15

Sophie von Glinski - media.hugendubel.de

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Sophie von Glinski - media.hugendubel.de
Page 2: Sophie von Glinski - media.hugendubel.de

Sophie von GlinskiImaginationsprozesse

Page 3: Sophie von Glinski - media.hugendubel.de

Quellen und Forschungenzur Literatur- und Kulturgeschichte

Begründet als

Quellen und Forschungenzur Sprach- und Kulturgeschichte

der germanischen Völker

von

Bernhard Ten Brink undWilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp undWerner Röcke

31 (265)

≥Walter de Gruyter · Berlin · New York

Page 4: Sophie von Glinski - media.hugendubel.de

ImaginationsprozesseVerfahren phantastischen Erzählens

in Franz Kafkas Frühwerk

von

Sophie von Glinski

≥Walter de Gruyter · Berlin · New York

Page 5: Sophie von Glinski - media.hugendubel.de

Gedruckt mit Unterstützung der Johanna und Fritz Buch-Gedächtnisstiftung.

�� Gedruckt auf säurefreiem Papier,das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-018144-4ISSN 0946-9419

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

� Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertungaußerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlagesunzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro-

verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in GermanyEinbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin

Page 6: Sophie von Glinski - media.hugendubel.de

Dank

Wer ein Buch über Kafka schreibt, gerät leicht in Gefahr, einer Figur dieses Autors ähnlich zu werden – etwa jenem Studenten, der sich „für den Fall der Pferde von Elberfeld sehr interessiert und alles was über diesen Gegenstand im Druck erschienen war genau gelesen und überdacht hatte“, und sich dann entschloß, „auf eigene Faust Versuche in dieser Richtung anzustellen und die Sache von vornherein ganz anders und nach seiner Meinung unvergleichlich richtiger anzufassen als seine Vorgänger“.1 In Kafkas Texten gibt es viele Figuren, die sich mit großem Ehrgeiz in ein gedankliches Labyrinth hineinarbeiten, das durch ihr unablässiges Räsonieren immer verwickelter wird. Was diese angestrengt Forschenden eigentlich antreibt, bleibt unklar. Deutlich aber ist, daß ein ähnlicher Impetus auch von den Texten selbst ausgeht. Kafkas Geschichten, die von verzweifelten Bemühungen erzählen, etwas Unerkennbares aufzuklären, haben zu einem bis heute nicht enden wollenden Nachdenken geführt: Der Text präfiguriert die Lektüre.

Dafür, daß meine Forschungen an diesen Texten nicht so fruchtlos geblieben sind wie die Versuche mit den „denkenden Pferden von Elberfeld“, möchte ich all jenen danken, die die Entstehung dieser Studie begleitet haben. Professor Dr. Norbert Miller hat die vorliegende Arbeit als Dissertation an der TU Berlin betreut und ihre Fragestellung und Methodik geprägt. Seine Genauigkeit im Umgang mit Texten hat meine Aufmerksamkeit für die Feinheiten von Kafkas Schreibweise immer aufs neue geschärft; seinen Analysen des traumähnlich-phantastischen Erzählens bei Kafka und in der europäischen Romantik verdanke ich entscheidende Anregungen. Professor Dr. Reinhard Baumgart (†) möchte ich herzlich dafür danken, daß er meine Überlegungen kritisch begleitet und mit großem Wohlwollen begutachtet hat. Seine Auseinandersetzung mit Kafkas Frühwerk2 gehört zu den wichtigsten Referenztexten der Arbeit. Professor Dr. Hella Tiedemann hat das Fortkommen des Projekts in vielen Gesprächen mit großem Interesse und Verständnis gefördert. Dr. Hans-Gerd Koch, der Redaktor

1 E 216. Mit der Erwähnung der „Pferde von Elberfeld“ bezieht Kafka sich wohl auf die von Maurice Maeterlinck untersuchten „denkenden“ oder „rechnenden Pferde von Elberfeld“, die das Ergebnis einer Mathematikaufgabe scheinbar selbständig ermitteln und durch Hufscharren anzeigen konnten (vgl. Chronik, S. 118).

2 Reinhard Baumgart: Selbstvergessenheit. Drei Wege zum Werk: Thomas Mann, Franz Kafka, Bertolt Brecht, Frankfurt/M. 1989.

Page 7: Sophie von Glinski - media.hugendubel.de

DankVI

der Kritischen Kafka-Ausgabe, hat mir wichtige Einsichten in die Zusammen-hänge von Kafkas Leben und Werk vermittelt.

Zu den Voraussetzungen, die meine Arbeit ermöglicht haben, gehören ein Stipendium der Nachwuchsförderungs-Kommission des Landes Berlin sowie ein Arbeitszimmer im Hause von Dr. Giovanna Morelli und Dr. Reiner Helmuth. Ihnen sei für ihre Gastfreundschaft mit großem Nachdruck gedankt. Mein herzlicher Dank gilt auch Sabine Jainski, Dr. Alexandra Kleihues, Dr. Mirjam Schaub und Dr. Franziska Uhlig für viele ermutigende Gespräche und kritische Anmerkungen. Susanne Roggemann und Tomas Didier haben mir bei der Einrichtung der Druckvorlage große Hilfe geleistet. Schließlich danke ich den Herausgebern, Professor Dr. Ernst Osterkamp und Professor Dr. Werner Röcke, für die freundliche Aufnahme der Studie in ihre Reihe.

Stuttgart, im März 2004 Sophie von Glinski

Page 8: Sophie von Glinski - media.hugendubel.de

Inhaltsverzeichnis

Dank .............................................................................................................V

Einleitung

1. Erzählen in Kafkas Frühwerk ......................................................................... 1

2. Phantastisches Erzählen und „imaginative Schreibart“ ..................... 52.1 Traum oder Wirklichkeit? Phantastisches als Topos der Kafka-Rezeption ........................................................................................... 5 2.2 Die Forschungsdiskussion zur Phantastik bei Kafka .................................... 7 2.3 Phantastik als Rezeptionseffekt ....................................................................... 14

3. Zur Methode ......................................................................................................... 17

I Beschreibung eines Kampfes

1. Einleitung ............................................................................................................... 26

2. Phantastische Experimente: Erzählen in Kafkas „Novelle“ ........... 302.1 Versuch einer Bestimmung ............................................................................... 30 2.2 Schwellenüberschreitung als Erzählprinzip..................................................... 31

Zum Verhältnis von Handlungsentwicklung und Erzählvorgang (31) Übergang in eine innere Realität (34) Selbstreflexion des Erzählens als Sprachbewegung (37) Fiktion, Phantasie, Träumerei: Möglich-keitsformen des Erzählens (38) „Ritt“ und „Spaziergang“: Erzählen als Phantasmagorie (40) Operationen auf der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit (43)

2.3 Erzählen im Zeichen des Traums .................................................................... 44 Endpunkt der Erzählmöglichkeiten (44) Träumendes Erzählen in Kafkas Frühwerk (47)

3. Die Macht der Sprache: Literarische Selbstbegründung .................. 493.1 Philosophische und poetologische Reflexion ................................................. 49

Page 9: Sophie von Glinski - media.hugendubel.de

Inhaltsverzeichnis VIII

3.2 Die Erzählung „Der Dicke“: Allegorie einer ästhetischen Existenz .......... 51 3.3 Die „Beter“-Erzählungen: „Seekrankheit auf festem Lande“...................... 54

Schwankendes Unglück (54) Vergessene Namen (56) Versinkende Wirklichkeit (64) Der Aufruhr der Dinge (67) Sprach-Magie? (70) Literarische Selbstbehauptung und papierene Existenz (72) Die Bäume:Aufhebung der Erzählbewegung (76)

3.4 Rückkehr in die Rahmenerzählung: „Der Beweis, daß es unmöglich ist zu leben“ ............................................... 78

4. Schluß ....................................................................................................................... 794.1 Résumé ................................................................................................................. 794.2 Perspektiven ........................................................................................................ 82

II Betrachtung

1. Einleitung ................................................................................................................ 841.1 Von der Beschreibung eines Kampfes zu Betrachtung ............................................. 84 1.2 Betrachtung 1908: Zwischen Anschauung und Reflexion .............................. 88

2. Kleider ...................................................................................................................... 922.1 Zur Gleichnishaftigkeit der Prosastücke aus Beschreibung eines Kampfes ...... 92 2.2 Gespiegelte Blicke .............................................................................................. 95

Der erste Satz: Kleider, Schönheit und Vergänglichkeit (95) Der zweite Satz: Gesichter, Zeigen und Erscheinen (97) Der dritte Satz: Erscheinungen im Spiegel (102)

2.3 Schluß ................................................................................................................. 110

3. Der Kaufmann ................................................................................................... 1123.1 Die Betrachtung der Kaufmannsexistenz .................................................... 113

Mitleiden und Mitfühlen: Integration des Lesers (113) Das Entstehen der Erzählbewegung aus imaginierten Bewegungen (115)

3.2 Imaginäre Betrachtung .................................................................................... 118 Die Konstruktion eines Moments (118) „Ich sehe“: Imaginierte Blicke I (119) „Genießet die Aussicht des Fensters“: Imaginierte Blicke II (123) Flucht als Erzählmodell (125)

3.3 Schluß ................................................................................................................. 127

4. Der Fahrgast ........................................................................................................ 1294.1 Haltlosigkeit: Das Verhältnis von Ich und Außenwelt .............................. 130

Page 10: Sophie von Glinski - media.hugendubel.de

Inhaltsverzeichnis IX

4.2 Fixierende Blicke................................................................................................ 133 4.3 Betrachtung als Verschiebung von Standpunkten und Sichtweisen ........ 136 4.4 Schluß: Zum Verhältnis von Sichtbarem und Phantastischem ................. 140

5. Die Vorüberlaufenden ................................................................................... 1415.1 Entwurf einer möglichen Wirklichkeit .......................................................... 143

Zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit: „Uncertainty as Style“? (143) Formen der entwerfend-erzählenden Rede (145)

5.2 Geleugnetes Sehen: Möglichkeiten der Verneinung ................................... 150 Komplementäre Erzählmodelle: ‚Flucht‘ und ‚Verantwortung‘ (150) Behauptungsstruktur und Zeitlichkeit (154)Verneinung als produktive Strategie (156)

5.3 Schluß: Betrachtung und Phantasmagorie .................................................... 158

6. Schluß: Verwandlung als Verfahren ........................................................ 1616.1 „Lichtblicke“ und „Verwirrung“ .................................................................... 161 6.2 Sprache: Verfahren der Verwandlung ........................................................... 162 6.3 Erzählformen in Betrachtung ............................................................................. 165 6.4 Das Betrachter-Ich: Erzähler und Perspektivfigur ...................................... 166 6.5 Der Zusammenhang der Sammlung Betrachtung: Variation als Prinzip .... 168

III Tagebücher 1909-1912

1. Einleitung .............................................................................................................. 170

2. Übungen im Erfinden ..................................................................................... 1732.1 Träumen und Phantasieren: Die Tänzerin Eduardowa .............................. 173 2.2 Sprach-Artistik: „The Mitsutas“ ..................................................................... 177

Unfähigkeit zu schreiben als produktives Prinzip (178) Effekte und Wirkungen: Die Unmöglichkeit zu schreiben vorstellbar machen (182) Grund- und haltlose Akrobatik: „The Mitsutas“ als poetologische Metapher? (183)

Page 11: Sophie von Glinski - media.hugendubel.de

Inhaltsverzeichnis X

2.3 Einen Vorwurf zum Thema machen: Der kleine Ruinenbewohner ........ 187 Der kleine Ruinenbewohner: Entwurf einer nie gelebten Biographie (188) Die Erfindung des Vorwurfs als Waffe (190) Verlebendigung des Erziehungspersonals (194) Der Vorwurf als Beschwörungsformel (196) Das beschädigte Ich (199) Phantasierendes Schreiben: Das Ziel der Übung (202) Epilog. Vom Nichts aus das zu Erzählende erfinden: Diestädtische Welt (204)

3. Übungen im Beschreiben .............................................................................. 2053.1 Einleitung .......................................................................................................... 205 3.2 Vertauschung von Körper und Geist: Aufzeichnungen zu Rudolf Steiner ................................................................ 209

Literarische Phantasie und ‚Höhere Welten‘ (209) Rhetorische Wirkung und Körperhaftigkeit der Rede (211) „Okkulte Physiologie“ (214) „Mein Besuch bei Dr. Steiner“: Inspiration und Theosophie (221) Ausblick (224)

3.3 Reflexionen über Schreiben und Sehen: Goethes Reisetagebücher ........ 225 Die Postkutschenfahrt oder: Wie Bewegung in den Satz kommt (225) Die Augenblicksbeobachtung oder: Wie das Flüchtige ins Bild kommt (229) Augenblicksbeobachtungen in Kafkas Tagebuch (232)

3.4 Das Sichtbare erzählbar machen: „Gegen Abend [...]auf dem Kanapee“ .......................................................... 235

Ursachenforschung: Das Sichtbare beschreiben (235) Abstraktion: Die Autonomie der Lichteffekte (236) Dynamisierung: Handlungen des Lichts (238) Die Verwandlung des Sichtbaren in Erzählbares (240) Schreiben als Sehen (242) Abbildung von Licht (243)

3.5 Bild-Erfindungen zur Vermittlung von Gefühlen: „Beim Diktieren“...... 245 Bildzitat und Bild-Erfindung (246) Unästhetische Wirkungen: Die Einbeziehung des Lesers (249) Bild-Erfindung als Verfahren des imaginativen Schreibens (254)

3.6 Ergebnisse: Die Konvergenz der Schreibstrategien ................................... 256

4. Traumaufzeichnung als Modell eines phantasierenden Schreibvorgangs ................................................................................................. 259 4.1 Genaueres Hinsehen und allmähliche Verfertigung ................................... 260 4.2 Nachklappen der Wahrnehmung .................................................................. 265 4.3 Das Aufzeichnen von Träumen als phantasierender Schreibvorgang ..... 267 4.4 Traum und Erzählung ..................................................................................... 269

Page 12: Sophie von Glinski - media.hugendubel.de

Inhaltsverzeichnis XI

IV Der Heizer

1. Einleitung .............................................................................................................. 275

2. Ein Moment „Betrachtung“: Der erste Satz ........................................ 2782.1 Erzählen aus dem Augenblick .........................................................................278 2.2 Der Erzählaugenblick als Moment der Schwellenüberschreitung ............ 283 2.3 Der verdoppelte Erzählbeginn ....................................................................... 289

3. Erzählstruktur ..................................................................................................... 2943.1 Der Traum als Modell der Erzählstruktur .................................................... 294

Zur Beziehung von Traumaufzeichnung und Erzählung (294) Das ‚erzählende Auge‘: Traumstruktur und Handlungsentwicklung (299) Perspektive und Zeitstruktur (300) ‚Allmähliche Verfertigung‘: Improvisierende Handlungsentwicklung (303) Träumen und Schreiben: Differenz von Arbeitsweise und Schreibweise (307)

3.2 ‚Erzählen im Zeichen des Traums‘ und „imaginative Schreibart“............. 311 Antrieb der Erzählbewegung: Der vergessene Schirm (311) Dialogische Struktur des Erzählvorgangs: Der vergessene Koffer (314) Formen der Erzähllogik (318) Der träumende Leser (324)

4. Improvisationen ................................................................................................. 3264.1 Die Verteidigung des Heizers ......................................................................... 326

Sprachreflexion und Handlungsentwicklung (326) Der Kampf für den Heizer als Inszenierung des Helden (328) Die Behauptung der Gerechtigkeit: Sieg und Niederlage der Rhetorik (335) Die Macht der Rede: Schein und Lüge (342)

4.2 Die Erfindung des Onkels .............................................................................. 346 ‚Coup de théâtre‘ und ‚happy end‘: Der reiche Onkel aus Amerika (347) Eine „große Geschichte“: Die Rechtfertigung des Onkels (349) „Ein besonderes Geheimnis“: Karls Geschichte und ihre Vorge-schichte (364)

5. Schluß ..................................................................................................................... 3675.1 Das Meer als poetologische Metapher ...........................................................367 5.2 Das Meer als Traumbild .................................................................................. 372

Page 13: Sophie von Glinski - media.hugendubel.de

Inhaltsverzeichnis XII

Schluß

1. „Es war kein Traum“ ...................................................................................... 375

2. Die Behauptung des Wirklichen als Grundlage der Phantastik .. 377

3. Erzählen als Sprach- und Imaginationsspiel ........................................ 379

4. Résumé ................................................................................................................... 382

Literaturverzeichnis ................................................................................................. 387

Page 14: Sophie von Glinski - media.hugendubel.de

Einleitung

1. Erzählen in Kafkas Frühwerk

Frühwerke erfahren in der Regel wenig Aufmerksamkeit. Ein Grund für diese Vernachlässigung liegt in der Logik der Einteilung eines Oeuvres in Früh-, Haupt- und Spätwerk. Denn jede Periodisierung impliziert ein Qualitätsurteil. Das Hauptwerk ist weit mehr als bloß die mittlere Position in einer chronologischen Reihe; es ist der Höhepunkt in der Entwicklung eines Autors, die Zeit der Blüte und der Reife und daher immer auch der Maßstab einer Werteskala. Diese Annahme führt leicht dazu, die frühen oder späten Werke in Abhängigkeit vom Hauptwerk zu betrachten. Im Falle des Spätwerks kann dies sinnvoll sein, da es eben auf das Hauptwerk folgt und von dem darin Erreichten ausgeht. Beim Blick auf das Frühwerk dagegen führt diese Sichtweise zu Verzerrungen. Vom Hauptwerk aus gesehen, muß das Vorangegangene fast zwingend als unreif und unfertig erscheinen. Eine andere Perspektive einzunehmen und den Rang eines frühen Werkes positiv zu bestimmen, ist allerdings schwierig, denn die literarischen Anfänge eines Autors sind meistens von künstlerischen Un-sicherheiten geprägt. Die Beherrschung des Handwerks ist womöglich noch unvollkommen, die stilistischen Mittel können Einflüssen unterworfen sein, die ästhetischen Absichten wechseln häufig. Doch in jedem Anfang liegt auch das Neue: ein künstlerischer Impuls, den es so noch nie gegeben hat.

Was im Werk Franz Kafkas als Früh-, Haupt- und Spätwerk zu gelten habe, ist schon lange festgelegt und unumstritten.1 Insbesondere die Datierung des Übergangs vom Früh- zum Hauptwerk ist bemerkenswert eindeutig. Es handelt sich um einen Einschnitt, mit dem ein neue Ära beginnt; bereits Kafka selbst soll diese Zäsur als „Durchbruch“ bezeichnet haben.2 Die Rede ist von der Erzählung Das Urteil. Mit dem Urteil gelang Kafka im Jahr 1912 das erste Werk, das er als

1 Im allgemeinen wird die Schaffensperiode vor 1912 als Frühwerk bezeichnet und von 1920 bis 1924 das Spätwerk angesetzt. Die zwischen 1912 und 1920 entstandenen Werke gelten als Hauptwerk, wobei die Untergliederung der Spanne von 1912-1920 in zwei oder drei Abschnitte diskutiert wurde (1912-1914, 1914-1917, 1917-1920). Vgl. Ingeborg Henel: „Periodisierung und Entwicklung“, in: Kafka-Handbuch, hrsg. v. Hartmut Binder, Stuttgart 1979, Bd. 2, S. 220-241.

2 Vgl. z.B. Karlheinz Fingerhut: „Die Phase des Durchbruchs (1912-1915)“, in: Kafka-Handbuch,a.a.O., Bd. 2, S. 262-312, Michael Müller: Franz Kafka: Das Urteil. Erläuterungen und Dokumente,Stuttgart 1995, S. 110.

Page 15: Sophie von Glinski - media.hugendubel.de

Einleitung2

gültig empfand. Während der Niederschrift der Erzählung innerhalb einer einzigen Nacht erfuhr er einen schöpferischen Zustand, in dem er das Ideal seines Schreibens erkannte: „Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele“.3Dieses Zitat markiert für die Kafka-Forschung die Geburt des Schriftstellers Kafka.

Ob dieser „Geburtstag“ richtig datiert ist, scheint mir zweifelhaft. Hat es wirklich vor 1912 keinen Schriftsteller Kafka gegeben, wie etwa Ingeborg Henel dekretiert? „Es ist deutlich genug und von der Forschung durchweg anerkannt, daß Kafka mit dem ‚Urteil‘ eine neue Phase, ja erst sein eigentliches Schriftstellertum begonnen hat. Die vor dieser Geschichte liegenden Werke sind, als Kunstwerke betrachtet, bloße Versuche, und nicht einmal besonders geglückte [...]“.4 Eine so eindeutige Festlegung halte ich für kaum geeignet, um einen allmählichen Prozeß wie die Entwicklung eines Schriftstellers zu beschreiben. Möglicherweise entstammt sie eher einem Streben nach sauberen Trennungen, nach handhabbaren Geschichten mit Anfang und Schluß.5 Fest steht, daß DasUrteil zum ersten Mal eine solche Geschichte mit Anfang und Schluß darstellt (oder doch die erste, die von ihrem Autor als gelungen anerkannt und veröffent-licht wurde, was für die frühe Erzählung Beschreibung eines Kampfes, die ebenfalls Anfang und Schluß hatte, nicht zutrifft). Es ist überdies die erste im Sinne der Rezeptionsgeschichte ‚kafkaförmige‘ Erzählung, denn in ihr spannt Kafka zum ersten Mal jenen Konflikt zwischen Vater und Sohn auf, der allgemein als bestimmend für seine späteren Werke angesehen wird.

Das Urteil eignet sich daher, um dieses ‚Kafkaförmige‘ von dem anders gearteten Davor zu unterscheiden. Die Vorstellung eines „Durchbruchs“ rückt die Zeit davor aus dem Blick, weil das Eigentliche erst jetzt beginnt. Hinzu kommt, daß Kafkas Frühwerk vielen Lesern noch schwerer zugänglich erscheint als die übrigen Werke des Autors. Entsprechend gering ist die Zahl der Forschungsarbeiten, die sich den frühen Texten gewidmet haben. In den meisten Überblicksdarstellungen ist die Auseinandersetzung mit den vor dem Urteilentstandenen Werken – darunter neben der Beschreibung eines Kampfes auch der

3 Tagebucheintrag vom 23.9. 1912, KKAT, S. 460f. 4 I. Henel, a.a.O., S. 221. 5 Vgl. hierzu die Ausführungen von Annette Schütterle in ihrer Studie Franz Kafkas Oktavhefte. Ein

Schreibprozeß als „System des Teilbaues“, Freiburg i.Br. 2002. Die Autorin verteidigt ihr Projekt, die Oktavhefte in ihrer Gänze, d.h. inklusive sämtlicher Streichungen und Überschreibungen, als eigenständiges Werk zu lesen, mit dem Hinweis auf die Unangemessenheit des klassischen Werkbegriffs in Bezug auf Kafka-Texte. Das Ideal der Geschlossenheit, das Max Brod mit seiner Edition des Kafkaschen Nachlasses verfolgte, indem er aus Fragmenten vollständige Romane und Erzählungen herstellte, lasse alles Nicht-Vollendete zu Unrecht als Überreste und „Trümmer“ erscheinen, die keiner näheren Betrachtung wert seien (A. Schütterle, a.a.O., S. 35-37).