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339 Franz Picher Sozialreflexion im Mathematikunterricht: Kooperation oder Verweigerung Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Naturwissenschaften, vorgelegt an der Fakultät fiir interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) der Alpen-Adria-Universität Klagen/urt. Gutachter: Prof Dr. Roland Fischer Prof DDr. Willibald Dörfler Datum der mündlichen Prüfung: 20. Juni 2007 Diese Arbeit untersucht die Fragestellung "Ist es möglich, mithilfe der Mathematik mit Schülerinnen und Schülern über soziales Verhalten sinnvoll zu reflektieren?" mittels Konkretisierung in Form eines Unterrichtsprojekts. Ein gemeinsames Reflektieren über soziales Verhalten wird dabei als Sozialrejlexion bezeichnet. Sozialreflexion meint somit zweierlei: Einerseits die Reflexion über eine soziale Problemstellung und außerdem ein gemeinsames Nachdenken darüber. Was unter "sinnvollen" Reflexionen zu verstehen ist, und wie gerade die Mathematik dazu beitragen kann, diese zu erreichen, wird in der Ar- beit ausführlich vorgestellt. Zudem wird die Bedeutung von Sozialreflexion für die Ler- nenden wie auch für die Gesellschaft aus theoretischer Sicht dargestellt. ; Die Fragestellung entstand in Diskussionen einer Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Roland Fischer im Rahmen eines Doktorand(inn)enkollegs des Instituts für Didaktik der Ma- thematik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Den Arbeiten dieser Gruppe ist ein "Zurücktreten" vom gewohnten Mathematikunterricht gemeinsam: Die Mathematik steht nicht (mehr) im Zentrum der Betrachtungen sondern hilft bei der gemeinsamen Reflexi- on über gesellschaftliche (also außermathematische) Fragestellungen. Es geht also nicht darum, Mathematik zu lernen und auch nicht darum, über Mathematik zu reflektieren. Die bearbeiteten Themen reichen dabei von "Gerechtigkeit" (Betrachtung unseres Lohn- steuersystems) über "Kollektive Entscheidungen" (Wahlverfahren) bis zu "Messungen im sozialen Kontext" (Klassenklimaerhebungen, schulische Leistungsbeurteilung, Intel- iigenz und Intelligenzmessung). Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen Entscheidungs-Situationen, die den Beteiligten Kooperation oder Verweigerung zur Wahl stellen, wobei jeweils ein Anreiz zur Verwei- gerung gegeben ist, das "beste" Ergebnis aber nur durch Kooperation aller Beteiligten erreicht werden kann. Als prototypische Beispiele für diese Situationen können "Gefan- genendilemma" und "Tragedy ofthe Commons" dienen. Die Bedeutung der Auseinandersetzung mit diesen Beispielen liegt darin, dass gesell- schaftliche Probleme häufig zwar erkannt werden, aber zuwenig reflektiert darüber nachgedacht wird. So wird in den genannten Situationen oft egoistisches, scheinbar rati- onales Verhalten gezeigt, wodurch alle Beteiligten verlieren. Es zeigt sich, dass Koope- ration durch rationale Argumentation nicht erreicht werden kann - Kooperation muss vielmehr gewollt werden. Sozialreflexion als Reflektieren über soziale Problemstellun- gen kann dazu beitragen, die Bedeutung von Kooperation für die Gesellschaft hervorzu- (JMD 28 (2007) H. 3/4, S. 339-340)

Sozialreflexion im Mathematikunterricht: Kooperation oder Verweigerung

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Page 1: Sozialreflexion im Mathematikunterricht: Kooperation oder Verweigerung

339

Franz Picher

Sozialreflexion im Mathematikunterricht: Kooperation oder Verweigerung

Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Naturwissenschaften, vorgelegt an der Fakultät fiir interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) der Alpen-Adria-Universität Klagen/urt.

Gutachter: Prof Dr. Roland Fischer Prof DDr. Willibald Dörfler

Datum der mündlichen Prüfung: 20. Juni 2007

Diese Arbeit untersucht die Fragestellung "Ist es möglich, mithilfe der Mathematik mit Schülerinnen und Schülern über soziales Verhalten sinnvoll zu reflektieren?" mittels Konkretisierung in Form eines Unterrichtsprojekts. Ein gemeinsames Reflektieren über soziales Verhalten wird dabei als Sozialrejlexion bezeichnet. Sozialreflexion meint somit zweierlei: Einerseits die Reflexion über eine soziale Problemstellung und außerdem ein gemeinsames Nachdenken darüber. Was unter "sinnvollen" Reflexionen zu verstehen ist, und wie gerade die Mathematik dazu beitragen kann, diese zu erreichen, wird in der Ar­beit ausführlich vorgestellt. Zudem wird die Bedeutung von Sozialreflexion für die Ler­nenden wie auch für die Gesellschaft aus theoretischer Sicht dargestellt. ;

Die Fragestellung entstand in Diskussionen einer Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Roland Fischer im Rahmen eines Doktorand(inn)enkollegs des Instituts für Didaktik der Ma­thematik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Den Arbeiten dieser Gruppe ist ein "Zurücktreten" vom gewohnten Mathematikunterricht gemeinsam: Die Mathematik steht nicht (mehr) im Zentrum der Betrachtungen sondern hilft bei der gemeinsamen Reflexi­on über gesellschaftliche (also außermathematische) Fragestellungen. Es geht also nicht darum, Mathematik zu lernen und auch nicht darum, über Mathematik zu reflektieren. Die bearbeiteten Themen reichen dabei von "Gerechtigkeit" (Betrachtung unseres Lohn­steuersystems) über "Kollektive Entscheidungen" (Wahlverfahren) bis zu "Messungen im sozialen Kontext" (Klassenklimaerhebungen, schulische Leistungsbeurteilung, Intel­iigenz und Intelligenzmessung).

Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen Entscheidungs-Situationen, die den Beteiligten Kooperation oder Verweigerung zur Wahl stellen, wobei jeweils ein Anreiz zur Verwei­gerung gegeben ist, das "beste" Ergebnis aber nur durch Kooperation aller Beteiligten erreicht werden kann. Als prototypische Beispiele für diese Situationen können "Gefan­genendilemma" und "Tragedy ofthe Commons" dienen.

Die Bedeutung der Auseinandersetzung mit diesen Beispielen liegt darin, dass gesell­schaftliche Probleme häufig zwar erkannt werden, aber zuwenig reflektiert darüber nachgedacht wird. So wird in den genannten Situationen oft egoistisches, scheinbar rati­onales Verhalten gezeigt, wodurch alle Beteiligten verlieren. Es zeigt sich, dass Koope­ration durch rationale Argumentation nicht erreicht werden kann - Kooperation muss vielmehr gewollt werden. Sozialreflexion als Reflektieren über soziale Problemstellun­gen kann dazu beitragen, die Bedeutung von Kooperation für die Gesellschaft hervorzu-

(JMD 28 (2007) H. 3/4, S. 339-340)

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heben. Sozialreflexion als gemeinsames Nachdenken kann helfen, von sich selbst abzu­sehen und größere Zusammenhänge zu erkennen.

Teil I beleuchtet diese Bedeutungen von Sozialreflexion aus theoretisch-philoso­phischer Sicht. Ausgehend von der Darstellung der Wichtigkeit des Themas für die Ge­sellschaft werden dabei Anforderungen an die Schule abgeleitet.

Die praktische Umsetzung der Überlegungen im Unterricht beginnt mit Teil 11, der eine Pilotstudie vorstellt. Diese beschäftigt sich mit der Strukturierung von Entschei­dungssituationen und bereitete die Schülerinnen und Schüler sowie den Lehrer auf die Bearbeitung der eingangs gestellten Fragestellung vor. Die Pilotstudie zeigt, wie ein (Mathematik-)Unterricht, der die Mathematik (nur) als Hilfsmittel verwendet, gestaltet werden kann.

Im Zentrum des Hauptprojekts (Teil III) steht Sozialreflexion anhand von Spielen vom Typ des Gefangenendilemmas und Texten. Dabei zeigt sich, dass ein reflexionsori­entierter Unterricht in der geplanten Art und Weise möglich ist und von den Lernenden als Thema des Unterrichtsgegenstandes Mathematik angenommen werden kann, was mich die obige Fragestellung mit ,ja" beantworten lässt.

Teil IV gibt ein Resümee über das Unterrichtsprojekt und stellt eine Einteilung der Schülerinnen und Schüler nach der "Tiefe" der Reflexionen vor: Alle Lernenden haben im Hinblick auf soziale Verhältnisse dazugelernt; insbesondere wurde auf "höherem" Niveau über Entscheidungssituationen ("Kooperation oder Verweigerung") nachgedacht. Ein großer Teil der Schülerinnen und Schüler begnügte sich jedoch mit dem Aufgreifen der Reflexionen anderer. Nur wenige Lernende brachten eigene Ideen ein und bewerte­ten die Lerninhalte auch selbständig. Diese Schülerinnen und Schüler werden als "Re­flektiererinnen" und "Reflektierer" bezeichnet.

Die Arbeit schließt mit einem Ausblick auf mögliche weitere Untersuchungen: So scheint es interessant, danach zu fragen, wie ertragreich es im Hinblick auf Reflexion sein kann, wenn die Lernenden, die in der Reflexion weit voranschritten, gemeinsam weiterreflektierten und die Ergebnisse dann den anderen vorstellten. Darüber hinaus wird für das Aufheben der Fachgrenzen im Rahmen von Sozialreflexion plädiert, weil die behandelten Inhalte keinem Unterrichtsfach all eine zugeordnet werden können.

Literatur: Eine Kurzfassung wichtiger Teile der Arbeit ist unter dem Titel "Social Reflection in Mathematics Classes: Cooperation or Denial" im Zentralblatt fur Didaktik der Mathematik, Volume 38 (August 2006) Numher 4, erschienen.

Adresse des Autors

Franz Picher Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Institut fur Didaktik der Mathematik Österreichisches Kompetenzzentrum fur Mathematikdidaktik Stemeckstraße 15 A-9010 Klagenfurt E-Mail: [email protected]