zellen beseitigt, haben andere umso mehr Kraft und Raum zu wachsen

M E D I Z I N

116

Kampf gegen Tumore hieß bislang: sie möglichst zu beseitigen. Schnell und gründlich. Vielleicht ist das genau der falsche Ansatz. Die neueste Forschung weist in eine ganz andere Richtung

Text: ANKE SPARMANN

A ustherapiert. Ein grausames Wort, es kappt das letzte Fädchen Hoff-

nung, das Krebskranke mit dem Leben verbindet. Dabei sieht es am Anfang der Behandlung oft gut aus. Die Therapie

schlägt an. Der Tumor schrumpft. Dann jedoch, manchmal

schon nach Wochen, zuweilen erst nach Jah- ren, kehrt der Krebs zurück. Oft bildet er

Metastasen. Zuletzt zeigt kein Mittel mehr Wirkung.

Allein in Deutschland, nur im Jahr 2016, werden Ärzte voraus-

sichtlich 224 000 Krebspatienten nicht mehr helfen können. Sie

haben alles versucht. Zu viel?In den vergangenen Monaten

habe ich mit Forschern gesprochen, die sagen, dass viele Krebskranke sterben, nicht obwohl, sondern weil sie mit hohen Dosen starker Medikamente behandelt wurden. Diese Forscher sprechen weder von tödlichen Ne-

benwirkungen, noch halten sie alter-nativ obskure Wunderelexiere bereit.

Ihrer Meinung nach verfolgt die Krebs-medizin seit Jahrzehnten ein aussichtslo-ses Ziel – und ihre Mittel sind dazu ver-dammt zu versagen.

Doch der Reihe nach.Ein Sommertag in Berlin. Ich bin mit

Carlo Maley verabredet. Wie wohl viele denke ich bei Krebs sofort an Chemothe-rapien. An Zellgifte, die Patienten in die Adern geschleust werden, um größtmög-lichen Schaden unter den Tumorzellen anzurichten. Was ist daran verkehrt?

„Unsere Vorstellung von Krebs“, ant-wortet Maley, 47. „Die meisten Menschen halten einen Tumor für einen Haufen wild wuchernder Zellen. Doch das Wachstum

von Krebs hat System.“ Er vergleicht das Fortschreiten der Krankheit mit der Evo-lution der Arten: So, wie sich das Leben auf der Erde ausdifferenziert habe, entwi-ckele sich auch ein Tumor ständig weiter.

„Ein fortgeschrittener Krebs besteht aus Milliarden von Zellen. Keine zwei da-von sind gleich. Sobald wir das begriffen haben“, sagt Maley, „müssen wir uns fra-gen: Wie reagieren die unterschiedlichen Zelltypen auf eine Chemotherapie?“

Allerdings: Carlo Maley hat nie einen Kranken behandelt. Er trägt an diesem Tag auch keinen weißen Kittel, sondern Hemd und Jeans, und ich laufe zu unserem Tref-fen nicht über Klinikflure, sondern durch die Villenkolonie Grunewald. In einem der Gründerzeitbauten ist das Wissen-schaftskolleg zu Berlin untergebracht, wo Maley mit anderen Forschern über Krebs grübelte – alle sind Ökologen oder Biolo-gen wie er selbst.

Grundwissen Biologie, Darwin, Evo-lutionsgesetze: Wer am besten an seine Umwelt angepasst ist, der überlebt.

Maley: „Genau. Nach einer Chemo bleiben im Körper jene Krebszellen zurück, denen das Medikament nichts anhaben konnte. Diese lesen wir mit der Therapie regelrecht aus. Das ist Wahnsinn. Bei ei-nem Rückfall besteht der Tumor dann nur noch aus diesen resistenten Zellen.“

Was, frage ich Maley, wäre denn die Alternative?

„Statt Heilung sollten wir uns zum Ziel setzen, den Verlauf der Krankheit zu verlangsamen“, sagt er. „Patienten könnten mit Krebs leben, statt an ihm zu sterben!“

Braucht die Krebsmedizin Impulse aus anderen Forschungsrichtungen? Müs-sen Ärzte radikal umdenken, um mehr Leben zu retten? Habe ich im Laufe dieser Recherche mit einem künftigen Nobel-

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Verheerende Auslese: herkömmliche ChemotherapieHerkömmliche Chemotherapien greifen durch hohe Wirkstoff-dosierungen so viele Krebszellen des Ausgangstumors (1) an wie möglich. Zunächst mit Erfolg: Der Tumor schrumpft (2). Doch meist über leben einige resistente Zellen (lila) und breiten

sich weiter aus (3). Eine solche Therapie wirkt als ein evolutionä-rer Mechanismus: als Auslese einiger besonders lebensfähiger Zellen. Mit dem Ergebnis, dass der Krebs nicht besiegt, sondern gestärkt wird.

HERKÖMMLICHE CHEMOTHERAPIE

(1) (2) (3)

preisträger geredet? Oder arbeiten sich Forscher wie Carlo Maley an einer Idee ab, die für die onkologische Praxis keinerlei Bedeutung haben wird? Die Antworten auf diese Fragen fallen unterschiedlich aus, abhängig davon, wem man sie stellt.

Und an dieser Stelle des Artikels muss eine Warnung stehen: Er wird am Ende keine Behandlungsdurchbrüche verspre-chen, er kann Todkranken keine Hoffnung auf Besserung machen. Zu lesen ist ein Bericht über ein junges Forschungsfeld. Die klinischen Studien, die auf seinen Er-kenntnissen beruhen, lassen sich an einer Hand abzählen. Wohl aber wächst die Zahl seiner Anhänger.

Viele von ihnen arbeiten in den USA.

B oston, Longwood Medical Area. Ei-ne Stadt in der Stadt, bestehend aus

Kliniken, Laboren, Apotheken. Pflegekräf-te in blauen Kitteln hasten über die Geh-wege. Unablässig jaulen die Sirenen von Rettungswagen. Mittendrin ein Hoch- haus mit gläserner Fassade und der Auf-schrift: Dana-Farber Cancer Institute. Es ist eines der weltweit bekanntesten Krebs-forschungs- und Behandlungszentren.

Kornelia Polyak forscht hier über Brustkrebs, die bei Frauen mit Abstand häufigste Tumorerkrankung. Als ich in ihr winziges Büro komme, studiert sie auf dem

Bildschirm gerade eine Gewebeprobe. Sie stammt, erklärt Polyak, von einem Brust-karzinom in fortgeschrittenem Stadium. Die unterschiedlichen Zelltypen des Tu-mors hat sie farblich sichtbar gemacht.

Das Ergebnis erinnert an eine geplatz-te Konfettibombe.

Kornelia Polyak erzählt, dass sie häu-fig nach Galápagos reise; Charles Darwin hat nach seinem Besuch des pazifischen Archipels seine Evolutionstheorie entwi-ckelt. Er erkannte, dass sich die Tierarten auf den 200 verschiedenen Inseln durch bestimmte Merkmale unterschieden – Er-gebnis der Anpassung an ihren jeweiligen Lebensraum. Als Musterbeispiel gelten auf Galápagos heimische Finken. Sie stammen von einer Art ab; doch abhängig vom Nahrungsangebot entwickelten sie unter-schiedliche Schnäbel. Schmale, spitze, um Insekten zu fangen. Oder dicke, klobige fürs Körnerknacken.

„Ich habe dieses Prinzip, bei dem jede kleinste Variation, sofern sie sich als nütz-lich erweist, erhalten bleibt, natürliche Auslese genannt“, schreibt Darwin 1859 in seinem Hauptwerk „Über die Entstehung der Arten“.

Dieses Prinzip erkennt Polyak wieder, wenn sie die verschiedenfarbigen Zellen des Tumorgewebes betrachtet. Jede Farb-nuance steht für eine spontane, zufällige

Veränderung des Erbguts. Manch neues Merkmal ist nutzlos. Ein anderes mag sich im Wettbewerb um Raum und Nährstoffe als vorteilhaft erweisen – oder die Chance der Zellen erhöhen, sich auszubreiten.

Das bedeutet, dass die Gewebeprobe, auf die wir blicken, nur eine Momentauf-nahme darstellt. Innerhalb von Tagen oder Wochen kann sich das Bild verändern. Man che Zelltypen sterben aus. Andere ver-mehren sich rasant. Wieder andere schi-cken sich an, neue Nischen zu erobern.

„Stellen Sie sich einen Tumor als Ei-mer voller bunter Bälle vor“, sagt Kornelia Polyak. Dann bittet sie mich, den Eimer in Gedanken umzustoßen. In meiner Fan-tasie rollen die Bälle in alle Richtungen, ein roter nach links, ein blauer nach rechts.

Jeder Ball steht für eine Krebszelle, die sich über die Lymph- oder Blutbahnen durch den Körper bewegt. Einige vermö-gen, sich fern des ursprünglichen Herdes anzusiedeln und zu vermehren, in Gehirn, Leber oder Lunge etwa. Dort herrscht ein völlig anderes Milieu als in der Region ihrer Herkunft. Es ist beispielsweise saurer oder ärmer an Sauerstoff.

Und wieder nimmt das Rad der Evo-lution Schwung auf: Diejenigen Zellen, die an die neuen Umweltbedingungen am besten angepasst sind, haben die größten Chancen zu überleben. Sie geben ihr Erb-

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Hoffnung für wenige: zielgerichtete TherapieDie zielgerichtete Therapie (targeted therapy) greift ausgewähl-te Krebszellen (gelb) des Ausgangstumors (1) an. Bei Patienten mit nur einem Zelltyp kann dies helfen, den Krebs zu besiegen. Besteht der Tumor allerdings auch aus Zellen, für die es kein

zielgenaues Medikament gibt, bleiben Tumorzellen übrig (2). Diese (lila, grün) bekommen durch die Ausmerzung der Konkur-renz die Chance, sich weiter auszubreiten. Der Tumor vergrößert sich wieder (3) – die Therapie ist gescheitert.

ZIELGERICHTETE THERAPIE

(1) (2) (3)

gut an die nächste Zellgeneration weiter. Dort treten neue Mutationen auf, und wie­derum können darunter Merkmale sein, die einen Vorteil bringen.

Was bedeutet das alles für die Be­handlung erkrankter Frauen?

„Im Moment erlaubt uns unsere For­schung lediglich, bessere Vorhersagen zu treffen, ob eine Therapie anschlägt: Je bunter das Bild bei der Diagnose, je mehr unterschiedlich gefärbte Bälle also in unserem vorgestellten Eimer sind, desto schlechter die Prognose. Kein Arzneimittel der Welt vermag all diese unterschiedlichen Zelltypen zu vernichten. Resistenzen“, sagt Kornelia Polyak, „sind vorprogrammiert.“

Sie hat Ringe unter den Augen, ihr Reden etwas Atemloses. Wahrscheinlich weiß kaum jemand so viel über die Ent­wicklung von Brusttumoren wie sie. Und doch, sagt Polyak, sei da noch so viel, was sie erfahren wolle: Siedeln bestimmte Zelltypen bevorzugt zusammen? Leben sie stets in Konkurrenz, oder bilden manche Symbiosen? Kommunizieren sie mitein­ander?

Zurück auf Bostons Straßen, frage ich mich, worüber ich mich mehr wundern soll. Wie komplex der Verlauf der Krank­heit ist? Oder dass man offensichtlich gerade erst beginnt, ihre Entwicklung zu begreifen? Das wohl größte Paradox ist: Je mehr Forscher über Krebs in Erfahrung

bringen, desto rapider schwindet ihre Hoffnung, ihn zu heilen.

I m Dezember 1971 erklärte der damali­ge US­Präsident Richard Nixon Krebs

den Krieg. Seither flossen allein in den Vereinigten Staaten schätzungsweise mehr als 200 Milliarden Dollar in die Erfor­schung der Krankheit und möglicher Heil­ mittel. Trotzdem steht die Welt heute, ziemlich genau 45 Jahre nach Nixons „War on Cancer“­Initiative, vor einer riesigen Krebs pandemie.

In den USA werden 2016 mehr als 1 685 000 Menschen die Diagnose Krebs erhalten. Weltweit rechnen Statistiker mit rund 15 Millionen neu entdeckten Fällen. Und jährlich sterben mehr als acht Millio­nen Menschen an einem Tumorleiden. In Zukunft werden die Zahlen weiter steigen.

Zum einen, weil die Erdbevölkerung wächst. Zum anderen, weil besonders in den Industrienationen die Lebenserwar­tung steigt und damit die Wahrscheinlich­keit, die Krankheit zu entwickeln.

In meiner Generation, den geburten­starken Jahrgängen 1962, 1963 und 1964, wird jede/r Zweite früher oder später Krebs bekommen, so schätzen Experten.Anfang 2016 startete Barack Obama eine neue Initiative. Eine Milliarde Dollar in­vestiert die Regierung in das Programm „Moon shot“, Griff nach den Sternen. „Lasst

uns“, so der Präsident, „Amerika zu dem Land machen, das Krebs ein für allemal besiegt.“

„Krebs ist nicht Raumfahrt“, schrieb der norwegische Mediziner und Evolu­tionsexperte Jarle Breivik dazu in der „New York Times“. Seit Jahren werde der Öffentlichkeit weisgemacht, „der Durch­bruch wäre um die nächste Ecke“. Fälsch­licherweise. „Wir werden Krebs nicht kurieren.“

Alle meine Gesprächspartner teilen Breiviks Überzeugung: Man kann noch so viel Geld in die Forschung stecken – das ultimative Wundermittel wird es niemals geben. Jarle Breivik warnt: „Die Krebs­industrie arbeitet mit allen möglichen rhetorischen Tricks, um den klaren Blick auf das Thema zu verschleiern.“

D ie Worte des norwegischen Profes­sors im Hinterkopf, rufe ich die In­

ternetseite des Verbands forschender Arz­neimittelhersteller (VfA) auf. „Wir stehen mitten in einer Therapierevolution!“, lese ich. Bis 2019, kündigt der VfA an, werden 111 neue Krebsmedikamente auf den deut­schen Markt kommen. In den vergange­nen Jahren wurden fast jeden Monat neue Wirkstoffe gegen Krebs zugelassen. Viele davon werden im Bereich der „zielgerich­teten Therapien“ eingesetzt. Es handelt sich also um Medikamente, die gezielt

Bei der adaptiven Therapie wird der Ausgangstumor (1) mit Chemotherapie be-handelt. Im Unterschied zur konventionellen Chemo werden die Medikamente deutlich reduziert oder abgesetzt, sobald der Tumor schrumpft (2). Dadurch wer-den einzelne Mutationen nicht gänzlich ausgelöscht. So können resistente Zellen

Rettendes Gleichgewicht:

(1) (2)

ADAPTIVE THERAPIE

gegen ganz bestimmte Krebszellen vorge­hen. Sie gelten – im Vergleich zu konven­tionellen Chemotherapien – als besser verträglich, weil sie nicht sämtliche Kör­perzellen attackieren, sondern selektiv wirken.

Infolge der Medikamentenflut müssen Ärzte ihren Patienten immer seltener mit­teilen, sie seien „austherapiert“. „Wir hät­ten da noch etwas in der Hinterhand“, heißt es stattdessen. In Internetforen tau­schen Erkrankte Listen mit Medikamen­ten aus, die für ihre Krebsart bereits zuge­lassen sind oder es bald sein werden.

Das Problem: Die Lebenszeit, die ih­nen die neuen Medikamente verheißen, lässt sich allzu häufig in Wochen messen. Sie entfachen Strohfeuer der Hoffnung, dann geht es wieder bergab, oft tiefer als zuvor. Und wieder ist der Grund dafür in den Gesetzen der Evolution zu suchen.

D a ist zum Beispiel der Wirkstoff Erlotinib, er trägt den Handelsna­

men Tarceva. Die übliche Dosis beträgt 150 Milligramm, eine Tablet te täglich. Die Monatspackung kostet in Deutschland rund 2900 Euro. Damit liegt das Medika­ment noch am unteren Ende der Preis­skala. Ärzte verschreiben es unter anderem Patienten mit nicht­kleinzelligem Bron­chialkarzinom, der häufigsten Form des Lungenkrebses.

Bei zehn bis 30 Prozent der Erkrank­ten liegt die Mutation vor, die das Arznei­mittel angreift. Ihr Tumor spricht auf Tarceva in der Regel gut an; er schrumpft. Doch nach sechs bis zwölf Monaten wächst der Krebs wieder, oft aggressiver als vor der Behandlung.

Franziska Michor zeichnet die Wirk­weise von Tarceva an eine Tafel in ihrem Büro. Eine Delle an der Oberfläche der Krebszelle: Hier empfängt sie ein Enzym, das ihr Wachstum auslöst. Eine Kugel: Das ist der Wirkstoff von Tarceva. Er hef­tet sich anstelle des Enzyms an die Delle und blockiert sie. Das Medikament funk­tioniert also nach dem Schlüssel­ Schloss­Prinzip. Das bedeutet: Eine geringe Veränderung des Schlosses – und der Schlüssel passt nicht mehr. Meistens sind einige solcher Tarceva­resistenten Zellen bereits vorhanden, bevor der Patient das Arzneimittel zum ersten Mal schluckt.

Nachdem Tarceva die Konkurrenz ausge­schaltet hat, übernehmen die Resistenten das Regime.

Viele zielgerichtete Therapien, sagt Franziska Michor, hätten ihr eigenes Ver­sagen eingebaut. Sie vergleicht das mit einer Sonnenfinsternis, die über eine Her­de Kamele hereinbricht. „Unter den brau­nen Kamelen sind einige weiße. Zuvor war deren Farbe ein Nachteil. Plötzlich aber, in der Dunkelheit, werden die hellen Ka­mele von Artgenossen besser gesehen. Sie haben größere Chancen, sich zu verpaaren. Am Ende ist die ganze Herde weiß.“

Michor arbeitet, wie Kornelia Polyak, für das Dana­Farber Cancer Institute. Die Österreicherin ist das, was man mit dem Wort „Wunderkind“ beschreibt: Sie hat Molekularbiologie und Mathematik stu­diert, im Alter von 25 Jahren in Harvard über die „evolutionäre Dynamik von Krebs“ promoviert. Heute, mit 34, leitet sie eine zwölfköpfige Forschergruppe.

Die Frage, auf die Michor Antworten sucht, lautet: Wie lässt sich der Prozess der Krebs evolution verlangsamen? Die Idee, das Medikament Tarceva in ihre For­

schung einzubinden, sei ihr gekommen, als sie auf dem Klinikflur ein Gespräch mit­hörte.

Onkologe: „Und? Wie geht es Ihnen?“Lungenkrebspatient: „So lala. Ich ha­

be Kopfschmerzen.“Onkologe: „Na, dann nehmen Sie heu­

te besser nur eine halbe Tarceva.“Michor sagt: „Ich dachte, ich höre

nicht richtig! Man kann doch nicht ein­fach so die Dosis verändern.“ Der zweite Gedanke aber war: Und wenn man es doch tut? Aber kontrolliert. Und zwar so, dass der Zeitpunkt, an dem die resistenten

Zellen die Oberhand gewinnen, möglichst lange hinausgezögert wird?

M ichors Ansatz klingt zunächst wenig revolutionär. Dennoch bricht er mit

einem Dogma. Üblicherweise geht es bei Medikamentenstudien darum, die höchst­mögliche verträgliche Dosis zu ermitteln. Um möglichst viele Krebszellen zu ver­nichten. Diese Dosierung konnte erhöht werden, seit wirksame Mittel gegen Übel­keit zur Verfügung stehen – die häufigste Nebenwirkung medikamentöser Therapien.

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(lila) von den anderen Zellen (gelb, grün) weiter in Schach gehalten werden. So-bald der Krebs erneut wächst (3), bekommt der Patient eine weitere Chemo. Wieder schrumpft der Tumor, und wieder bremsen sich die unterschiedlichen Zelltypen danach gegenseitig aus (4).

adaptive Chemotherapie

(4)(3)

Michor hat ein verändertes Einnah­meprotokoll für Tarceva errechnet. Auf der Basis evolutionärer Gesetze, die sie in ma­thematische Formeln gefasst hat. Hoch kompliziert. Aber einfach, verglichen mit den nächsten Schritten: den Hersteller des teuren Medikaments zu bewegen, Tarceva für eine Studie umsonst abzugeben. Einen Onkologen zu finden, der diese Studie durchführt. Patienten allerdings meldeten sich sofort. Michor sagt: „Todkranke grei­fen nach jedem Strohhalm. Sie wissen, mit Tarceva haben sie mit Glück noch ein Jahr.“ Inzwischen läuft ein klinischer Ver­

such. 58 Lungenkrebspatienten am Memo­rial Sloan Kettering Cancer Center in New York erhalten Tarceva nach dem von Michor errechneten Schema. Es ist eine der ersten Studien, die Krebsevolution berücksichtigt.

E s wirkt seltsam. Franziska Michor und Kornelia Polyak haben beide für

ihre Forschung zahlreiche Preise gewon­nen. Sie publizieren ihre Studien in ange­sehenen Fachzeitschriften, in „Nature“ und „Science“. Doch wenn sie über ihre

Position im Medizinbetrieb reden, klingen sie, als gehörten sie einem Club von Au­ßenseitern an.

Ein amerikanisches Forscherteam hat die Fachliteratur studiert, die sich mit Re­sistenzen bei Krebs befasst, 6228 wissen­schaftliche Arbeiten. Nur ein Prozent der Autoren benutzt das Wort Evolution. Die wenigsten einer Reihe genauer betrachte­ter Artikel erklären Resistenzen mit die­sem Begriff. Die anderen führen als Grund dafür, dass Krebszellen auf Behandlungen nicht (mehr) reagieren, zu geringe Do­ sen der verabreichten Arzneien an. Oder

sie halten schlicht fest, dass Patienten eben unterschiedlich auf Therapien an­sprechen  – was genau genommen keine Erklärung ist.

„Schockierend!“, fasst Athena Aktipis, eine der Verfasserinnen der Studie, das Ergebnis zusammen. „Dass Krebs kein statischer Zellklumpen ist, sondern ein sich entwickelndes System, bezweifelt heute kaum noch jemand. Aber die we­nigsten gehen den nächsten Schritt und bedenken, dass eine hoch dosierte Thera­pie auch einen hohen Auslesedruck dar­

stellt.“ Athena Aktipis vermutet: „Dahin­ter steckt ein psychologisches Problem. Reflexhaft begreifen wir Krebs als Feind. Wir wollen ihn wieder loswerden. Mit al­len Mitteln. Dass viel aber nicht unbedingt viel hilft, sehen wir nicht sofort ein.“ Das gelte, fügt sie hinzu, für Wissenschaftler. Aber erst recht für Patienten und Ärzte.

Ich merke, dass mich die Recherche zunehmend verstört. Was bedeuten die Erkenntnisse zur Krebsevolution, zu Ende gedacht, für die Praxis? Tausende von On­kologen allein in Deutschland, die täglich Patienten nach bestem Wissen behandeln – irren die alle?

Ich kann eine Frage nicht mehr ver­drängen. Eigentlich steht sie seit Beginn dieser Reise wie ein Elefant im Raum: Versprechen nicht Standardtherapien in vielen Fällen tatsächlich Heilung?

E in weiterer Ortswechsel. Ich fahre nach Tampa in Florida. Das Moffitt

Cancer Center zählt zu den größten Krebs­zentren der USA. Morgens, kurz vor neun Uhr. Vor der Klinik hat sich eine Auto­schlange gebildet. Krebspatienten rei sen an, um sich ambulant ihre Chemo geben zu lassen.

Wären sie besser zu Hause geblieben? Alexander Anderson ist gerade von

einer Konferenz zurück, Krebsevolution. Wie so oft sprach ihn in einer Pause ein Onkologe an. Es ging um ebendiese Frage: ob nicht Therapieerfolge für sich sprechen würden? Anderson fragte zurück: Ja, aber hätten nicht nachweislich alle Patienten nach der Therapie ein erhöhtes Risiko, wieder an Krebs zu erkranken? Komme es nicht zuweilen noch nach Jahren zu Rück­fällen? Aus evolutionsbiologischer Sicht betrachtet: logisch. Die therapieresistenten Krebszellen breiten sich nach einer Zeit des Schläferstadiums plötzlich wieder aus.

Aber wie erklärt sich Anderson dann die gestiegenen Überlebensraten?

„Viele Tumore werden heute bei Vor­sorgeuntersuchungen früher erkannt. Dar­unter jedoch vor allem nicht oder sehr langsam wachsende Krebsformen. Das bedeutet, dass wir Karzinome behandeln, die den Betroffenen im Leben keine Pro­bleme beschert hätten.“ Fälle, die die Überlebensraten nach oben trieben. „Sta­tistische Augenwischerei“, nennt Anderson

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ANKE SPARMANN hielt Krebs bislang für eine völlig mysteriöse Krankheit. Doch nun geht ihr immer wieder ein Zitat des Evolutionsbiologen Theodosius Dobzhan­sky durch den Kopf: „Nichts in der Biologie ergibt Sinn außer im Licht der Evolution.“

(1) Herkömmliche Chemotherapie

(2) Zielgerichtete Therapie

(3) Adaptive Therapie

Schrumpft der Tumor bei (1) und (2) zu-nächst deutlich, kann er sich nach der Chemo rasant vergrößern. Anders bei (3): Hier verringern Ärzte zwar ebenfalls die Anzahl der Krebszellen, merzen allerdings keine der Mutationen komplett aus. So können Patienten mit dem Krebs leben.

WENIGER HILFT MEHR

deshalb die Zahlen. „Aussage-kräftiger als die Überlebensquo-ten fünf Jahre nach Diagnose sind die Todesraten.“ Die hätten sich bei vielen Krebsarten seit Jahrzehnten kaum verändert.

Alexander Anderson kennt sich mit Zahlen aus, er ist mathematischer Onkologe, ein Schotte. Jeans, nerdiges Kinn-bärtchen, ein eloquenter, hilfsbe-reiter Mann. Wir sitzen auf ab-gewetzten schwarzen Ledersofas, eine Espressomaschine zischt. Der fensterlose Raum inmitten des Moffitt Cancer Center ist so etwas wie die Zentrale der For-schung zur Krebsevolution. In den Büros nebenan arbeiten Dutzende Wissenschaftler an ebendiesem Thema.

Was genau eine Chemothe-rapie unter Krebszellen auslöst, ist eines der Rätsel, das sie zu ergründen suchen. Gewebepro-ben von Erkrankten zeigen, wie ihr Tumor vor der Behandlung aussieht, wie nachher. Keinem Patienten sind jedoch fortlaufen-de Biopsien zuzumuten, und es gibt kein bildgebendes Verfahren, mit dem Mediziner das Wirken der Gifte unmit-telbar bezeugen könnten.

Der Blackout beginnt zu dem Zeit-punkt, an dem Schwestern dem Patienten einen Infusionsbeutel anlegen und ein Krebsmedikament in seinen Körper tröp-felt. Wie reagieren die unterschiedlichen Zelltypen des Tumors auf die Chemothe-rapie? Und wie würde sich der Krebs ohne jede Behandlung entwickeln?

Alexander Anderson simulierte in einem mathematischen Modell drei Tu-more. Einer wurde nicht behandelt. Ein weiterer bekam eine Chemotherapie ver-abreicht. Ebenso der dritte – allerdings um drei Monate verzögert.

Während die frühe Therapie (im Ver-gleich zum nicht behandelten Tumor) das Krebswachstum verlangsamte, führte die nur wenige Monate später eingeleitete Behandlung zum Gegenteil: Der Tumor wuchs. Und er begann zu streuen.

„In unserem Experiment ordneten sich die Zellen schichtweise an. Die äußeren

bildeten eine Art Hülle, sie ähnelten ge-netisch fast normalen Gewebezellen“, er-zählt Anderson. Im Inneren des Tumors dagegen herrschten die widrigsten Bedin-gungen. Kaum Sauerstoff, wenig Nährstof-fe, sehr saures Milieu. Dort bildeten sich die aggressivsten Krebszellen. Zum Zeit-punkt der späten Therapie waren sie auf dem Sprung, sich auszubreiten. Nur die Hülle hielt sie ab – und ausgerechnet die-se Hülle wurde durch die Chemo zerstört.

„In dem Fall wäre es besser gewesen, gar nichts zu unternehmen, als eine Be-handlung einzuleiten“, sagt Anderson.

„Was ich nach einer Krebsdiagnose machen würde? Urlaub.“

D as klingt alles nicht gerade Mut ma-chend. Doch es gibt unter den Tau-

senden Menschen, die sich jedes Jahr in der Moffitt-Klinik therapieren lassen, zehn Patienten, die eine neue Art der Be-handlung bekommen.

„Adaptive Therapie“ nennt sie Robert Gatenby.

Gatenby, Radiologe, ist Kopf und Seele der Krebsevolutions-forscher in Tampa. Er begann vor mehr als zehn Jahren, sich Gedanken über die Frage zu ma-chen: Wie könnte eine Behand-lung aussehen, die die Kräfte der Evolution nicht herausfordert, sondern für sich nutzt?

Wie Maley, mein erster Ge-sprächspartner, glaubt Robert Gatenby, mein letzter, dass man die Krankheit zwar nicht heilen, sehr wohl aber kontrollieren kann. „Im Moment knüppeln wir auf Krebs ein, als sei es ein Bal-lerspiel“, sagt er. „Dabei sollten wir vorausschauend vorgehen, wie Schachspieler. Statt so viele Krebszellen wie möglich zu ver-nichten, wäre es klüger, so weni-ge wie nötig zu zerstören.“

Ebendiese Strategie setzt die adaptive Therapie um.

Patienten bekommen dabei ebenfalls ein Medikament. Al-lerdings wird das Mittel wieder abgesetzt, sobald der Tumor re-agiert und schrumpft. Ziel ist es gerade nicht, möglichst viele

Tumorzellen zu vernichten. Denn dadurch, sagt Gatenby, erhielten die resistenten Zel-len Raum, sich ungehindert auszubreiten.

Bei der adaptiven Therapie halten sich die verschiedenen Zelltypen gegenseitig in Schach. Wenn sein Krebs wieder bedroh-lich wächst, bekommt der Patient eine weitere Chemo. Wiederum nur in einer Dosis, die einen Teil der Zellen tötet.

Vor zwei Jahren startete die entspre-chende klinische Studie. Die teilnehmen-den Patienten sind Männer mit Prostata-krebs. Elf Monate hätte sich das Fort- schreiten ihrer Krankheit mit üblicher Medikamentation aufhalten lassen. Bis auf einen – von Beginn an fast aussichtslosen – Fall geht es allen Männern heute gut.

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