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Sonder-PDF für Udo Ludwig

Sonder-PDF für Udo LudwigLehrbuch, Berlin (Ost) 1959, S. 419. durch die Berlin-Blockade die Anzeichen für den Beginn des Kalten Kriegs zwi- ... DDR auf der Tagesordnung: Überwindung

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  • Sonder-PDF für Udo Ludwig

  • ISBN Print: 9783525369753 — ISBN E-Book: 9783647369754© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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  • Vandenhoeck & Ruprecht

    Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung

    Herausgegeben von Clemens Vollnhals

    Band 63

    ISBN Print: 9783525369753 — ISBN E-Book: 9783647369754© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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  • Vandenhoeck & Ruprecht

    Planwirtschaft – Privatisierung – Marktwirtschaft

    Wirtschaftsordnung und -entwicklung in der SBZ / DDR und den neuen Bundesländern

    1945–1994

    Herausgegeben von Günther Heydemannund Karl-Heinz Paqué

    ISBN Print: 9783525369753 — ISBN E-Book: 9783647369754© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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  • Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

    im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    ISSN 2197–0971ISBN 978-3-647-36975-4

    Weitere Ausgaben und Online-Angebotesind erhältlich unter www.v-r.de.

    Mit 57 Tabellen und 42 Grafiken.

    © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

    www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

    Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf dervorheri gen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

    Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden

    © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525369753 — ISBN E-Book: 9783647369754

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  • Inhalt

    Einleitung 7

    I. Systemdefizite und Zusammenbruch der sozialistischen Zentralplanwirtschaft der SBZ / DDR aus der Sicht von Zeitzeugen 17

    Johannes Ludewig25 Jahre deutsche Einheit 19

    Richard SchröderDie Treuhand und das Ende der DDR-Wirtschaft 27

    II. Zur historischen Genese der sozialistischen Wirtschaftsordnung in der SBZ / DDR 41

    Jürgen SchneiderDas Modell Sowjetunion für die Transformation der Wirtschaft in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands (SBZ) durch die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945 bis 1949 43

    III. Systemdefizite der sozialistischen Zentralplanwirtschaft in der SBZ / DDR 91

    Spiridon ParaskewopoulosVon der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft über die Treuhand zur sozialen Marktwirtschaft 93

    Udo LudwigDie gesamtwirtschaftliche Entwicklung der SBZ / DDR(1949 bis 1990) – eine Bilanz 111

    Christian Heimann„Mises was right“ oder: Warum die DDR wirtschaftlich untergehen musste 149

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  • 6 Inhalt

    IV. Probleme der Werteinschätzung und Bilanzierung der sozialistischen Betriebe in der DDR 175

    Klaus Ziege-Bollinger„Volkseigentum“ marktpreisgerecht verwertet?Einflussfaktoren auf die Wertbestimmung der DDR-Industrie 177

    Horst HartteBesitzen die Bilanzen der volkseigenen Betriebe eine ökonomische Aussagekraft für den Übergang in die Marktwirtschaft? 203

    V. Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion als Kern des Transformationsprozesses 227

    Rüdiger PohlDie Einführung der D-Mark in der DDR. Mythos D-Mark – Ernüchterung –Wiedervereinigung 229

    Matthias KnuthInstitutionen und Instrumente der Arbeitsmarktpolitik imTransformationsprozess und im gesamtdeutschen Kontext 243

    Gerhard A. Ritter (†)Umbau und Integration der sozialen Sicherungssysteme der DDR in den Sozialstaat der Bundesrepublik 265

    VI. Zum Stand des Transformationsprozesses in Deutschland 285

    Karl-Heinz PaquéGewachsen, aber gefährdet: Eine wirtschaftliche Zwischenbilanz der deutschen Einheit 287

    VII.Anhang 329

    Abkürzungsverzeichnis 331 Autorenverzeichnis 333

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  • 1 Wortlaut des Zitats im Original: „Erst dann, wenn die ‚Unterschichten‘ das Alte nicht mehr wollen und die ‚Oberschichten‘ in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen.“ In: Wladimir Iljitsch Lenin, Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, Werke, Band 31, Berlin 1959, S. 71.

    2 Vgl. z. B. Erich W. Gniffke, Jahre mit Ulbricht, Köln 1966; Karl Schirdewan, Aufstand gegen Ulbricht, Berlin 1994.

    Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der SBZ/DDR (1949 bis 1990) – eine Bilanz

    Udo Ludwig

    I. Primat der Politik in der Wirtschaftslenkung mit Zentralplan

    Das Experiment Staatssozialismus auf deutschem Boden ist gescheitert. Das Herrschaftssystem ist im Jahr 1989 unter dem Druck der Massen auf friedli-chem Wege zusammengebrochen. Die auf Lenin zurückgehende These über die Kennzeichen einer revolutionären Situation richtete sich nun gegen die staats-sozialistische Führung selbst. Die Herrschenden konnten nicht mehr, wie sie wollten, und die Beherrschten wollten nicht mehr, wie sie konnten.1 Schließlich wurde das System im Jahr 1990 auf demokratischem Wege abgewählt.

    Das System Staatssozialismus ist am Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit zerbrochen, heißt es oft. Warum blieb aber die Wirklichkeit hin-ter dem Anspruch zurück? Liegen die Ursachen bei den handelnden Personen, oder sind sie in den Fundamentalfaktoren des Systems begründet? Für den nicht geringen Einfluss der handelnden Personen spricht die Tatsache, dass das Primat der Politik über der Ökonomie ohne demokratische Kontrolle Tür und Tor öffnet für Wunschdenken, Willkür, Subjektivismus und Spontaneität der Führung. Daran hat es in der Geschichte der DDR weder unter der Herrschaft der Partei- und Staatsführer Walter Ulbricht noch Erich Honecker gemangelt.2 Da sich der Zusammenbruch des Systems aber nicht auf ein Land beschränkte, ist der Blick auf die Fundamentalfaktoren und ihr Zusammenwirken zu richten: das politische Machtmonopol einer Kaderpartei, die Verstaatlichung des Eigen-tums an den Produktionsmitteln und die darauf gegründete Zentralplanung der Wirtschaft. Der Markt als zivilisatorische Errungenschaft zur Koordination und Regulierung der Wirtschaftsaktivitäten wurde ausgeschaltet. An seine Stelle traten Institutionen, die den Machtanspruch mit einem vermeintlichen Wissens-vorsprung gegenüber der Allgemeinheit gleichsetzten.

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  • Udo Ludwig112

    3 Der erste Kritiker an der Praxis der Zentralplanung und ihren Folgen in Russland war wohl Brutzkus. Vgl. Boris Brutzkus, Der Fünfjahresplan und seine Erfüllung, Leipzig 1932. Für die DDR vgl. Bruno Gleitze, Die Produktionswirtschaft der DDR im Wett-bewerb mit der westlichen Industriewelt. In: Die DDR nach 25 Jahren. Hg. von Bruno Gleitze, Peter Christian Ludz, Konrad Merkel, Klemens Pleyer und Karl C. Thalheim, Berlin 1975, S. 13 ff.

    Die Analyse des Systemversagens liegt im Schnittpunkt mehrerer Wissen-schaftsdisziplinen. Für einen Volkswirt stehen die gesamtwirtschaftlichen Leis-tungen im Mittelpunkt. Einzelne Defizite des Systems wie die Nichterfüllung der Wirtschaftspläne sind schon sehr früh anhand der Beobachtungen des Wirt-schaftsgeschehens in der UdSSR und der DDR herausgestellt worden.3 Indes fehlte der praktische Beleg für das Scheitern dieser Wirtschaftsordnung in ihrer Totalität. Schließlich existierte sie sieben Jahrzehnte in der UdSSR und vier Jahrzehnte in der DDR und anderen Staaten Mittel- und Osteuropas. Aus der Sicht des Untergangs des Systems stellen sich heute die Fragen im Systemzu-sammenhang.

    Angetreten, eine bessere Welt durch den von „kapitalistischer Ausbeutung befreiten Menschen“ zu schaffen, mussten die Gestalter des Systems Staatssozi-alismus erkennen, dass diese Art der Befreiung letztlich nicht zur Mobilisierung aller Kräfte für den Aufbau einer besseren und gerechteren Welt führte. Die von der Theorie postulierte positive Rückkoppelung auf die Leistungsfähigkeit des Systems hielt sich in Grenzen. Der Akteur wurde als Produzent und Konsument durch die zentrale Planung der Wirtschaft bevormundet, und die Anreize zur Leistungssteigerung verpufften infolge der wachsenden Widersprüche zwischen Kaufkraft und Güterangebot.

    In den meisten bisher veröffentlichten Büchern und Aufsätzen zur DDR-Wirt-schaft wird auf die Datensätze der damaligen amtlichen Statistik zurückgegrif-fen. Für vergleichende gesamtwirtschaftliche Betrachtungen ist dies problema-tisch, da die statistische Abbildung des Wirtschaftskreislaufs auf einer anderen als in westlichen Wirtschaftssystemen üblichen Abgrenzung der wirtschaftlichen Tätigkeit beruhte. Sie wurde auf Aktivitäten im Zusammenhang mit der Sach-güterproduktion beschränkt, nämlich auf die Entstehung, Distribution, Zirku-lation und Verwendung von materiellen Produkten. In diesem Beitrag werden weitgehend Datensätze zum Wirtschaftskreislauf in der DDR verwendet, die von einem unter Einschluss der Dienstleistungen weiten Produktionskonzept ausgehen und konzeptionell mit dem westlichen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen vergleichbar sind. Sie fußen auf erstmaligen Berechnungen des Bruttoinlandsprodukts im Rahmen eines DFG-Projekts und seiner Weiter-führung. Diese Datensätze sind ein zahlenmäßiges Abbild der vollzogenen und statistisch registrierten wirtschaftlichen Aktivitäten im Lichte der westlichen Er-fassungskonzepte und bilden die Grundlage für die folgenden gesamtwirtschaft-lichen Analysen.

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  • Wirtschaftliche Entwicklung der SBZ / DDR 113

    4 Vgl. Reiner Karlsch, Allein bezahlt?, Berlin 1993, S. 55 ff.5 Vgl. Bruno Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft. Industrielle Standorte und volkswirtschaft-

    liche Kapazitäten des ungeteilten Deutschland, Berlin 1956, S. 220.6 Vgl. ders., Die Wirtschaftsstruktur der Sowjetzone und ihre gegenwärtigen sozial- und

    wirtschaftsrechtlichen Tendenzen, Bonn 1951, S. 4.

    Der Aufsatz ist wie folgt gegliedert: Zunächst werden einige Grundzüge des wirtschaftlichen Aufbaus der DDR als autarkes System dargelegt. Daran schließt sich die Darstellung der wechselvollen Position des Konsums gegen-über der Produktion in der Lenkung der Wirtschaft an. Es folgt die Analyse des extensiven und intensiven Wachstumstyps der Wirtschaft und des System-versagens beim gewollten, aber nicht gelungenen Übergang zum intensiven Wachstumstyp. Sodann werden die Konsequenzen daraus für das gesamtwirt-schaftliche Gleichgewicht ins Blickfeld genommen. Abschließend wird das Leistungsniveau der Gesamtwirtschaft am Ende der DDR mit dem Stand in der früheren Bundesrepublik Deutschland verglichen und ein Fazit gezogen.

    II. Aufbau einer autarken Wirtschaft

    1. Das stalinistische Industrialisierungsmodell und seine Folgen für die entwickelte Industriewirtschaft der DDR

    Am Ende des verheerenden Zweiten Weltkriegs war Deutschland politisch in vier Besatzungszonen geteilt, das Produktionspotenzial stark zerstört und von Demontagen durch die Siegermächte, Entnahmen aus der laufenden Produk-tion, Abzug von Spezialisten, hohen Besatzungskosten sowie anderen Repa-rationsleistungen geschwächt. Der einst voll ausgebildete, arbeitsteilig funk-tionierende Wirtschaftskörper war durch die alliierten Militärregierungen zerrissen, die Wiederherstellung der Einheit durch die gegensätzlichen Inte-ressen der westlichen Siegermächte und der Sowjetunion von der politischen Agenda auf lange Zeit vertagt. Für die sowjetisch besetzte Zone bedeutete dies ein ungeheures Missverhältnis zwischen der Grundstoffindustrie und der verarbeitenden Industrie. Die früheren Bezugsquellen von Steinkohle, Eisen und Stahl lagen vor allem in den westlichen Besatzungszonen, die Metallver-arbeiter in der sowjetischen Zone waren von ihnen abgeschnitten. Es blieb eine Rumpfwirtschaft,4 in der weniger als 1 Prozent der Vorkommen an Stein-kohle im Gebiet des Deutschen Reichs von 1937, fast die Hälfte der Vorräte an Braunkohle und nur 7,5 Prozent der Vorräte an Eisenerz lagerten.5 Zum Ende des Kriegs betrug die Produktion an den ausschlaggebenden Rohstof-fen bzw. Produktionsgütern in Prozent der gesamtdeutschen Erzeugung bei Steinkohle 2,3 Prozent, bei Roheisen 1,3 Prozent und bei Rohstahl 6,6 Pro-zent. Insgesamt lag der Anteil der Industrieproduktion bei einem Viertel.6 Als

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  • Udo Ludwig114

    7 In der Zeit des alles beherrschenden Dogmatismus unter den Politökonomen der DDR in den 1950er-Jahren war es wohl allein Gunther Kohlmey, der eine solche Alternative in Erwägung zog. Vgl. Gunther Kohlmey, Spaltungsdisproportionen und Außenhandel. In: Wirtschaftswissenschaft, 1/1958, S. 51 ff.

    8 Zur Stellung der sowjetischen Berater vgl. den Beitrag von Jürgen Schneider in diesem Band.

    9 Der praktischen Durchführung der Industrialisierung ging in der UdSSR eine intensi-ve Diskussion in den 1920er-Jahren voraus, an der sich auch namhafte Persönlichkei-ten wie Bucharin und Trotzki beteiligten. Letztlich setzte sich Stalins Version durch, wie das folgende Zitat aus dem Jahr 1926 belegt: „Nicht jede beliebige Entwicklung der Industrie bedeutet Industrialisierung. Den Schwerpunkt der Industrialisierung, ihre Grundlage bildet die Entwicklung der Schwerindustrie (Brennstoffe, Metall und dergleichen), die Entwicklung letzten Endes der Produktion von Produktionsmitteln, die Entwicklung eines eigenen Maschinenbaus.“ Vgl. J. W. Stalin, Über die wirtschaft-liche Lage der Sowjetunion und die Politik der Partei. In: J. W. Stalin, Werke, Band 8, Berlin 1952, S. 107.

    10 Vgl. Politische Ökonomie. Lehrbuch, Berlin (Ost) 1959, S. 419.

    durch die Berlin-Blockade die Anzeichen für den Beginn des Kalten Kriegs zwi-schen den Siegermächten und die Gründung zweier Staaten in Deutschland die Aussichten für die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Einheit in einem überschaubaren Zeitraum schwanden, stand die Entscheidung über den Weg zur Überwindung der Disproportionen in der Produktionswirtschaft der SBZ bzw. DDR auf der Tagesordnung: Überwindung durch Integration in die inter-nationale Arbeitsteilung7 oder Schaffung einer eigenen Produktionsbasis.Das Ergebnis wurde politisch durch die Herrschaftsverhältnisse in den obersten Führungsgremien und ihren sowjetischen Beratern8 vorbestimmt: die Durch-setzung des stalinistischen Industrialisierungsmodells.9

    Das Modell bedeutete „eine solche Entwicklung der Großindustrie und in erster Linie der Schwerindustrie, die für die Umgestaltung der gesamten Volks-wirtschaft auf der Grundlage der modernen maschinellen Technik, für den Sieg der sozialistischen Wirtschaftsformen, die technisch-ökonomische Unabhängig-keit des Landes von der kapitalistischen Umwelt und seine Verteidigungsbereit-schaft notwendig ist“.10 Es war für den Umbau der rückständigen russischen Wirtschaft zu einem modernen Industriestaat konzipiert und mit den ersten beiden Fünfjahrplänen von 1928 bis 1937 praktiziert worden. Abweichend vom bis dahin vorherrschenden historischen Muster der Industrialisierung in den sei-ner Zeit führenden Ländern setzte es nicht bei der Herstellung von Konsumgü-tern, sondern von Produktionsmitteln an. So wurde in der Frühzeit der UdSSR das Industrialisierungsprogramm in historisch kurzer Frist und unter großen menschlichen Opfern durchgeführt.

    In der sowjetischen Besatzungszone hatten zwar die Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg, die Demontagen und die Entnahmen aus der laufenden Pro-duktion durch die Siegermacht zur Wiedergutmachung der Kriegsschäden das Produktionspotenzial geschwächt, aber von einer technisch und wirtschaftlich

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  • Wirtschaftliche Entwicklung der SBZ / DDR 115

    11 Im 1951 beschlossenen ersten Fünfjahresplan heißt es dazu: „Durch den Neu- und Aus-bau der Produktionskapazitäten in der Metallurgie, im Schwermaschinenbau und in der chemischen Industrie ist eine weitgehende Unabhängigkeit unserer Volkswirtschaft von dem kapitalistischen Ausland sicherzustellen.“ Vgl. Ein Plan zum besseren Leben, Berlin (Ost) 1951, S. 7. Noch deutlicher wurden die Prioritäten im zweiten Fünfjahrplan: „Die vorrangige Entwicklung der Grundstoffindustrie, vor allem der Kohle-, Energie- und Chemieproduktion ist zu sichern“ und weiter „Der Maschinenbau hat in erster Linie die erforderlichen Ausrüstungen für die Entwicklung der Grundstoffindustrie, insbe-sondere für Kohle und Energie, zu liefern. Die Produktion von Tagebaugroßgeräten, Ausrüstungen für die Brikettfabriken, Energiemaschinen, Stahlkonstruktionen und an-deren wichtigen Schwermaschinenbauerzeugnissen ist dementsprechend zu erhöhen.“ Vgl. Gesetzblatt der DDR Teil I, 5/1958, S. 42.

    12 Fritz Schenk, ehemaliger Mitarbeiter des Planungschefs der DDR Leuschner, berichtet von Scheinoperationen. Vgl. Fritz Schenk, Das rote Wirtschaftswunder, Stuttgart 1969, S. 57.

    13 Vgl. Stefan Unger, Eisen und Stahl für den Sozialismus, Berlin 2000, S. 212.

    rückständigen Wirtschaft, die erst einmal die Industrialisierungsphase wie in der UdSSR durchlaufen müsse, konnte keine Rede sein. Trotzdem stand von Anfang an der Aufbau einer Schwerindustrie im Mittelpunkt der Planungen. Dies belegen nicht nur die Richtlinien der ersten Fünfjahrpläne,11 sondern vor allem auch die Konzentration der Investitionen auf die Grundstoffindustrie und den Schwermaschinenbau. Es wurden neue Braunkohlegruben in Mitteldeutsch-land erschlossen, eine Großkokerei und neue Elektrizitätswerke errichtet. Die Eisen- und Stahlindustrie wurde in Brandenburg (Havel), Calbe, Döhlen, Frei-tal, Gröditz, Hennigsdorf, Riesa, Thale und Unterwellenborn ausgebaut und rekonstruiert. In Fürstenberg (Oder) wurde ein neues Eisen- und Stahlwerk an einem Standort errichtet, der weder über eigene Eisenerzlagerstätten noch Steinkohlevorkommen verfügte. Unwirtschaftliche Kostenbelastungen waren die Folge. In den Städten an der Ostsee wurden neue Werften geschaffen. An-lagen für den Bau von Elektromaschinen und Ausrüstungen für die chemische Industrie sowie Chemieanlagen selbst wurden in Betrieb genommen. Auf den Großbaustellen des ersten Fünfjahrplans wurden Arbeitskräfte aus allen Teilen des Landes zusammengezogen.

    Die Entwicklung verlief allerdings nicht kontinuierlich. Im Jahr 1953 wurde ein „Neuer Kurs“ beschlossen, mit dem nach Stalins Tod unter dem Druck der neuen Machthaber in Moskau und der Arbeiterunruhen in der DDR am 17. Juni das schwerindustriell dominierte Aufbauprogramm zeitlich gestreckt wurde. Die Investitionen in die Schwerindustrie wurden gekürzt, verschoben oder ganz gestrichen.12 Besonders hart trafen die Einschnitte die Eisen- und Stahl industrie. Die Anlageinvestitionen gingen 1954 um fast ein Drittel und 1955 weiter, so-gar um reichlich 40 Prozent, zurück (s. Tabelle 1). Diese Branche erreichte im ganzen Jahrzehnt nie wieder das Investitionsniveau von 1953 und verlor ihre Vorrangstellung in der Wirtschaftspolitik für alle Zeiten.13 An ihre Stelle als Schwerpunktbranche trat die Energie- und Brennstoffindustrie.

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  • Wirtschaftliche Entwicklung der SBZ / DDR 117

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  • Udo Ludwig118

    14 Vgl. Wolfgang Mühlfriedel/Klaus Wießner, Die Geschichte der Industrie der DDR bis 1965, Berlin (Ost) 1989.

    15 Der Kohlebergbau, die Energiegewinnung auf Braunkohlebasis und der Ausbau der chemischen Industrie gingen indes mit großen Umweltbelastungen einher, die in diesem Aufsatz aus Platzgründen nicht weiter verfolgt werden können.

    Der Bereich Kohle und Energie verschlang ab der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre jährlich fast die Hälfte aller Industrieinvestitionen. Zusammen mit der Eisen- und Stahlindustrie sowie der chemischen Industrie einschließlich Kokerei und Mineralölverarbeitung beliefen sich in diesem Zeitraum die Inves-titionen in der anlagenintensiven Schwerindustrie insgesamt auf zwei Drittel bis drei Viertel aller Industrieinvestitionen. Nimmt man noch den Maschinen- und Fahrzeugbau hinzu, so waren es sogar vier Fünftel. Auch außerhalb der Indus-trie, wie z. B. für den Aufbau eigener Streitkräfte und den Schulbau, wurden hohe Investitionen beansprucht.

    Mit der Komplettierung der Produktionsstruktur wurde nicht nur ein tech-nisches Anliegen verfolgt. Mit ihr wurde gleichzeitig der staatliche Sektor in der Industrie ausgebaut.14 Das Privateigentum an den Produktionsmitteln wur-de mehr und mehr zurückgedrängt. Die DDR erhielt sich allerdings bis zum Jahre 1972 eine institutionelle Besonderheit: Privatbetriebe mit staatlicher Be-teiligung. Die verbliebenen etwa 10 000 Privatbetriebe und Betriebe mit staatli-cher Beteiligung wurden nach dem Machtantritt Erich Honeckers im Jahr 1972 verstaatlicht.

    2. Strukturpolitik im Zugzwang des technischen Fortschritts

    Mit dem Aufbau der Schwerindustrie gemäß Stalins Industrialisierungsmo-dell wurde die Eigenversorgung mit Braunkohle und die Stromerzeugung auf Braunkohlebasis gewährleistet. Die DDR verfügte über eine eigene Eisen- und Stahlindustrie, die chemische Industrie war ausgebaut und der Maschinenbau um schwere Anlagenbauer ergänzt worden. Mit dem Schiffbau war ein neuer Industriezweig entstanden. Das waren die Anfänge. Sie legten aber auch die Pfade für die Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten fest. Während die Mas-senproduktion metallischer Grundstoffe nicht weiter im Blickfeld stand, hier ging es künftig um die Erzeugung höherwertiger Produkte der zweiten Verar-beitungsstufe, behielten der Kohlebergbau und die Energieerzeugung sowie die chemische Industrie ihre Vorrangstellung. Um Engpässe in der Stromver-sorgung zu vermeiden, waren 1954 und 1957 Kohle- und Energieprogramme zur Erweiterung des Energieangebots beschlossen worden. Im Jahr 1958 folgte das Chemieprogramm.15 Neue Förderkapazitäten für Rohbraunkohle, neue Bri-kettfabriken und Kraftwerke auf Braunkohlebasis, die Errichtung neuer Che-mieanlagen zogen den Ausbau des Schwermaschinenbaus nach sich. Angesichts

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  • Wirtschaftliche Entwicklung der SBZ / DDR 119

    16 Vgl. Gesetz über den Siebenjahrplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft der Deut-schen Demokratischen Republik in den Jahren 1959 bis 1965. In: Gesetzblatt der DDR I, 56/1959.

    17 Vgl. Staatliche Zentralverwaltung für Statistik, Bericht über die Produktion und Verwen-dung des Nationaleinkommens und einige Probleme der volkswirtschaftlichen Effektivi-tät im Jahr 1970, dem letzten Jahr des Perspektivplans 1966 bis 1970, Berlin 1971, S. 54.

    18 Vgl. Gesetz über den Perspektivplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft der Deut-schen Demokratischen Republik in den Jahren 1959 bis 1965. In: Gesetzblatt der DDR I, 8/1967, S. 66 f.

    19 Vgl. Wilhelm Riesner, Die Energiewirtschaft in Ostdeutschland. Ein Rückblick auf die letzten 60 Jahre. In: eBWK, 61 (2009) 12, S. 2.

    des technischen Rückstandes in vielen Zweigen der Volkswirtschaft setzte die Partei- und Staatsführung zugleich auf die Rekonstruktion der Hauptzweige der Industrie nach dem fortgeschrittenen Stand von Wissenschaft und Technik. So bekamen der Maschinenbau und die Elektrotechnik neue Aufgaben zugewie-sen, um Produktionsmittel für die Mechanisierung und Automatisierung der Produktionsprozesse herzustellen. Absoluter Vorrang wurde hier dem Zweig Mess-, Steuer- und Regelungstechnik eingeräumt. Die mit dem weiteren Ausbau der Schwerindustrie und der Rekonstruktion der Industrie verbundenen Investi-tionen trieben die Anforderungen an die Bauwirtschaft hoch, zumal auch ein Wohnungs- und Städtebauprogramm auf den Weg gebracht worden war.16

    In Erkenntnis des technologischen Rückstandes genügte die Rekonstruktion der Wirtschaftszweige nach dem fortgeschrittenen Stand von Wissenschaft und Technik dem Anspruch der Partei- und Staatsführung bald nicht mehr, und sie setzte für die zweite Hälfte der 1960er-Jahre auf die Gestaltung einer „hoch-effektiven Struktur der Volkswirtschaft“. Dazu sind die Investitionen vorrangig in den Zweigen der Volkswirtschaft eingesetzt worden, die den Status „Schritt-macher der wissenschaftlich-technischen Revolution“ trugen. Die Mittel und Kräfte sind insbesondere in die Elektrotechnik und Elektronik, den wissen-schaftlichen Gerätebau sowie in Zweige des Maschinenbaus geflossen. Dazu wurden „strukturbestimmende“ Erzeugnisse und Zweige festgelegt. Ihr Anteil am Investitionsvolumen war kein Bagatellposten. Er betrug im Jahr 1970 in der chemischen Industrie 55 Prozent, im Bereich Elektrotechnik/Elektronik 60 Prozent und im Verarbeitungsmaschinen- und Fahrzeugbau 50 Prozent.17 Herausgehoben war die Anwendung der elektronischen Datenverarbeitung „vorrangig in Großbetrieben, und zwar für die Vorbereitung, Planung und Lei-tung der Produktion, zur Steuerung technologischer Prozesse, für die Lösung wissenschaftlich-technischer und ökonomischer Aufgaben […] sowie für die Berechnung und Bilanzierung“ der Pläne.18 Die Grundstoffindustrien gerieten aber nicht aus dem Blickfeld. Die Investitionsschwerpunkte wurden zugunsten innovativer Produkte und Verfahren verschoben. In der Energiewirtschaft wur-de die Kohleförderung zunächst nicht weiter ausgebaut.19 Der Bau eines Kern-kraftwerks zur Energiegewinnung wurde eingeleitet. Vorangetrieben wurde der

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  • Udo Ludwig120

    Einsatz flüssiger und gasförmiger Energieträger. Vorrang erhielt der Ausbau der Petrochemie. In Schwedt wurde eine Erdölraffinerie errichtet. In der Eisen- und Stahlindustrie wurde der Ausbau der zweiten Verarbeitungsstufe mit dem Bau eines Kaltwalzwerks in Eisenhüttenstadt fortgesetzt.

    Mit dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker rückte Anfang der 1970er-Jahre die Rationalisierung der Produktion in den Mittelpunkt der In-dustriepolitik. Infolge der Kapazitätsengpässe erhielt die Eigenproduktion von Rationalisierungsmitteln einen hohen Stellenwert. Die Investitionen wurden vorrangig in Rationalisierungsvorhaben in der chemischen Industrie, der Eisen- und Stahlindustrie und des Maschinenbaus gelenkt. In der Leichtindustrie wur-den die Kapazitäten zur Herstellung industrieller Konsumgüter erweitert. In der Energiewirtschaft stand erneut die Verringerung der Energiedefizite durch die Erhöhung der Förderkapazität von Braunkohle sowie die Inbetriebnahme neuer Kraftwerke im Mittelpunkt.

    Tabelle 2: Struktur der Anlageinvestitionen in der Volkswirtschaft der DDR seit 1970

    Anteile an ... insgesamt in %

    1970 1975 1980 1985 1989

    Land- und Forstwirtschaft 13,8 12,4 10,3 7,9 8,5

    Energie- und Brennstoff-industrie, Wasserwirtschaft 12,8 14,9 15,7 17,3 16,5

    Chemische Industrie 10,3 7,6 9,3 11,1 7,6

    Maschinen- und Fahrzeugbau 8,0 7,5 8,7 9,7 13,6

    Elektrotechnik/Elektronik/ Gerätebau 4,6 2,4 3,6 3,9 8,0

    Leicht-, Textil-, Lebensmittel-industrie 8,3 10,0 7,6 8,6 8,6

    Verkehr und Nachrichten 8,9 10,5 8,6 9,1 7,5

    Wohnungsneubau 7,4 9,8 11,5 14,1 11,0

    Sonstige 25,8 24,7 24,6 18,4 18,8

    Volkswirtschaft insgesamt 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0

    Quellen: Statistisches Jahrbuch der DDR, Berlin 1990, S. 15, 113, 114; eigene Berechnungen

    Im Zusammenhang mit den steigenden Energie- und Rohstoffpreisen sollte der Import von Heizöl abgelöst werden. Die tiefere Spaltung von Erdöl trat auf die Tagesordnung. Der Mitteleinsatz zum Aufbau einer eigenen mikroelektro-nischen Industrie sowie des Wohnungsbauprogramms führten zu weiteren Ver-

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  • Wirtschaftliche Entwicklung der SBZ / DDR 121

    20 Vgl. Klaus Werner, Die Integration der DDR-Wirtschaft im RGW und der Zusammen-bruch der Ostmärkte. In: Rüdiger Pohl (Hg.), Herausforderung Ostdeutschland. Fünf Jahre Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, Berlin 1995, S. 54 f.

    schiebungen der Investitionsstruktur. Auf die Energie- und Brennstoffindustrie entfiel nach wie vor der Löwenanteil an den Anlageinvestitionen (s. Tabelle 2). Auch der Wohnungsbau absorbierte beträchtliche Summen. In den letzten Jah-ren der DDR profitierte auch der Fahrzeugbau von Investitionszuführungen. Die Programme zur Importablösung und zur Entwicklung der Mikroelektronik verschlangen Milliardenbeträge in zweistelliger Größe.

    Neue Investitionsschwerpunkte entstanden auch aus der Integration der DDR in die internationale Arbeitsteilung im Rahmen der Mitgliedsländer des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). So wurden gemeinsame Investi-tionsprojekte zwischen interessierten RGW-Ländern durchgeführt, wenn sie die wirtschaftliche Kraft eines einzelnen Landes überstiegen. Meist handelte es sich um die Errichtung industrieller Großprojekte, die der besseren Versor-gung mit Energieträgern und Rohstoffen dienten. So beteiligte sich die DDR in der UdSSR am Aufschluss einer Gaskondensatlagerstätte in Sibirien, dem Bau von Erdöl- und Erdgasleitungen sowie der Errichtung einer Eisenerzauf-bereitungsanlage. Die Investitionskredite der beteiligten Länder wurden in der Regel durch Warenlieferungen aus den neuen Produktionskapazitäten zurückgezahlt.20 Im 1971 verabschiedeten „Komplexprogramm für die weite-re Vertiefung und Vervollkommnung der Zusammenarbeit und Entwicklung der sozialistischen ökonomischen Integration der Mitgliedsländer des RGW“ wurden Schwerpunkte für die Spezialisierung und Kooperation in der Ener-gie- und Brennstoffindus trie, der Schwarz- und Buntmetallurgie, des Maschi-nen- und Fahrzeugbaus, der elektronischen Industrie und des Gerätebaus, der chemischen Industrie sowie Zellstoff- und Papierindustrie, der Leichtindust-rie, der Glas- und keramischen Industrie, der Landwirtschaft und Lebensmit-telindustrie sowie im Transport- und Bauwesen festgelegt. Die Nutzung der Spezialisierungs- und Kooperationsvorteile hat Investitionen der beteiligten Länder beim Ausbau von Produktionskapazitäten in den einen Zweigen ver-stärkt, in anderen aber erspart. Für eine Saldierung zwischen den Zugewin-nen und den Einsparungen fehlen hier jedoch die Daten. Da die Maßnahmen immer auch der „Stärkung der Volkswirtschaft jedes Landes“ dienen sollten, haben sie das Autarkiegebaren in den Ländern desselben Ordnungssystems nicht nur nicht aufgehoben, sondern wurden zugleich gegenüber der Außen-welt dieses Wirtschaftsblocks wirksam.

    Mit dem Erbe des stalinistischen Industrialisierungsmodells trat die DDR spä-ter in den Vereinigungsprozess ein, mit einem hohen Anteil von Altindustrien.

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  • Udo Ludwig122

    21 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857–1858, Berlin 1953, S. 10.

    22 Walter Ulbricht, Zur sozialistischen Entwicklung der Volkswirtschaft seit 1945, Berlin 1959, S. 476.

    23 Vgl. insbesondere Walter G. Hofmann, Stadien und Typen der Industrialisierung. In: Weltwirtschaftliches Archiv, Band 103 (1969 II).

    24 Hier ist daran zu erinnern, dass die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen in der DDR einem Kreislaufkonzept folgten, in dessen Zentrum die Produktion, Distribution,

    3. Späte Besinnung auf das letztliche Ziel der Produktion

    Bei aller Bedeutung der Produktion von Produktionsmitteln für den wirtschaft-lichen Aufbau, sie konnten und sollten nicht das Endziel der Produktion sein. Schließlich hatte Karl Marx, der intellektuelle Wegbereiter der neuen Gesell-schaft, ganz allgemein „die Produktion als Ausgangspunkt und die Konsumtion als Endpunkt“ des Wirtschaftskreislaufs erkannt und als Vorlage mitgegeben.21

    Ewig ließ sich eine spürbare Verbesserung der Lebenslage auch nicht auf-schieben. Zwar waren im Umfeld des „Neuen Kurses“ einige ursprünglich für die Schwerindustrie vorgesehenen Investitionen vorübergehend in die ver-brauchsnahen Industrien umgelenkt worden. Das erwies sich aber als eine tak-tische Maßnahme. Der „Neue Kurs“ wurde 1955 offiziell zu Grabe getragen. Eine vorrangige Entwicklung der Konsumgüterindustrie brandmarkte Ulbricht als falschen Kurs: „Wir hatten niemals die Absicht, einen solchen falschen Kurs einzuschlagen und werden ihn niemals einschlagen.“22 Die Schwerindustrie be-hielt ihre Vorrangstellung in den 1950er- und 1960er-Jahren bei und dies be-deutete angesichts der Begrenztheit der Ressourcen eine geringe Zuweisung an Investitionen zur Entwicklung der Leicht-, Textil- und Lebensmittelindustrie.

    In wirtschaftshistorischen Untersuchungen wird der Tatbestand unterschied-licher Geschwindigkeiten der Produktion von Produktionsmitteln und Konsum-gütern im Industrialisierungsprozess in der Regel anhand von Niveau- und Wachs-tumsrelationen zwischen den Zweigen der Schwerindustrie und der Leicht-, Textil- und Lebensmittelindustrie analysiert.23 Solche Berechnungsansätze sind unscharf und haben den Nachteil, dass unter dem Dach der Hauptproduktion eines Zweigs erfassungstechnisch nicht nur die zweigtypische Produktion, son-dern auch viele nichttypische Erzeugungen vereint werden. Außerdem lässt sich bei Produkten, die sowohl für investive als auch für konsumtive Zwecke verwen-det werden können, nicht auf die tatsächliche Verwendung schließen. Abhilfe schafft hier ein alternatives Messkonzept, bei dem genau diese Unterscheidung getroffen wird. Dies ist der Fall bei der Einteilung der Gesamtproduktion gemäß dem Reproduktionsschemata von Marx in die Abteilungen I (Produktionsmit-tel) und II (Konsumtionsmittel). Solche Angaben hat die amtliche Statistik der DDR intern ermittelt, aber niemals veröffentlicht. Die Produkte der Abteilung I werden nochmals unterteilt in Kapitalgüter (Arbeitsmittel) und Produktionsgüter (Arbeitsgegenstände).24 Diese Angaben vermitteln ein genaueres Bild der Pro-duktionsschwerpunkte und ihrer Veränderung in der Zeit.

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  • Wirtschaftliche Entwicklung der SBZ / DDR 123

    Zirkulation und Verwendung von Sachgütern stehen. Die methodischen Unterschiede zum westlichen Gesamtrechnungssystem (SNA) wirken sich auch auf die statistische Abgrenzung zwischen der Produktion von Produktionsmitteln (Kapital- und Produk-tionsgüter) und Konsumtionsmitteln in der amtlichen DDR-Statistik aus. Im Vergleich zum Berechnungskonzept des Bruttoinlandsprodukts wird einerseits der Anteil der Konsumtionsmittel überhöht ausgewiesen, da er auch die für den Einsatz im Dienstleis-tungsbereich bestimmten Produktionsmittel (Produktions- und Investitionsgüter) um-fasst. Andererseits geht der konsumtive Verbrauch von Dienstleistungen, die außerhalb von Handel und Verkehr entstehen, nur zu seinem Materialwert in die Berechnung der Konsumtionsmittel ein. Infolge der Unterentwicklung der gewerblichen Dienstleistungs-zweige in der DDR hält sich jedoch dieser Informationsverlust in engen Grenzen. Vgl. zu dem ursprünglichen Erfassungskonzept Wilfried Bartel/Werner Karbstein/Wolfgang Schmidt, Statistik des Nationaleinkommens. Berechnungsmethoden, Bilanzierung und Analyse, Berlin (Ost) 1971, S. 94 ff.

    25 Vgl. Gesetz über den Siebenjahrplan. In: Gesetzblatt der DDR I, 56/1959, S. 704.26 Vgl. Gesetz über den Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR

    1971–1975. In: Gesetzblatt der DDR Teil I, Berlin (Ost) 1971, S. 175.27 Abweichend von der Nationaleinkommensrechnung sind in der Abbildung die Investitio-

    nen in den Wohnungsbau und in soziale Einrichtungen Bestandteil der Konsumtionsmittel.

    Abbildung 1 zeigt die herausragende Bedeutung der Herstellung von Produk-tionsmitteln bei der Umsetzung der Industrialisierungsstrategie in den 1950er- und 1960er-Jahren und die Nachrangigkeit der Produktion von Konsumgütern für den täglichen und gehobenen Bedarf, selbst im Gefolge der Ereignisse um den 17. Juni 1953. Auch die 1958 eingeleiteten, aber bald aufgegebenen Maßnahmen, „Westdeutschland im Pro-Kopf-Verbrauch bei den meisten indus-triellen Konsumgütern und Lebensmitteln bis Ende 1961 einzuholen und zu überholen“25 führten nur vorübergehend zu einem Anziehen der Konsumgü-terproduktion. Insgesamt nahm die Produktion von Konsumgütern weiterhin langsamer zu als die von Produktionsmitteln.

    Erst infolge des von Honecker mit der Betonung der „Einheit von Wirt-schafts- und Sozialpolitik“ vollzogenen Strategiewechsels hin zur unmittelbaren Verbesserung der Lebenslage rückte die Versorgung mit Konsumgütern in den Vordergrund. Preiserhöhungen bei Konsumgütern wurden dabei rigoros ausge-schlossen.26

    In den 1970er-Jahren stiegen Produktion und Verbrauch von Konsumtions-mitteln aus eigener Produktion und Importen schneller als der von Kapi-talgütern. In den 1980er-Jahren blieb auch das Wachstum der Produktion von Produktionsgütern hinter dem der Konsumtionsmittel zurück. Der Wohnungs bau27 wurde forciert und mehr Konsumgüter des Grund- und des ge-hobenen Bedarfs bereitgestellt. Wegen der Kapazitätsengpässe in den Konsum-güterindustrien erhielten zudem ab 1983 die Produktionsmittel herstellenden Industriekombinate die Auflage, mindestens fünf Prozent ihrer Produktion der Herstellung von Konsumgütern zu widmen.

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  • Udo Ludwig124

    Kapitalgüter Produktionsgüter KonsumtionsmittelLegende:

    Abb. 1: Zusammensetzung des Bruttoprodukts der DDR nach Güterabteilungen; Quellen: Staatliche Zentralverwaltung für Statistik: Statistisches Jahrbuch des gesellschaftlichen Gesamtprodukts und des Nationaleinkommens der DDR, verschiedene Jahrgänge; eigene Berechnung und Darstellung.

    Produktion Inländische Verwendung

    1955=100 1955=100

    1960=100 1960=100

    1970=100 1970=100

    1980=100 1980=100

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  • Wirtschaftliche Entwicklung der SBZ / DDR 125

    28 Bis dahin stand in den westlichen Systemen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnun-gen (SNA) das Bruttosozialprodukt im Zentrum der Leistungsrechnung.

    29 Ein Nationaleinkommen gibt es seit seiner Revision im Jahr 1995 auch im Europäischen System. Es bezeichnet jedoch andere Inhalte als in der Volkswirtschaftlichen Gesamt-rechnung der DDR.

    30 Statistisches Jahrbuch der DDR, verschiedene Jahrgänge bis 1989. Hg. von der Staatli-chen Zentralverwaltung für Statistik, Berlin (Ost), Abschnitt Nationaleinkommen.

    31 Vgl. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, DDR-Wirtschaft. Eine Bestandsauf-nahme, Frankfurt a. M. 1971, S. 94 ff.

    32 Vgl. Statistisches Jahrbuch der DDR 1990. Hg. vom Statistischen Amt der DDR, Berlin 1990, S. 107 ff.

    III. Wachstumstendenzen der DDR-Wirtschaft

    1. Konzepte der Messung der gesamtwirtschaftlichen Leistung der DDR und ihre Wachstumstypen

    1.1 Das Bruttoinlandsprodukt der DDR

    Die wirtschaftliche Leistung eines Landes wird seit den 1990er-Jahren weltweit im Bruttoinlandsprodukt gemessen.28 Diese Kennzahl gab es bis 1989 in der amtlichen Statistik der DDR und den meisten Zentralplanwirtschaften nicht. Stattdessen wurde eine andere Größe als Ausdruck der gesamtwirtschaftlichen Leistung ermittelt, das Nationaleinkommen.29 Seine Größe beruhte auf einem eng abgegrenzten Produktionsbegriff und deckte die wirtschaftliche Leistung nur so weit ab, wie sie mit der Produktion von Sachgütern, deren Distribution, Zirkulation und Verbrauch verbunden war. Dazu gehörten im Kern die wirt-schaftlichen Transaktionen der Land- und Forstwirtschaft, des produzierenden Gewerbes, aber auch des Bereichs Handel und Verkehr, über den die produ-zierten Sachgüter zu den Verbrauchern gelangen. Allen anderen unternehmens-nahen wie verbrauchernahen Dienstleistungsbereichen wurde keinerlei Wert-schöpfung zugeschrieben; sie zählten zu den Verbrauchern der produzierten Sachgüter.30 Im Interesse der nationalen und internationalen Vergleichbarkeit wurde das Bruttoinlandsprodukt für die DDR nachträglich berechnet.

    In den Zeiten der deutschen Teilung hat es nicht an Versuchen von west-lichen Wirtschaftsforschern gefehlt, für die DDR ein Bruttoinlandsprodukt zu ermitteln.31 Diese Versuche blieben unvollständig, da der Zugang zu den erforderlichen Ausgangsdaten nicht gegeben war. Erst mit dem Ende der DDR änderte sich die Datensituation grundlegend. Noch im Jahr 1990 veröffentlichte das Statistische Amt der DDR eigene Berechnungen für die 1980er-Jahre.32 Die DFG legte ein Forschungsprogramm auf, mit dem ex post auch volkswirtschaft-liche Gesamtrechnungen für die DDR nach bundesdeutschem Muster aufge-stellt werden konnten. Ergebnisse liegen seit dem Jahr 2000 in der Standard-form einer Dreiseitenrechnung für die Entstehung, Verteilung und Verwendung des Bruttoinlandsprodukts in Mark der DDR und zu laufenden Preisen für die

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  • Udo Ludwig126

    33 Vgl. Entstehung und Verwendung des Bruttoinlandsprodukts 1970 bis 1989 (DFG-Pro-jekt). In: Sonderreihe mit Beiträgen für das Gebiet der ehemaligen DDR, Heft 33. Hg. vom Statistischen Bundesamt, Wiesbaden 2000.

    34 Vgl. Gerhard Heske, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. DDR 1950–1989. Daten, Me-thoden, Vergleiche, HSR-Supplement-Heft 21, Köln 2009. Hier erfolgte der Übergang der Angaben von Mark der DDR in D-Mark in Anlehnung an die Methode des Preisvergleichs für Waren und Dienstleistungen aus DDR-Produktion zum Zeitpunkt der deutschen Wäh-rungsunion. Zur Methode vgl. Udo Ludwig/Reiner Stäglin/Carsten Stahmer, Verflech-tungsanalysen für die Volkswirtschaft der DDR am Vorabend der deutschen Vereinigung. In: DIW-Beiträge zur Strukturforschung, 1996/163, S. 24 ff.

    35 Vgl. Wilma Merkel/Stefanie Wahl, Das geplünderte Deutschland – Die wirtschaftliche Entwicklung im östlichen Teil Deutschlands von 1949 bis 1989, Bonn 1991.

    36 Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird in Mark der DDR angegeben und dann anhand zeitvariabler Koeffizienten in D-Mark umgerechnet. Insbesondere fehlt eine solide Begründung für die zahlenmäßige Ableitung der Umrechnungskoeffizienten der Wäh-rungen. Mehr noch: Die Experten in den statistischen Ämtern sind wegen der unvoll-ständigen Ausgangsinformationen darauf angewiesen, sich dem wahren Wert des BIP über seine Entstehungs-, Verteilungs- und Verwendungskomponenten anzunähern. Dies scheint hier nicht erfolgt zu sein. Während der Niveauvergleich der Ergebnisse für ein Stichjahr eine statistisch vertretbare Abweichung zwischen dem von Merkel/Wahl ermit-telten BIP in DDR-Mark und der nach statistischen Standardverfahren berechneten Grö-ße im DFG-Projekt ergab, offenbart die Umrechnung in DM-Preise große Unterschiede. Die Umrechnungskoeffizienten orientieren sich vermutlich an den internen Wechselkur-sen (sogenannte Richtungskoeffizienten) im Außenhandel zwischen der DDR und der BRD. Wechselkurse sind jedoch laut OECD untauglich für solche Vergleiche, da sie das im BIP der betreffenden Länder enthaltene reale Volumen der Waren und Dienstleistun-gen nicht widerspiegeln. Generell wird bei Verwendung von Wechselkursen das reale BIP von Niedrigeinkommensländern unterzeichnet. Deshalb werden von internationalen Or-ganisationen Kaufkraftparitäten für die einzelnen Nachfrageaggregate des BIP ermittelt.

    37 Vgl. Albrecht Ritschel/Mark Spoerer, Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktsstatistiken 1901–1995. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1997/2, Berlin 1997, S. 47.

    1970er- und 1980er-Jahre vor.33 Die Angaben wurden später in D-Mark bzw. Euro zu den auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nach der deutsch-deutschen Währungsunion entstandenen Markt- und administrierten Preisen umbewertet und bis zum Jahr 1950 zurückgerechnet.34 Darüber hinaus gibt es einen Be-rechnungsansatz des Bruttoinlandsprodukts der DDR, der bereits kurz nach der deutschen Vereinigung veröffentlicht wurde,35 dem es jedoch für aussage-fähige Analysen an der erforderlichen Transparenz mangelt. Insbesondere ist der Übergang der Berechnungen von den Angaben in der Binnenwährung der DDR zur D-Mark strittig.36 Für die im Folgenden dargestellten analytischen Un-tersuchungen zur wirtschaftlichen Entwicklung der DDR erwiesen sich diese Zeitreihen zudem als wenig plausibel und brauchbar. Leider hat dieser Ansatz trotz Vorbehalten der Autoren in den 1990er-Jahren Eingang in einige wirt-schaftshistorische Untersuchungen zur Entwicklung der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert gefunden.37

    Legt man die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts aus dem DFG-Projekt und seiner Fortführung zugrunde, so treten die neuralgischen Punkte in der Ent-wicklung der Volkswirtschaft der DDR sowie der Verlust an Wachstumsdynamik

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  • Wirtschaftliche Entwicklung der SBZ / DDR 127

    in den letzten beiden Jahrzehnten ihrer Existenz deutlich hervor. Der Aufstand am 17. Juni 1953 ging mit Arbeitsniederlegungen und Produktionsausfällen ein-her; das führte zu einem Wachstumseinbruch. Die vorübergehende wirtschaftspo-litische Umsteuerung auf die Erhöhung des Lebensstandards (Neuer Kurs) setzte Wachstumsimpulse. Die forcierte Industrialisierung in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre stärkte das Wachstum, die Abwanderung in den Westen belastete es. Die Unruhen in Polen und Ungarn 1956 führten zu Liefer- und Produktionsausfäl-len. Nach der Abschottung durch den Mauerbau setzte eine Konsolidierungspha-se ein, die in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre mit den Wirtschaftsreformen ab dem Jahr 1963 die Rückkehr auf einen hohen Wachstumspfad ermöglichte.

    Veränderung gegenüber Vorjahr in %

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    Aufstand 17.6.1953 Wirtschaftsreform

    1963–1969

    Letzte Verstaat-lichungswelle

    Mauerbau 13.8.1961 Mauerfall

    Nov. 1989

    Unruhen Polen 1956

    Zahlungsbilanz-krise 1982

    Neuer Kurs1953–1955

    Rezentralisierung der Wirtschaftslenkung1970–1989

    Sozialpolitisches Programm

    Abb. 2: Wachstum des Bruttoinlandsprodukts der DDR im historischen Kontext; Quellen: eigene Berechnungen und Darstellung auf Basis von Gerhard Heske: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. DDR 1950–1989. Daten, Methoden, Vergleiche. HSR-Supplement, Heft 21, Köln: ZHSF 2009, S. 248.

    Mit dem Abbruch der Reformen und der Renaissance administrativer Pla-nungsmethoden bereits Anfang der 1970er-Jahre schwächte sich der Wachs-tumspfad ab. Die Rezentralisierung der Wirtschaftslenkung erreichte Ende der 1970er-Jahre ihren organisatorischen Höhepunkt, als die Industriebetriebe in einer zweiten Welle zu großen Kombinaten zusammengeschlossen wurden, die quasi als Branchenmonopolisten fungierten. Nach dem Machtantritt von Honecker fand 1972 die letzte Verstaatlichungswelle der privaten Betriebe statt. Diese wurden aber in der Regel nicht geschlossen, sondern wechselten den Eigentümer und produzierten weiter. Mit der Realisierung des sozialpoliti-schen Programms unter Honecker beschleunigte sich das Wirtschaftswachstum

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  • Udo Ludwig128

    38 Für die Zusammenfügung der Wachstumsbeiträge der Faktoren wird auf deren durch-schnittliche Produktionselastizitäten zurückgegriffen. Dazu wird bei empirischen Unter-suchungen auf die Anteile der Entlohnung der Faktorleistungen am Nettoinlandsprodukt zurückgegriffen. Für die DDR beliefen sie sich in den 1970er- und 1980er-Jahren auf 0,45 für den Faktor Arbeit und 0,55 auf den Faktor Kapital. Die OECD empfiehlt, für Deutschland über den gesamten Zeitraum 1960 bis 2003 den Wert 0,65 für den Faktor Arbeit und 0,35 für den Faktor Kapital anzusetzen. Die Auswirkungen dieses alternativen Rechenansatzes sind zwar zahlenmäßig groß, ändern aber nichts an den grundsätzlichen Ergebnissen zur Identifizierung der vorherrschenden Wachstumstypen in einzelnen Perioden.

    noch einmal, aber nur vorübergehend. Der Politikansatz zur Abwendung der drohenden Zahlungsunfähigkeit infolge der kreditfinanzierten Verbesserung des Wohlstandsniveaus und der Preissteigerungen auf den Bezugsmärkten von Öl und Gas trugen zur Verlangsamung des Wirtschaftswachstums zu Beginn der 1980er-Jahre bei und untergruben seine künftigen Quellen.

    1.2 Extensives und intensives Wirtschaftswachstum

    Das Produktionswachstum kann nach verschiedenen Gesichtspunkten klassi-fiziert werden. In der Regel wird in Anlehnung an die beiden grundlegenden Produktionsfaktoren zwischen arbeits- und kapitalsparendem Wachstum unter-schieden. Verdeckt wird bei dieser Typologie das Verhältnis zwischen der über die zentrale Planung eher lenkbaren quantitativen Veränderung der Faktor-einsätze (extensive Komponente) und deren zentral weniger beeinflussbaren Wirksamkeit der Nutzung (intensive Komponente). Diese Unterscheidung ist aber wichtig, wenn auf die Bedeutung qualitativer Wachstumsquellen abgestellt wird. Dies gelingt bis zu einem gewissen Grade mit der Methode des „Growth Accounting“. Hier lässt sich das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in drei Faktoren zerlegen: den Beitrag des Faktors Arbeit, den Beitrag des Faktors Kapital und eine Restgröße, das sogenannte Solow-Residuum, das auch als totale Faktorproduktivität (TFP) bezeichnet wird. Dieser Modellansatz bietet den methodischen Vorteil, auf einzelne Faktoren begrenzte partialanalytische Erklärungsansätze, wie sie vor allem in den frühen Jahren der Untersuchung von wirtschaftlichen Wachstumsprozessen häufig anzutreffen waren, in einer Totalanalyse zu vereinen.

    Die Beiträge aus der Veränderung des mengenmäßigen Einsatzes an Ar-beit und Kapital lassen sich hier zur extensiven Komponente des Produkti-onswachstums zusammenführen, das heißt zur Zunahme der wirtschaftlichen Leistung bei unterstellter gleichbleibender Produktivität der beiden Fakto-ren.38 Das Residuum erfasst dagegen jenen Teil des Zuwachses an Bruttoin-landsprodukt, der sich nicht auf die mengenmäßigen Veränderungen des zu

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  • Wirtschaftliche Entwicklung der SBZ / DDR 129

    seiner Erwirtschaftung aufgewandten Kapital- und Arbeitseinsatzes zurück-führen lässt. Es bringt damit die Wachstumswirkung aller nicht im Umfang des Kapital- und Arbeitseinsatzes erfassten Faktoren zum Ausdruck, wie der Qualität der Faktoren Arbeit und Kapital – gemessen beim Faktor Arbeit bei-spielsweise als Humankapital –, der Kombination der Produktionsfaktoren miteinander, der Organisation und Koordination der Produktionsprozesse, der Einführung neuer Produkte und Verfahren und vieles andere mehr, aber auch statistische Messfehler. In der Summe ergeben diese Faktoren daher zu-mindest eine Orientierungsgröße für die technologisch, organisatorisch und institutionell begründete Effizienzsteigerung der Produktion insgesamt, ohne dass eine Zurechenbarkeit im Einzelnen erfolgt. Das Residuum zeigt im Grun-de genommen die Wirkung der intensive ren Nutzung und Kombination der beiden grundlegenden Produktionsfaktoren, ist daher ein Indikator für den Anteil der Steigerung der Systemeffizienz und bildet damit die intensive (qua-litative) Wachstumskomponente ab. Errechnet als Residuum, enthält sie auch die Ergebnisse der Anstrengungen zur Einsparung beim Vorleistungsverbrauch sowie zur Wiederherstellung des bestehenden Kapitalstocks auf produktiver-em als ursprünglichem Niveau.

    2. Quellen des Wirtschaftswachstums

    2.1 Entwicklung der quantitativen Seite des Produktionspotenzials

    Die Erwerbstätigkeit hat über den gesamten Zeitraum der Existenz der DDR trotz rückläufiger Einwohnerzahl sowie Personen im erwerbsfähigen Alter zu-genommen, und der Kapitalstock wurde kräftig ausgebaut. Im Jahr 1989 lebten 16,6 Millionen Personen auf dem Gebiet der DDR, davon gingen 9,7 Millionen einer Erwerbstätigkeit nach. Gegenüber dem Jahr 1950 bedeutete dies einen Rückgang der Einwohnerzahl um knapp 10 Prozent, aber einen Anstieg der Anzahl der Erwerbstätigen um fast 17 Prozent (s. Tabelle 3).

    Dieser Zuwachs beruhte vor allem auf dem gesteigerten Einbezug von Frau-en in das Erwerbsleben. Im Jahr 1989 standen 43 Prozent mehr Frauen im Er-werbsleben als 1950. Die Beschäftigung von Männern war dagegen bis Anfang der 1970er-Jahre gesunken, ehe sie am Ende der DDR fast wieder den Stand von 1950 erreichte.

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  • Udo Ludwig130

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  • Wirtschaftliche Entwicklung der SBZ / DDR 131

    Das Produktionspotenzial wurde bis zum Mauerbau nicht allein aus demo-grafischen Gründen, sondern auch durch die Abwanderung von Personen und namhaften Firmen aus vielen Produktionszweigen geschwächt. So gingen dem Wirtschaftsgebiet Facharbeiter, Akademiker und Unternehmertum auf lange Zeit verloren. Der Verknappung des Arbeitsangebots wurde mit einer Vielzahl politischer Entscheidungen gegengesteuert. Sozialpolitische Maßnahmen wie der Ausbau der öffentlichen und betrieblichen Einrichtungen zur Kinderbe-treuung, die bezahlte Freistellung an einem Arbeitstag pro Monat (sogenannter Haushaltstag), die Flexibilisierung der betrieblichen Arbeitszeiten erleichterten vor allem den Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt. Ihr Beschäftigungsgrad näherte sich immer mehr dem der Männer an. Nach der Abschottung der DDR im Jahr 1961 durch den Bau der Berliner Mauer kamen demografische Fak-toren voll zum Durchbruch. Die Zahl der Geburten sank ständig und die der Gestorbenen überwog die Zugänge.

    In den Jahren von 1966 bis 1970 ist trotz des Rückgangs der Einwohner-zahl im erwerbsfähigen Alter die Zahl der Beschäftigten aufgrund des weiter gewachsenen Beschäftigungsgrades gestiegen. Arbeitszeitverkürzungen infolge der schrittweisen Einführung der Fünf-Tage-Arbeitswoche in den Jahren 1966 und 1967 und der Erhöhung des Mindesturlaubs wurden allerdings weitgehend durch die Zunahme von Überstunden im Zusammenhang mit der Aufholung von Planrückständen kompensiert.

    Zugleich wurden Maßnahmen eingeleitet, das Bildungs- und Qualifikations-niveau der Beschäftigten anzuheben. Im Jahr 1965 wurde die zehnklassige po-lytechnische Oberschule eingeführt. Mit der Hochschulreform in den Jahren 1968/69 wurden die Zulassungen zum Studium an Universitäten, Hoch- und Fachschulen erhöht; in der Ausbildung von Lehrlingen wurden die schulische Bildung und die berufspraktische Ausbildung besser aufeinander abgestimmt. Während im Jahr 1970 von 1 000 Beschäftigten erst 647 auf eine abgeschlossene Berufsausbildung verweisen konnten, waren es 1980 bereits 837. Noch rasanter war der Anstieg des Ausbildungsstandes der weiblichen Beschäftigten in diesem Zeitraum von 533 auf 775 Personen. In den folgenden Jahren setzte sich die Anhe-bung des Ausbildungsstandes fort, wenn auch in geringerem Tempo (s. Tabelle 4).

    Der Kapitalstock ist früh durch kräftige Investitionen während der ersten Fünfjahrpläne in den 1950er-Jahren vor allem in der Industrie erweitert worden (Kapazitätseffekt). Er stieg schneller als die Anzahl der Erwerbstätigen, sodass sich die Kapitalintensität der Arbeitsplätze und der Produktion deutlich erhöh-te. In den Nachkriegsjahren galt es zunächst, die zerstörten Produktionsanlagen wieder herzurichten und die Umsiedler in den Produktionsprozess einzuglie-dern. So stiegen bis Mitte der 1950er-Jahre sowohl die Beschäftigung als auch der Kapitalstock in moderaten Tempi. Danach setzte ein längerer, vor allem durch die Abwanderung großer Bevölkerungsteile verursachter Rückgang der Anzahl der männlichen Erwerbstätigen ein. Zugleich beschleunigte sich der Ausbau des Kapitalstocks infolge der Aktivierung der großen Investitionspro-jekte der 1950er-Jahre.

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  • Udo Ludwig132

    Mit der Grenzschließung im Jahr 1961 wurde zwar die Abwanderung gestoppt. Der Beschäftigungsrückgang setzte sich jedoch bis 1963 fort und wurde erst mit dem Eintritt zahlenmäßig stärkerer Jahrgänge und der Mobilisierung immer neuer Bevölkerungsschichten, insbesondere der Frauen, zur Arbeitsaufnahme beendet.

    Der Aufwuchs des Kapitalstocks seit Mitte der 1960er-Jahre war infolge der hohen Investitionen beträchtlich. Die Steigerung um jeweils rund ein Viertel innerhalb von fünf Jahren scheint aus Sicht des Growth-Accounting-Modells auf eine vorrangige Bedeutung der extensiven Komponenten des Wirtschaftswachs-tums hinzudeuten. Wie im Folgenden gezeigt wird, war die damit verbundene Steigerung der Kapitalintensität aber mit noch kräftigeren Produktivitätsgewin-nen verbunden. In späteren Jahren gelang das nicht mehr.

    Die Entwicklungsreihe der Größe des Kapitalstocks verhüllt zugleich eine Be-sonderheit in qualitativer Hinsicht, nämlich seinen Modernisierungsgrad und die altersmäßige Zusammensetzung des Kapitalstocks. Sein Umfang erhöht sich auch dann, wenn die Aussonderung abgeschriebener, veralteter, unproduktiver Anla-gen unterlassen wird, wie das insbesondere in den 1970er- und 1980er- Jahren

    Tabelle 4: Erwerbstätige im staatlichen und genossenschaftlichen Sektor der Volkswirtschaft der DDR nach dem Ausbildungsstand

    Personen je 1 000 Erwerbstätige

    Ausbildungsabschluss 1970 1975 1980 1985 1989

    Erwerbstätige insgesamt

    Insgesamt 647 755 837 883 903

    darunter mit:

    Hochschulabschluss 39 55 67 75 81

    Fachschulabschluss 68 86 121 134 141

    Meisterabschluss … 35 37 39 42

    Facharbeiterabschluss 480 531 577 602 606

    Weibliche Erwerbstätige

    Insgesamt 533 660 775 844 877

    darunter mit:

    Hochschulabschluss 22 35 47 58 67

    Fachschulabschluss 51 75 140 168 185

    Meisterabschluss … 7 8 10 12

    Facharbeiterabschluss 394 491 546 579 585

    Quelle: Statistisches Jahrbuch der DDR 1990, S. 138.

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  • Wirtschaftliche Entwicklung der SBZ / DDR 133

    Tabelle 5: Verschleißgrad des Kapitalstocks in der DDR-Wirtschaft, Anteil der kumulierten Abschreibungen am Bestand in %

    Bereich 1975 1980 1985 1989

    Insgesamt

    Land- und Forstwirtschaft 36,8 38,4 42,0 43,3

    Industrie 42,2 43,5 44,6 46,7

    Produz. Handwerk (ohne Bauhandwerk) 31,9 43,3 49,3 54,3

    Bauwirtschaft 41,5 41,4 47,9 51,2

    Verkehr und Nachrichten-übermittlung 48,8 48,5 50,8 51,3

    Handel 37,5 36,5 39,4 41,6

    Wohnungswirtschaft 43,0 43,9 43,3 42,0

    Bildungswesen 41,4 40,0 37,0 35,8

    Gesundheits- und Sozialwesen 52,5 50,4 45,4 45,0

    Ausrüstungen

    Land- und Forstwirtschaft 49,8 56,7 63,0 60,8

    Industrie 47,3 50,8 52,7 54,2

    Produz. Handwerk (ohne Bauhandwerk) 32,3 46,7 55,0 61,3

    Bauwirtschaft 52,9 56,4 67,2 68,6

    Verkehr und Nachrichten-übermittlung 49,6 49,7 54,5 54,5

    Handel 49,9 49,2 54,7 56,5

    Wohnungswirtschaft 34,5 39,3 40,8 47,3

    Bildungswesen 54,4 62,9 67,2 65,7

    Gesundheits- und Sozialwesen 60,1 60,7 63,1 60,8

    Quelle: Statistisches Jahrbuch der DDR 1990, S. 120 f.

    ISBN Print: 9783525369753 — ISBN E-Book: 9783647369754© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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  • Udo Ludwig134

    39 Dieses Ergebnis überrascht, da der Intensitätsaspekt des Wachstums in den Analysen jener Zeit keine Erwähnung fand. Erst im Laufe der 1960er-Jahre gelangt er auf die Agenda, als der Produktionsapparat kräftig ausgebaut worden war, die Verknappung des Arbeitsangebots die wirtschaftliche Leistung spürbar beeinträchtigte und insbeson-dere die Steigerung des Beschäftigungsgrades der Männer auf natürliche Grenzen stieß.

    am hohen Verschleißgrad der Anlagen deutlich zu sehen ist. So war der Aus-rüstungsbestand in allen großen Wirtschaftsbereichen 1989 zu mehr als der Hälfte abgeschrieben (s. Tabelle 5). Dieser Zustand kam nicht von ungefähr, sondern war systemimmanent. Die Konzentration der Investitionstätigkeit auf sogenannte strukturbestimmende Zweige und Projekte seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre und insbesondere in den 1970er-Jahren auf die erneute Wende in der Energiegewinnung zurück zur Braunkohle, die Entwicklung einer eige-nen Mikroelektronikindustrie sowie den Wohnungsbau hat immer wieder zur Vernachlässigung der Investitionsanstrengungen in anderen Wirtschaftszwei-gen geführt. In vielen Bereichen reichte es nicht einmal für Ersatzinvestitionen. Zur Erfüllung ihrer Produktionspläne waren die Betriebe deshalb gezwungen, veraltete Anlagen weit über ihre Nutzungsdauer im Bestand zu halten.

    Infolgedessen sind die kräftigen quantitativen Zuwächse des Kapitalstocks nicht gleichzusetzen mit einer entsprechenden Erweiterung der Produktionska-pazitäten. Die wahre Leistungsfähigkeit wird überschätzt, und der Anteil dieser extensiven Komponente am Wirtschaftswachstum in den 1970er- und 1980er- Jahren vom Modell ein stückweit überzeichnet. Spätestens seit 1973 dürfte die-se Ungenauigkeit jedoch die folgende grundlegende Aussage zum Verhältnis der Wachstumsquellen nicht in Frage stellen.

    2.2 Gescheiterter Übergang zum intensiven Wachstumstyp

    Wachstumsperioden kann man für analytische Zwecke nach Höhe und Verlauf der Zuwachsraten der wirtschaftlichen Leistung, nach politischen Schlüsselent-scheidungen, nach demografischen und anderen Faktoren voneinander abgren-zen. In der Regel richten sie sich allerdings nicht nach den Dekaden oder Fünf-jahresabschnitten des Kalenders. Zusätzlich zum zeitlichen Wechsel zwischen extensivem und intensivem Wachstumstyp werden im Folgenden Unterperioden in Abhängigkeit von der Entwicklungstendenz des Arbeitsangebots gebildet.

    Für die Zeit bis zur Grenzsicherung wuchs die Wirtschaft der DDR auf inten-sive Art und Weise (s. Tabelle 6).39 Der Anteil extensiver Quellen war gering, da nach dem Kriegsende die Wirtschaft mit einem arg zerstörten und durch die Re-parationen dezimierten Produktionsapparat auskommen und in Gang gehalten werden musste, und dies mit einem Beschäftigungszuwachs durch die Umsiedler aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Hier genügten kleine Anstöße durch Investitionen, um das vorhandene Arbeitspotential für Produktionssteigerungen einzusetzen. Die Ausstattung der Arbeitsplätze mit Maschinen und Anlagen er-

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  • Wirtschaftliche Entwicklung der SBZ / DDR 135

    40 Vgl. auch den Beitrag von Spiridon Paraskewopoulos in diesem Band.

    höhte sich und mit ihr die Produktivität von Arbeit und Kapital. Die Verknappung des Arbeitskräftepotenzials durch die überhand nehmende Abwanderung seit Mitte der 1950er-Jahre übte zusätzlich einen starken Zwang zur Intensivierung der Produktion aus. Dieses Ergebnis überrascht nur auf den ersten Blick. In Wirk-lichkeit fiel einerseits mit der leicht rückläufigen Beschäftigung eine extensive Wachstumsquelle aus, andererseits trugen die großen Investitionsprogramme im ersten und zweiten Fünfjahrplan zur Erweiterung der anderen extensiven Wachs-tumsquelle, des Kapitalstocks, bei. Diese gegenläufigen Entwicklungen standen in einem solchen quantitativen Verhältnis zueinander, dass die Kapitalintensi-tät der Arbeitsplätze deutlich erhöht wurde und dieses Produktivitätspotenzial weiterhin in hohes Wachstum der wirtschaftlichen Leistung umgesetzt werden konnte. Die Steuerung der Wirtschaft über Zentralpläne half in dieser Entwick-lungsphase, mit großen wirtschaftlichen Aufbauprojekten die Verluste aus dem Zweiten Weltkrieg mehr als auszugleichen und einen kräftigen Wachstumskurs einzuschlagen. Der technische Fortschritt hatte erst wenig Fahrt aufgenommen, und schnell konnte an den bekannten Stand der Technik angeknüpft werden. Dank des Zugriffs auf personelle, materielle und finanzielle Ressourcen entfaltete die zentrale Planung gewisse Vorzüge bei nachholender Modernisierung.

    Seit der Abschottung der DDR durch den Bau der Berliner Mauer gelang es nicht mehr, das Produktivitätspotenzial für hohe Wachstumsraten der wirtschaft-lichen Leistung zu mobilisieren. Der Beschäftigungsrückgang lief 1963 aus, der Kapitalstock expandierte weiterhin mit hohen Raten. Die Wachstumsschwä-che der Produktion signalisiert aber, dass die extensiven Wachstumsquellen in hohem Maße in Anspruch genommen worden waren und kaum noch große Wachstumsbeiträge aus Produktivitätssteigerungen resultierten. Seit 1964 stieg die Erwerbstätigkeit, und der 1963 eingeleitete Umbau des Lenkungssystems, der Übergang zum „Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung“ und seinen bis 1969 erfolgten Modifikationen im „Ökonomischen System des Sozialismus“ begann, seine gesamtwirtschaftlichen Wirkungen zu entfalten. Der Zentralplan wurde um dezentrale wirtschaftliche Anreizsysteme für die Betriebe ergänzt. Mit einer Reform der Industriepreise und der Umbewertung des Anlagevermögens sollten dazu die wahren Kostenverhältnisse aufgezeigt werden. Die Erwirtschaftung von Gewinn rückte in das Zentrum der Leistungs-bewertung der Betriebe vor.40 Allerdings behielt die bis dahin praktizierte Pla-nungs- und Bewertungsgröße der Bruttoproduktion ihren Platz. So gerieten die Betriebsleiter mit der Erweiterung ihrer Entscheidungsspielräume in Zielkon-flikte mit den Mengenauflagen des Zentralplans. In der Folge traten Verwer-fungen im Wirtschaftsgefüge auf, der Wirtschaftskreislauf wurde gestört. Nicht unerheblich trug dazu allerdings auch die Planung mit der Konzentration der zentral gelenkten Investitionen auf sogenannte strukturbestimmende Vorhaben und die damit verbundene Vernachlässigung der Modernisierung in anderen

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  • Udo Ludwig136

    41 In internen Analysen wird bei vielen Zuliefererzeugnissen beklagt, dass der allein durch die strukturbestimmenden Vorhaben gesetzte Bedarf über den Produktionsmöglich-keiten lag.

    42 Vgl. z. B. André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, Mün-chen 2004, S. 151 ff.

    Bereichen bei. Es kam zur Entwicklung wirtschaftlicher Ungleichgewichte vor allem zwischen Zulieferindustrien und Finalproduzenten, zwischen Energiebe-darf und Energieerzeugung, zwischen Industrie und Verkehrswirtschaft.41 Die Wirksamkeit der Wirtschaftsreformen wird zwar ob ihrer Halbherzigkeit und der tatsächlichen Fehlentwicklungen angezweifelt,42 die Analyse der gesamtwirt-schaftlichen Daten signalisiert jedoch, dass es gelang, bis Ende der 1960er-Jahre die Tendenz zur Extensivierung der Produktion einzudämmen. Der intensive Wachstumstyp gewann vorübergehend wieder Oberhand. Das Übergewicht blieb jedoch gering, da die Großvorhaben zur technologischen Modernisierung eine starke Erweiterungskomponente an Arbeit und Kapital aufwiesen und be-trächtliche Mittel in die Rekonstruktion von Stadtzentren flossen.

    Tabelle 6: Wachstumsquellen des Bruttoinlandsprodukts der DDR

    Jahresdurchschnittliche Wachstumsraten bzw. Wachstumsbeiträge in %

    PeriodeBrutto-inlands- produkt

    Extensive Quellen

    Intensive Quellen

    Partielle Produkti-vitäten Kapital-

    intensitätArbeit Kapital

    1951–1956 7,83 1,24 6,58 7,55 5,66 1,79

    1957–1960 5,61 1,65 3,96 5,63 2,52 3,04

    1961–1963 3,04 2,56 0,48 3,12 –1,61 4,80

    1964–1969 5,02 2,49 2,53 4,56 0,82 3,71

    1970–1972 4,98 2,92 2,06 4,42 0,10 4,32

    1973–1979 3,67 3,33 0,34 2,68 –1,52 4,26

    1980–1983 2,80 2,89 –0,09 2,13 –1,84 4,04

    1984–1989 2,64 2,18 0,46 2,50 –1,16 3,69

    Quelle: eigene Berechnungen

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  • Wirtschaftliche Entwicklung der SBZ / DDR 137

    43 Vgl. Richta-Report, Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts. Die Auswirkungen der technisch-wissenschaftlichen Revolution auf die Produktionsverhältnisse, Frankfurt a. M. 1971, S. 272 ff.

    Zu Beginn der 1970er-Jahre blieb das Wirtschaftswachstum hoch, die Inves-titionen in die Schwerpunktbereiche trieben die Nachfrage noch an. Allerdings erhöhte sich infolge der Aktivierung der Investitionen auch der Kapitalstock, und zwar in einem solchen Maße, dass die extensiven Faktoren wieder Über-hand gewannen. Der Zentralplan allein war erneut in das Zentrum der Wirt-schaftslenkung gerückt. Trotz der Einleitung von Maßnahmen zur Intensivie-rung der Produktion durch Auflagen zur Einsparung von Material, Energie und Arbeitszeit, nahm das Gegenteil der gewollten Wirkungen Fahrt auf. So blieb es auch in den Folgejahren.

    Im Verlauf der 1970er-Jahre trat die DDR in eine Phase der Verlangsamung des Wirtschaftswachstums ein, die bis zu ihrem Ende anhielt. Die Konzentra-tion der Mittel auf Großprojekte zur Importablösung, zur erneuten Forcierung der Energiegewinnung auf Braunkohlebasis, das Mikroelektronikprogramm und die Förderung weiterer Schlüsseltechnologien trugen zwar zur Stärkung der Produktion bei wie auch das Wohnungsbauprogramm. Die Anhebung des Wohlstandes durch Importe drückte jedoch auf das Wachstum. So erhöhte sich nach dem von Honecker bei seinem Machtantritt verfügten Strategiewechsel der Kapitalstock drastisch, das Wirtschaftswachstum wurde aber vorrangig durch die Erweiterung der extensiven Quellen gespeist. Anfang der 1980er-Jah-re im Umfeld der drakonischen Maßnahmen zur Vermeidung der Zahlungsun-fähigkeit der DDR gegenüber dem westlichen Ausland beruhte es sogar aus-schließlich darauf. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität legte trotz weiterhin kräftig zunehmender Kapitalausstattung der Arbeitsplätze eine nur halb so schnelle Gangart wie davor ein. Der Rückgang der Kapitalproduktivität setz-te sich fort. Obwohl das Mikroelektronikprogramm vorankam und der Einsatz anderer Schlüsseltechnologien forciert wurde, blieb der technische Fortschritt in der Breite der Wirtschaft zurück und hemmte die weitere Steigerung der Produktion. Die für den Aufbau der mikroelektronischen Industrie und den Robotereinsatz notwendige Zuweisung der Ressourcen konnte zwar über den Zentralplan geregelt werden, die Diffusion der Ergebnisse scheiterte jedoch am fehlenden wirtschaftlichen Interesse der Betriebe. Die Umsetzung des in der neuen Technik verkörperten Potenzials blieb zurück. Hier musste die Zentral-planwirtschaft mit ihren hierarchischen Strukturen scheitern, weil die erfor-derlichen vielfältigen dezentralen Suchprozesse über den Markt ausgeschaltet blieben. Anderenfalls hätte allerdings das Machtmonopol der Parteiführung auf-gegeben werden müssen, wie es bereits Ende der 1960er-Jahre im sogenannten Richta-Report43 angedeutet worden war.

    Diese Ergebnisse zeigen, dass nachholende Modernisierungen einer Volks-wirtschaft mit Zentralplänen beschleunigt werden können. Die Vielseitigkeit

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  • Udo Ludwig138

    44 Vgl. Ralf Ahrens, Gegenseitige Wirtschaftshilfe? Die DDR im RGW - Strukturen und handelspolitische Strategien 1963–1976, Köln 2000, S. 350.

    von großen wirtschaftlichen Aufbau- und Forschungsprojekten, die Abstim-mung der arbeitsteiligen Verflechtungen zwischen den Beteiligten können bei bekanntem Stand der Technik über zentral geplante Größen gesteuert wer-den. Die Vorstöße in technisches Neuland und die Diffusion neuer Produkte und Verfahren verlangen jedoch nach Akteuren, die nicht eingezwängt sind in zentral vorgegebene Mengengrößen und die auf eigene Verantwortung han-deln können.

    3. Wettlauf zwischen Produktion und Verbrauch

    3.1 Beitrag des Außenhandels

    Für die DDR hatte der Außenhandel beachtliche Bedeutung. Das Land war arm an Rohstoffen. Zwar verfügte das Gebiet über eines der größten Vorkommen in der Welt an Braunkohle und größere Lagerstätten an Kali- und Steinsalzen, aber darüber hinaus wurden nur noch Uranerz für das Atomprogramm der UdSSR und Kupfererz mit geringem Metallgehalt in nennenswerter Höhe abge-baut. Für die Versorgung der Wirtschaft und der Einwohner war die DDR auf umfangreiche Importe an Energieträgern, Rohstoffen und Agrarerzeugnissen angewiesen, aber auch auf die Einfuhr von Vormaterial, Maschinen und Gerä-ten, Fahrzeugen und Konsumgütern, die aus Kapazitäts- oder technologischen Gründen nicht produziert werden konnten. Im Gegenzug mussten hohe Waren-exporte geleistet werden.

    Im Zuge der Eingliederung der sowjetischen Besatzungszone und später der DDR in den Einflussbereich der UdSSR verschoben sich die Auslandsmärkte im Vergleich zur Situation vor dem Zweiten Weltkrieg massiv zugunsten der RGW-Länder. Der Handel tendierte zu einer „komplementären Austausch-struktur“44 mit der Hegemonialmacht UdSSR im Zentrum des Wirtschafts-blocks. Die DDR deckte den größten Teil ihres Rohstoff- und Energiebedarfs durch Importe aus den Ländern Mittel- und Osteuropas ab. Zwei Drittel der Importe aus der UdSSR bestanden aus Energieträgern, Rohstoffen und Vor-materialien. Die eisenschaffende Industrie der DDR war auf die Importe von Eisenerz und Steinkohle aus der UdSSR sowie Koks aus Polen angewiesen. Die Energieversorger und die chemische Industrie griffen auf Erdöl- und Erdgaslie-ferungen aus der UdSSR zurück. Im Gegenzug war die DDR ein wichtiger Lie-ferant von Investitions- und Konsumgütern in die mittel- und osteuropäischen Länder. Entsprechend den Spezialisierungsmustern der Produktion im RGW bezog die UdSSR in hohem Maße Erzeugnisse des Schwermaschinen- und Anla-genbaus, Erzeugnisse der Luft- und Kältetechnik, Ausrüstungen und Maschinen

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  • Wirtschaftliche Entwicklung der SBZ / DDR 139

    45 Vgl. Klaus Werner, Die Integration der DDR-Wirtschaft, S. 56 f.46 Vgl. Deutsche Bundesbank, Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989,

    Frankfurt a. M. 1999, S. 33, 49.

    für die Landwirtschaft, Schiffe und Schienenfahrzeuge aus der DDR. Für die entsprechenden Industriezweige bedeutete das Exportquoten zwischen einem Viertel und der Hälfte der Produktionskapazität.45 Umfang und Struktur der Lieferungen wurden in bilateralen Handelsabkommen zentral festgelegt. Ähnli-ches galt für die Preise. Bedeutendes Gewicht erlangten die Rohstoffpreise, bei deren Festsetzung die Preise auf dem Weltmarkt eine wesentliche Rolle spiel-ten. Ebenso waren die Währungen der Partnerländer über ein festes Verhältnis gegenüber dem sogenannten Transferrubel auf längere Zeit fixiert. Nach Be-rechnungen der Deutschen Bundesbank setzte die DDR in der zweiten Hälf-te der 1970er-Jahre knapp zwei Drittel ihrer Exportgüter in den Ländern des Ostblocks („Sozialistischen Wirtschaftsgebiet“) ab. Darunter absorbierte die UdSSR in den 1980er-Jahren rund 55 Prozent.46 Die starke Konzentration auf wenige Großkunden gestattete Fertigungen in Großserien und die Realisierung von Kostenvorteilen, bedeutete aber zugleich eine hohe Abhängigkeit von den Abnehmern und vertiefte die Abschottung von den Gütermärkten in der westli-chen Welt. Der systembedingte Vorrang der Ostmärkte war zugleich ein wesent-licher Grund für den zunehmenden Rückstand bei Technologie, Qualität und Kosten gegenüber den westlichen Industrieländern.

    Im Westhandel („Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet“) der DDR, zu dem auch der innerdeutsche Handel gehörte, hatten seit dem Mauerbau der Import von technologisch hochwertigen Industriegütern zur Modernisierung der Pro-duktion und die Einfuhr von Agrarprodukten einen festen Platz. Hier schlugen sich aber auch die wechselnden wirtschaftspolitischen Prioritäten nieder. Es gab Zeiten, in denen wie Anfang der 1960er-Jahre auf dem Boden der Autarkiebe-strebungen die Wirtschaft „störungsfrei“ von Importen aus dem Westen gehal-ten werden sollte, Zeiten, in denen der Import von Maschinen und Anlagen im Vordergrund stand und Phasen, in denen die Einfuhr in erster Linie von Konsumgütern die Versorgungslage im Inland verbessern sollte. Im Gegenzug lieferte die DDR Erdölprodukte, Erzeugnisse des Maschinenbaus und der Elek-trotechnik sowie Konsumgüter. Der Handel mit den Ländern außerhalb des eigenen Wirtschaftsblocks, darunter der alten Bundesrepublik, wurde zu Markt-preisen in konvertibler Währung abgewickelt. Der in den exportierten Pro-dukten verkörperte technische Stand blieb hinter dem technischen Fortschritt auf den westlichen Märkten zurück, sodass es der DDR immer schwerer fiel, die Gegenleistung für die Importe zu erbringen. Im Einklang mit dem Bestrebungen nach Wahrung der Unabhängigkeit von den westlichen Ländern legte die Füh-rung der DDR allerdings großen Wert auf eine ausgeglichene Handelsbilanz.

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  • Udo Ludwig140

    47 Vgl. Staatliche Zentralverwaltung für Statistik, Bericht über die Entwicklung des gesell-schaftlichen Gesamtprodukts und des Nationaleinkommens im Jahr 1963, Berlin 1964, Blatt 17.

    Die Mark der DDR war eine Binnenwährung. Amtliche Wechselkurse gab es nicht. So ging von den Preisverhältnissen zwischen dem Inland und dem Ausland ein nicht geringer Einfluss auf die Verfügbarkeit der wirtschaftlichen Leistung im Inland aus. Soweit sie in den internationalen Güteraustausch ein-bezogen war, ließ sich jedoch die Wertigkeit einer Mark über das Verhältnis der Inlands- zu den im Außenhandel erzielten Preisen der gehandelten Güter bestimmen. Dieses Verhältnis hat sich laut den internen Berechnungen der amt-lichen Statistik der DDR bereits in den 1950er-Jahren verschlechtert. Für den Erlös einer D-Mark im Außenhandel mussten 1960 bereits Güter für 1,50 Mark aus der inländischen Produktion aufgewendet werden.47 Am Ende der DDR

    Tabelle 7: Investitions- und Konsumquoten der DDR-Wirtschaft 1970 bis 1989 in % zum B