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Dortmund
Ennepe-Ruhr
Düsseldorf
Höxter
Mai 2013
Sozialraum-Orientierung –was ist das?
Ein Magazin von und für Menschen in Bethel.regional
Ein großes Thema aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet …Bethel.regional
www.bethel-regional.de
Bethel.regional bietet an vielen Orten in NRW persönliche Unterstützung aus einer Hand.
Die Hilfeangebote richten sich an junge und erwachsene Menschen mit
• geistiger und körperlicher Behinderung,
• psychischer Erkrankung,
• Abhängigkeitserkrankung,
• erworbenen Hirnschädigungen,
• schwer behandelbaren Epilepsien,
• Störungen aus dem autistischen Spektrum sowie an
• wohnungslose Menschen.
Außerdem erhalten Kinder, Jugendliche und Familien
differenzierte Hilfen zur Erziehung.
Im stationären Hospiz in Dortmund erfahren sterbende
Menschen ein menschenwürdiges Leben bis zuletzt.
Daneben stehen unterschiedliche Angebote für Arbeit
und berufliche Rehabilitation zur Verfügung.
Bethel.regional – mit Geschäftsstellen in Bielefeld
und Dortmund – gehört als Träger diakonischer Dienste
zu den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel.
Inhalt
»Bethel.regional – print« erscheint zweimal jährlich. Im Mittelpunkt steht jeweils ein Schwerpunkt thema,
das aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet wird. Die Zeitung soll verschiedene Zielgruppen
innerhalb und außerhalb der Organisation erreichen und steht auch im pdf-Format im Internet unter
www.bethel-regional.de zur Verfügung.
Für Themenfindung und Redaktion zuständig ist ein Redaktionskreis bestehend aus Klientinnen und
Klienten sowie Mitarbeitenden der unterschiedlichen Regionen und Ebenen. Mitglieder sind derzeit:
Karina Wagner-Henschel (Region 2 Dortmund/mittleres Ruhrgebiet), André Sauer (Region Bielefeld Nord),
Thomas Bergt (Region 7 Junge Menschen Bielefeld) Marcell Lehnert (Region 3 Hamm/Unna/Münsterland),
Peter Möllenhoff (Region 1 Ruhr/Südwestfalen), Ingo Steinke (MAV), Heike Weber (Region 4 Ostwestfalen),
Petra Thomas (Sprecherausschuss Leitende Mitarbeitende) sowie Rolf Winkelmann und Ulla Raphael
(Angehörige). Die Leitung des Redaktionskreises liegt bei Dr. Friederike Koch und Birgit Leonhardt.
n Sie haben Themenvorschläge und Anregungen?
Sprechen Sie uns an. Unsere Kontaktadresse finden Sie auf der Rückseite des Magazins.
Titelbild: Rainer Sturm, www.pixelio.de
Einführung 2 – 3 Was wären wir ohne Sozialraum? 4 – 5 Was ist Sozial-Raum-Orientierung? Leben im Sozialraum 6 – 7 Da gibt’s kein »Die ist behindert!« 7 Alle kommen gut miteinander aus 19 Aktiv und engagiert im Sozialraum Kunst im Sozialraum 8 – 9 »Die Heiterkeit des Seins« fotografisch festgehalten 10 – 11 Neue Wertschätzung erleben Arbeiten im Sozialraum 11 – 12 Nachbarschaftliches Verhältnis zwischen Klienten
und Haus be wohnern fördern 13 Community Networking in Breckerfeld 14 Das Miteinander gestalten Angehörige zur Sozialraumorientierung 16 – 17 Eine große Aufgabe für die ganze Gesellschaft 17 – 18 Sozialraumorientierung bedarf intensiver Unterstützung 18 Problemlose Teilnahme am ganz normalen Leben Rubriken 12 Besinnung: Zuhause sein, Pfarrerin Ute Brünger, Hamm 15 MAV Bethel.regional: Veränderungen durch Sozialraumorientierung –
Auswirkungen auf die Mitarbeitenden 20 Zum guten Schluss: Politischer Stammtisch besucht Brüssel
3
Beispielhaft sei einerseits die wegwei-
sende Theorie von Urie Bronfenbren-
ner zur Ökologie der menschlichen
Entwicklung genannt: Hier wird auf
Basis der Integration unterschiedlicher
theoretischer Ansätze ein Modell
entwickelt mit der Kernbotschaft,
dass Entwicklung stets auf Basis einer
Interaktion des Individuums mit ande-
ren Individuen und seiner Umwelt ge-
schieht. Das Zusammenspiel zwischen
unterschiedlichen Systemen (Mikro-,
Meso-, Exosystem) und der Übergang
von Menschen aus einem System in
ein anderes sowie die menschliche
Entwicklung über die Zeit stehen im
Vordergrund seiner Überlegungen.
Mit diesem Ansatz können unter-
schiedliche Rahmenbedingungen
beschrieben werden, in denen
menschliche Entwicklung stattfindet.
Auch die von der Weltgesundheits-
organisation (WHO) beschlossene
Systematik zur standardisierten Be-
schreibung von Gesundheit und mit
Gesundheit zusammenhängenden
Zuständen, das aktuelle internationale
Klassifikationssystem ICF (Internatio-
nale Klassifikation der Funktionsfähig-
keit, Behinderungen und Gesundheit)
verlässt die rein bio-medizinische
(Körperfunktionen und -strukturen)
Betrachtungsweise. Zusätzlich zu den
Was wären wir ohne Sozial-raum?In den letzten Jahren hat sich aus verschiedenen Strömungen die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein rein bio-medizinisches Verständ-nis von Behinderungen und (psychischen) Krankheiten nicht ausreichend ist, sondern dass Kontextfaktoren und die Interaktion mit der Umwelt wesentliche Einflussfaktoren darstellen.
bio-medizinischen Aspekten, die die
Ebene des Organismus betreffen,
werden Aspekte des Menschen als
handelndes Subjekt (Aktivitäten) und
als selbstbestimmtes und gleichbe-
rechtigtes Subjekt in Gesellschaft
und Umwelt (Teilhabe) einbezogen.
Die genannten Aspekte gleichsam
umhüllend, werden die Kontextfak-
toren der betreffenden Person in die
Betrachtung einbezogen, d.h. alle
externen Gegebenheiten der Welt,
in der die betreffende Person lebt
(Umweltfaktoren), sowie ihre persön-
lichen Eigenschaften und Attribute
(Person bezogene Faktoren). Kon-
textfaktoren können sich positiv oder
negativ auf die funktionale Gesund-
heit auswirken. Im Gegensatz zum
bio-medizinischen Modell (ICD) wird
im bio-psycho-sozialen Modell (ICF)
der Zustand der funktionalen Gesund-
heit als das Ergebnis der Wechselwir-
kung zwischen der Person mit einem
Gesundheitsproblem (ICD) und ihren
Kontextfaktoren aufgefasst.
Das ICF-System wird zunehmend
Grundlage der neueren Hilfeplanin-
strumente wie z. B. dem ITP (Integ-
rierter Teilhabeplan) in der Einglie-
derungshilfe, weswegen sich die
fachliche Arbeit in der Praxis dieser
Systematik weiter nähern wird. Neben
dieser fachlichen Entwicklung hebt
auch das Übereinkommen der Ver-
einten Nationen über die Rechte von
Menschen mit Behinderungen (UN
BRK) die Bedeutung des Sozialraumes
für Menschen mit Behinderung hervor
und betont ins besondere im Artikel
19 (Unabhängige Lebensführung und
Einbeziehung in die Gemeinschaft)
das gleiche Recht aller Menschen
mit gleichen Wahlmöglichkeiten in
der Gemeinschaft zu leben. Sie sollen
gleichberechtigt die Möglichkeit ha-
ben, ihren Aufenthaltsort zu wählen
und zu entscheiden, wo und mit wem
sie leben, und nicht verpflichtet sein,
in besonderen Wohnformen zu leben.
So liegt es nahe, in die Praxis der
sozialen, sozialpädagogischen und
sozialpsychiatrischen Arbeit diese
Kontextfaktoren und ihr Wechselspiel
mit persönlichen Ressourcen (Perso-
nenorientierung) sowohl im direkten
Lebensumfeld bzw. den persönlichen
Netzwerken (Lebensfeldorientierung)
als auch im Sozialraum (Sozialraum-
orientierung) gleichwertig zu berück-
sichtigen.
Die Arbeit von Bethel.regional orien-
tiert sich daher im Grundsatz an einem
für den einzelnen Menschen individu-
ell gestalteten Arrangement aus den
genannten drei »Komponenten«.
Die Fallunspezifische Arbeit tritt für
die Professionellen gleichwertig neben
die direkte Fallarbeit – ein Paradig-
menwechsel für die tägliche Arbeit,
die durch entsprechende Bildungs-
programme unterstützt wird.
Z. B. setzen die neueren psychiatri-
schen Unterstützungssettings – ge-
prägt von einem system-theoretischen
Hintergrund – auf die Arbeit mit und
die Stärkung der (persönlichen) Netz-
werke (z. B. das Need Adapted Treat-
ment Konzept – NAT bzw- »Open
Dialogue) und Stärkung des Lebens-
feldes sowie des Sozialraumes. Neue
Konzepte der Suchttherapie sehen im
Gemeinwesen eine wesentliche Res-
source und einen Verstärker für die
gelingende Suchtarbeit (Community
Reinforcement Approach – CRA).
Sozialraum – mehr als ein Stadtteil
Auch wenn es bis heute keine einheit-
liche Definition für den Sozialraum
gibt, so ist es einheitliche »Lehrmei-
nung«, dass mit dem »Sozialraum«
nicht nur ein sozialgeografisch be-
grenzter Raum, wie z. B. ein Stadtteil
bzw. ein Quartier oder eine Region
gemeint ist. Der Sozialraum bezieht
sich auf einen von Individuen sozial
konstruierten Raum, einen Lebens-
raum und sozialen Mikrokosmos, in
dem sich gesellschaftliche Entwick-
lungsprozesse manifestieren. Das
bedeutet, der Sozialraum entsteht erst
durch die Gestaltung mit und durch
die Akteure, kann von ihnen beein-
flusst und (weiter)entwickelt werden.
Daher hat seit mehreren Jahrzehnten
der Sozialraum-Ansatz einen festen
Platz in der Gemeinwesenarbeit, die
als ein partizipativer und prozessorien-
tierter Ansatz der Sozialen Arbeit da-
rauf ausgerichtet ist, die Lebenssitua-
tion der Menschen in einem sozialen
Raum in materieller und immaterieller
Hinsicht zu verbessern.
Bethel.regional geht mit der Sozial-
raum bezogenen Konzeption davon
aus, dass Menschen mit Behinderun-
gen jeglicher Art sich perspektivisch
im Grundsatz nur in der Interaktion
mit dem Sozialraum entwickeln
können und dass sich die Gesellschaft
im Sinne des Inklusionsgedanken nur
dann weiterentwickeln wird, wenn
eine solche Interaktion in natürli-
chen Sozialräumen ermöglicht wird.
Voraus setzung hierfür ist eine Begeg-
nung/Interaktion zwischen Menschen
mit und ohne Behinderungen in na-
türlichen sozialen Ge staltungsräumen.
Die Veränderung der Sozialräume
unter Mitgestaltung aller Akteure,
also auch der Menschen mit Behin-
derungen, ist ebenso Ziel der sozialen
Arbeit wie die Ermächtigung von
Menschen mit Behinderungen, die
Ressourcen der Sozialräume für sich
zu erschließen.
Die Verlagerung von Plätzen aus den
ehemaligen »Anstaltsstandorten« und
die damit verbundene Aufhebung von
Disparitäten in der Hilfelandschaft
von NRW ist folglich mit dem Sozial-
raumansatz derart verbunden, dass
dadurch Menschen mit Behinderun-
gen in den natürlichen Sozialräumen
zunächst (wieder) sichtbar werden
und die Chance bekommen, den
Sozialraum für sich zu entdecken und
zu gestalten. Neue Nutzer solcher An-
gebote müssen ihren Sozialraum und
ihr Umfeld nicht mehr verlassen, um
unterstützende Hilfen zu bekommen.
Die handlungsleitenden Prinzipien
professioneller Sozialraumarbeit sind
im Wesentlichen nach Hinte (2011)
• Den Menschen zuhören und den
Willen/die Interessen der Menschen
(in Abgrenzung zu Wünschen oder
naiv definierten Bedarfen) erkunden.
• Die Menschen motivieren und
dabei unterstützen, so viel wie
möglich selbst zu machen (Aktivie-
rende Arbeit).
• Die Stärken und Schwächen erken-
nen und bei der professionellen
Unterstützung personale und sozi-
alräumliche Ressourcen erschließen.
Bet
hel
.reg
ion
al
Die Vision vom gleichberechtigten ZusammenlebenDie Vereinten Nationen (UN) haben
Ende 2006 eine Übereinkunft über
die Rechte von Menschen mit Behin-
derungen verabschiedet. Deutschland
und 152 weitere Staaten haben diese
Übereinkunft unterschrieben. Damit
verpflichten sie sich, dafür zu sorgen,
dass Menschen mit Behinderungen als
gleichberechtigte vollwertige Bürger
der Gesellschaft anerkannt werden.
Dieses gleichberechtigte Zusammen-
leben und Anerkennen aller Menschen
in der Gemeinschaft nennt man
Inklusion.
Inklusion ist die Vorstellung von einer
Gesellschaft, in der alle Mitglieder
in allen Bereichen selbstverständlich
teilnehmen können und die Bedürf-
nisse aller Menschen berücksichtigt
werden. Es gibt also nicht nur Unter-
stützung für Einzelne (z. B. Menschen
mit Behinderung), sondern für alle
Menschen, die in einem Stadtteil
leben. Das ist Sozialraumorientierung.
Die aktuelle Ausgabe Bethel.regional
print zeigt, wie Sozialraumorientie-
rung von Klienten/-innen, Mitarbei-
tenden und Angehörigen erlebt wird
und was sie für ihren Alltag bedeutet.
Einleitend erklärt Professor Dr. Ingmar
Steinhart, Geschäftsführer von
Bethel.regional, die Grundlagen der
Sozialraumorientierung. Professor
Dr. Wolfgang Hinte vom Institut für
Stadt-Entwicklung und Sozial-Raum-
Orientierte Arbeit an der Universität
Duisburg-Essen erläutert diese Grund-
lagen in leichter Sprache.
– Birgit Leonhardt –
Prof. Dr. Ingmar Steinhart,
Geschäftsführer Bethel regional
Gute Einkaufsmöglichkeiten im Sozialraum
2Einführung Einführung
4 5
Was ist Sozial-Raum-Orien-tierung?Das ist eine Zusammen-Fas-sung des Vortrages: Sozial-räume gestalten statt Son-dersysteme befördern. Zur Funktion Sozialer Arbeit bei der Gestaltung einer inklusi-ven Infrastruktur¹.
Gummi-Bärchen. Und wenn man
dann die roten Gummi-Bärchen in
die Mitte der bunten Gummi-Bär-
chen legt, dann ist das Integration.
Wenn aber von Anfang an die roten
Gummi-Bärchen zwischen den bunten
Gummi-Bärchen liegen, dann ist das
Inklusion. Die Soziale Arbeit macht
viel für die Integration. Aber: Die So-
ziale Arbeit macht auch etwas gegen
die Integration, weil sie manchen
Menschen einen Stempel aufdrückt.
Solche Stempel heißen zum Beispiel:
besonderer Förder-Bedarf, Verhaltens-
gestört oder behindert. Dadurch
teilen wir die Menschen in Gruppen.
Und diese Gruppen trennen wir von-
einander. Das ist das Gegenteil von
Integration und Inklusion.
Was ist Sozial-Raum-Orientierung?
• Sozial-Raum nennen wir die
Umgebung, wo ein Mensch lebt.
• Wie ist der Stadt-Teil?
• Was gibt es dort?
• Welche Menschen leben dort?
• Welche Einkaufs-Möglichkeiten gibt
es dort?
• Was kann man dort noch machen?
Das alles ist der Sozial-Raum.
Bei der Sozial-Raum-Orientierung
geht es nicht nur darum, dem einzel-
nen Menschen zu helfen. Sondern
man schaut in der Umgebung des
Menschen, welche Hilfen und Unter-
stützungs-Möglichkeiten es gibt. Exklusion InklusionIntegrationSeparation
• Mit allen im Sozialraum gemeinsam
arbeiten, d.h. die Aktivitäten sind
immer zielgruppen- und bereichs-
übergreifend angelegt.
Damit die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter von Bethel.regional fit
für die Sozialraumarbeit im oben be-
schriebenen Sinne werden, sind breit
angelegte Bildungsmaßnahmen in
der Umsetzung bzw. sind geplant,
um sowohl Theorie, Haltungen,
Werte und Kultur Sozialraum bezo-
gener Arbeit als auch entsprechende
Methoden zu lernen. Beispielhaft
seien hier genannt die Team bezogene
In-House-Schulung »Fall im Feld«,
die mit Bethel im Norden gemeinsam
getragene Ausbildung von »Commu-
nity Networkern«, die suchtthera-
peutische Schulung im »Community
Reinforcement Approach (CRA)«, die
Schulung in der Methode des »Mo-
tivational Interviewing (MI)«, einem
(Beratungs-) Ansatz, um Menschen
für Veränderungen zu gewinnen
oder die Fortbildung »Systemische
Netzwerkarbeit« zur sozialräumlichen
Arbeit in der Sozialpsychiatrie.
Grundlage dieser akzentuierten Bewe-
gung von Bethel.regional in die Sozi-
alräume ist die Vision »Gemeinschaft
verwirklichen der v. Bodelschwingh-
schen Stiftungen Bethel« verbunden
mit dem Auftrag, die Lebensräume
zu gestalten und in die Gemeinwesen
hineinzuwirken.
– Prof. Dr. Ingmar Steinhart –
Dr. Wolfgang Hinte, Universität Duisburg-Essen,
Institut für Stadt-Entwicklung und
Sozial-Raum-Orientierte Arbeit
¹ Fachkongress der Lebenshilfe, »In der Gesellschaft«, Fulda 2011
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Der Unterschied zwischen
Integration und Inklusion:
Herr Hinte erklärt: Wenn man einen
Haufen bunte Gummi-Bärchen hat
und daneben einen nur mit roten
Wenn die Soziale Arbeit etwas für
die Inklusion machen will, dann darf
sie nicht nur etwas für behinderte
Menschen machen. Sondern für alle
Menschen in dem Stadt-Teil, wo die
behinderten Menschen leben.Das ist
Sozial-Raum-Orientierung.
Bei dem Bild mit den Gummi-Bärchen
heißt das: Man darf nicht nur etwas
für die roten Gummi-Bärchen tun,
sondern man muss etwas für alle
Gummi-Bärchen tun.
Das heißt zum Beispiel:
• Wir brauchen nicht noch bessere
Werkstätten. Sondern: Wir müssen
die Firmen dabei unterstützen, dass
sie mehr Arbeits-Plätze für behin-
derte Menschen haben.
• Wir brauchen nicht noch ein neues
Wohn-Heim. Sondern: Wir brau-
chen mehr Wohnungen im Stadt-
Teil, wo auch behinderte Menschen
wohnen können.
Und dafür müssen wir mit allen Men-
schen in dem Stadt-Teil sprechen.
Wer soll das bezahlen?
In Deutschland gibt es viele Gesetze
und Regeln dafür, welche Hilfen es
gibt.
• Es gibt Hilfen für behinderte
oder alte Menschen.
• Es gibt Hilfen für arbeitslose
oder junge Menschen.
• Es gibt Hilfen für Frauen und
es gibt Hilfen für Ausländer.
Jede Hilfe wird von einer anderen
Stelle bezahlt. Zum Beispiel:
• die Kranken-Kasse
• das Arbeits-Amt
• das Jugend-Amt
• das Sozial-Amt
Für jede Hilfe und für jede Stelle muss
man ein Antrag schreiben. Und jede
Hilfe wird von einer anderen Stelle
bezahlt. Hier muss man also etwas
ändern, damit man das besser bezah-
len kann. Das heißt: Hier müssen wir
wieder ganz genau nach den roten
Gummi-Bärchen suchen. Denn für die
roten Gummi-Bärchen gibt es Geld.
Was ist zu tun?
Am Ende seines Vortrages hat Herr
Hinte 5 große Fragen:
1. Wie können wir dafür sorgen, dass
der Wille der Menschen im Vorder-
grund steht?
2. Wie können wir die gegenseitige
Hilfe der Menschen fördern?
3. Geld vom Staat gibt es nur, wenn
man zeigt, was man nicht kann.
Was können wir dagegen tun?
4. Wie müssen die Gesetze sein,
damit man nicht nur einzelnen
Menschen helfen kann? Sondern
dem ganzen Stadt-Teil?
5. Und was kann man dafür tun,
damit all die vielen verschiedenen
Stellen und Menschen gut zu-
sammen arbeiten?
Die Antworten müssen Politik und
Gesellschaft finden.
– Prof. Dr. Wolfgang Hinte –
Foto
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Bei der Sozialraum-Orientierung
sind 4 Punkte wichtig:
1. Den Menschen zuhören.
An erster Stelle steht der Wille
der Menschen in dem Stadt-Teil.
Dazu muss man den Menschen
gut zuhören.
• Was wollen die Menschen?
• Was stört sie am meisten?
• Was wollen sie erreichen?
Wenn man solche Fragen stellt, dann
bekommt man auch die Unterstüt-
zung der Menschen. Dann werden
sie mitarbeiten.
2. Den Menschen dabei helfen,
etwas selbst zu tun.
Die Menschen sollen so viel wie
möglich selber machen. Wenn die
Menschen nie etwas selber machen
können, dann lernen sie es auch nie.
Die Menschen sollen sich nicht zurück
lehnen und nur schimpfen. Sondern
sie sollen aktiv mit arbeiten. Die Sozia-
le Arbeit kann den Menschen dabei
helfen.
3. Die Fähigkeiten und die Stärken
erkennen.
Manchmal weiß man nicht, was
eine Stärke oder eine Schwäche ist.
Herr Hinte erzählt 2 Beispiele:
Ein Jugendlicher klaut oft.
Dieser Junge weiß am besten, wie
man auf die Gruppen-Kasse aufpasst.
Ein anderer Junge schwänzt oft die
Schule. Er kann gut Lehrer und Leh-
rerinnen beraten, die Probleme mit
Schul-Schwänzern haben.
Es kommt also immer darauf an, von
welcher Seite aus man den Menschen
betrachtet. Dann hat jeder Fähigkei-
ten und Stärken. Aber: Bei den Hilfen
für behinderte Menschen ist das
anders. Es ist gut, wenn man seine
Stärken kennt. Aber dann kommt ein
Gutachter vom medizinischen Dienst
der Kranken-Kasse. Dann muss der
behinderte Mensch sagen, was er
alles nicht kann. Hier muss er alle
seine Schwächen aufzählen. Sonst
bekommt er keine Hilfe.
4. Mit allen zusammen arbeiten.
Wir arbeiten nicht nur für einzelne
Menschen. Zum Beispiel nur für Men-
schen mit Behinderung oder nur für
alte Menschen. Sondern wir arbeiten
mit und für alle Menschen in dem
Stadt-Teil. Wenn wir wollen, dass alle
Menschen gut zusammen leben, dann
müssen wir auch mit allen Menschen
zusammen arbeiten. Darum müssen
die verschiedenen Stellen gut zusam-
men arbeiten. Die Soziale Arbeit ist
der Vermittler zwischen den verschie-
denen Menschen. Und zwischen
den Menschen und den Ämtern und
Behörden.
Einführung Einführung
6 7
Sandra Müller* lebt seit gerade acht
Wochen im Apartmenthaus am
Bültmannshof in Bielefeld, als ich sie
besuche. Sie hat sich zu einem Inter-
view bereit erklärt und möchte gern
darüber berichten, wie ihr das Leben
in der neuen Umgebung gefällt. Frau
Müller hat fast 20 Jahre in verschie-
denen Häusern und Wohngruppen
in Bielefeld-Bethel oder außerhalb
gewohnt.
Mit nun Ende 40 hat sie sich auf die
Suche nach einem neuen Zuhause ge-
macht, weil sie in der alten Wohnum-
gebung nicht mehr glücklich war. Sie
hatte drei Möglichkeiten zur Auswahl
und hat sich schließlich für das statio-
näre Angebot »Unterstütztes Wohnen
am Bültmannshof« in der Nähe der
Bielefelder Uni entschieden.
Und das im Wesentlichen aus zwei
Gründen: Das Apartment hier ist grö-
ßer als die beiden anderen Möglich-
keiten, die sie hatte. Und im Apart-
menthaus am Bültmannshof kann sie
in ihrer Wohnung allein sein, wenn
teil, in dem sich Menschen aus dem
Stadtteil und andere Interessierte
treffen. Angeleitet von einer Kurs-
leiterin bringen sie ihre Farben aufs
Papier, jeder wie es ihm gefällt. »Da
gibt´s kein ›Die ist behindert‹, und das
finde ich gut«, fasst Frau Müller ihre
Erfahrungen in diesem Kurs in Worte.
»Hier will ich bleiben«
Kurz nachdem Sandra Müller eingezo-
gen war, fand auf dem Platz zwischen
Apartmenthaus und Begegnungs-
zentrum ein Straßenfest statt – eins
von vielen Angeboten, die übers
Jahr verteilt in Kooperation mit der
Gemeinde stattfinden. Neben Grill-
würstchen und Aktivitäten wie Hüte
basteln hatte Frau Müller hier eine
erste Gelegenheit, die Nachbarschaft
kennenzulernen.
Die Umgebung rund um den Bült-
mannshof kennt sie noch nicht so
gut. Sie wohnt ja auch erst seit
kurzem hier. Aber dass es in direkter
Nähe ein Eiscafé, eine Pizzeria und
einen Bäcker gibt, findet sie toll! Ihre
Einkäufe erledigt sie dennoch weiter-
hin in dem großen Supermarkt in der
Nähe ihrer alten Wohngruppe. »Hier
in der direkten Umgebung gibt es
nicht so viel oder es ist zu teuer. Aber
bestimmt kommt hier irgendwann
noch ein Aldi hin!« sagt sie ver-
schmitzt. Und fügt hinzu: »Hier will
ich bleiben und alt werden!«.
Die Gegend erkundet sie im Moment
noch gemeinsam mit weiteren
Mitbewohnerinnen und -bewohnern
und dem Therapiehund »Maddox«,
der einmal in der Woche mit seinem
Frauchen zu Besuch kommt.
Nach dem Gespräch wartet auf Frau
Müller der nächste Kurs im Begeg-
nungszentrum. Mitarbeitende des
Apartmenthauses haben vor einiger
Zeit einen Kurs in Gebärdensprache
organisiert, weil eine Bewohnerin
sie will; und wenn sie nicht allein sein
will, kann sie andere Mitbewohnerin-
nen und -bewohner im Haus treffen.
»Hier habe ich mein eigenes Reich
und kann trotzdem andere tref-
fen.« Sandra Müller ist ein geselliger
Mensch und hat schnell Kontakte im
Haus geschlossen.
Erreichbar sein für Freunde
Freundschaften und Kontakte sind
für sie sowieso ein wichtiges Thema.
Sie sagt, dass sie nicht viele gute
Freunde hat, weil die Häuser, in denen
sie in Bielefeld-Bethel gewohnt hat,
schwer zu erreichen waren. Jetzt
fährt in direkter Nähe ihres Apart-
menthauses die Straßenbahnlinie in
Richtung Stadt. So ist Frau Müller für
ihre Bekannten besser zu erreichen,
und auch sie kann sich leichter auf
den Weg machen. Nebenan gibt es
das von Bethel.regional betriebene
Begegnungszentrum mit seinen vielen
verschiedenen Angeboten. Das hat
Frau Müller schnell für sich entdeckt.
Sie nimmt dort z. B. an einem Malkurs
gehörlos ist. Mittlerweile nehmen
sowohl andere Mitbewohnerinnen
und Mitbewohner als auch weitere
Interessierte am Kurs teil. »Man will
sich ja mit der Nachbarin unterhalten
können«, sagt Frau Müller und zieht
los Richtung Begegnungszentrum.
– Friederike Koch –
Da gibt´s kein »Die ist behindert«! Leben am Bültmannshof in Bielefeld-Schildesche
Mitbringsel vom Nachbarschaftsfest
Auf dem Weg in die Stadt Das neue Zuhause
* Name von der Redaktion geändert
»Alle kommen gut miteinander aus und sind für einander da« Das Haus Echeloh ist Anfang Mai 2011 eröffnet worden. Das Haus ist für Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen.
Wir Bewohner wurden von Anfang an
von den Nachbarn gut angenommen,
wo es aber auch ein paar Probleme
gab. Die Nachbarn wussten nicht,
was das für eine Einrichtung ist und
wie das ist, mit solchen Menschen in
einer Wohngegend zu wohnen. Am
Anfang waren die Nachbarn misstrau-
isch, was die Einrichtung bedeutet,
aber im Laufe der Zeit bekamen wir
positive Rückmeldungen. Alle Bewoh-
ner haben sich gut in der Einrichtung
eingelebt. Alle kommen gut mitein-
ander aus, so dass alle für einander
da sind, und dass man sich immer
auf den anderen verlassen kann. Mit
den Betreuern kommt man auch gut
klar. Sie haben immer ein offenes Ohr,
wenn man Probleme hat. Man kann
mit den Betreuern Probleme bespre-
chen und nach Lösungen suchen. Die
Mitarbeiter versuchen für einen die
Tagesstruktur zu finden.
Im Haus Echeloh gibt es auch Tages-
strukturangebote (z. B. Mathetraining,
Kochen und Malen). Einige Bewohner
machen eine Ausbildung, andere
gehen in die Werkstatt. Einige planen
einen Schulabschluss. Die Einkaufs-
möglichkeiten sind sehr begrenzt.
Das nächste Einkaufszentrum ist zu
Fuß in ca. 20 bis 25 Minuten zu errei-
chen. Wir Bewohner von Haus Eche-
loh würden uns wünschen, dass ein
Einkaufsladen in der Nähe eröffnet
wird. Die letzte Einkaufmöglichkeit in
unserer Nähe wurde im September
Haus Echeloh in Dortmund-Kley
2011 leider geschlossen. Dies war ein
Ausbildungsmarkt vom CJD, der auf-
grund keiner weiteren Finanzierungs-
möglichkeit geschlossen wurde.
Für einige Bewohner ist es schwie-
rig, allein zum Einkaufszentrum zu
kommen, da dieses so weit entfernt
ist. Deshalb benötigen sie eine Be-
gleitung.
– Karina Wagner-Henschel –
Foto
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Leben im Sozialraum Leben im Sozialraum
8 9
Gerda Blumenröther, Bewohnerin des
Hauses Von-der-Tann-Straße in der
östlichen Dortmunder Innenstadt, ist
seit kurzem Mitglied des Körner Kul-
tur- und Kunstvereins, ein Zusammen-
schluss von Bürgerinnen und Bürgern
des Vororts Körne. Der Verein, der es
sich zur Aufgabe macht, das Wohn-
umfeld durch Kunst und Kultur so zu
gestalten, dass sich die dort lebenden
Menschen zu Hause fühlen, ist durch
verschiedene Aktionen auf die leiden-
schaftliche Künstlerin aufmerksam
geworden. Jede freie Minute nutzt
sie, um zu malen, zu filzen, zu töpfern
oder für andere kreative Beschäfti-
gungen. Ihre Begeisterung und ihr
Talent sind auch in der Nachbarschaft
nicht verborgen geblieben.
Aber nicht nur Gerda Blumenröther
ist im Stadtteil ein bekanntes Ge-
sicht, auch ihre Mitbewohnerinnen
und Mitbewohner sind durch die
Teilnahme an Angeboten im Stadtteil
inzwischen gut bekannt. Das Haus-
Von-der-Tann-Straße bietet viele
verschiedene Aktivitäten an, zu denen
immer wieder Nachbarn und inter-
essierte Bürger/innen des Stadtteils
eingeladen werden – sei es zum
gemeinsamen Backen, Kochen oder
eben künstlerischen Gestalten. Aber
auch Kooperation mit den Familien-
zentren, Kindergärten, den Kirchen-
gemeinden, dem Sportverein und den
Schulen bieten den Menschen des
Hauses Von-der-Tann-Straße vielfältige
Angebote und bringen die Menschen
des Stadtteils zu einander. Aus diesen
Treffen haben sich mittlerweile ver-
schiedene Einzelkontakte entwickelt,
aus denen vereinzelt Freundschaften
wuchsen. »Während des gemeinsa-
men Tuns erlebt man häufig das Inter-
esse der engagierten Bürgerinnen und
Bürger. Wir versuchen, diese mit den
individuellen Interessen der Bewohner
zu verknüpfen. Wenn dann noch die
›Chemie‹ zwischen beiden passt, dann
haben wir eine gute Grundlage für
ein Ehrenamt geschaffen«, so Karin
Dröge und Jennifer Krämer, im Haus
Von-der-Tann-Straße für die Tagesge-
staltung und somit die verschiedenen
Angebote zuständig.
Beispiel: Schaufensterkunst
In den vergangenen Jahren sind
im Rahmen der Tagesgestaltung
im Haus Von-der-Tann-Straße viele
künstlerische Arbeiten entstanden.
Durch Kontakte, die Karin Dröge und
Jennifer Krämer in Körne knüpfen
konnten, entwickelte sich, gemeinsam
mit Frau Rüther, Geschäftsinhaberin in
Körne, die Idee, die Arbeiten auszu-
stellen und einem größeren Publikum
zugänglich zu machen. Das Projekt
wurde anderen Geschäftsleuten im
Stadtteil vorgestellt. Spontan stellten
zwölf Inhaber ihre Schaufensterflächen
zur Verfügung.
Im Sommer 2011 wurde die Ausstel-
lung »Schaufensterkunst in Körne«
mit einer Vernissage auf dem Vor-
platz des örtlichen Drogeriemarktes
eröffnet. Sechs Wochen lang wurden
gemalte und gefilzte Bilder, gefilzte
und getöpferte Lampen und Figuren
in den Körner Schaufenstern präsen-
tiert.
Die Ausstellung erfuhr besondere
Aufmerksamkeit. Es entstanden
Gespräche vor Ort und interessier-
te Bürger/innen informierten sich,
indem sie Kontakt zum Haus Von-
der-Tann-Straße aufnahmen. So auch
der Kultur- und Kunstverein Körne,
vertreten durch die Fotografin Gesine
Schulte. In ersten Gesprächen kristal-Gesine Schulte und Karin Dröge (v.l.) bereiten die Ausstellung vor
Gerda Blumenröther
lisierte sich schnell das gemeinsame
Interesse an einer Zusammenarbeit
heraus. Ihrem Beruf entsprechend,
lockte es Gesine Schulte, die Bewoh-
ner/innen bei ihrer künstlerischen
Tätigkeit fotografisch festzuhalten. In
Absprache mit den Mitarbeitenden
und den Bewohnerinnen und Bewoh-
nern wurde die Idee schließlich in die
Tat umgesetzt. Frau Schulte besuchte
die Einrichtung über sechs Monate
hinweg und begleitete die Menschen
bei der Arbeit mit ihrem Fotoapparat.
Gesine Schulte: »Ich hatte anfäng-
lich Hemmungen. Zwar hatte ich die
Menschen schon häufiger im Stadtteil
gesehen, bis dahin aber keinen Kon-
takt zu ihnen. Ich fragte mich: Was
steckt dahinter? Wer sind die Künstler
eigentlich?«
Auch die Bewohnerinnen und Bewoh-
ner mussten ihre anfängliche Befan-
genheit ablegen, als Gesine Schulte
– eine bis dahin für sie unbekannte
Frau – das erste Mal mit der Kamera
kam, um sie bei ihrer kreativen Arbeit
zu fotografieren. Als das Eis schließ-
lich gebrochen war, verhielten sie sich
als sei überhaupt keine Kamera in der
Nähe. »Ich war und bin beeindruckt
von der Offenheit, Ehrlichkeit und
dem Vertrauen, das sie mir schenkten
und schenken – nachdem sie mich
einmal akzeptiert hatten« so Gesine
Schulte. Während der Auswertung
der vielen Fotos entwickelte sich das
nächste Projekt, dieses Mal gemein-
sam mit dem Kultur- und Kunstverein
Körne: die Ausstellung: »Die Heiter-
keit des Seins«. »Der Titel beschreibt
die Atmosphäre, die ich im Haus
erlebt habe und die Stimmung der
Menschen bei ihrer künstlerischen
Arbeit«, so Gesine Schulte. »Ich woll-
te die Menschen und ihre Kunstwerke
dorthin bringen wo sie hingehören –
nämlich in unsere Mitte.«
Hilfestellung bei der Umsetzung der
Ausstellungsidee fanden die Initiato-
ren schnell. Pastor Hartmut Neumann
von der benachbarten Melanchthon-
Gemeinde unterstützte das Projekt
sofort und stellte die Kirchenräume
als Ausstellungsort zur Verfügung, der
Kultur- und Kunstverein übernahm
den Druck der Plakate und Einladun-
gen sowie das Drucken der Portäts
und das Rahmen der Fotografien. Das
örtliche REWE-Geschäft spendete zur
Vernissage den Sekt. Jennifer Krämer
und Karin Dröge setzten die Kunst-
werke in Szene und organisierten
gemeinsam mit Gesine Schulte die
Vernissage.
Die Ausstellungseröffnung war ein
Erfolg. Es kamen überraschend viele
interessierte Bürgerinnen und Bürger
in die Melanchthon-Kirche, etliche
gar mit Kaufinteresse.
Über das gemeinsame Arbeiten mit
den Menschen im Haus Von-der-Tann-
Straße entstanden zwischen Gesine
Schulte und den Künstlern gute
und freundschaftliche Kontakte, die
weiterhin bestehen. Inzwischen ist die
Ausstellung längst beendet. Auf An-
regung des Kultur- und Kunstvereins
Körne ist gerade wieder eine neue
Ausstellungsfläche entstanden. Eine
Geschäftsfrau aus dem Stadtteil stellt
die Schaufenster eines vorübergehend
leer stehenden Ladenlokals als Aus-
stellungsfläche zur Verfügung.
»Am Beispiel der ›Schaufensterkunst‹
sieht man, wie sich Kontakte
weiterentwickeln. Die Schaufenster-
kunst ist eine in der breiten Öffent-
lichkeit wahrgenommene Veranstal-
tung. Die vielen ›kleinen‹ Unterstüt-
zungen durch ehrenamtliche Helfer
und das unermüdliche Engagement
Einzelner sind die Grundlage für unser
Bemühen, Menschen mit Behinderun-
gen Möglichkeiten zur regelmäßigen
Teilhabe im Sozialraum zu eröffnen,«
resümieren Karin Dröge und Jennifer
Krämer.
– Birgit Leonhardt –
Gut besuchte Ausstellungseröffnung in der Melanchthon Kirche
So hängt es richtig. (Jennifer Krämer und Helferin) Kunstwerke und Künstlerporträts
»Die Heiterkeit des Seins« fotografisch festgehaltenGleichberechtigtes Leben von Menschen mit und ohne Behinde-rung, als Bürger im Stadtteil – das ist das Ziel von Sozialraum-arbeit. Um dies zu erreichen, müssen auf beiden Seiten Vor-behalte abgebaut werden. Ein wirksames Mittel, Menschen mit und ohne Behinderungen zueinander zu bringen, ist die Kunst. Die Einrichtung Haus Von-der-Tann-Straße in Dort-mund hat es geschafft, dass Nachbarschaft gelebt wird.
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Kunst im Sozialraum Kunst im Sozialraum
10 11
Ausstellungen sind der Schritt
aus dem ruhigen Atelier in die
Öffentlichkeit. Wie erleben »Ihre«
Künstlerinnen und Künstler diesen
Schritt?
Die Meisten haben ja hier zum ersten
Mal die Möglichkeit, ihre Arbeit zu
präsentieren und einem breiten Publi-
kum zugänglich zu machen. Dement-
sprechend reicht die Bandbreite der
Reaktionen auf eine Ausstellung mit
den eigenen Werken von Euphorie bis
zur Angst. Viele Künstler erleben hier
eine neue, öffentliche Wertschätzung
ihres Schaffens, außerhalb des Famili-
en- und Freundeskreises. Das ist dann
schon etwas ganz Besonderes und
führt oft zu mehr Selbstbewusstsein,
Würdigung der eigenen Arbeiten und
einer direkten Reaktion der Gesell-
schaft, mit der viele der Künstler sonst
wenige Berührungspunkte haben.
Wann und wie treffen sie bei Aus-
stellungen auf die Öffentlichkeit?
Natürlich sind die Künstlerinnen
und Künstler zu den Ausstellungen
herzlich willkommen und viele folgen
dieser Einladung. Sie kommen zur
Eröffnungsveranstaltung, die meistens
eine kleine Feier für das Publikum,
aber im Besonderen für die Künstler,
darstellt. Dann bietet sich für die
Anwesenden die Möglichkeit, ins
Gespräch zu kommen oder einfach
nur eine gemeinsame Zeit in guter
Atmosphäre zu erleben. Manche
Künstler nutzen die Möglichkeit, von
ihren Werken und deren Entstehung
zu sprechen, andere erfreuen sich
eher an der Beobachtung der Reaktio-
nen auf ihre Werke.
Müssen sie – und wenn wie –
darauf vorbereitet werden?
Wie oben beschrieben reichen die
Emotionen, die eine Ausstellung des
eignen Schaffens verursacht, über die
gesamte Bandbreite. Daher brauchen
manche Künstler eine Vorbereitung im
Sinne von Ermutigung oder Erklärung.
Das können dann ein paar Worte,
gemeinsames Nachdenken über die
optimale Präsentation oder auch eine
letzte Kontrolle der auszustellenden
Arbeiten sein.
Gibt es einen Unterschied, ob die
Ausstellungen im Künstlerhaus
Lydda, einer noch geschützten
Umgebung, oder außerhalb
Bethels stattfinden?
Natürlich ist die Ausstellung im Künst-
lerhaus etwas Anderes als zum Bei-
spiel in der Kunsthalle in Bielefeld. Zu
Eröffnungen in Lydda kommen eher
»Eingeweihte« also Menschen, die
das Haus und seine Künstlerinnen und
Künstler kennen. In die Kunsthalle
kommt ganz Bielefeld, was natürlich
ein breiteres Spektrum an »guten«
oder auch »schlechten« Meinungen
zu den Werken mit sich bringt. So
muss man bei externen Ausstellungen
eher intensiver vorbereiten, abwägen
und durchdenken, welche Künstler
mit welchen Werken vertreten sein
sollen.
Welche Möglichkeiten der Begeg-
nung mit den dort Wohnenden
(Stichwort: Sozialraumorien-
tierung) bieten Ausstellungen?
Welche Erfahrungen haben Sie
gemacht?
Kann es mehr Begegnung mit einem
Menschen geben, als seine Kunst zu
betrachten? Ich denke nicht. Zusätz-
lich bietet sich bei Ausstellungen die
Möglichkeit, einen direkten Einblick
in die Arbeit des Künstlerhauses zu
bekommen, Künstler direkt kennen-
zulernen oder über sie zu lesen, ihre
Geschichte zu erfahren.
Wie kommen die Besucher und
die Künstlerinnen und Künstler in
Kontakt?
Wie schon gesagt, bieten die Ausstel-
lungseröffnungen eine gute Möglich-
keit, Kontakt herzustellen. Ein anderer
Weg ist das Kaufinteresse an einem
bestimmten Werk und der Wunsch,
den Künstler oder die Künstlerin
kennenzulernen. Wo es geht, werden
Kontakte vermittelt. Zusätzlich gibt
es noch Informationsmaterial, wie
z. B. ein Buch über die Lyddakünstler
mit vielen Porträts und Arbeiten, das
in der Buchhandlung oder in Lydda
erworben werden kann.
Jürgen Heinrich, Leiter Künstlerhaus Lydda
Neue Wertschätzung erlebenSeit mehr als 40 Jahren gibt es in Bielefeld-Bethel einen Ort, an dem Menschen kreativ tätig werden: das Künstlerhaus Lydda. Rund 200 Künstlerinnen und Künstler sind dort und in den Ateliers in der Nachbarschaft aktiv. Die Hälfte von ihnen lebt in Bethel und Eckardtsheim, die anderen kommen von au-ßerhalb. »Akademie der Begegnung« nennt Jürgen Heinrich, der Leiter des Künstlerhauses das Haus Lydda und seine An-gebote. Wir haben ihn nach seinen Erfahrungen mit der Kunst und dem Sozialraum befragt. Kunst gibt den Menschen die Möglichkeit, ihr Befinden und ihre Gefühle auszudrücken.
Werden Menschen aus der Nach-
barschaft, dem Wohnumfeld in
die Arbeit eingebunden?
Zu den direkten Nachbarn besteht
ein freundschaftlicher Kontakt. Viele
kommen regelmäßig vorbei und man
plauscht über das Neueste. Dabei
kommen natürlich Begegnungen mit
den Künstlern zustande und so sind
die Nachbarn gleichzeitig auch Freun-
de des Hauses und der Künstler.
– Das Interview führte André Sauer – Kunstwerke aus dem Künstlerhaus Lydda
Nachbarschaftliches Verhältnis zwischen Klienten und Haus be wohnern fördernSozialraumorientiertes Arbeiten im Ambulant Unterstützten Wohnen Münster
Wir verstehen unter sozialraumorien-
tiertem Arbeiten, die Lebenswelten
der Klienten so zu gestalten, dass es
ihnen ermöglicht wird, in ihren beson-
deren bzw. schwierigen Lebenslagen
zurecht zu kommen.
Unsere Arbeit orientiert sich in erster
Linie am Willen der zu betreuenden
Menschen. Wir fördern sie in ihrer
Eigeninitiative und unterstützen sie
bei ihrer Selbsthilfe. Wir konzentrieren
uns auf die Ressourcen der Menschen
und deren Sozialraum. Die Zusam-
menarbeit mit den jeweiligen Koope-
rationspartnern und die Bildung von
Netzwerken ist dabei von besonderer
Wichtigkeit.
Beispielsweise werden in einem dicht
besiedelten Wohngebiet in Münster
fünf Klienten von uns betreut, die in
einem Wohnkomplex von drei Hoch-
häusern leben. Hierbei hat es sich als
sehr positiv herausgestellt, dass die
Klienten und die anderen Hausbe-
wohner voneinander profitieren kön-
nen. Sie unterstützen sich gegensei-
tig, z. B. bei handwerklichen Arbeiten,
hauswirtschaftlichen Tätigkeiten oder
beim Ausführen des Hundes. Manch-
mal entwickeln sich auch Freund-
schaften und/oder Partnerschaften.
Bei der Konfliktbewältigung haben
wir als Dienst aufgrund der bekann-
ten Sozialstruktur(en), die Möglich-
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Kunst im Sozialraum Arbeiten im Sozialraum
13
Community Networking in BreckerfeldIns Deutsche übersetzt be-deutet Community Networ-king – Netzwerkarbeit in der Gemeinde. Für die Hombor-ner Werkstatt, Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) in Breckerfeld-Zurstraße, bedeutet ein sozialraumori-entiertes Netzwerk die Ver-knüpfung von bestehenden Verbindungen (die teilweise schon seit Generationen be-stehen) mit dem Neuaufbau und der Pflege von Kontak-ten zur Gemeinde, zu Schu-len, Kindergärten, Gewerbe-treibenden, Unternehmen, Nachbarn, Freunden und Unterstützern der Werkstatt.
In Zeiten der Globalisierung, der
Anonymität, des Leistungsdrucks und
der fehlenden Leitbilder erscheint es
besonders wichtig, Menschen mit un-
terschiedlichen Hintergründen zusam-
menzubringen, sich für den anderen
zu interessieren und im Idealfall zu
begeistern. Nur durch den Austausch
zwischen den Mitgliedern einzelner
Gruppen können gegenseitige Ängste
und Vorurteile abgebaut werden.
Das Herstellen eines gemeinsamen
Produktes verbindet die Beteiligten
und kann als »Türöffner« dienen,
um Kontakte aufzubauen bzw. zu
pflegen. Gleichzeitig entsteht ein
Gemeinschaftsgefühl, von dem alle
Beteiligten profitieren. Jeder bringt
seine Stärken ein und kann auf die
der anderen aufbauen.
Ulrike Wippermann und Jens Rich-
stein, Mitarbeiter der Homborner
Werkstatt, entwickelten während
ihrer Langzeitfortbildung zum Com-
munity Networker die Idee, Knobel-
spiele und Vogelhäuser herstellen zu
lassen. Durch die Kooperation mit der
örtlichen St. Jacobus Realschule sowie
die Zusammenführung verschiedener
anderer Gruppen, z. B. Senioren und
Menschen mit Behinderungen konnte
eine langjährige Breckerfelder Tradi-
tion wiederbelebt werden.
Mehr als 25 Jahre wurden von drei
Senioren selbstentwickelte Kno-
belspiele und Vogelhäuser gebaut
und diese auf dem Breckerfelder
Weihnachtsmarkt im Zelt der Ev.
Kirchengemeinde verkauft. Die Spiele
wurden im Laufe der Jahre weit über
die Stadtgrenzen hinaus bekannt und
das Zelt auf dem Weihnachtsmarkt
entwickelte sich zu einem Ort der
Begegnung an dem man sich zum
Reden, Knobeln und Spielen traf,
Kontakte knüpfte und Freundschaften
schloss. An diese Tradition knüpften
die Community Networker jetzt an.
Die Leitung der St. Jacobus-Schule
beschloss, sich mit einer neuen
Schüler-AG am Projekt zu beteiligen
und schaffte mit der Freistellung des
Techniklehrers Thomas Reiling sowie
mit der Bereitstellung der schuleige-
nen Werkräume die Voraussetzung
dafür, dass das Projekt starten konnte.
Die Homborner Werkstatt stellte
ebenfalls Räumlichkeiten, Maschinen
und Material zur Verfügung und die
Mitarbeit am Projekt wurde in die An-
gebotspalette der Werkstatt für Men-
schen mit Behinderungen aufgenom-
men. So treffen sich die Beteiligten
nun alle 14 Tage, um gemeinsam zu
werkeln. Die teilnehmenden Nutzer
der WfbM nehmen aktiv als gleichbe-
rechtigte Partner an der Realschul-AG
teil und werden dabei von Michael
Ihde, Mitarbeiter in der Homborner
Werkstatt, unterstützt. Durch die gute
Zusammenarbeit zwischen Schule
und Werkstatt läuft das Projekt, das
im Rahmen einer Fortbildungsarbeit
konzipiert wurde, völlig selbststän-
dig. Dies ist besonders dem großen
Engagement von Thomas Reiling und
Michael Ihde zu verdanken.
Auch auf dem Breckerfelder Weih-
nachtsmarkt 2012 wurden die ferti-
gen Arbeiten wieder verkauft. Durch
den zeitlich unbefristeten Charakter
des Projektes hoffen wir, dass die
Inklusion von Menschen mit Behinde-
rung in der Breckerfelder Gesellschaft
weiter vorangebracht wird.
– Peter Möllenhoff –
Auf dem Weihnachtsmarkt in Breckerfeld
Gemeinschaftsproduktion: Vogelhäuschen
keit, zeitnah zu intervenieren und zu
schlichten. Auch die Netzwerkarbeit
mit der Verwaltung und den zustän-
digen Hausverwaltern ist von großer
Bedeutung, denn somit können z. B.
Räumungsklagen abgewendet und
Obdachlosigkeit verhindert werden.
Nachteilig hat sich die Abgrenzungs-
problematik herauskristallisiert, denn
Menschen in diesen besonderen
Lebenslagen haben oftmals Schwie-
rigkeiten, Dinge und Personen vonein-
ander zu trennen. Die Konsumphasen
enden häufig im Dominoeffekt und
die Arbeit für unseren Dienst poten-
ziert sich um ein Vielfaches.
Sozialraumorientierung kann dazu
beitragen, soziale, strukturelle und
andere Ressourcen gemeinsam mit
der Wohnbevölkerung aufzubauen
und zu unterstützen. Dies soll Men-
schen in ungünstigen Lebenssituati-
Jeder und jede von uns hat wohl beim
Lesen dieser Fragen eine ganz persön-
liche Antwort im Kopf. Vielleicht stellt
er oder sie es sich vor: die Haustür,
durch die er so oft geht, das gemüt-
liche Sofa für ruhige Stunden oder
den Tisch, an dem gegessen wird.
Da, wo mein Leben in seinen alltäg-
lichen Bahnen verläuft, da bin ich
zuhause. Da, wo Menschen mich
kennen und ich andere mit Namen
ansprechen kann.
Die wenigsten von uns leben heute
dort, wo sie geboren und aufgewach-
sen sind. Wo ich Kind war, wo ich die
ersten Schritte in das Leben getan
habe, wo mir die Landschaft vertraut
ist von Anfang an, da liegt meine
Heimat. Doch wenn ich nach Jahren
zurückkehre, dann ist sie mir fremd
geworden. Auch in der Heimat ist die
Zeit ja nicht stehen geblieben. Vieles
hat sich verändert und ich habe die
Veränderungen nicht miterlebt.
Und so bleibt Heimat eine Erinnerung
und eine Sehnsucht. Mein Leben
findet an anderen Orten statt. Da, wo
ich meinen Alltag lebe. Da, wo ich mir
Stück für Stück die Räume vertraut
gemacht habe. Da, wo sich meine
Lebensfäden mit den Lebensfäden
anderer Menschen verknüpft haben.
So ist das heute, und eigentlich war
das schon immer so.
Man braucht nur einmal die alten
Geschichten der Bibel zu lesen. Auch
da sind Menschen unterwegs, auch
da müssen sie sich immer wieder mit
neuen Orten vertraut machen. Das
ist nie leicht, aber niemand hat uns
versprochen, dass das Leben leicht ist.
Das Versprechen, das wirklich wichtig
ist, gibt Gott uns genauso wie den
Menschen in alter Zeit: Ich gehe mit
dir. Ich werde dich nicht verlassen.
Darum sei mutig, wenn du die Welt
um dich herum erkundest. Du kannst
sicher sein: Du wirst dort deinen Platz
finden.
– Ute Brünger, Pfarrerin in der
Kirchengemeinde Hamm –
Ute Brünger
Besinnliches
Foto
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riva
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onen ermutigen, Veränderungen in
ihrem Wohngebiet selbst in die Hand
zu nehmen.
– Gaby Lechler u. Matthias Maßmann,
Bethel.regional / Münster –
Zuhause seinWo fühle ich mich zuhause? Wo geht es mir gut? Wo bin ich sicher und geborgen?
12Fo
tos
(2):
bet
hel
.reg
ion
alArbeiten im Sozialraum | Rubrik Arbeiten im Sozialraum
Das Miteinander gestaltenArbeiten im Sozialraum Bünde. Drei große Begriffe sind in dieser Überschrift enthalten.
Erstens: Arbeit
Meine Arbeit ist das Begleiten und
Betreuen von erwachsenen Männern
und Frauen, die durch ihre geisti-
ge Einschränkung in vielen Berei-
chen Hilfe benötigen. Morgens das
freundliche »Guten Morgen« und die
Hilfe beim Medizin einnehmen oder
dem Anziehen der Stützstrümpfe.
Nachmittags die Tasse Kaffee und das
Zuhören beim Erzählen der Erlebnis-
se in der Werkstatt, die die meisten
der Bewohnerinnen und Bewohner
besuchen. Danach Hilfe beim Zimmer
aufräumen, Wäschepflege, Einkaufen.
Abends nochmal Körperpflege und
medizinische Versorgung. Und am
Wochenende die angenehmen Seiten
des Alltags gestalten, da geht es zum
Sport, Spaziergang an der Else, ge-
meinsames Kochen und Genießen.
Zweitens: Sozialraum
Das »UWB – Unterstütze Wohnen
Bünde« ist eine kleine Einrichtung
mit vier unterschiedlichen Häusern in
denen Menschen zu zweit, zu dritt
und zu viert zusammen leben und
ein Büro, das von allen gut erreicht
werden kann. Allein hier ist schon
viel Soziales, die Menschen haben
sich ihre Mitbewohner ja nicht
ausgesucht. Dennoch ist es immer
wieder beeindruckend, wie gut sie
sich in all ihren Besonderheiten und
unterschiedlichsten Eigenschaften,
Stärken und Schwächen akzeptieren.
Voraussetzung dafür ist sicher, dass
sie alle genug Raum haben. Raum für
sich und ihre Eigenarten und Raum
für Begegnung im Hausflur und
Wohnzimmer, im Büro und bei den
unterschiedlichsten Aktivitäten, die sie
teils mit unserer Begleitung und teils
ganz selbstständig aufsuchen. Wir als
Mitarbeitende benötigen ebenfalls
unseren Raum. Ganz konkret einen
Raum für Arbeit (PC, Telefon), einen
Raum für Übergaben und Planun-
gen, einen Raum für Gespräche. Und
im übertragenen Sinne, Raum für
Gespräche untereinander, Raum zum
Wahrnehmen eigener Befindlich-
keiten, Raum für Reflexion mit den
Kolleginnen und Kollegen. Schließlich
sind wir als Person das wichtigste
Werkzeug mit dem wir arbeiten. Hier
ist es wohl am stärksten zu spüren,
dass unsere Arbeit immer mehr unter
dem Sparzwang, dem Leistungsdruck
und Zeitdruck leidet, denn Gespräche
zwischen Kolleginnen und Kollegen
finden oft nur zwischen Tür und
Angel oder nach Feierabend statt,
die Gestaltung der Räume bleibt dem
privaten Engagement der Einzelnen
überlassen.
Drittens: Bünde
Eine kleine Stadt am Flüsschen Else
und wir mitten drin, ziemlich zentral,
direkt neben einer Tankstelle, zu Fuß
oder mit Fahrrad sind drei Supermärk-
te und auch die Fußgängerzone gut
zu erreichen. Bünde ist durch die
angrenzende Landwirtschaft geprägt,
überall Felder und die Trecker, die
einen unserer Bewohner immer wie-
der in Verzückung versetzen. Nach-
barschaft hat hier Tradition und wir
werden einfach mit dazu genommen.
Der Wittekindshof und die Lebens-
hilfe sind seit Jahrzehnten hier ein
fester Begriff, Bethel hauptsächlich
durch die Kleider- und Briefmarken-
sammlung. Die Menschen hier sind
gegenüber den Besonderheiten un-
serer Bewohnerinnen und Bewohner
aufgeschlossen, viele Kassiererinnen
sind geduldig und freundlich, wenn
sie beim Kleingeld zählen helfen
müssen. Im Stadtbild ist es normal,
wenn Rollstühle geschoben werden
und Inklusion ist gerade im Rathaus
und Bürgerbüro ein viel diskutiertes
Thema. Nicht zuletzt durch unsere
Begegnungsstätte kommt das Thema
Inklusion immer wieder ins öffentliche
Bewusstsein. Das macht unsere Arbeit
hier leichter, und von den Bewoh-
nerinnen und Bewohner bekommen
wir häufig zu hören, dass sie sich in
Bünde wohlfühlen.
Arbeiten im Sozialraum Bünde
Ich hoffe, ich male das Ganze nicht
allzu rosarot. Aber grundsätzlich
halte ich unsere Arbeit hier für einen
Glücksfall. Es ist möglich, diesen
Raum hier so zu gestalten, dass
jeder Mensch, ob mit Hilfebedarf
oder ohne, selbstbestimmt wohnen
und leben kann. Es ist möglich, ein
Miteinander zu gestalten, in dem
alle respektvoll behandelt werden.
Es ist möglich, mit unserem Umgang
mit all unseren Besonderheiten den
Sozialraum menschenfreundlich und
unserem christlichen Selbstverständnis
entsprechend zu gestalten.
– Britta Schröder Holdmann,
Diakonin UW Bünde –
Nachbarschaft in Bünde
Gemeinsames Backen
15
Den meisten Mitarbeitenden von
Bethel.regional ist die Betreuung im
Sozialraum bekannt. Viele Mitar-
beitende sind schon im Sozialraum
tätig. Das bedeutet, sie arbeiten
zusammen zum Beispiel mit Nachbarn
und Angehörigen, mit Stadtteiltreffs,
Kirchengemeinden und mit Verei-
nen. Sie besuchen zusammen mit
den Klientinnen und Klienten Cafés
und öffentliche Einrichtungen in den
Stadtteilen. Die Idee vom Sozialraum
finden viele Mitarbeitende gut, weil
das Vorteile für die Klientinnen und
Klienten bringt und für die Mitarbei-
tenden eine Weiterentwicklung ihrer
Arbeit bedeutet.
Für die Mitarbeitenden des Stiftungs-
bereichs könnte das Konzept »Sozial-
raum« starke Auswirkungen haben.
Viele Änderungen, auch Umstruk-
turierungen genannt, werden in der
täglichen Arbeit notwendig sein.
Die Arbeit im Sozialraum findet
bereits statt. Die Mitarbeitenden
arbeiten in einzelnen Hilfefeldern,
z. B. mit Menschen mit schweren Be-
hinderungen oder mit Menschen mit
Suchterkrankungen und seelischen
Erkrankungen. Sie arbeiten entweder
in einem Wohnheim oder ambulant.
Für viele Mitarbeitende könnte das
Konzept »Sozialraum« bedeuten, dass
sich ihre Aufgabenfelder vermischen
und erweitern werden. Möglicher-
weise werden sie dann Menschen
mit Behinderungen, in Wohnungslo-
sigkeit, mit Suchterkrankungen und
seelischen Erkrankungen gleichzeitig
ambulant und stationär in einem
Team betreuen.
So eine Umstrukturierung bringt für
die Mitarbeitenden z. T. erhebliche
Veränderungen mit sich. Nicht für
Veränderungen durch Sozialraumorientierung –Auswirkungen auf die Mitarbeitenden
alle, jedoch für viele Mitarbeitende
könnte sich zum Beispiel Folgendes
verändern: Einsatzorte, Klientinnen
und Klienten, Teamzusammensetzun-
gen, Vorgesetzte. Weiterhin wird im
Heim nach festen Dienstplänen gear-
beitet, die ambulante Arbeitszeit wird
in Absprache mit den Klientinnen und
Klienten selbst gestaltet. Das führt
im Heim zu Arbeitsverdichtung und
weniger Zeit für Bewohnerinnen und
Bewohner mit hohem Hilfebedarf, da
ambulante Termine wahrgenommen
werden müssen. In der ambulanten
Tätigkeit ist mehr Eigenverantwortung
bei der Einteilung der Arbeit nötig.
Ambulante Termine fallen aus, wenn
die Mitarbeitenden im Heim einsprin-
gen müssen. Die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter arbeiten häufiger
alleine und nicht mehr zu zweit oder
zu dritt. Sie werden viel unterwegs
sein und ihre privaten Autos mehr für
die Arbeit benutzen. Fast alle werden
Diensthandys brauchen. Sie haben
oft zeitliche Lücken zwischen zwei
Terminen und brauchen manchmal
den ganzen Tag, um ihre Termine zu
erfüllen.
Wir als MAV wollen, dass sich durch
das Konzept »Sozialraum« die
Arbeitsbedingungen nicht verschlech-
tern. Wir möchten an Folgendes er-
innern: Zu den größten Plus-Punkten
für Bethel in der Mitarbeitendenbefra-
gung »Sie sind gefragt« gehörte die
Zufriedenheit der Beschäftigten mit
ihren Teams und mit ihren direkten
Dienstvorgesetzten. Außerdem wurde
die Zufriedenheit mit den konkreten
Aufgaben gut bewertet. Das muss ge-
würdigt und bestärkt werden. Damit
Veränderungsprozesse gut und ge-
sund gestaltet werden können, brau-
chen wir mehr Zeit, mehr Personal,
mehr Geld. Die Veränderungen müs-
sen arbeitnehmerfreundlich gestaltet
und die Gesichtspunkte des Gesund-
heits- und Arbeitsschutzes müssen
beachtet und eingehalten werden. An
dieser Stelle befürchten wir, dass vor
dem Hintergrund der immer wieder
von Vorstand und Geschäftsführung
betonten Notwendigkeit zu Kosten-
einsparungen keine ausreichenden
Mittel bereitgestellt werden. Das aber
darf nicht geschehen.
Ganz wichtig ist der MAV, dass die
Mitarbeitenden frühzeitig über Verän-
derungen informiert werden, dass sie
möglichst viel von den Veränderungen
mitbestimmen können und dass die
Mitarbeitervertretung gut informiert
wird. So können die Mitarbeitenden
sich besser auf die Veränderungen
einstellen, sie mitgestalten und besser
mittragen. Es ist außerdem wichtig,
dass die Mitarbeitenden genug Zeit
haben, um sich einzuarbeiten und um
die neuen Aufgabenfelder kennen zu
lernen. Sie brauchen Zeit, um sich an
neue Kolleginnen und Kollegen, Vor-
gesetzte, Klientinnen und Klienten zu
gewöhnen. Neue Arbeitsabläufe müs-
sen besprochen werden. An einigen
Stellen werden auch Fortbildungen
notwendig sein.
Fazit der MAV Bethel.regional:
Ja zum Konzept »Sozialraumorientie-
rung«
• Bereitstellung von ausreichenden
Mitteln und Personal für die Verän-
derungen
• genug Zeit und ein sensibler Um-
gang im Veränderungsprozess
– MAV Bethel.regional –
MAV Bethel.regional
14
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Arbeiten im Sozialraum Rubrik
16 17
Bewohnern des Sozialraumes offen-
stehen, müssen eingerichtet werden.
Die hier angebotenen Aktivitäten
sollten so sein, dass sowohl Menschen
mit und ohne Behinderung gleicher-
maßen angesprochen werden.
Die wichtigste Funktion der Mitar-
beiter bleibt aber in allen Belangen
die Betreuung und Begleitung der
Bewohner. Das betrifft die Hygiene im
täglichen Leben, das Kochen, Einkau-
fen, Behördengänge und letztendlich
die Freizeitgestaltung. Die Gefahr der
Vereinsamung ist auch hier gegeben.
Wenn ein Mensch mit Behinderung
Gefahr läuft zu verwahrlosen, müssen
rechtzeitig Hilfen eingesetzt werden.
Sollte die Verwahrlosung tatsächlich
eintreten, wird diese Person vermut-
lich ausgegrenzt und ist somit kaum
noch in der Lage, in dieser Gemein-
schaft zu leben.
Auch bei der Freizeitgestaltung ist es
wichtig, dass die Mitarbeiter die Men-
schen mit Behinderung motivieren, an
Angeboten teilzunehmen. Hierbei ist
es oftmals notwendig, die ersten Male
mitzugehen und zwar solange, bis
der ambulant betreute Mensch seine
Hemmungen überwunden hat. Auch
muss verständlich, motivierend und
früh genug auf die Angebote hinge-
wiesen werden.
Wenn es nicht gelingt, die Menschen
mit Behinderung in den Sozialraum
einzubinden, ist es nur eine Frage der
Zeit, wann wieder die Vereinsamung
beginnt.
Dieses alles ist eine Aufgabe der Ge-
sellschaft. Kommune, Kirche, Sport-
vereine, Mitarbeiter und Angehörige
müssen zur Zusammenarbeit bereit
sein und alles Erdenkliche tun, um die
Teilhabe von Menschen mit Behinde-
rung zu ermöglichen.
– Ulla Raphael u. Rolf Winkelmann,
Bielefeld –
Ulla Raphael
Rolf Winkelmann
Zu dieser Zeit waren die Möglichkei-
ten von Bewohnern und Angehörigen
gleich »Null«, sich hier gegen zu weh-
ren. Auch die Berücksichtigung eines
guten »Sozialraumes« war oftmals
zweitrangig. Die Gefahr der Verein-
samung war groß. Durch die Gewäh-
rung von lediglich durchschnittlich
2–3 Fachleistungsstunden pro Woche
für Assistenz und kaum vorhandenen
Freizeitangeboten vereinsamten einige
Klienten in ihrer neuen Wohnsituation,
oft mit schwerwiegenden nega tiven
Folgen für ihre Entwicklung.
Durch die UN-Behindertenrechts-
konvention (UN-BRK), die am 26.
März 2009 von der Bundesrepublik
Deutschland ratifiziert (bestätigt)
wurde, ist hier ein Umdenkungspro-
zess angestoßen worden. Der Artikel
19 der UN-BRK sagt unter anderem
aus, »…dass Menschen mit Behinde-
rungen gleichberechtigt die Möglich-
keiten haben, ihren Aufenthaltsort
zu wählen und zu entscheiden, wo
und mit wem sie leben wollen, und
nicht verpflichtet sind, in besonderen
Wohnformen zu leben«. Dieser Artikel
besagt eindeutig, dass der behinderte
Mensch selber bestimmen kann wie
und wo er leben will. Er muss nicht in
einer Einrichtung leben, kann es aber.
Dieser Artikel 19 stellt aber auch
erhöhte Anforderungen an Mitarbei-
ter und Angehörige. Bei der Auswahl
von Wohnmöglichkeiten sollte immer
eine unabhängige Beratung erfolgen.
Das heißt, dass alle Möglichkeiten von
Wohnformen und deren positive und
negative Auswirkungen, die auftreten
können, dargestellt werden müssen.
Für die Mitarbeiter, unter Einbezie-
hung der Angehörigen, beginnt die
Suche nach einer geeigneten Woh-
nung, wobei die Vorgaben der Kosten
der Unterkunft in der jeweiligen
Kommune Berücksichtigung finden
und die Anforderungen, die an den
Sozialraum gestellt werden, vorhan-
den sein müssen. Das bedeutet, die
Wohnung darf einen bestimmten
Mietpreis pro Quadratmeter nicht
überschreiten (Kaltmiete), die Größe
der Wohnung darf nicht größer als
45 m2 sein (je nach Kommune unter-
schiedlich). Die Nebenkosten müssen
angemessen sein.
Die Anforderungen an den Sozial-
raum sind:
• Wohnlage möglichst zentral
gute Anbindung an den öffent-
lichen Nahverkehr (Bus, Bahn)
• Einkaufsmöglichkeiten im nahen
Umfeld
• Ärzte (Allgemeinmediziner, HNO-
Arzt, Augenarzt) vorhanden
• Kulturelle Angebote gegeben
Der Sozialraum muss auf den Einzug
von Menschen mit Behinderungen
vorbereitet werden. Oftmals gibt es
hier keinen Bezug zu behinderten
Menschen. Deshalb muss von den
Mitarbeitenden die unmittelbare
Nachbarschaft über die neuen Mieter
informiert werden, ohne Persön-
lichkeitsrechte zu verletzen. Sinnvoll
ist ein Treffen mit den zukünftigen
Nachbarn, um über Besonderheiten
z. B. Erkrankungen allgemein zu infor-
mieren, wenn es der neuen Wohnge-
meinschaft auf beiden Seiten hilfreich
ist. Es muss für alle eine Anlaufstelle
bekannt gemacht werden, an die
man sich bei auftretenden Problemen
wenden kann, mit Telefonnummer
und Ansprechpartner. Ein Nachbar-
schaftstreffen nach dem Einzug sollte
vereinbart werden.
Im Vorfeld müssen z. B. die Mög-
lichkeiten der Teilhabe in Kirchenge-
meinde oder Sportverein betrachtet
werden. Begegnungszentren, die allen
Sichtweisen von Angehörigen zum Thema Sozialraumorientierung:Eine große Aufgabe für die GesellschaftEnde der 90er Jahre wurde durch die überörtlichen und kom-munalen Sozialhilfeträger die Ausgliederung von stationär lebenden behinderten Menschen in das ambulant unterstützte Wohnen vorangetrieben. Diejenigen, die im stationären Bereich der Leistungsgruppe 9.1 nach dem Metzler Verfahren zuge-ordnet waren, wurden vorrangig zum Umzug aufgefordert.
Begleitung beim Einkauf
Sozialraumorientierung bedarf intensiver Unterstützung Meine Tochter Cornelia zog mit
anderen Bewohnerinnen und Bewoh-
nern zu Jahresbeginn 2010 aus dem
Matthias-Claudius-Haus im ländlichen
Breckerfeld in die neue Einrichtung
Haus Dürerstraße in Unna.
Die Nähe zum Ev. Krankenhaus Unna,
das sich auf Menschen mit Epilepsien
spezialisiert und schon einige Jahre
vorher die zehn Akutbetten aus
Breckerfeld übernommen hat, ist na-
türlich für alle eine günstige Position,
zumal nach meinen Erfahrungen die
meisten Bewohner schon dort eine
Zeit verbringen mussten. Meine Toch-
ter war zum Glück bisher nicht be-
troffen. Wir können aber den Besuch
der dortigen Cafeteria als positive
Erfahrung in einer neuen Umgebung
verbuchen, und ich denke, dass dies
auch für die anderen Bewohner ein
gutes Kurzziel als Abwechslung dar-
stellt. Außerdem können wir fußläufig
Krankenbesuche bei Mitbewohnern
machen, was für meine Tochter und
für die Mitbewohner eine gute Aktion
ist. Wenn man davon ausgeht, dass
neue Erfahrungen grundsätzlich auch
Positives beinhalten, dann ist dies
natürlich auch bei diesem Wohnheim-
wechsel der Fall.
Anstelle der Spaziergänge durch
eine sehr schöne Naturlandschaft
in Breckerfeld, probiere ich jetzt am
Nachmittag mit meiner Tochter neue
Wege in das zum Teil verkehrsinten-
sive Wohngebiet Unna aus und übe,
mehr oder weniger hohe Bordstein-
kanten und holprige Bürgersteige
zu bewältigen. Der Besuch umlie-
gender Geschäfte war ebenfalls mit
intensiver Unterstützung erfolgreich.
Dieser Vorteil kommt aber nur zum
Tragen, wenn eine solche Betreuung
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Auch Rosemarie Lange sowie Rita und
Gerhard Plasberg, deren Schwester
bzw. Tochter im Wohnheim in der
Grünrockstraße leben, hatten vor
dem Umzug vom »behüteten Berg«
in Breckerfeld-Zurstraße nach Hagen
große Ängste.
Mittlerweile haben sie die Vorteile
erkannt. »Bei Besuchen haben wir viel
mehr Möglichkeiten auch ohne Auto
etwas zu unternehmen. Die Stadt ist
fußläufig zu erreichen. Der Sozial-
raum bietet für jeden etwas – Cafés,
Kneipen, diverse Geschäfte, Speise-
lokale. Für jeden ist etwas dabei, für
jüngere ebenso wie für ältere. Und die
Verkehrsanbindung ist super.« sagen
sie unisono.
»Die Akzeptanz der Bevölkerung ge-
genüber Menschen mit Behinderung
ist sehr hoch. Beim Discounter Kaisers
sind drei Stufen vor dem Laden –
Rollis haben da keine Chance – aber
wir können durch das Lager und
somit auch mit Rollstuhl einkaufen.«
Familie Blasberg freut sich u.a. darü-
ber, dass ihre Tochter mit Unterstüt-
zung der Polizei im Verkehrstraining
gelernt hat, die Straße alleine zu über-
queren. »Sie kann jetzt viele Dinge
ohne Mitarbeitende erledigen.« Die
Eltern sehen, dass es Potenziale gibt
und haben ihre Angst nach und nach
verloren. Ressourcen nutzen statt zu
behüten und versorgen.
Der größte Vorteil ist nach Meinung
von Rosemarie Lange und dem Ehe-
paar Blasberg »die relativ problemlose
Teilnahme am ganz normalen Leben«.
Unsicherheit ist auf beiden Seiten kein
Thema mehr – es möchte keiner mehr
zurück in sein »altes Leben«.
– Birgit Leonhardt –
Problemlose Teilnahme am ganz normalen Leben
zur Verfügung steht, und das gilt für
alle Bewohner. Die Gestaltung des
Gartens ist ein sehr guter Ausgleich
zum angrenzenden sehr verkehrsin-
tensiven Umfeld und wird von allen
Bewohnern gerne angenommen. Für
mich persönlich, wohnhaft in Hagen,
sehe ich keine unmittelbaren Vorteile,
zumal sich die Entfernung von unserer
Wohnung zum Wohnheim fast ver-
doppelt hat.
Ich finde es schade, dass meine
Tochter ihren Weg zur Werkstatt
Haus Dürerstraße, Aufenthalt im Garten.
Garnet Leik
Aktiv und engagiert im SozialraumSozialraumorientierung – Aus der Sicht einer Bürgerin
Ich wohne seit 2005 im Bielefelder
Stadtteil Sennestadt. Sofort begeistert
hat mich die Gemütlichkeit dieses
eigenen Stadtteils direkt am Teutobur-
ger Wald.
Auch lädt Sennestadt selbst mit den
vielen Grünflächen, dem Teich am
Sennestadthaus, dem Bullerbach und
den vielen kleinen grünen Wegen ein
zum Spazierengehen und Verweilen.
Besucht man regelmäßig die kleinen
Geschäfte, ergibt sich schnell ein
familiärer Kontakt und ich fühle mich
dazugehörig, »man kennt und grüßt
sich«. Ein gutes Gefühl.
Das Sennestadthaus ist das »Bürger-
haus«, hier kommen viele Menschen
zusammen. Und hier unterrichte ich
Yoga für die Volkshochschule. Im
Frühjahr dieses Jahres lud mich eine
Teilnehmerin zu einem Arbeitskreis
ein: »Heilende Kräfte«. Das Treffen
sollte in der Wintersheide 2 sein,
in den Räumen des Begegnungs-
zentrums Bethel in Sennestadt. Das
Thema des Arbeitskreises interes-
sierte mich sehr und so war ich ganz
gespannt auf diesen ersten Abend.
Bisher hatte ich nichts von diesem
Zentrum gehört. Ich wusste nur, dass
in dem Haus früher eine Zeitarbeits-
firma ihre Büros hatte.
So lernte ich das Begegnungszentrum
kennen. Ich war angenehm über-
rascht über die gemütliche Atmo-
sphäre in dem großzügigen Raum des
Begegnungszentrums. Hier waren
Menschen zusammengekommen,
die gemeinsam etwas in Sennestadt
unternehmen wollten, z. B. eine
Kräuterwanderung, Tanzen, Malen,
Meditieren, Trommeln, Wandern.
In einem persönlichen Gespräch er-
zählte mir eine Mitarbeiterin von ihrer
nicht mehr zu Fuß, wie in Breckerfeld,
machen kann. Dieser Umstand war
für mich ein gravierender Anlass für
die Anmeldung in Breckerfeld. Die
tägliche Bewegung zur Werkstatt und
zurück muss jetzt durch eine Auto-
fahrt von jeweils einer halben Stunde
ersetzt werden. Bedauerlich ist es
sicher auch für andere Bewohner, die
ich noch in Breckerfeld zur Werkstatt,
zum Teil sogar selbstständig, gehen
sah und die jetzt gar keinen Werk-
stattplatz haben und die nach meinen
Beobachtungen motorisch sehr viel
eingeschränkter wirken. Bei Spa-
ziergängen in Breckerfeld trafen die
Bewohner auch auf andere Bewohner
aus den dortigen Häusern und hatten
so hin und wieder ganz selbstver-
ständlich Kontakte in einem recht
geschützten Umfeld.
– Gerda Brannaschk, Hagen –
Arbeit im Begegnungszentrum. Sie
arbeitet im Betreuungsdienst für Men-
schen mit Behinderungen und füllt
die Tage im Begegnungszentrum mit
Angeboten, wie z. B. Stadtteil-Früh-
stück, Mittagstisch, Spiele-Nachmit-
tage. Sie hatte die Idee, verschiedene
Arbeitskreise im Zentrum anzubieten.
Für Menschen mit und ohne Behin-
derungen unter dem neuen Begriff
»Inklusion«. Bis dahin hatte ich dieses
Wort nie gehört. Und ich erzählte von
meinem Vorhaben, bei dem Betheler
Fortbildungsinstitut »Bildung und Be-
ratung Bethel« den Orientierungskurs
»Pflege und Assistenz« zu besuchen.
Der theoretische Unterricht sollte
in Bethel sein, für den praktischen
Teil galt es, eine Praktikumsstelle zu
finden.
Die Mitarbeiterin bot mir an, bei der
Teamleitung nachzufragen, ob ich
mein Praktikum im Begegnungszent-
rum machen könnte. Es hat geklappt.
So fing ich an, als Praktikantin die
Arbeit mit behinderten Menschen im
ambulant und stationär unterstützten
Wohnen kennenzulernen.
Jeder Tag ist neu und anders. Es gibt
zwar bestimmte Routinen, aber die
Begegnung mit den Bewohnern war
für mich jeden Tag ein besonderes
Erlebnis. Jeden Tag neu zu schauen,
wie geht es dem Bewohner HEUTE,
welche Dinge stehen HEUTE an, wie
kann ich HEUTE für ihn da sein. Das
ist für mich nochmal anders, als der
Umgang mit Menschen ohne Behin-
derung. Gegenwärtiger und mit mehr
Feingefühl.
Auch die Mitarbeit bei den Angebo-
ten im Begegnungszentrum hat mir
sehr viel Freude bereitet, gibt nochmal
mehr Raum, mit den Bewohnern in
Kontakt zu kommen.
Als das Vertrauen zu einigen Bewoh-
nern aufgebaut war, habe ich erlebt,
dass sie sich freuen, mich zu sehen,
mit mir zu sprechen, auch außer-
halb des Begegnungszentrums. Auf
dem Markt, im Einkaufsladen, auf
der Straße. Und das gab mir ein so
gutes Gefühl, auf dem richtigen Weg
zu sein, helfen zu können. Egal, wo
die Menschen herkommen, was sie
haben, was sie sind.
Und noch innerhalb meiner Prakti-
kumszeit ergab sich ein weiterer
Arbeitskreis. Wir wollten uns bürger-
schaftlich engagieren. Es entstand
das »Soziales Netzwerk Sennestadt«
SONNE. In Zusammenarbeit mit
Mitarbeitenden des Begegnungszent-
rums haben wir bereits zwei Projekte
gestartet: »Der besondere Markt in
Sennestadt« – tauschen, schenken,
sich beschenken lassen. Ein Tag nach
dem Prinzip »Geben und Nehmen«,
ohne Geld. Und »Das besondere Fest
in Sennestadt« – Kulturen begegnen,
erleben, austauschen. Ein Theaterpro-
jekt ist in Planung. Eine wunderbare
Aufgabe, mit anderen Menschen für
alle Menschen im sozialen Umfeld
etwas zu tun, um mehr Gemeinschaft
zu schaffen. Mittlerweile gibt es einen
monatlichen Trommel-Workshop im
Begegnungszentrum. Hier nehmen
Menschen mit und ohne Behinderung
teil. Inklusion.
Nach dem Praktikum hatte ich großes
Glück. Meine Teamleiterin vermittelte
mich an das Team Bethel im Bielefel-
der Stadtteil Brackwede. Ich bin sehr
dankbar, dass ich dort im ambulant
unterstützten Wohnen eine neue be-
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Angehörige zur Sozialraumorientierung18
Angehörige zur Sozialraumorientierung Leben im Sozialraum
Politischer Stammtisch beim Europäischen Parlament.Der politische Stammtisch, das waren in diesem Fall 34 Menschen aus Bethel, Brackwede und Eckardtsheim, haben das EU Parlament in Brüssel besucht.
Mit dem Bus fuhren wir von Bethel,
Eckardtsheim und Brackwede nach
Brüssel. Übernachtet haben wir in
einem 3 Sterne Ibis Hotel.
Nach unserer Ankunft haben wir nach
einer kleinen Verschnaufpause im
Hotel in einem Restaurant im Süden
von Brüssel zu Abend gegessen.
Nach dem Essen sind wir zurück ins
Hotel gegangen und haben in der
Hotel eigenen Lounge gesessen und
den Abend bei einem schönen bel-
gischen Bier ausklingen lassen.
Am nächsten Morgen haben wir
gemeinsam im Hotel gefrühstückt
und sind dann um 11 Uhr in das
europäische Parlament gefahren. Dort
haben wir eine Diskussion mit Elmar
Brok, einem Europaparlamentarier
aus Bielefeld, gehabt. Danach sind
wir dann im Parlament – leider ohne
Elmar Brok – in die Kantine geführt
worden und haben uns dort gestärkt.
Zum guten Schluss
Nach so viel Politik und einem guten
Essen hatten wir dann ca. 1 Stunde
Pause und haben dann den Tag mit
einer Stadtführung durch Brüssel
ausklingen lassen.
Es waren insgesamt drei schöne, an-
strengende und vor allem aufschluss-
reiche Tage, an denen wir viel über
die Zusammenhänge europäischer
Politik und die Arbeit des Parlaments
gelernt haben.
– André Sauer –
der, will sich auch weiterhin regel-
mäßig zum Austausch treffen, sind
doch nun einige auch »Kollegen«.
Denn einige der Teilnehmer haben
direkt einen Job in Bethel bekommen.
Einige beginnen eine Ausbildung in
Bethel. Einige überlegen noch. Durch
diese Chance hat sich mein Leben
gewandelt. Was ich schon lange als
Wunsch hatte, aber irgendwie immer
Kreativgruppe im Begegnungszentrum.
fristete Aufgabe bekommen habe. In
Brackwede wie in Sennestadt gibt
es ein Begegnungszentrum. Und so
kann ich auch dort meine Erfahrun-
gen weitergeben und mich engagie-
ren im sozialen Umfeld der Menschen.
Dass ich zum Einen einen neuen Job
habe, der mir Spaß macht und zum
Anderen vor dem Abrutschen in Hartz
IV bewahrt bin, ist möglich geworden
durch das Angebot von Bildung und
Beratung Bethel und den Menschen,
die dahinter stehen. Ich konnte mich
orientieren und entscheiden.
Am 21. September 2012 endete der
Kurs. Wir haben nach einer sehr schö-
nen Abschlussfeier in angenehmer
Atmosphäre unsere Zertifikate durch
die Geschäftsführung Bildung und
Beratung erhalten.
Die Gruppe, zusammengewachsen
durch ein gutes, fröhliches Miteinan-
Einzelkämpfer war, kann ich nun mit
gleichgesinnten Menschen umsetzen.
Mich bürgerschaftlich engagieren.
Nicht mehr alleine. Gemeinsam mit
Menschen für Menschen. In Senne-
stadt, in Brackwede, in Senegal und
überall auf der Welt.
– Garnet Leik –
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Impressum:2013, Bethel.regionalHrsg. Geschäftsführung Bethel.regionalMaraweg 9 · 33617 BielefeldVon-der-Tann-Straße 38 · 44143 Dortmund
Redaktion:Dr. Friederike Koch, Telefon: 0521 144-3058E-Mail: [email protected] Leonhardt, Telefon: 0231 534250-104E-Mail: [email protected]
www.bethel-regional.de
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