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SozW Soziale Welt Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis Herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e.V., Lennéstr. 30, 53113 Bonn Geschäftsführende Herausgeber: Prof. Dr. Ulrich Beck, Prof. Norman Braun PhD, Prof. Dr. Armin Nassehi, Universität München, Institut für Soziologie Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Barbara Adam, University of Wales, Cardiff · Prof. Martin Albrow, Roehampton Institute, London · Prof. Anthony Giddens, London School of Econo- mics and Political Science (LSE), London · Prof. Uta Gerhardt, Universität Heidelberg · Prof. Heinz Hartmann, Universität Münster · Prof. Bruno Latour, CSI, Paris · Prof. Hermann Schwengel, Universität Freiburg Redaktion: Dr. Irmhild Saake, Universität München Redaktionelle Bearbeitung: Lilian Brandtstaetter 3/2007 58. Jahrgang Seite 229–362 Inhalt Editorial .............................................................................................................................. 231 Aufsätze .............................................................................................................................. 233 1. Einleitung: Warum Systeme? Methodische Überlegungen zu einer sachlich, sozial und zeitlich verfassten Wirklichkeit Von Irmhild Saake und Armin Nassehi ......................................................................... 233 2. Participant Observation and Systems Theory: Theorizing the Ground Von Daniel B. Lee and Achim Brosziewski ................................................................... 255 3. Formalität, Informalität und Illegalität in der Organisationsberatung Von Stefan Kühl ............................................................................................................. 271 4. Empirie oder Theorie? Systemtheoretische Forschung jenseits einer vermeintlichen Alternative Von Werner Vogd .......................................................................................................... 295 5. Rationalität und Plausibilität in klinischen Ethikkomitees. Die Echtzeitlichkeit von Kommunikation als Empirie der Systemtheorie Von Katharina W. Mayr ................................................................................................ 323 6. Kommentare zu den Beiträgen Von Hubert Knoblauch.................................................................................................. 345 7. Soll das denn alles (gewesen) sein? Anmerkungen zur Umsetzung der soziologischen Systemtheorie in empirische Forschung Von Hartmut Esser ........................................................................................................ 351

SozW Soziale Welt 3/2007 · Soziale Welt 58 (2007), S. 231 – 231 Editorial Wie bereits angekündigt, legen wir hier ein spezielles Themenheft über „Systemtheorie und empirische

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SozW Soziale Welt Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und PraxisHerausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e.V., Lennéstr. 30, 53113 Bonn

Geschäftsführende Herausgeber: Prof. Dr. Ulrich Beck, Prof. Norman Braun PhD, Prof. Dr. Armin Nassehi, Universität München, Institut für Soziologie

Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Barbara Adam, University of Wales, Cardiff · Prof. Martin Albrow, Roehampton Institute, London · Prof. Anthony Giddens, London School of Econo-mics and Political Science (LSE), London · Prof. Uta Gerhardt, Universität Heidelberg · Prof. Heinz Hartmann, Universität Münster · Prof. Bruno Latour, CSI, Paris · Prof. Hermann Schwengel, Universität Freiburg

Redaktion: Dr. Irmhild Saake, Universität München

Redaktionelle Bearbeitung: Lilian Brandtstaetter

3/200758. Jahrgang

Seite 229–362

Inhalt

Editorial .............................................................................................................................. 231

Aufsätze .............................................................................................................................. 233

1. Einleitung: Warum Systeme? Methodische Überlegungen zu einer sachlich, sozial und zeitlich verfassten WirklichkeitVon Irmhild Saake und Armin Nassehi ......................................................................... 233

2. Participant Observation and Systems Theory: Theorizing the GroundVon Daniel B. Lee and Achim Brosziewski ................................................................... 255

3. Formalität, Informalität und Illegalität in der OrganisationsberatungVon Stefan Kühl ............................................................................................................. 271

4. Empirie oder Theorie? Systemtheoretische Forschung jenseits einer vermeintlichen AlternativeVon Werner Vogd .......................................................................................................... 295

5. Rationalität und Plausibilität in klinischen Ethikkomitees. Die Echtzeitlichkeit von Kommunikation als Empirie der SystemtheorieVon Katharina W. Mayr ................................................................................................ 323

6. Kommentare zu den BeiträgenVon Hubert Knoblauch.................................................................................................. 345

7. Soll das denn alles (gewesen) sein? Anmerkungen zur Umsetzung der soziologischen Systemtheorie in empirische ForschungVon Hartmut Esser ........................................................................................................ 351

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8. Nachwort kurz vor Redaktionsschluss. Kommentar zur Einleitung von Saake und NassehiVon Hartmut Esser .........................................................................................................359

Abstracts..............................................................................................................................361

Regeln für die Manuskriptgestaltung

ImpressumGeschäftsführende Herausgeber: Prof. Dr. Ulrich Beck, Prof. Norman Braun PhD, Prof. Dr. Armin Nassehi (V.i.S.d.P.), Universität München, Institut für SoziologieRedaktion: Dr. Irmhild Saake, Universität MünchenRedaktionelle Bearbeitung: Lilian BrandtstaetterNamentlich gezeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung der Herausgeber/Redaktion oder des Verlages wieder. Alle Einsendungen erbeten an die Redaktion »SOZIALE WELT«, Institut für Soziologie, Konradstraße 6, 80801 Mün-chen, Tel. (089) 2180-2458, Fax (089) 2180-5945, [email protected]. Die Redaktion behält sicheine längere Prüfungsfrist vor. Eine Haftung bei Beschädigung oder Verlust wird nicht übernommen. Bei unverlangtzugesandten Rezensionsstücken keine Garantie für Besprechung oder Rückgabe. Alle Rechte sind vorbehalten. Foto-mechanische Vervielfältigungen der Beiträge und Auszüge sind nur im Einvernehmen mit dem Verlag möglich. Erschei-nungsweise vierteljährlich.Die Homepage der Sozialen Welt erreichen Sie unter http://www.lrz-muenchen.de/~Soziale_Welt/.Bezugsbedingungen: Bezug durch alle Buchhandlungen oder unmittelbar durch den Verlag. Preis des Einzelheftes € 24,–;Jahresbezugspreis € 85,–; Vorzugspreis für Studierende € 43,– (Jährliche Vorlage einer Studienbescheinigung erforder-lich). Preise incl. MwSt. zzgl. Porto- und Versandkosten. Kündigung vierteljährlich zum Kalenderjahresende. Die zurAbwicklung von Abonnements erforderlichen Daten werden nach den Bestimmungen des Bundesdatenschutzgesetzesverwaltet. Bestellungen und Studienbescheinigungen bitte an: NOMOS Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Postfach100 310, D-76484 Baden-Baden, Telefon 0 72 21 / 21 04-0, Telefax 0 72 21 / 21 04 43.Druck: NOMOS Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Postfach 100 310, 76484 Baden-Baden, Telefon 0 72 21 / 21 04-0, Telefax 0 72 21 / 21 04 43.Anzeigen: sales_friendly, Bettina Roos, Siegburger Straße 123, 53229 Bonn, Telefon 02 28 / 9 78 98-0, Fax 02 28 / 9 78 98-20, [email protected]

ISSN-Nr. 0038-6073

Page 3: SozW Soziale Welt 3/2007 · Soziale Welt 58 (2007), S. 231 – 231 Editorial Wie bereits angekündigt, legen wir hier ein spezielles Themenheft über „Systemtheorie und empirische

Soziale Welt 58 (2007), S. 231 – 231

EditorialWie bereits angekündigt, legen wir hier ein spezielles Themenheft über „Systemtheorie undempirische Forschung“ vor. Die Resonanz auf unseren call for papers war sehr ermutigend.Von den 22 Einsendungen präsentieren wir hier vier Beiträge nach einem auch für uns sehrinteressanten Begutachtungsverfahren. Eine besondere Note bekommt das Heft sicher durchdie beiden Kommentare von Hartmut Esser und Hubert Knoblauch, denen die Beiträge vor-gelegen haben und die sehr Erhellendes beigetragen haben. Wie wertvoll dies für die gesam-te Diskussion ist, wird der Leserin, dem Leser sicher sogleich deutlich werden. In dem ein-leitenden Text nehmen Irmhild Saake und ich noch einmal in einer Gesamtschau zurgesamten Diskussion des Heftes Stellung.

Wir werden in der nächsten Zeit wieder Themenhefte anbieten und entsprechende callsveröffentlichen. Den nächsten call for papers in diesem Sinne werden Sie bereits dem nächs-ten Heft entnehmen können. Für heute möchte ich allen Beiträgern, vor allem aber den bei-den Kommentatoren danken. Der Dank gilt auch den beiden anderen Herausgebern der Zeit-schrift, für die dieses Thema womöglich nicht ins Zentrum ihrer wissenschaftlichenInteressen gehört, auch wenn es hier – wie wir zu zeigen versuchen – keineswegs um einenSpezialdiskurs geht, sondern um die generell bedeutsame Frage, wie die Soziologie zu ihrenErgebnissen kommt. Für diesen Topos wird sich die Soziale Welt auch in näherer Zukunftweiter engagieren.

München, im August 2007Armin Nassehi

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Soziale Welt 58 (2007), S. 233 – 253

Einleitung: Warum Systeme?

Methodische Überlegungen zu einer sachlich, sozial und zeitlich verfassten Wirklichkeit

Von Irmhild Saake und Armin Nassehi

Das vorliegende Heft der ›Sozialen Welt‹ ist einem Thema gewidmet, das viele Soziologin-nen und Soziologen vermutlich schon von vornherein für verfehlt halten. Die Herausgeberhaben die Frage gestellt, wie eigentlich eine systemtheoretische empirische Forschung ausse-hen kann. Die Antwort, die hier präsentiert wird, besteht aus vier positiv begutachteten Bei-trägen und zwei von den Herausgebern erbetenen Kommentaren von Hartmut Esser und Hu-bert Knoblauch. Über das hinaus, wovon die Leserin und der Leser sich selbst überzeugenkönnen, wollen wir hier versuchen, eine kleine Bilanz zu ziehen, um die Bemühungen vonAutoren und Kommentatoren entsprechend zu würdigen. Unsere Bilanz setzt zunächst beiden Einwänden der Kommentatoren an und verfolgt deren Kritik dann noch etwas genauerdurch die einzelnen Beiträge hindurch.

Sowohl Hartmut Esser als auch Hubert Knoblauch kritisieren in ihren statements etwas,was sich mit Esser in dem folgenden Satz zusammenfassen ließe: »…dass die kausalen Vor-gänge, die das Verhalten der Akteure bestimmen, wie die Wirkung von Opportunitäten undRestriktionen, Präferenzen und Erwartungen, Frames und Skripten, sich eben nicht dadurchändern, dass ein ›Beobachter‹ bestimmte ›Zuschreibungen‹ vornimmt und es als ›Handeln‹ausflaggt oder nicht« (Esser in diesem Heft). Bei Knoblauch klingt dies so: »…dagegen fühleich mich wieder bestätigt darin, dass die Subjektivität ein bedeutendes Thema auch in denFormen und Bereichen der Kommunikation ist, wo man sie gar nicht erwartet. Deswegen ver-wundert mich die schroffe Ablehnung von Vorstellungen der Subjektivität umso mehr: Müs-sen denn auch die Leute, die beobachtet werden, radikale Konstruktivisten sein, damit sie an-gemessen beobachtet werden können? Sollte die Soziologie nicht Konzepte schaffen, die auchdie Semantik der Leute erfasst, ohne wesentliche Aspekte wegzudefinieren?« (Knoblauch indiesem Heft) Mit Esser und gegen Esser möchten wir im Folgenden den soziologischenHandlungsbegriff stärken, indem wir über die konkrete Form, für die Esser sich interessiert,hinausgehen, und auf sehr viel weniger voraussetzungsreiche Varianten des Handlungsbe-griffs und entsprechende Kontexte hinweisen. Wir arbeiten damit nicht am gleichen Problemwie Hartmut Esser, versuchen aber deutlicher, als dies bislang geschehen ist, die Konsequen-zen dieser empirischen Befunde in die Form einer Erklärung zu bringen. Mit Knoblauch undgegen Knoblauch wollen wir darüber hinaus auch zeigen, dass sich mit dem Konzept der Sub-jektivität noch viel mehr erklären lässt, als Knoblauch vermutet, wenn man es noch radikalerals die Wissenssoziologie empirisch fasst. Man würde Subjektivität dann nicht als Grundbe-griff zugrunde legen und überall vermuten, sondern könnte sich genauer anschauen, wo Phä-nomene sichtbar werden, die wir theoretisch als Subjektivität (vgl. Nassehi 2007a) kennen.Diese Vorgehensweise ist eigentlich eine sowohl systemtheoretische als auch – mit Bourdieu– praxistheoretische. Was die Kommentatoren an der Systemtheorie so übereinstimmend kri-tisieren, würde Bourdieu folgendermaßen formulieren: »Einer der praktischen Widersprücheder wissenschaftlichen Analyse der Logik der Praxis liegt in dem paradoxen Sachverhalt, dassdas schlüssigste und damit sparsamste Modell, welches die Gesamtheit der beobachteten Tat-sachen am einfachsten und am systematischsten erklärt, nicht die Grundlage der von ihm bes-ser als von jeder anderen Konstruktion erklärten Praxis ist; oder, was auf dasselbe hinausläuft,dass die Praxis die Beherrschung der Logik, die in ihr zum Ausdruck kommt, nicht voraus-setzt – und auch nicht ausschließt.« (Bourdieu 1999, 27) Wir wollen im Folgenden zeigen,

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dass eine praxistheoretische Soziologie empirisch unweigerlich auf handelnde Subjekte stößt,dass sie aber im Versuch der wissenschaftlichen Erklärung auch unweigerlich Systeme oderFelder sieht, die sich mehr oder weniger stark auf handelnde Subjekte zurückführen lassen. Inden Begriffen einer sozialphänomenologischen Wissenssoziologie müsste man sagen: DiePraxis typisiert sich selbst so, dass sie das eine Mal handelnde Subjekte produziert, das andereMal typisierende Wissenschaftler. Darüber hinaus produziert sie aber auch in anderen Kon-texten z.B. körperliche, habituelle Formen des unreflektierten Tuns und Lassens, oder auchsolche der extremen Inanspruchnahme von erlebter und dargestellter Subjektivität. Zurückzu-führen ist dies jeweils auf eine konkrete Praxis. Erklärt werden kann diese Typisierungsleis-tung aber nur, wenn man abstrakt nicht mit handelnden Subjekten, sondern mit Systemen alsMöglichkeit der sowohl sachlichen, sozialen und zeitlichen Verfasstheit der Wirklichkeitrechnet. Unser entscheidendes Argument ist also eines der Empirie.

1. Zur empirischen Unterscheidung von Handlung und Subjektivität

Für Beobachter der systemtheoretischen Soziologie klingt es vielleicht verwunderlich, aber eswäre soziologisch unsinnig zu leugnen, dass es Handlungen und Subjektivität gibt. Es gibtHandlungen, und sie sind zentral für alles, was man empirisch untersuchen will. Aber für sichund aus sich selbst heraus bedeuten Handlungen zunächst noch nichts. Und es gibt natürlichauch Subjektivität, die wir im Moment des Lesens an uns selbst beobachten können, aber sieist nicht immer zeitlich auf unsere Handlungen bezogen. Wenn man eine sehr viel schlichtereEmpirie anwendet, als sie Esser und Knoblauch favorisieren, zeigen sich beide Begriffe alsnoch grundlegendere Phänomene, als man vorher vermuten würde. Man muss empirisch tie-fer ansetzen und sich fragen, wie viel an Reflexivität, an Motiviertheit, an Bedeutungsschöp-fung man seinem Untersuchungsobjekt zurechnen kann. Esser würde von Skripts sprechen,um zu beschreiben, dass wir alle nicht immer unseren Nutzen maximieren wollen, und Knob-lauch würde mit der Schützschen Phänomenologie Kontexte unterscheiden, in denen wirmehr oder weniger über unsere Motive Auskunft geben können (Alltag vs. theoretische Ein-stellung). Geschaffen sind diese beiden Antworten jedoch für den Normalfall des reflektier-ten, überlegten und seine Bedeutung erklärenden Verhaltens – auch wenn es andere Fällegibt. Wir möchten ganz schlicht und ansonsten nicht viel anders an der anderen Seite ansetzenund behaupten, dass schon diese Verknüpfung von Handlung und Reflexion eine gesellschaft-liche Konvention und Erwartung ist, für die es besondere Ressourcen braucht: eine protestan-tische Ethik, eine disziplinierende Philosophie der Vernunft, soziale, zeitliche und sachlicheDifferenzierung von Kontexten, Diskurse und vielleicht noch eine entsprechende Habermas-sche Soziologie. Wenn man auf diese Weise das nicht-reflektierte Handeln, das »alltäglicheHandeln«, die »inkompetenten Sprecher« zum Ausgangspunkt der Analyse macht und sichdarüber wundert, wie Kontexte entstehen konnten, die ein Individuum schaffen, das aus-kunftsfähig ist und sich als Autor seiner Handlungen betrachtet, muss man die Forderungender Kommentatoren dieses Heftes noch viel prinzipieller wenden. Es geht dann nicht mehrum Individuen mit subjektiven Einstellungen zu ihren Handlungen, sondern zunächst umHandlungen einerseits und andererseits um Orte, an denen diese Handlungen mit Subjektivi-tät ausgestattet werden. Dass wir in unserem soziologischen Alltag die spezielle Form des»handelnden Subjekts« zumeist als Normalfall ansehen, erklärt, warum wir so viele Ein-schränkungen mitliefern müssen, wenn wir etwas erklären wollen. Wenn wir diese Form je-doch als Spezialfall ansehen, dann muss man noch viel dringlicher einfordern, sich eine kon-krete Praxis anzuschauen und diese zu dokumentieren, um sich davon überraschen zu lassen,welcher Gebrauch oder auch wie wenig Gebrauch von jenen Ressourcen gemacht wird, dieuns das Etikett des aus subjektiver Sicht vernünftigen Handelnden ermöglichen. Man mussdafür interessanterweise gar nicht in andere Kulturen wechseln, um diese sehr viel wenigervoraussetzungsreichen Formen des Handelns zu sehen. Man muss letztlich nur die Begriffe

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etwas anders fassen, um der empirischen Forschung zu ermöglichen, diese »verstümmelten«Versionen des soziologischen Idealtypus in ihrer eigenen Qualität zu erfassen.

Wenn man diese kleine Wendung vornimmt, stößt man nicht nur auf die zentralen Kon-zepte der Handlung und der authentischen Subjektivität, sondern auch – das ist unsere Er-gänzung zu den vorliegenden Beiträgen – noch viel systematischer auf das Konzept der Ge-sellschaft, das wiederum eines der umstrittensten in der aktuellen Soziologie ist. Wofür, sodie Frage, braucht man noch einen Gesellschaftsbegriff? Stellen muss man diese Frage,wenn man ohne einen historischen Begriff von Gesellschaft seine eigenen Begriffe absolutsetzt. In Bezug auf den Handlungsbegriff kann man die Folgen einer solchen historischenEinordnung sehr schön bei Hartmann Tyrell nachlesen, der in einem ganz wunderbaren Textzeigen will: »dass es die Karriere, die Erfolgsgeschichte ›des Handelns‹ in diesem Jahrhun-dert war, die in den Sozialwissenschaften ›die Kommunikation‹ nicht, bzw. erst spät (imletzten Jahrhundertdrittel) begrifflich hat zum Vorschein oder zum Zuge kommen lassen.Daran ist impliziert, dass ›das Handeln‹ ein eigentümlich unkommunikabler Begriff ist. DemHandeln ist ›das Bewusstsein‹ nahe, nicht aber Kommunikation.« (Tyrell 1998, 83) Tyrellverortet entscheidende soziologische Vorarbeiten zu diesem Begriff bei Max Weber bzw. indessen Strategie: »…sie integriert dem Handeln hermeneutische und ethische Elemente(›Verstehen‹ und ›Sinn‹ hier, ›Wert‹ und ›Persönlichkeit‹ dort)...« (ebd., 102). Einen Gesell-schaftsbegriff braucht man für diese Art der Empirie, um sehen zu können, dass die eigenenSätze einer historischen Konvention geschuldet sind. Insofern scheint sich die Soziologie alsKind des 19. Jahrhunderts vor allem für solche Handlungen zu interessieren, die modern indem Sinne sind, dass sie mit Gründen ausgestattet sind, mit einem dann bei Bedarf kommu-nizierbaren subjektiv gemeinten Sinn (vgl. Nassehi 2006; Saake/Nassehi 2004)

Was wir im Folgenden versuchen wollen, besteht darin, den Handlungsbegriff nicht mehrder Hermeneutik zu subordinieren. Dann werden Handlungen denkbar, die sich selbst zu-nächst nicht verstehen. Damit soll nicht geleugnet werden, dass es viele Kontexte gibt, in de-nen die Menschen Auskunft darüber geben können, warum sie wie gehandelt haben. Es wirdnur zusätzlich ergänzt, dass es auch Kontexte gibt, in denen »einfach« gehandelt wird. Underst jetzt wird es möglich zu fragen, an welchen Orten die subjektive, wissenschaftliche oderethische Reflexion eine besondere Bedeutung erhält oder ob gar die Idee subjektiver Nach-vollziehbarkeit zu einem eigenständigen Instrument im gesellschaftlichen Alltag wird (vgl.Rose 1998, Hoyer/Tutton 2005, aber auch schon Mead 1988 [1934], 56f und 172f, vgl. dazuNassehi 1993, 120).

Als zentrales Element einer systemtheoretischen Empirie ließe sich auf dieser Grundlagedas Konzept der Sinndimensionen bezeichnen. Jenseits der allgemeinen Methodendiskussionder qualitativen Sozialforschung darüber, wie man richtig forscht – die richtigen Fragen zumrichtigen Zeitpunkt zu stellen, die zeitliche Abfolge (Sequenz) zu berücksichtigen, Tonmit-schnitte oder Videoaufzeichnungen statt Protokolle und Interviews zugrundezulegen – könn-te man sich etwas freier dafür interessieren, wie in der jeweiligen Situation Sinn geschaffenwird: sozial, sachlich und zeitlich. Der Hinweis aufs Soziale als eigenständige Kategorie ne-ben dem Sachlichen und dem Zeitlichen verdeutlicht z.B., dass ein Gesellschaftsbegriff nichtnur auf eine Vielzahl von Menschen verweist, sondern auch darauf, dass ganz unterschiedli-che Themen zur gleichen Zeit verhandelt werden können, weil Kontexte und Zeitperspekti-ven entkoppelt sind. Eben dies wird mit dem theoretischen Konzept gesellschaftlicher Diffe-renzierung beschrieben. In Max Webers Sätzen zur Unvereinbarkeit der Wertsphären kannman noch erkennen, wie überraschend sich dieses gesellschaftliche Ereignis der Differenzie-rung aus protestantisch aufgeklärter Perspektive darstellt. Ein Gesellschaftsbegriff ließ sichhier – laut Weber – nicht mehr rechtfertigen, weil sich mit Hilfe des damaligen Modells desKausalfunktionalismus keine Erklärung für diese Entkopplung finden ließ. Worauf soll so et-was sozial auch verweisen?

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Das gleiche Problem hat in unserem Themenheft auf ähnliche Weise der Text von StefanKühl, der von unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen der Theorie und der Praxisder Organisationsberatung spricht, dies dann an sich selbst erlebt und eigentlich keine Erklä-rung dafür finden kann, dass etwas so haarsträubend Unvernünftiges möglich ist wie das,wovon er in seiner lesenswerten Studie berichtet. Knoblauch kritisiert hier zu recht, dass derText eigentümlich unerklärt bleibt, obwohl die Empirie instruktiv ist. Aber wofür? Der Texterzeugt einen interessierten Leser, der, je weiter er liest, es um so weniger fassen kann, wasda passiert. Kühl rekonstruiert detailliert einen Fall, bei dem Organisationsberater sich zu-nehmend an der illegalen Praxis derjenigen beteiligen, die sie eigentlich qua Auftrag diszi-plinieren sollen. Zur problematisierten illegalen Praxis sehen auch sie keine Alternative, weiles offenbar nicht möglich ist, in einem globalen Konzern Argumente so aneinander anzu-schließen, dass die alltägliche Differenz zwischen dem, was wir tun, und dem, was wir sa-gen, nicht auffällt. Es fällt auf, aber vor allem deshalb, weil sich mit der Organisationsbera-tung ein Ort etabliert hat, der nur für die (wissenschaftliche und praktische) Reflexion desorganisierten Alltags zuständig ist. Erkennen kann man dies an den Mangelbeschreibungender soziologischen Organisationsberatung, in denen kritisiert wird, dass sich wider ErwartenEntscheidungen doch nicht gemeinsam mit allen Betroffenen treffen ließen, dass die Zeitdoch nicht ausreichte, alle anzuhören, und dass dann doch diejenigen, die etwas bestimmenkönnen, dies auch tatsächlich taten (vgl. hierzu Iding 2007). Sichtbar wird dies nur Demjeni-gen, der alles gleichzeitig sehen kann oder will und der dafür Zeit hat.

Aber wo gelangt man hin, wenn man sich eine Empirie zumutet, wie das Kühl hier getanhat, die so schön und kurzweilig beschreibt, die dafür aber keine Erklärung hat? Zunächstkann man sich darüber freuen, diese Informationen bekommen zu haben. Aber dann wird auchschon zum Problem, was Esser an Vogds Text vor allem kritisiert hat. Esser fragt – am Bei-spiel von Vogds Studien zu Krankenhäusern als Organisationen –, ob man denn nicht jetzt ansErklären gehen müsse. Wir stimmen ihm hierin zu, auch wenn sich daraus keine Erklärung er-gibt, die Essers Ansprüchen gerecht würde. Aber erklären müsste man in der Tat in VogdsTexten genauer, was es bedeutet, in konkreten Handlungen Schmerzen zu »behandeln«. Er-klären müsste man, dass solche Situationen – wo immer sie auch auftauchen – das gemeinsa-me Merkmal des Umgangs mit problematischen Körpern tragen. Hieran anschließend könnteman dann weiter systematisieren, indem man fragt, welchen Umgang mit Körpern unsere Ge-sellschaft darüber hinaus noch kennt. Es wäre wichtig miteinzubeziehen, dass es hier um einegesellschaftliche Praxis geht und nicht um die reine Spekulation darüber, was alles mit Kör-pern möglich wäre. Es geht, allgemein gesprochen, bei einer solchen »gesellschaftlichen« Per-spektive darum, in konkreten Situationen mitsehen zu können, dass es auch noch andere Kon-texte gibt, seien sie mit dem beobachteten nun gekoppelt oder nicht. Vielleicht ist das dieentscheidende »gesellschaftliche« Erfahrung mit der (modernen) Gesellschaft: dass stets undimmer und gleichzeitig auch anderes geschieht und dass die »Handelnden« mit ihren Habitusund ihren Erwartungen Kontexte mitbringen, die dann aufeinander prallen.

Neben der gesellschaftlichen Praxis des Umgangs mit Körpern wird dann womöglich einePraxis der fast schon Nichtberücksichtigung von Körpern sichtbar. Man muss essen undschlafen, um wissenschaftlich arbeiten zu können, aber die wissenschaftliche Rede verdanktsich selbst nicht den Bedingungen der Körperlichkeit – sie ordnet sich nicht anhand konkre-ter körperlicher Probleme – , sondern sie ist Resultat der Möglichkeiten, die aus dem Erlebendes Erlebens anderer – dem Denken – gewonnen werden können. Wir können (ernsthaft)nachdenken und versuchen zu verstehen und nachzuvollziehen, was ein anderer bereits ver-standen, gedacht und nachvollzogen bzw. erlebt hat. Und um all das in eine Form zu bringen,schaffen wir Formeln und lange Texte – das eine nicht leichter verständlich als das andere.Dass dann Esser beklagt, die vielfältigen Spielarten der »soziologischen Erklärung« wurdenvon »den« Systemtheoretikern nicht rezipiert, liegt auch daran, dass diese ihnen als mathe-

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matische Sätze genau so viele Schwierigkeiten bereiten wie Esser die schönen Formulierun-gen einer mathematikfreien Soziologie.

Auch wenn die Praxis des Erklärens sich so als eine unter anderem auch soziale Veranstal-tung beschreiben lässt – dies kann man sehr schön in dem Text von Daniel Lee und AchimBrosziewski nachlesen –, kann man doch fordern, dass eine systemtheoretische Empirie ihreErgebnisse verbindlicher darstellt. Ein entscheidender Schritt in diese Richtung wäre in der»redlichen Aufarbeitung des Forschungsstandes« (Knoblauch in diesem Heft) zu sehen, wassich in der systemtheoretischen Forschung tatsächlich oft als großes Manko erweist. DasVersagen qualitativer Forschung im Hinblick aufs Erklären oder, wie wir hier sagen wollen:im Hinblick darauf, als wie verbindlich die Ergebnisse der Forschungen angesehen werdensollen, rechtfertigt sich aber auch darüber, dass es oft schwierig ist, eine gesellschaftlichePraxis zu erforschen und sich gleichzeitig von den alltäglichen Plausibilitäten zu distanzie-ren. Hier wird dann oft kritisch übertreibend so getan, als gehe es beim Erklären der quanti-tativen Forschung nur um Artefakte und beim Handeln nur um Zurechnungen. Es werdentatsächlich Artefakte gebildet, und es wird tatsächlich zugerechnet, aber eben dies ist einegesellschaftliche Praxis und nicht nur eine wissenschaftliche. Qualitative Forschung besteht– so beide Kommentatoren – offenbar wirklich im Ergebnis nur darin, dass sie typisiert.Aber im Beschreiben lernen wir, uns mit einer zutiefst banalen Praxis des Handelns ausein-anderzusetzen – und diese zu verstehen. Vielleicht ist dies das Geschäft einer Soziologie, diemitverfolgt, wie aus einer bürgerlichen Gesellschaft eine nachbürgerliche Gesellschaft wird,die immer noch an die Kraft der Reflexion glaubt, die aber erlebt, dass Reflexion nur (noch?)temporär stattfindet – als Spezialfall. Wie kann aber eine Soziologie damit umgehen, dieletztlich auf das Verstehen des Reflexionswerts einer Handlung geeicht ist?

Das Typisieren ermöglicht uns jedenfalls, einen Alltag zu sehen, der zutiefst vernunftfreifunktioniert. Man kann nun, damit es nicht so schrecklich klingt, von verschiedenen Rationa-litäten oder Logiken sprechen, aber man kann dann auch sehen, in welchem Ausmaß unserealltäglichen Handlungen in ihrer Sinnhaftigkeit voneinander entkoppelt sind und wie sehr sieeiner Logik folgen, die nur der jeweiligen Situation entspricht. Die Bedeutung der »Situation«ist der Soziologie schon öfter aufgefallen (vgl. z.B. Esser 1996, 2002). Sie aber in einem ge-sellschaftstheoretischen Rahmen zu betrachten, ermöglicht es, Gesellschaft selbst als eineVielheit von Kontexten, von Situationen, ja von Gegenwarten zu konzipieren. Eine empiri-sche Wendung des Gesellschaftsbegriffs führt damit – zumindest für die moderne Gesell-schaft – zum Konzept einer Gesellschaft der Gegenwarten, deren entscheidendes Merkmal esist, welche Multiplizität von Kontexten sie aushalten kann und wie sich fast alles in konkretenGegenwarten ereignet – praktisch eben (vgl. Nassehi 1997; 2003, 81f und 165; 2006; 375ff).

Auf dieser Grundlage ist es möglich, sich systematisch all dem zuzuwenden, was bei Ha-bermas noch als Sonderfall der inkompetenten Sprecher beschrieben wurde und mit dem In-dex der Heilbarkeit versehen war – z.B. dem familiären Alltag mit Kindern –, aber man kannauch an Organisationen dokumentieren, dass Ärzte nicht immer wissen, was sie eigentlichtun wollen (Vogd in diesem Heft), oder dass sie es oft nur wissen, weil sie in ihrem Denkenund Handeln von der Form der medizinischen Akte geleitet werden (vgl. Berg 2007). Mankann dann sehen, dass in Sitzungen eines Klinischen Ethikkomitees alle Beteiligten nichtwissen, was man da eigentlich machen soll – und dass sie trotzdem einen Weg finden, etwaszu machen, womit sie dann zufrieden sind (vgl. Sulilatu 2007). Man kann dann sehen, wieÄrzte mit sterbenskranken Patienten reden, und wie es klingt, wenn sie als Wissenschaftlerdarüber reden, wie sie mit Patienten reden. Was man sieht, ist nicht das Informelle, sondernverschiedene Handlungen, die mehr oder weniger reflektiert werden, weswegen sie in ihrerUnterschiedlichkeit so nebeneinander stehen können (vgl. dazu Saake 2007).

Es ist im Umkehrschluss nicht sinnvoll, all das, was nicht reflektiert wird, als das Wichtigereanzusehen – nur weil es mit einem Index des Authentischen ausgestattet zu sein scheint. Viel

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spannender ist es, sich dafür zu interessieren, mit welchen systematischen Formen der Unver-nunft sich eine spezifische Praxis ausstattet. Dass ein Arzt (paternalistisch) mit dem Patientenwie mit einem Kind redet, hat auch etwas damit zu tun, dass er lernt, die Psyche des Patientenzu »beschwören«, damit er den Körper behandeln kann. Das, was medizinisch modern als»Compliance« und nicht als Schamanismus bezeichnet wird und die immer kritisierte ärztlicheDominanz stellen sich so als zwei Seiten einer Medaille heraus (vgl. Saake 2003). Es wird dannauch deutlich, wie oft es gar nicht auf Sprache ankommt, sondern nur darauf, dass jemand eineHandlung vollzieht. Auf dieser Grundlage ließe sich wunderbar beschreiben, wieso die alte ka-tholische Liturgie derzeit so viele Freunde findet und warum sie in einer Gesellschaft der »pro-testantischen Reflexion« trotzdem keine alte katholische Liturgie mehr sein kann. An diesemBeispiel lässt sich erklären, warum in der Systemtheorie von Kommunikation und nicht vonSprache gesprochen wird. Die Kommunikation bezeichnet Situationen, in denen angeschlossenwird, egal ob mit oder ohne Hilfe von Sprache. Interessant ist aber dann, was passiert, wenn esmit Sprache geschieht. Martin Mosebach beschreibt in seiner Kritik der neuen katholischen Li-turgie sehr überzeugend, wie mit der unvermeidlichen Einführung von partizipativen Elemen-ten ein religiöses Bekenntnis ad usum delphini formuliert werden musste (vgl. Mosebach 2002,7). Es braucht – so würden wir ergänzen – gar nicht die kindliche Sprache für die Problemati-sierung der Bekenntnisform, es reicht, sich vor Augen zu führen, dass jemand, der nun öffent-lich bekennen muss, vielleicht auch erst dann an sich entdeckt, dass er so etwas gar nicht be-kennen kann. Es wäre soziologisch naiv, hier davon zu sprechen, dass jemand, der nichtbekennt, nicht gläubig ist. Man verabsolutierte dann die Bekenntnisform als Form der religiö-sen Praxis. Typischerweise drängt aber das religiöse Erleben über die Immanenz des Alltags hi-naus und findet Halt nur in Erfahrungen der Transzendenz, die sich wiederum leichter in einernichtsprachlichen Praxis aufheben lassen als in der banalisierenden Form der Sprache.

Schlichtes Typisieren verweist auf diese Weise auf etwas, was uns als Mitgliedern einerKultur zunächst unsichtbar sein muss. Nicht die Verfremdung führt jedoch zur Wahrneh-mung dessen, was sonst ausgeschlossen wird, sondern die Beobachtung dessen, was sichwiederholt. Was das bedeutet, soll im Folgenden an einer Auseinandersetzung mit dem Bei-trag von Werner Vogd demonstriert werden. Es geht uns hierbei um eine Kritik der Sequenz-analyse.

2. Sozialität ist nicht typisch als ein zeitliches Nacheinander zu verstehen

Die beste Quelle für systemtheoretische Forschung auf höchstem Niveau sind zurzeit wohldie Studien von Werner Vogd. In intensiver Auseinandersetzung mit dem Forschungsfelddes Krankenhauses analysiert er das Wechselspiel von medizinischen und organisatorischenFormen. Was ändert sich, wenn ein an Diagnose Related Groups (DRG) orientiertes Abrech-nungsverfahren eingeführt wird? Welche Auswirkungen auf das medizinische Handeln hatdie Einführung einer flacheren Hierarchie auf den stationären Alltag? Zeigen lässt sich da-bei, dass das, was zunächst für den Laien als gut erscheint – mehr Transparenz, kürzere Ent-scheidungswege –, auch Nebenwirkungen hat, die z.B. darin bestehen, dass Personen, diesich als Entscheider fühlen – Ärzte –, sich nicht mehr als Entscheider darstellen können, waswiederum ein hohes Ausmaß an Unzufriedenheit auf Station produziert (vgl. Vogd 2007).Ein großer Teil der ärztlichen Kritik an Deprofessionalisierungstendenzen ließe sich demzu-folge auch über organisatorische Änderungen erklären, die ärztliche Entscheidungsmöglich-keiten abbauen. Hiermit entsteht eine andere Problembeschreibung, als wenn man einfachnur behaupten wollte, dass es dem Gesundheitssystem an Geld oder Expertise fehle.

Ein genauerer Blick auf die methodische Durchführung dieser Studien bietet sich also an.Der Beitrag von Werner Vogd für dieses Themenheft widmet sich explizit dieser Frage undpointiert dabei eine Vorgehensweise, die Vogd mit Rückgriff auf die von Ralf Bohnsack aus-gearbeitete Methodologie als rekonstruktives Verfahren bezeichnet. Während die Systemthe-

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orie von ihm einerseits als »metatheoretischer Rahmen« installiert wird, ergibt sich – lautVogd – andererseits daraus, dass »die Systemtheorie in ihrer inhärenten Forschungspraxisein rekonstruktives Verfahren darstellt« (Vogd in diesem Heft). In ihrer einfachsten Formversteht er unter Rekonstruktion, dass man explizit macht, worauf man sich bezieht, wennman Daten auswertet. In der komplexeren Form wird deutlich, wie sehr sich die VogdscheVersion der Interpretation in der Praxis nach wie vor als Rekonstruktion subjektiver Innen-welten versteht – obwohl sie dies theoretisch leugnen würde. Vogd formuliert: »die Voraus-setzung hierfür ist, dass die Sequenzialität des Sinngeschehens im Prozedere vom Unbe-stimmten zum Bestimmten protokolliert wird, um dann die klassisch physikalische Weltzeitmit der jeweiligen Systemzeit in Beziehung setzen zu können.« (Vogd in diesem Heft) DieUnterscheidung von verschiedenen Zeitstrukturen liegt hier nahe – man kann daran kaumvorbeisehen, wenn man empirisch forscht –, aber es liegt in keiner Weise nahe anzunehmen,dass Komplexität nur zeitlich aufgelöst wird. Die Behauptung einer zeitdimensionalen Ord-nungsbildung ergibt sich hier über die Beobachtung eines zeitlichen Nacheinanders gespro-chener Rede und ihrer Unterbrechungen. Diese für Soziologen überaus attraktive Form vonbeforschbarer Sozialität – einer sagt etwas, und ein anderer schließt tatsächlich an – verweistjedoch zunächst nur darauf, dass Sprache eine Form darstellt, die nur als zeitliches Nachein-ander denkbar, weil hörbar ist. Sonst kann man im buchstäblichen Sinne nichts verstehen.Losgelöst von dieser Form ergibt sich dabei jedoch der Blick auf andere Formen der Infor-mationsverarbeitung, nämlich hier vor allem solche der Sozialdimension. Während sich inder zeitlichen Verfolgung der medizinischen Aushandlung von Diagnosen und Therapien ty-pischerweise eine Dokumentation des Nichtverstehens zwischen verschiedenen Statusgrup-pen, zwischen Ärzten und Patienten und zwischen Ärzten verschiedener Stationen ergibt,lässt sich gleichzeitig aus den Daten von Vogd auch herauslesen, wie sehr ein Krankenhausüber die Sozialdimension funktioniert, also darüber, dass nicht einfach Menschen miteinan-der reden, sondern »Personen« mit unterschiedlichen Attributen. Fast schon beiläufig doku-mentiert Vogd in einer Fußnote eines anderen Textes, in dem er sich mit medizinischen Kar-rierewegen auseinandersetzt, dieses Phänomen: »Im Sinne eines habitualisierten Präsensohne Präsenz lassen sich auch die folgenen Sequenzen aus dem Interview mit dem Oberarztverstehen. De facto findet zwar kaum eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Chefarztstatt, diffus fühlt man sich jedoch mit ihm einverstanden und fühlt dabei seine Anwesenheitauch dann, wenn er nicht anwesend ist. Oberarzt Dr. Jonas: ›Also sehr viel, was mit Patien-ten geschieht, äh wird nicht noch einmal großartig mit dem Chef besprochen, es gibt abereine große Übereinstimmung in inhaltlichen Fragestellungen und ich hab bei den meistenEntscheidungen, die ich treffe, entweder sehr reflektiert oder auch mehr aus einem diffusenEmpfinden heraus, das Gefühl, das ist jetzt nichts, was gegen seine Intention verstoßen wür-de, also die hab ich ziemlich deutlich in mir diese Ideen, die er hat, und die Stoßrichtungen,die er verfolgt, so dass ich eigentlich selten großartige Dissonanz in mir erlebe oder das Ge-fühl hab, ich würde so entscheiden, er anders, und wie kriegt man da jetzt noch ’n Brücken-schlag hin, das gibt’s ganz selten mal, dass es inhaltlich bei konkreten Patienten unterschied-liche Strategien gibt, wie man so etwas diagnostiziert oder therapiert, und ich bin in denmeisten Fällen dann auch bisher gut damit gefahren, dass ich dann letztendlich die Entschei-dung ihm überlassen hab, wenn’s wirlich um irgendein Medikament irgendeinen therapeuti-schen Schritt ging, und er war da anderer Meinung als ich, dann ist es sowohl von der Hier-archie als auch von der Erfahrung her sinnvoll, dass er das entscheidet ... selbst wenn er jetztim klinischen Bereich selten auftaucht hab ich nicht den Eindruck, dass er nicht anwesendist, man kann ja auch durch Abwesenheit anwesend sein‹.« (Vogd 2004, 301)

Was sich oberflächlich fast ein bisschen wie eine Entlarvung darstellt – der Chef kommtseinen Pflichten nicht nach –, ist bei genauerem Hinsehen eine hochunwahrscheinliche, aberdoch in Organisationen mögliche Veranstaltung, insofern hier sichergestellt wird, dass je-mand möglichst exakt das tun wird, was jemand anders auch getan hätte. Solange es z.B.

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ums Bezahlen beim Brötchenkaufen geht, wäre dies banal. Aber in einer so komplexen Ent-scheidungssituation wie der der medizinischen Hilfe stellt dies doch eine enorme Leistungdar, die einzig und allein über Macht geschaffen wird, also sozial. Ganz reibungslos gelingtes hier dem Chef, seinen Willen durchzusetzen, indem der Oberarzt lernt, diesen Willenmöglichst exakt vorwegzunehmen. Ganz egal, ob dies nun so wünschenswert ist oder nicht,im medizinischen Alltag findet es offenbar statt und gilt soziologisch als Beweis für eine un-angemessene Hierarchie, was sich wiederum im problematischen »Miteinandersprechen«des Personals zeigen lässt. Die Studien von Werner Vogd dokumentieren dies eindrucksvoll(vgl. ebd.). Fragen könnte man sich nun aber auch, ob Kommunikationsprobleme auf medi-zinische Probleme verweisen, also auf solche der Behandlung von Patienten, oder ob sie alsKommunikationsprobleme das eigentliche Problem darstellen – unsere eigenen Forschungenzu Klinischen Ethikkomitees würden diesen Schluss nahe legen (vgl. Nassehi/Saake/Mayr2008). Wir hätten dann mit dem Krankenhaus eine Organisation vor uns, die sich im Hin-blick auf Entscheidungssituationen zunächst sozial stabilisiert – als Hierarchie –, die sichaber zunehmend der Erwartung einer kommunikativen Verflüssigung von Konventionenausgesetzt sieht und die darauf mit Kommunikationsproblemen reagiert.

Dass Vogds Interpretation an dieser Lesart vorbeigeht, ist unserer Meinung nach seinermethodologischen Engführung der Analyse geschuldet, die dann doch in die postrationalisie-rende Suche nach Gründen zurück fällt. Wie wir bereits an anderer Stelle betont haben, plä-dieren wir im Hinblick auf methodische Fragen für Offenheit (vgl. Nassehi/Saake 2002), umdann studieren zu können, wie die Offenheit der Situation sich selbst einschränkt: sozial,sachlich oder zeitlich. Erst dann kann man sehen, dass ein Mehr an Kommunikation nichtalle Probleme löst, sondern vielleicht nur dazu führt, dass Kommunikationsprobleme entste-hen. Und natürlich wollen wir damit nicht behaupten, dass mehr Kommunikation schlechtist, aber wir möchten benennen können, welches normative Potenzial diese HabermasscheIdee der kommunikativen Verflüssigung enthält, die sich – Habermas hat Recht – in ihrerPerformanz tatsächlich selbst bestätigt.

Wenn man sich methodisch offen für die Mechanismen der Komplexitätsreduktion inter-essiert, kann man sehen, wie z.B. in der Biographieforschung die Erwartung einer sequenzi-ellen, zeitlichen Informationsverarbeitung als »Form« der Biographie entsteht (vgl. Nassehi1994). Erst dies erscheint als wirkliche Reflexion, alles andere als Hinweis auf unerfahreneBiographen oder schlechte Biographieforscher. In eigenen biographietheoretischen Studienkonnten wir aber auch zeigen, wie sehr sich die klassische Form der interpretierbaren Bio-graphie einer konkreten Form verdankt, in der Erzähler und Interviewer gemeinsam einerGeschichte und ihrer Moral lauschen, in der sich plastisches »echtes« Erzählen durch schnel-len Erzählfluss und Reflexion über Abstraktion ergibt (vgl. Weber u.a. 2003; Saake 2006a).Schließt man andere Varianten nicht aus, dann sieht man neben diesem klassischen Erzähler,der sich soziologisch einwandfrei als Akteur (Täter oder Opfer) seiner eigenen Geschichtepräsentiert, auch noch denjenigen, der eigentlich gar nicht erzählen kann, weil nicht die kon-kreten Sätze und ihre zeitlichen Abfolgen, sondern nur die Zugehörigkeit zur Familie zählt.Diese Erzähler listen auf, wer zur Familie gehört, und was sie von den Familienmitgliedernerzählen. Dieser Umgang mit Sprache entwertet eigentlich die Funktion von Sprache, weil esnicht auf Verständigung ankommt, sondern – sozial – auf Zugehörigkeit. Empirisch kannman hier also sehen, dass gesprochen wird, aber davon auf einen Begriff des subjektivenHandelns und seiner Reflexion zu schließen, wäre voreilig und ginge an dem, was man em-pirisch typisierend beobachten kann, vorbei. Die Situation der Selbstbeschreibung verstehtsich selbst nämlich als eine Frage nach der Zugehörigkeit, also nach der Unterscheidung vonego und alter. Für die Reflexion, die man hier bei intensiverem Nachfragen auch findenkann, hat diese Situation keine systematische Verwendung. Sie kennt sie, und sie kann dasauch darstellen, aber an den Folgen der Reflexion orientieren sich nicht die Möglichkeitender Anschlussfähigkeit.

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Eine andere Gruppe von Erzählern fällt im Gegensatz dazu dadurch auf, dass sie sozusa-gen nur reflektiert, ihre Erzählungen also jeweils von der konkreten Erzählsituation abhängigmacht, was der alten Debatte der Biographieforschung als größter Fehler erschien, insofernman fürchtete, dass hierbei keine authentischen Erzählungen entstünden. Erst dies stellt sichim typisierenden Vergleich eigentlich als verzeitlichte Form der biographischen Selbstdar-stellung heraus, insofern jede neue Situation als neuer Anlass zur Selbstdarstellung erlebtwird. Um wiederum mit Esser auch Ergebnisse der qualitativen Forschung zu sichern: Es istschlicht falsch anzunehmen, dass Biographien ausschließlich zeitliche Formen der Verarbei-tung von Wirklichkeit darstellen. Ihre Darstellung qua Sprache erfolgt in einem zeitlichenNacheinander, aber die Problemlösung selbst erfolgt sowohl zeitlich als auch sachlich odersozial. Auch in Bezug auf Organisationen ist es falsch, eine nur zeitliche Form der Komple-xitätsreduktion anzunehmen oder sich nur auf Formen der Datenerhebung zu konzentrieren,die eindeutig zeitliche Formen vor anderen bevorzugen. Eine angemessene Datenerhebungmüsste stattdessen offen sein für die Frage danach, wie sich ein System jeweils selbst erklärt.

Bevor wir nun wiederum zu Formulierungen greifen, die unsere Kommentatoren zu rechtals hermetisch kritisieren würden, versuchen wir im nächsten Kapitel genauer zu klären, wie-so man systemtheoretisch nicht von Typisierungen, sondern nur von Unterscheidungen redetund was dabei die Beobachtung erster und zweiter Ordnung sein soll.

3. Sozialität ist nicht typisch als sprachlicher Sinn zu verstehen

Am unverständlichsten für Außenstehende scheint die systemtheoretische Rede von den Be-obachtern zu sein. Und auch dies scheint ein Problem zu sein, das sich unserer kulturellenTradition zu verdanken scheint, die im Handeln zwar kommunikative Elemente entdeckenkann, Handeln aber nicht jenseits von sprachlichen Verständigungsformen zu denken ver-mag. Erst wenn man sich über die rasante Versprachlichung unseres gesamten Alltags wun-dert, kann man wiederum sehen, wie sich – besonders in religiösen Formen, aber auch etwain Familien, im Sport, in der Musik oder auch bei didaktischem Handeln von Lehrern – ganzexplizit auch nicht-sprachliche Elemente etablieren, die ein Versprechen des Authentischenmit sich führen, dies aber immer nur im Moment einlösen können – solange niemand etwasgesagt hat. Habermas spricht nicht ohne Grund von der »Produktivkraft Kommunikation«(Habermas 1990, 36), um das enorme Potential von Sprache zu betonen. Es wäre aber einFehler, in dieser Weise Handlungen per se schon als kommunikative Akte zu fassen, sie alsoin ihrer Idealform immer auf ihren Entwurfscharakter hin zu lesen und zu übersehen, dassauch die Interpretationen selbst einen Ort brauchen, an dem sie sich – als Handlungen – ent-falten können. Bei Hans-Georg Soeffner kann man in einer schönen Studie nachlesen, wieMartin Luther zum Inbegriff des modernen Menschen wurde, aber auch – über Soeffner hin-aus – wie die Soziologie mit ihrem großen Interpretationsbedarf sich als Teil dieser protes-tantischen Kultur der Reflexion darstellt (vgl. Soeffner 1992a). In den großartigen Studienvon Soeffner zur »Auslegung des Alltags« und in den begleitenden theoretischen Textenwird paradigmatisch die gegenwärtige Soziologie zusammengefasst und zur Höchstleistunggebracht. Soziologen verstehen Symbole und sind in der Lage, sie im Verweis auf abstrakteWerte zu erklären, und sie sehen auf diese Weise in Handlungen immer mehr als das, was siezunächst beschreiben. Aber exakt über diesen Weg verdecken sie auch die Möglichkeit, dasssich hinter der Banalität des Alltags – Menschen haben Hobbys, führen Tagebücher und se-hen sich im Fernsehen schlechte Filme an – vielleicht auch nicht mehr verbirgt als ein bana-ler Alltag. Hier könnte man am einfachsten studieren, wie sich ein Anschluss einfach nurdeshalb bewährt, weil er schon vertraut ist. Man tut etwas, weil man es vorher schon getanhat. Unsere Körper sind kurz darauf schon daran gewöhnt, dass wir immer zur gleichen Zeitaufstehen, arbeiten gehen und uns etwas kaufen.

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Systemtheoretisch würde man hier zunächst nicht von Handeln oder Kommunizieren, son-dern von einer Beobachtung erster Ordnung sprechen, um zu verdeutlichen, dass man sichwährend des Aufstehens, Zur-Arbeit-Gehens und Einkaufens noch nicht fragen muss, warumman dies alles tut. Was man jedoch braucht, ist eine Vorstellung davon, was man gestern ge-macht hat bzw. was vorher gewesen ist, um zu wissen, was man nun tun möchte. Und in denmeisten Fällen muss man das alles gar nicht selber wissen, weil die Kontexte bis in ihre mate-riellen Voraussetzungen – hier würde man mit Bruno Latour anschließen – so strukturiertsind, dass sich fast automatisch Handlung an Handlung bzw. Kommunikation an Kommuni-kation fügt. Es wäre falsch, diese Form der Sozialität einfach nur als vorreflexiv zu bezeich-nen und zu disqualifizieren, weil auch viele Handlungen der expliziten Reflexion – siehe diebiographische Selbstbeschreibung – ihr Tun nicht explizit zum Thema machen. Unsere thana-tologischen Forschungen deuten darauf hin, dass das Reden über den Tod viel unproblemati-scher geworden ist, als man sich noch vor Jahren gedacht hat – dass es aber auch viel wenigermit der Tatsache der eigenen Sterblichkeit zu tun hat und mehr mit einer Kultur, in der manAufgeklärtheit darstellt, indem man offen über den Tod redet. Kaffeekochen und Über-den-Tod-Reden können wir offenbar, ohne dass wir es zum Thema machen müssen. Es sindSelbstverständlichkeiten, die aber auch bis in die tiefsten Betroffenheitsrhetoriken hinein rei-chen und die insofern nicht über die Unterscheidung reflektiert/unreflektiert abgebildet wer-den können. Es geht hier um einfaches Operieren im Sinne der Aufrechterhaltung oder desAbbruchs der Anschlussfähigkeit und damit um Situationen, die man eigentlich nicht inter-pretieren kann, weil sie sich in dem erschöpfen, was sie tun: trinken, essen, anfassen, reden,zuhören.

Die Studien von Erving Goffman sind hierfür sehr illustrativ, weil sie überhaupt nicht zwi-schen sprachlichen (reflektierten?) und nicht-sprachlichen Elementen unterscheiden und dochsehen können, wie dem einen nicht gelingen will, was für den anderen einfach funktioniert.Will man hier ansetzen, weil man sich für die Selbstbezüglichkeit von situativen Kontexten in-teressiert, in denen eine Handlung entweder gelingt oder nicht gelingt, dann fällt auch auf, dasses spezielle Kontexte gibt – wie z.B. diesen der Abfassung eines wissenschaftlichen Textes –, indenen explizit beobachtet wird, was woanders passiert. Sämtliche wissenschaftlichen Kontexte,in denen so genannte Reflexionstheorien zur Wirtschaft, zur Rechtsprechung, zur Forschungentwickelt werden, fallen hierunter, aber auch so etwas wie die von Stefan Kühl beschriebeneOrganisationsberatung, das Lesen von Ratgeberliteratur, die religiöse Predigt. Auch dies findetals schlichtes Anschließen statt – man weiß, wie man wissenschaftliche Texte schreibt –, abermit dem Unterschied, dass hierbei eine andere Praxis zum Thema gemacht wird. Während beider Beobachtung erster Ordnung etwas gemacht wird, fragt man sich bei der Beobachtungzweiter Ordnung, wie etwas gemacht wird. Die Nähe zur Schützschen Unterscheidung vonKonstruktionen erster und zweiter Ordnung ist unübersehbar. Mit Schütz würde man hier vonTypisierungsleistungen sprechen, die unseren Alltag auszeichnen und die wir – als Wissen-schaftler – wiederum in wissenschaftlichen Typisierungen zum Thema machen können (vgl.Schütz 1971, 294).

Dieser Begriff der Typisierung ist notwendigerweise eng an den Begriff der Erfahrung ge-bunden, worauf Hubert Knoblauch in seinem Kommentar hinweist. Eigentlich stellt eine sol-che Kopplung eine Entwertung der Typisierungsleistung dar, insofern die alltäglichen Typi-sierungen nun als zwar wirklich, aber doch unbegriffen beschrieben werden. Mit AlfredSchütz und Thomas Luckmann würde man hier wissenssoziologisch behaupten: »UnserWissensvorrat und dessen korrelative Typisierungsschemata resultieren aus dem Abbruchvon Auslegungsprozessen und stellen die Sedimentierung vergangener Situationsproblemati-ken dar.« (Schütz/Luckmann 1979, 35) Der Begriff der Erfahrung wertet auf diese Weise et-was auf, was zuvor als nur vorläufig dargestellt wurde: Auch wenn es banal klingt, was unse-re Eltern uns als Vorstellung guten Handelns beigebracht haben, es verbirgt sich demzufolge

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doch aber etwas Bewährtes dahinter. Systemtheoretisch würde man zunächst nur einfachdiese Typisierungsleistung sehen und von »Ähnlichkeiten, Vertrautheiten, Gemeinsamkei-ten« (Knoblauch in diesem Heft) reden, solange es um Beobachtungen erster Ordnung geht,und von Unterscheidungen, sobald man beobachtet, wie beobachtet wird.

Der treffendste Satz hierzu stammt wiederum von Hans-Georg Soeffner, der zwischen sozi-alphänomenologischer Forschung einerseits und modell- und systemtheoretischer Forschungandererseits unterscheidet: »Wo sonst ein Bündel von Voraussetzungen und Bedingungenvon etwas für etwas herausgearbeitet und legitimiert werden muß, bevor die Generierungsme-chanik der Theorie die Figuren, Organisationen und Zeiten der sozialen Welten an ihren Fä-den tanzen lässt, werden hier die Strukturen des Handelns und des Wissens selbst zum Ge-genstand. Es geht nicht primär um das Wissen von etwas, sondern um die Art und Weise, wiewir zum Wissen von etwas kommen, nicht primär um das Verstehen von etwas, sondern umdie Verfahren und die Strukturierung des Verstehens selbst.« (Soeffner 1999, 32) Diese wis-senssoziologische Einstellung plausibilisiert sich hier sehr schön als allgemeine Methode,aber was wäre, wenn das, was wir erforschen wollen, sich nicht in jedem Fall als Frage desVerstehens selbst versteht? Das eigentliche Problem besteht dann darin, sich selbst als Sozio-logen daran zu hindern zu interpretieren. Dass wir das fast nicht können und jemand wieSoeffner diesen so wunderbar plausiblen Satz über »die Strukturen des Handelns und desWissens selbst« (ebd.) formulieren kann, während er gleichzeitig abstrakte komplexe Sym-bolwelten erschafft, zeigt, wie schwierig es ist, aus dieser Kultur der Reflexion herauszutre-ten. Unsere Konvention lässt uns interpretieren auch dann, wenn wir es gar nicht wollen –und noch die Negation der Interpretation interpretiert, weil es praktisch getan werden muss.

Es geht bei dem, was wir vorschlagen, also nicht um eine Konstruktion zweiter Ordnungim Schützschen Sinne, weil es nicht darum geht, Typisierungsleistungen in einem abstrakte-ren – auch typisierten – Wissen um die Typisierungsfunktion zu überwinden, sondernschlicht nur darum zu erklären, dass es ganz allgemein neben dem funktionierenden nicht-auslegungsbedürftigen Alltag auch noch Sonderkontexte gibt, in denen man den funktionie-renden Alltag zum Thema macht – um auf diese Weise auch wiederum einen neuen funktio-nierenden Alltag zu schaffen. Das hat nichts mit einer theoretischen Einstellung zu tun, son-dern nur mit einer Praxis des Fragens, aus der dann wiederum so etwas wie eine Theorieentstehen kann, die man für abstrakt halten muss, aber auch so etwas wie eine protestanti-sche Selbsterforschung, in der das Fragen und Zurückblicken auf Dauer gestellt wird.

Es gibt – und dies interessiert uns im Moment fast mehr, ohne dass wir schon genau sagenkönnten, wie wir das erklären können – daneben aber auch den Alltag, also hier Operationen,die man systemtheoretisch Beobachtungen erster Ordnung nennt, um zu beschreiben, dass indiesen Kontexten »Vertrautheiten, Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten – also Typisierun-gen« (Knoblauch in diesem Heft) oder Unterscheidungen zwar geschaffen, aber nicht befragtwerden. Exakt das ist es, was Vogd als Prozessieren im Diffusen bezeichnet und Kühl als in-formelle oder gar illegale Form der schnellen Anpassungsfähigkeit. Illegal ist dies zunächstnicht, nur die Reflexionspraxis der Organisationsberatung deckt diese Inkonsistenzen auf undmacht ihre Unnachvollziehbarkeit sichtbar. Der Erfahrungsbegriff versucht diese Unerklär-barkeit des nicht erzählbaren Alltags in Figuren der Bedeutungshaftigkeit aufzuheben. Des-halb kann man wunderbar bei Soeffner auf die »Gegensätze von schwarz und weiß, oben undunten, Himmel und (unter der) Erde, Zwang (Gefangenschaft) und Befreiung, Enge und Gren-zenlosigkeit (Unendlichkeit), hart und weich – und nicht zuletzt auch Leben und Tod« kom-men, wenn man im Bergbau arbeitende Taubenzüchter untersucht (Soeffner 1992b, 147).Aber das braucht man eigentlich gar nicht. Wir bearbeiten damit unser Problem als Soziolo-gen, weil wir uns nicht vorstellen können, dass man Praxen der Nicht-Reflexion ernstnehmenkann – wohlgemerkt Praxen, die sich nicht explizit als Nicht-Reflexion authentisch darstellenwollen, sondern in deren Horizont nicht einmal die Nicht-Reflexion vorkommt.

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Vielleicht ist es tatsächlich theoriearchitektonisch ein Fehler, für das Operieren – egal oberste oder zweite Ordnung – den Beobachtungsbegriff zu wählen, weil man damit suggeriert,dass ein Alltag seinen Unterscheidungsgebrauch »wissen« könnte. Darauf haben unsere bei-den Kommentatoren beide hingewiesen, wenn sie kritisieren, dass eine systemtheoretischeSoziologie nicht für den systemtheoretisch uninformierten Alltag gemacht sei. Exakt dieskönnte man in der Tat als Schwachstelle markieren, weil es den Leser systematisch auf einefalsche Fährte lockt. Ja, alles Operieren ist Unterscheidungsgebrauch, aber dies sieht nur einBeobachter, der sich dafür interessiert. Besser wäre es vielleicht, von mehr oder weniger ex-plizit zum Thema gemachten Praxen zu sprechen, um die schlichte Ordnungsfunktion derAnschlussfähigkeit zu betonen. In einer solchen nicht sich selbst zum Thema machendenPraxis finden Systemtheoretiker einen Unterscheidungsgebrauch, der auch nicht-sprachlichsein kann, was aber in der Tat eine theoretisch höchst komplizierte Figur darstellt, die geradeder Idee des schlichten Funktionierens nicht gerecht wird.

Auch in der Luhmannschen Fassung der Systemtheorie lassen sich Elemente einer protes-tantischen Reflexionskultur wieder finden. Besonders explizit wird das bei der Figur der»Exklusionsindividualität«, die die Weltlichkeit des weltabgewandten bürgerlichen Indivi-duums als Reflexionsinstanz geradezu erhöht (vgl. dazu Luhmann 1989, 160). Aber in derTat gibt es auch implizite Verweise auf diese Reflexionskultur in der von Luhmann gepräg-ten Begrifflichkeit, die zumindest sprachlich das System als Subjekt führt und schon in dieSelbstanwendung und Selbstreferenz einen Selbstbegriff einbaut, der zwar nicht in dem Sin-ne gemeint ist, aber zu wenig deutlich macht, dass dieses Selbst selbst nur einem Beobachtersichtbar wird, der exakt das thematisiert. Das Spannende am Selbst der Selbstreferenz ist,dass es ganz und gar ohne ein explizites Selbst auskommt – nichts anderes meint basaleSelbstreferenz oder »Autopoiesis«. Die in der Systemtheorie dann beschriebenen »höheren«(sic!) Formen der Selbstreferenz sind dann nur abweichende Sonderfälle von einer sich ent-faltenden Praxis – fast hätten wir geschrieben: einer sich selbst entfaltenden Praxis.

Wir sind an dieser Stelle an einem Punkt angekommen, an dem sich Ähnlichkeiten zurPhänomenologie nennen und nutzen lassen, insofern man Typisierungen auch als Unter-scheidungsgebrauch lesen kann, sie aber nicht voreilig als eine Form des Vorreflexiven oderNoch-zu-Reflektierenden disqualifiziert, da sie viel grundsätzlicher als vielleicht vorher ge-dacht zunächst nur Anschlussfähigkeit als Prinzip jedes Operierens bezeichnen und in denMittelpunkt rücken.

Praktisch bedeutet dies, sich für Wiederholungen zu interessieren. Anstatt sich methodolo-gisch für die eine oder andere Schule festzulegen, empfehlen wir, sich anzuschauen, wie sichein Kontext selbstständig mit Sinn ausstattet. Von Systemen sprechen Systemtheoretiker ge-rade wegen dieser Form von Sinnproduktion über Wiederholung. Wenn wir etwas erfor-schen wollen, schauen wir uns etwas an, das einen gemeinsamen Rahmen der Sinnprodukti-on hat. In gewisser Weise ist das dann beliebig, weil man überall Anschlüsse finden kann,dies jedoch auf unterschiedlichen Ebenen. Dass Menschen in einem Viertel miteinander re-den können, hat zunächst mehr damit zu tun, dass überhaupt verschiedene Menschen mitein-ander reden können. Ob es nun Besonderheiten »des« Viertels gibt, wird man darüber klärenmüssen, ob sich ein Viertel eine gemeinsame Sprache gegeben hat. Dass dann z.B. interes-sant ist, wie Kinder erzogen werden, hat aber vielleicht mehr damit zu tun, wie überhaupt Er-ziehung möglich ist – nämlich nur sehr mühsam und nicht technologisch zweckorientiert –und welche Formen dafür gefunden werden können, als damit, was in dem Viertel als Erzie-hung gilt. Erkennen kann man das darüber, dass man sieht, was sich wie wiederholt. Bautsich die Komplexität der Situation über Probleme der Erziehung auf, die es auch anderswogibt – wie setze ich Grenzen –, oder über Selbstverständigungsdiskurse des Viertels und dieFrage danach, ob »wir« anders sind als die anderen. Man braucht als Forscher nicht alles in

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der jeweiligen Situation neu zu erfinden, was sich grundsätzlicher und schon in Jahrhunder-ten erforscht als Erziehungsproblem einer modernen Gesellschaft darstellen lässt.

Wie zentral diese Form der Beobachtung ist, findet sich sehr schön – wenn auch etwas im-plizit – in dem Text von Daniel B. Lee und Achim Brosziewski. Sie führen als Inbegriff derethnographischen Methode aus: »This presumption of self-reference cannot be verified orfalsified through percievable signs and signals. Instead, it can and must be tested throughfurther observations, which either confirm or contradict our presumptions.« Und weiter: »Tooberserve in the form of understanding, the ethnographer must gain access to the memory ofa social system, to its own imaginary history.« (Lee/Brosziewski in diesem Heft) Wenn manversteht, wie schlicht und einfach nur die Wiederholung Identität schafft, dann braucht maneigentlich auch den Spencer Brownschen Formbegriff nicht zum Zentrum der Analyse zumachen. Mit Spencer Brown lässt sich klären, wieso Identität keine Qualität darstellt, wasfür die Forschungen der 70er Jahre ein großes Thema war. Identität ist nicht etwas, was sichhinter allem verbirgt oder was ein normatives Ziel darstellt, sie ergibt sich ganz von alleine,indem man spricht und Laute zu Wörtern formt und Wörter zu Sätzen bildet und »versteht«,wie etwas gemeint ist, weil man etwas als das Gleiche einordnet.

Die entscheidende Referenz für die Interpretation wäre auf dieser Grundlage nicht mehrdie Subjektivität, also das, was jemand sagen möchte und was jemand anderes verstehenkann, sondern die schlichte Wiederholung. Dabei erscheint auch das, was wir als Subjektivi-tät bezeichnen, als eine Form der Typisierung, als eine Praxis, in der in ganz spezieller WeiseRedundanzen gebildet werden, nämlich solche der Person. Knoblauch empfiehlt an dieserStelle, von der Ethnographie zu lernen: »Wenn der Kern der – wenigstens soziologischen –Ethnographie nicht das Befremden ist (die Befremdung ist vielmehr ja eine der klassischenGattungen der Repräsentation von Ethnographie), sondern die Rekonstruktion der typischenBinnenperspektive von Akteuren, dann hat die systemtheoretische Analyse eine Aufarbeitungder ethnographischen Vorgehensweise und der darin implizierten Beobachterrolle vor sich.«(Knoblauch in diesem Heft) Wir stimmen dem zu, würden aber sagen, dass das Ziel dieserAufarbeitung nicht darin bestehen kann, die eigene Subjektivität in der des anderen wiederzu-finden, sondern sich – auch das finden wir bei Knoblauch schon angedeutet – sehr viel expli-ziter noch als die Wissenssoziologie für die Funktion der Subjektivität zu interessieren.

Nachdem wir nun einen empirisch allgemeineren Begriff des Handelns haben – oder einerPraxis –, lohnt es sich, sich dafür zu interessieren, wie in diese Praxis Kontexte der Reflexi-on eingelassen sind.

4. Sozialität ist nicht typisch als Subjektivität zu verstehen

Wenn man sich etwas systematischer sowohl die einzelnen Beiträge dieses Themenhefts alsauch die beiden Kommentare anschaut, scheint die Frage nach der Bedeutung dessen, wasunter dem Begriff der Subjektivität verhandelt wird, zunächst keine zentrale zu sein, findetman doch überall einen selbstverständlichen Gebrauch dieser Kategorie. Verwirrung stiftetdas Wissen darum, dass sich in Luhmanns Kritik der »alteuropäischen Semantik« (Luhmann1997, 893ff) eine explizite Ablehnung dieses Begriffs zu finden scheint. Man muss tatsäch-lich an der systemtheoretischen Forschung kritisieren, dass sie – im Gefolge dieser program-matischen Sätze – sich nicht die Mühe macht, einem systemtheoretisch uninteressierten Pu-blikum zu erklären, welchen Stellenwert dieses Konzept in der Systemtheorie erhält.Während Hartmut Esser annimmt, dass man Handlungsfolgen über eine subjektive Innerlich-keit erklären kann, könnte man umgekehrt auch behaupten, dass man Subjektivität überHandlungen erklären kann – exakt dies tut nämlich Esser in seiner kleinen demonstrativenSequenzanalyse zum Ehekrach. Was ihm vorliegt, sind Handlungen, von denen ausgehend erauf einen Algorithmus schließt, der für die Verursachung einer nächsten möglichen Hand-

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lung ausschlaggebend sein soll. Man kann dies tatsächlich machen und erhält dann ein fragi-les Geflecht von mehr oder weniger verbreiteten gesellschaftlichen Konventionen darüber,wie man sich in welcher Situation verhält. Woran man aber systematisch vorbeisieht, sinddie Gedanken und Überlegungen, die nicht in Handlungen münden. Wir alle wissen aus eige-nem Erleben, dass wir in vielen Situationen etwas anderes sagen, als wir denken, und waswir tun, ist dann oft noch einmal etwas anderes. Dieser Unterschied hängt ganz allein vonden systematischen Möglichkeiten der jeweiligen Form zum Umgang mit Sprache ab. Wäh-rend Gedanken alleine sich zwar in der Form einer zeitlichen Abfolge darstellen, sie abernicht systematisch aufeinander bezogen sein müssen, hat Sprache diese Möglichkeit nicht.Handeln wiederum leidet darunter und profitiert davon, dass es auf Personen zugerechnetwird und sich der Sinn entsprechend meist als personalisierter Sinn darstellt – wir verstehenHandeln, indem wir »psychologisieren«. Wenn man nun diese unterschiedlichen Möglich-keiten nicht voneinander unterscheidet, kann man nicht mehr abbilden, wie sich in welchenSituationen die Verwendungsweisen von Gedanken, Sprache und Handlungen unterscheiden.

Die Situationen, die sich Katharina Mayr in ihrer Studie zu Klinischen Ethikkomitees an-geschaut hat, lassen sich nur darüber erklären, dass man beschreibt, wie in bestimmten Kon-texten gerade nicht die Konvention als Garant der nächsten Handlung erscheint, sondern dererlebte Kontrast zwischen der Konvention und dem, was Menschen an sich selbst erleben,wenn sie versuchen, »subjektiv« zu sein. In unseren eigenen Forschungen reservieren wir fürdiesen Fall den Begriff der Authentizität, weil er demonstriert, dass es hier nicht nur umHandlungen geht, sondern um ganz spezifische Situationen, in denen Menschen ihre eigenenGedanken als Kontrast zu den Konventionen erleben. Vertraut mit diesen Phänomenen sindwir bereits ein wenig aus den Kontexten des Liebesbekenntnisses und des religiösen Be-kenntnisses. Aber exakt in Bezug auf diese Kontexte wissen wir auch aus den vorhandenenForschungen, dass sich diese Formen als Gattungen darstellen lassen (Günthner/Knoblauch1994; Knoblauch 1996, 20; Knoblauch 1999; Reichertz 2002). Die Sätze, die dann formu-liert werden, entstammen Konventionen darüber, wie man sich unkonventionell verhält.

Eine andere Variante dessen, was sich als Subjektivität beschreiben lässt, wird bei Bour-dieu beschrieben, wenn es um die Frage danach geht, ob der Akteur von den Regeln des Fel-des determiniert wird oder nicht. Bourdieu beschreibt ihn als Spieler, um zu erklären, warumer als determinierter Akteur nicht funktionieren könnte. Er muss auch wollen, was er tut, undsich seine Handlungen zurechnen, was Bourdieu mit dem Begriff der illusio beschreibt: »Da-gegen entscheidet man sich in sozialen Feldern, die im Ergebnis eines langwierigen undlangsamen Verselbständigungsprozesses sozusagen Spiele an sich und nicht länger Spielefür sich selbst sind, nicht bewusst zur Teilnahme, sondern wird in das Spiel hineingeboren,mit dem Spiel geboren, und ist das Verhältnis des Glaubens, der illusio, des Einsatzes um sototaler und bedingungsloser, je weniger es als solches erkannt wird.« (Bourdieu 1999, 123)1

1) Kann sich Hartmut Esser tatsächlich Wissenschaftler vorstellen, die soziologische Texte schreiben,»nur« weil sie einen Lehrstuhl haben wollen? Er vermutet: »Ein Grund (für das Interesse von Sys-temtheoretikern an der Empirie, d.A.) scheint auch zu sein: mit bloßer Theorie allein lässt sich diePolykontexturalität des Geschehens um die Neubesetzung der soziologischen Lehrstühle in diesenUmbruchszeiten nicht im Sinne der Erhaltung des eigenen Paradigmenkapitals bewältigen. Manmuss auch etwas anbieten können auf dem vielschichtigen Markt der Stellenverschiebungen und Mit-telverteilungen, was andere interessieren könnte, weil es ihnen bei der Lösung ihrer Probleme hilft.«(Esser in diesem Heft) Wie lässt sich wissenschaftlich zeigen, dass das eigene Interesse an Empirie»real« ist? Während sich in einer klassischen Welt der Professionen diese Annahme über die »Per-sönlichkeit« des berufenen Wissenschaftlers erklärte, braucht man dafür heute neue Formen der Dar-stellung von Subjektivität und zwar »echter« Subjektivität. Wir würden eigentlich sagen, dass das ineinem wissenschaftlichen Rahmen nicht nötig sein sollte, vor allem nicht in einem soziologischen, indem man eigentlich über diese Form der illusio etwas wissen könnte.

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Je näher man forschend an eine Praxis und ihre sich in der Praxis entscheidenden Spielregelnheranrückt, desto mehr wird man damit konfrontiert, dass Autoren von Handlungen sichauch als Autoren, aber – viel wichtiger – bisweilen auch nicht als Autoren erleben, woraussich ein entscheidender Ansporn zur Kreativität ergibt, indem man nach neuen Worten sucht,um sich selbst wieder zuschreiben zu können, was man sagt.

Die Sätze, um die es in den Forschungen von Mayr geht, demonstrieren aber im Unter-schied dazu, nicht die geordnete Ungeordnetheit von Gefühlen, um Liebe oder Erlösung zuerleben, sondern nur die reine Präsenz von Gedanken jenseits von Sprache: »Was ich sage,kann nicht abbilden, was ich denke«. Subjektivität fällt hier also nicht in der Form von Moti-ven an, sondern als schlichtes Erleben der Ungeordnetheit eigener Gedanken neben dem,was sich unter der Bedingung von Anwesenheit als gesprochene Sprache darstellt. WährendEsser in seiner einfühlsamen Interpretation eines Streits, dessen Form ihm selbst sicherlichnicht vertraut ist, demonstriert, wie berechenbar Motive aufgrund gesellschaftlicher Konven-tionen oft sind, zeigen diese Fälle, wie Menschen sich selbst sozusagen als motivfrei erleben,als unerklärbar, als intransparent. Und exakt diese Intransparenz schafft das, was wir dannals systematisch genutzte Quelle von Authentizität wieder finden und von der man zur Zeitmanchmal den Eindruck haben kann, dass sie sich selbst – unter der Bedingung von Massen-medien – zu immer neuen Formen der Darstellbarkeit steigert. Individuen erleben an sichselbst ihre eigene Individualität, nicht mehr jedoch in der 68er-Form der therapeutisch insze-nierten Reflexion übers Private, sondern als ständig anfallendes Nebenprodukt eines funktio-nierenden Alltags, in dem dies jedoch zumeist nicht vorkommt, woraus sich wiederum eineneue Mangelbeschreibung ableiten lässt.

Subjektivität wird so sich selbst zu einem Problem, was wiederum in der authentischenRede seine Lösung findet. Soziologisch lässt sich dabei beobachten, wie wichtig es ist, dieseKategorie noch viel ernster zu nehmen und sie weiter zu fassen, als dies in vielen Hand-lungsbegriffen der Fall ist. Die Frage danach, ob es Subjekte gibt oder nicht, ist eigentlichnicht relevant. Entscheidend ist, ob sich Menschen als Subjekte verstehen und erleben – undob dieses Erleben sozial anschlussfähig ist. Dieser typische systemtheoretische Schritt, demes eigentlich darum geht, noch näher an das alltägliche Geschehen heranzukommen und ab-zubilden, was im nächsten Moment passiert, ist verständlicher, wenn man zunächst annimmt,dass es keine Subjekte gibt – um dann zu sehen, wie sich Sozialität als Subjektivität darstellt.Sehen kann man dann auch, dass Subjektivität nicht nur in der typischen sachlichen Fassungauftritt – als subjektive Aufklärung über das Motiv zum Handeln –, sondern auch als Fragedanach, wer eigentlich handeln kann, und als Frage nach der zeitlichen Persistenz dieser im-mer neu sich wieder ordnenden inneren Erlebniswelt. Ein Beispiel für die Problematisierungvon Subjektivität im Hinblick auf die Zeitdimension haben wir bereits von Mayr erhalten. Inihrer Studie zeigt sie, wie sich als Verfahren für Klinische Ethikkomitees ergibt, dass »ent-scheidungsleitend ... dann nicht mehr zeitstabile, konsistente Gründe sein (können), sonderneine ›Sensibilität‹ für die Realität der Betroffenen« (Mayr in diesem Heft). (Vgl. dazu auchSaake/Kunz 2006; Nassehi/Saake/Mayr 2008)

Die Sozialdimension scheint zunächst über die moderne Formel der Menschheit geklärt zusein, stellt sich aber in der Praxis als viel problematischer heraus. Während der Begriff desAlters, der in der Nachkriegszeit eine spezielle Form der Alternsforschung stimuliert hat, alsInbegriff von Abbau, Borniertheit und Hilfebedürftigkeit in einer alternden Gesellschaftnach und nach an Relevanz verliert, steht eine neu entstehende Pflegewissenschaft vor demProblem, in Patienten, Dementen und nicht mehr sprechenden Sterbenden jene Formen vonSubjektivität wiederzufinden, die selbst darzustellen sie nicht mehr in der Lage sind (vgl.Saake 2007). Man kann sich nun vorstellen, dass unsere Erwartungen an eine berücksichtigteund hergestellte Subjektivität in einer Gesellschaft, die dieser Kategorie mehr und mehr Be-deutung beimisst, immer mehr steigen werden. Wer nicht mehr selbstständig essen kann, soll

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seinen Löffel doch noch so geführt bekommen, dass ein Reflex dessen, was diese Person ei-gentlich darstellen sollen könnte, noch da ist. Wer nicht mehr reden kann und sterben will,muss doch noch von den Mitarbeitern einer Palliativstation so behandelt werden, dass sich inderen Handlungen die Berücksichtigung einer subjektiven Komponente wieder finden lässt(vgl. Saake 2006b). Die Anforderungen an die Inszenierungen von Subjektivität werden abervor allem auch deshalb so hoch, weil uns immer mehr im Leben als Entscheidung gegen-übertritt. Wie sozial müssen bereits Zweijährige sein, um später im Beruf teamfähig zu sein?Mit welchen Zeichen signalisiert mir mein Körper eine falsche Lebensweise? Woran kannman erkennen, dass man bei seinem sterbenden Vater die Lungenentzündung einfach unbe-handelt lassen kann, um ihn sterben zu lassen, nachdem man bereits mehrere Krankheitenhat erfolgreich behandeln lassen? Als informativ erscheinen uns diese Zeichen, wenn sie sichals angemessen im Hinblick auf die Persönlichkeit des Betroffenen darstellen lassen, wennwir sie als subjektive Zeichen interpretieren können. Um das tun zu können, finden wir her-aus, welche Persönlichkeit Zweijährige haben, wie wir uns zu unserem eigenen Körper ver-halten wollen und was der eigene Vater gewollt haben kann. Das sind Praxen der Subjekti-vierung.

Anthony Giddens beschreibt mit seinen Überlegungen zu einem reformulierten Struktur-begriff die Anforderungen an eine Soziologie in exakt dieser Situation jenseits einer determi-nierenden Institution und einer sich selbst legitimierenden Subjektivität. »Struktur darf nichtmit Zwang gleichgesetzt werden; sie schränkt Handeln nicht nur ein, sondern ermöglicht esauch. Dennoch kann man sagen, dass die strukturellen Momente sozialer Systeme so weit inRaum und Zeit ausgreifen, dass sie sich der Kontrolle eines jeden individuellen Akteurs ent-ziehen.« (Giddens 1997, 78) Das ist eigentlich ein systemtheoretischer Satz, nicht weil dortvon Systemen die Rede ist, sondern weil angenommen wird, dass es vor aller Individualitätbereits soziale Strukturen gibt, in die auch diejenigen, die wir als individuelle Akteure fas-sen, eingelassen sind. Dass es individuelle Akteure gibt, soll also nicht geleugnet werden,aber wir wollen auch das sichtbar machen, was sich nicht dieser Form fügt, weil man erstdann tatsächlich »erklären« kann, was Mayr in ihrer Studie beschrieben hat. Dass sich hier-bei nebenbei auch ein verändertes Bild der Gesellschaft ergibt, soll zum Schluss noch einmalgenauer betont werden, wenn es um die Frage danach geht, was denn eigentlich gute Ergeb-nisse sind.

5. Was sind gute Ergebnisse? Ein Blick auf »Alteuropa«

In den Worten Werner Vogds lässt sich das Ergebnis seiner Studie folgendermaßen zusam-menfassen: »…dass die gängigen Entscheidungsprozeduren vor allem Unsicherheiten absor-bieren, sie dabei jedoch nicht unbedingt zu medizinisch elaborierten Entscheidungen führenmüssen. Vielmehr gewinnt das Krankenhaus erst als Organisation über seine internen Ent-scheidungsstrukturen die Möglichkeit, auch unter ungünstigen Bedingungen (Personalman-gel, Kunstfehler durch schlecht betreute Anfänger etc.) seine Behandlungsprozesse fortzu-führen. Gerade weil die medizinische Praxis, die rechtlich wirksame Dokumentation dieserPraxis, die Abrechnungen der Leistungen sowie die einzelnen Ebenen der ärztlichen Hierar-chie nur lose miteinander gekoppelt sind, kann die Entscheidungsfähigkeit unter wechseln-den Konstellationen aufrechterhalten werden. So kann behandelt werden, ohne zu behandeln,Rechtmäßigkeit hergestellt werden, indem Unrechtmäßiges nicht dokumentiert wird, wirt-schaftlich gearbeitet werden, indem Medizin vorgetäuscht wird, wo anderes stattfindet, uman anderer Stelle umso mehr (ansonsten nicht bezahlbare) Medizin stattfinden zu lassen. Aufdiesem Level der Untersuchung zeigen die komparativen Analysen auf, dass die Organisati-onen gerade dann gut funktionieren, wenn sie ein Arrangement entwickeln können, bei demzugleich hingeschaut und nicht hingeschaut wird, also bei dem gegebenenfalls die Dinge imDiffusen gelassen werden, um weiter prozessieren zu können.« (Vogd in diesem Heft) Ganz

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ähnlich heißt es bei Stefan Kühl: »Dahinter steckt der Gedanke, dass besonders Organisatio-nen eigentlich auf eine widersprüchliche Normorientierung angewiesen sind. Weil sich Or-ganisationen aber gleichzeitig gezwungen sehen, eine widerspruchsfreie Normordnung nachaußen und innen zu präsentieren, wird ein gewisses Maß an Illegalität unvermeidlich. IndemOrganisationsmitglieder situativ ausbalancieren, ob sie den formalen Strukturen entspre-chend handeln oder ob sie informelle Wege gehen, erreichen Organisationen überhaupt erstihre schnelle Anpassungsfähigkeit ...« (Kühl in diesem Heft).

Die Frage danach, was denn eigentlich Ergebnisse sind, lässt sich sehr deutlich aus demKommentar von Esser herauslesen, wenn er das kleine »f« kritisiert, mit dem Dirk Baeckerdie Funktionsweise von Systemen als Funktion ihrer selbst und der Umwelt erklärt. Einemnicht mit der Systemtheorie vertrauten Leser erklärt sich dadurch in der Tat nichts, und auchdie Erklärungen von Vogd und Kühl werden Esser vermutlich nicht zufrieden stellen. DiesesProblem lässt sich aber nicht lösen, wenn man erwarten würde, dass die Systemtheoretikerendlich damit aufhören, so paradoxe Sätze zu formulieren, und die Handlungstheoretikersich die mathematischen Formeln abgewöhnen. Verstehen kann man aber – und in der Be-ziehung ist Hartmut Esser vielleicht eher bereit, sich auf systemtheoretische »Erklärungen«einzulassen –, dass es Kontexte gibt, in denen nicht nur das handelnde und auskunftsfähigeSubjekt eine Rolle spielt, sondern auch solche, in denen Handlung und Sprache und Subjek-tivität jeweils auseinandertreten und sich selbst zum Problem werden.

Vielleicht ist es dann nicht mehr entscheidend, ob man den Fall des vernünftigen Handelnsfür den Normalfall und den Rest für die Ausnahme hält oder umgekehrt. Empirisch interes-sant wird dann aber ein Alltag, der einen Gesellschaftsbegriff eigentlich erst wieder relevantwerden lässt. Erst wenn das, was wir erklären wollen, nicht in dem aufgeht, was wir als Sub-jektivität bezeichnen, brauchen wir eine Kategorie, die uns etwas als wissenschaftlich ver-nünftig denken lässt, was wir im Alltag für unvernünftig halten. Die Mathematik der Hand-lungsforscher erfüllt diese Funktion, insofern sie eine Antwort ermöglicht, die man sichselbst nicht gegeben hätte. Die Plausibilität dieser Antwort ist eine rein gesellschaftlicheVeranstaltung, die nur funktioniert, wenn man wissenschaftliche Typisierungen versteht.Eben diese wissenschaftlichen Typisierungen sind aber das, was Esser als »real« bezeichnetund mit Anführungszeichen versieht. Um Ergebnisse produzieren zu können, muss sich eineForm der Kommunikation etablieren, die ihr Gemeinsames darin findet, dass man sich überErgebnisse streitet. Damit ist nicht gemeint, dass man normativ Unterschiede fordert, son-dern dass sehr viel vorausgesetzt werden muss, damit sich zwei Sätze überhaupt aufeinanderbeziehen lassen. Wenn man systemtheoretisch von einem Code redet, bezeichnet man damitso etwas wie eine Typisierung, die allerdings sehr viel allgemeiner und umfassender und ingewisser Weise toleranter funktioniert, als man sich das als Wissenschaftler denkt. DieWirksamkeit dieser Typisierung zeigt sich darin, dass jeder wissenschaftliche Text – ohneAusnahme – die Form der wissenschaftlichen Kommunikation annimmt, indem er Wahrhei-ten produzieren will und sich darüber kritisieren lässt. Diese Behauptung lässt sich wunder-bar an der Realität testen, und ihr Ergebnis, eine in dieser Form als typisiert verstandene Re-alität, lässt sich auch wunderbar weiter erforschen, wenn man fragt: Welche Wahrheiten sindes denn, die sich im Moment durchzusetzen scheinen? Und dabei geht es dann nicht um ei-nen subjektiven Sinn, sondern um einen Sinn, der über das Subjektive hinaus sich allgemei-ner der Sozialdimension verdankt, nämlich z.B. dem immer gleichen Problem, den Einflussder Psyche auf körperliche Befindlichkeiten bei der medizinischen Behandlung des Körpersmiteinzukalkulieren: Körper sind nun mal nicht ohne Psyche zu haben! Aber nur weil Kör-per Schmerzen produzieren – zunächst ganz unsubjektiv biologisch, dann jedoch umso sub-jektiver und schmerzhaft –, gibt es so etwas wie medizinische Handlungen. Andere Situatio-nen unterscheiden sich hiervon systematisch, weil Körper in ihnen eine untergeordnete Rollespielen, z.B. wissenschaftliches Denken. Auch dafür braucht man funktionsbereite und aufs

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Sitzenbleiben-Können trainierte Körper, aber leider orientiert sich die Form des wissen-schaftlichen Denkens nicht an den Körpern, sondern daran, was ein Kopf in Abwesenheitvon anderen Körpern und mit Hilfe verschiedenster Instrumente, die ihm das Denken ermög-lichen, an Komplexität aushalten kann.

Verstehen kann man diese Beschreibung einer Gesellschaft, die wir als Gesellschaft derGegenwarten beschreiben würden, eigentlich gar nicht. Wir verwenden diesen Gesell-schaftsbegriff nicht nur als Ausdruck für eine Versammlung von (sozial ungleichen) Men-schen oder als Hinweis auf eine bestimmte Menge an differenzierten Logiken, sondern vorallem als Versuch einer Zusammenschau von unterschiedlichen Orten, die jeweils für sichanhand ihrer eigenen sozialen, sachlichen und zeitlichen Relevanzen einen eigenen Horizontherstellen, zum Teil auch explizit machen und die sich anhand dieser selbsttypisierten For-men von Identität aufeinander beziehen können. Am besten verstehen kann man diese Ideeeiner sich selbst typisierenden Praxis, wenn man sich mit der Frage auseinandersetzt, warumStefan Kühls schöne Studie so eigentümlich unerklärt endet. Im Mittelpunkt der Studie stehtdie Beobachtung eines Maximums an organisiertem Unsinn, womit zumindest zunächst ein-mal der Beweis geführt wird, dass Organisationen keine zweckrationalen Apparate sind. Mitjedem Schritt, mit dem sich Kühls Organisationsberater weiter in die Tiefen des organisier-ten Alltags hineinbewegen, werden noch fundamentalere Unvereinbarkeiten sichtbar, diesich auch nicht mehr als Zusammenspiel von Funktionalitäten und Dysfunktionalitäten dar-stellen lassen. Es ist richtig beschrieben von Kühl, dass offenbar auf diese Weise der organi-sationale Alltag in diesem Fall funktioniert, aber es lässt sich nicht rechtfertigen, dass er nurso funktionieren kann. Dass es keine Regelung gibt, die die Handwerker z.B. von dem um-ständlichen behördlichen Genehmigungsverfahren befreit, kann auch nur ein dummer Zufallsein, der aber leider – weil die Gelegenheit dazu im Moment nicht mehr da ist – sehr weitrei-chende Folgen hat. Interessanter an dem Fall ist, dass so etwas möglich ist und sich die hierzeigende Unvernunft bis in die Beratungspraxis der Organisationsberater durchsetzt. DieEntscheidungen des Managements werden von zum Teil exakt gegensätzlichen Entscheidun-gen der selbstständigen Handwerkerteams begleitet, und die Organisationsberater werdennun mit einer Entscheidungspraxis konfrontiert, die in sich komplett plausibel ist, insofernalles funktioniert, die aber maximal unplausibel ist, wenn man sich diese Entscheidungen imHinblick auf ihre inhaltliche Kohärenz anschaut.

Beides sind zwei verschiedene Formen, in denen der organisierte Alltag sichtbar werdenkann, und exakt genau so geht es Soziologen mit dem Gesellschaftsbegriff (vgl. Nassehi2007b). Man kann sich auf ein (wissenschaftliches) Bild der Gesellschaft konzentrieren, beidem sich die wissenschaftliche Logik bewährt und einiges erklärt werden kann, anderes wie-derum als noch unerklärt markiert wird. Man kann aber auch annehmen, dass sich Gesell-schaft außerhalb der Wissenschaft sehr viel unvernünftiger darstellt, dass es dort Kontextegibt, die mit einem sehr viel schlechteren Gedächtnis ausgestattet sind und größeren Toleran-zen für Unlogisches. Wie wollen wir etwas benennbar machen, was vielleicht in seiner ge-samten Form allem widerspricht, was Wissenschaftler bereit sind anzunehmen?

Bislang haben wir, was diese Vermutung angeht, nur den Hinweis der soziologischen The-orien darauf, dass sich jenseits der theoretischen Einstellung, der soziologischen Erklärung,der kompetenten Sprecher ein Alltag befindet, der erklärt und in Diskurse einbezogen wer-den kann. Mit der Umkehrung dieses Blicks auf den Alltag sehen wir zunächst eine Praxis,die sich in ihrer Funktionalität über ihre Anschlussfähigkeit erklärt, und wir sehen die Vor-aussetzungsfähigkeit sowohl der wissenschaftlichen Annahme von Vernunft als auch derz.B. organisationalen Fähigkeit, sich über Entscheidungen von dieser Vernunft zu entkop-peln und zu funktionieren. Es geht nicht darum, ob man so etwas gut findet oder nicht, son-dern nur darum, es sichtbar zu machen. Zum Teil wird dieser Versuch des Sichtbarmachenszunächst in eine Praxis des Beschreibens, des Typisierens münden, um diese Art von Alltag

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überhaupt erst zum Thema zu machen. Deutlich wird hierbei, wie sehr so eine Art von Sozi-ologie sich der Perspektive der Cultural Studies verdankt und wie genuin soziologisch dieFragestellungen der Cultural Studies sind. Sie machen uns vertraut mit der Unvernunft einesAlltags, in dem man abends fernsieht, während man tagsüber Adornos Kulturindustriethesediskutiert.

Wenn man nun zum Schluss zusammenfassen möchte, was eigentlich eine systemtheoreti-sche empirische Forschung macht, dann würden wir sehr abstrakt, aber doch auch sehr empi-risch zusammenfassen: Sie versucht, aus der Verbindlichkeit der alteuropäischen Form derReflexion auszuscheren und auf die nicht nur zeitliche, sondern auch sachliche und sozialeOrganisation des Handelns hinzuweisen. Handeln jenseits dieser Idee der Reflexion kannman nur schwer als solches verstehen und braucht dafür vermutlich die entfremdenden Stu-dien einer körperfixierten Ethnographie (vgl. Hirschauer 1996). Wir fassen Handeln typi-scherweise immer schon als Zusammenhang von Entwurf und Motiv und Vergangenheit undGegenwart, Alltag und theoretischer Erklärung, also: rein zeitlich. Rehabilitiert werden müs-sen in diesem Zusammenhang – und diese Hinweise verdanken wir den Gutachtern der Bei-träge, Hartmut Esser und Hubert Knoblauch – die Begriffe der nicht nur zeitlich, sondernauch sozial und sachlich gefassten Handlung, der nicht nur sachlich, sondern auch zeitlichund sozial gefassten Subjektivität und der nicht nur sozial, sondern auch zeitlich und sach-lich gefassten Gesellschaft. Im Hinblick auf die Einwände der Gutachter und die Beiträgeder hier versammelten Autoren stellt dies einen Versuch dar, soziologische Perspektivennicht gegeneinander auszuspielen, sondern sie aufeinander zu beziehen im Sinne der Fragedanach, ob sich eventuell die Methodendifferenzen nicht besser als Differenzen der jeweili-gen beforschten Orte abbilden lassen anstatt als wissenschaftliche Axiome. Vielleicht lassensich aus dieser Perspektive auch die Texte unseres Themenheftes von jenen besser lesen, dieeigentlich keine systemtheoretischen Beiträge lesen wollen.

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Participant Observation and Systems Theory:Theorizing the Ground

Von Daniel B. Lee and Achim Brosziewski

Zusammenfassung: Ethnographen zeigen sich fasziniert durch ihre Felderfahrungen. Doch ob-wohl sie sich als teilnehmende Beobachter identifizieren, haben sie keine Theorie des Beobach-tens entwickelt. Systemtheoretiker verfügen über eine Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung,aber sie vermeiden Feldforschungen. In unserem Beitrag argumentieren wir, dass Systemtheorieund Ethnographie einander effektiv ergänzen können. Ausgehend vom Konzept der Selbstreferenzlässt sich das Verhältnis von Wahrnehmung, Beobachten und Verstehen begreifen, das in der Eth-nographie bislang ungeklärt geblieben ist, wie wir in einer Diskussion der »dichten Beschreibung«von Clifford Geertz zeigen wollen. Als eine besondere Form des Beobachtens greift Verstehendurch die Einrechnung von Selbstreferenz über Wahrnehmung hinaus. Nur vermittelt über Selbst-referenz entstehen und erscheinen Sinn und Kultur. Als Teilnehmer müssen Ethnographen nichtnur die Ereignisse in ihrem Feld beobachten, sondern vor allem deren Verbindungen. Sie müssendie Selektivität beobachten, die Sinn benutzt, um zwischen aktuellen Ereignissen und ihren alter-nativen Möglichkeiten zu unterscheiden. Diese Beobachtungstheorie ermöglicht der Ethnogra-phie, über die Sammlung von Erzählungen hinauszugehen und sich den etablierten Fragen, ver-trauten Problemen und epistemologischen Ressourcen der Soziologie zu öffnen. Eine theoretischinformierte Ethnographie verhilft ihrerseits der systemtheoretischen Forschung, ihren Horizontüber funktionale und historische Analysen hinaus zu erweitern. Durch Beobachtungen in der eth-nographischen Form könnten Systemtheoretiker beobachten und erklären, wie sich soziale Prakti-ken in der Sozialdimension von Sinn konstituieren.

Upon the narrow horizon of methodology, observation makes an occasional appearance asan alternative to conducting interviews; as another means of data collection. Apart from this,however, the concept of observation seems to lurk in the shadows of mainstream sociology.As Max Weber might have hoped, sociology has become a discipline preoccupied with ex-planation and understanding. Although these twin concepts seem to dominate every discus-sion of sociology as a science, we assert that observation is a prerequisite for both. A socio-logy that fails to theoretically reflect on what it means to make and connect observations putsit own status as a scientific discipline in jeopardy.

In this paper we offer a critical assessment of ethnography, in which the methodology ofobservation has long played a major role. Research using participant observation has traditi-onally failed to theorize what it means to observe, whether as a participant-investigator or aparticipant-native. Our desire is to strengthen the plausibility and usefulness of ethnographicmethods within the discipline by reducing this deficit. We want to encourage sociologists –systems theorists in particular – to engage in the empirical investigation of cultural practices,but with an enlightened theoretical understanding of what they can and cannot observe. Fol-lowing our critique of traditional ethnography, we suggest a strategy for guiding participantobservers toward questions and answers that can meaningfully contribute to sociology.

Our position is informed by social systems theory, as developed by Niklas Luhmann. WhileLuhmann has been criticized as a rather stodgy theorist who saw no point in observing realpeople, we see him as the most compelling observer of the social world. Luhmann repeatedlyrecommended that sociologists get out in the field to observe operations of meaning »in actu«(2001c: 235), with the expressed intention of methodically controlling their own theory buil-ding (2001b: 208). Although he certainly did not proceed in the style of the most frequentlymodeled ethnographers, we show below that his technique of observation is a valuable extensi-

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on of qualitative sociology’s classic concern for »thick description« (Geertz 1973). Luhmann’sinsights substantially improve our understanding of how, as Clifford Geertz, one of the mostinfluential ethnographers argues, the members of social groups use »structures of signification«or »established codes« in order to participate in communication (1973: 9). Luhmann’s theorydirectly responds to key methodological problems revolving around the status of ethnographersas observers. Systems theory takes it for granted that sociologists are always participants in so-ciety and that they cannot escape from their own subject matter in order to gain an impartial orunbiased perspective. This means that sociologists are always participant observers in society:they are natives in society. Their task is to specify the critical difference that distinguishes soci-ological observations from those of different types. Without attempting to market a new grandnarrative that already claims to know what it will discover before it even takes a look, systemstheory can help sociologists clearly anticipate and describe what they will observe both beforeand after they conduct fieldwork. More than that, it offers ethnographers strategic resources forparticipating in scientific communication about what they observe in the field.

The Ethnographer as an Observer

As a broadly defined method for conducting empirical research on society, ethnography ispresented as the art of portraying a people after observing members interact in their naturalsetting (Harris and Johnson 2000). In this sense, ethnography forms a unity of conductingand reporting observations. John van Maanen (1996) equates ethnography with »participant-observation,« which seems to suggest that fieldwork involves a toggling between active andpassive roles. In their rejection of positivist methodology, Yvonna S. Lincoln and Egon G.Guba (1985) present ethnography as a basic form of »naturalistic inquiry«. One may imaginethe fearless sociologist, hungry for knowledge, venturing out alone into the wild world bey-ond the university campus. Starting from the outside, our heroic figure seeks access to a spe-cial world of insiders. The expressed goal is to understand the customs, beliefs, and behavi-ors shared by the members of a symbolically bounded community. Whether the targetedgroup is a small and isolated tribe in an exotic land or a classroom in a suburban school (Fet-terman 1998), the researcher »lives with and lives like« the natives (van Maanen 1996); tem-porarily transformed into a virtual member of the group under investigation. After learningthe ropes and »finding his feet« (Geertz 1973: 13), the ethnographer emerges from the bushwith »a story« to tell (Hammersley 1990).

Budding sociologists may choose from many well received texts that claim to teach the rudi-ments of doing ethnography, and we will therefore escape the task of summarizing the methodas it is generally presented to students (see Agar 1996; Brewer 2001; Madison 2005). Instead,we note two significant claims that appear common within introductory works. First, ethnogra-phy is presented as active engagement. The researcher becomes an actor, a participant, onewho does the things he or she claims to have observed members doing. Actions are performedin the field, and then they are described for those who were not able to join in the practices: »Ihad loads of fun, wish you could have been here, but let me tell you the story of what I saw anddid with the natives«. Having engaged in the action creates a possibility for the researcher topersonally claim legitimacy as an observer. A second universal claim is that the ethnographerembodies a unity of opposites. Like the mermaid and the centaur, the participant-observer is acreature with an identity problem. There is the schizophrenia of simultaneously observing andparticipating; of living with and living like a member, but also warning oneself not to becomea native. The claim to legitimacy as a scientific observer is sacrificed, ethnographers warn eachother, as soon as the researcher loses himself within the perspective of a participant.

The ethnographer is, indeed, an actor who performs operations in the field that others willonly hear or read about. This asymmetrical situation creates some grounds for suspicion and

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uncertainty. How can an audience of sociologists critically evaluate the ethnographer’s storyif they did not themselves participate in the action? Are there specific actions that they mayassume will be taken during the course of every genuine participant-observation, a requiredformula of operational steps that guarantees validity? From a systems theoretical standpoint,any degree of understanding between the ethnographer and the audience may be assumed tobe improbable – it should not happen (Luhmann 1991a: 25-34). Ethnographers stress howhard it can be to understand what natives mean by what they do. Why should it be any easierfor sociologists to understand a particular ethnographer’s report?

If sociology disciplines and conditions the expectations of both the participant observerand the audience who receives reports from the field, then we might suggest that sociologi-cal theory plays a vital role in establishing the parameters for evaluating and understandingethnography. But we must be careful! Ethnographers often warn themselves that it is extre-mely dangerous to begin a study with any sort of theoretical orientation in mind. If onework’s deductively, as it were, the native culture cannot speak with its own tender voice.Graduate students are often advised to go into the field without any sort of preconceived no-tions. Work inductively and the point of your study will simply emerge (Glaser 1992)! Whylearn theory if every single study produces its own? According to Barney Glaser and AnselmStrauss (1967) the use of »logico-deductive theories« is the best way to misunderstand one’ssubjects. »Grounded theory« ought to be the name of the game; as if there could be as manytheories as there are ethnographies. Under such conditions, would sociology not at once for-feit any claim that it is a scientific discipline? Is one story just as good as another, so long asit has never been told before?

We believe that ethnographers must admit the need for beginning with some preconceivednotions. It should be obvious that personal interests, for instance, help steer the investigatortoward worthwhile groups and promising research questions. Choosing a site for fieldworkrequires a distinctive openness toward multiple options, a sense for one’s own preferences,and the ability to make informed selections. It is naïve to believe that ethnographers willconstantly enjoy meaningful surprises, if they will only refuse to have any expectationsabout what they might discover. Having already participated in sociological communication,one’s research interests are productively steered toward recognizable themes and ongoingdebates within the discipline. Both the practical matter of securing one’s viability as an aca-demic (choose: publish or perish), as well as the communication problem of reproducing so-ciology within the social system of science requires one to select and frame research questi-ons so that they gain the potential to interest a targeted audience. The ethnographer must»portray a people« in a way that is likely to reach and enlighten an identifiable group of rea-ders for whom such portraits of people matter. Ethnographers must already ground themsel-ves with their past observations of ethnography, if only to help themselves make connectionswith an audience after discovering whatever they might discover in the field.

Luhmann observed with regard to art: »A work of art without other works is as impossibleas an isolated communication without further communications« (2000: 53). In the same sen-se, there can be no single ethnography. Ethnographers and their audience have the possibilityof reaching an understanding only to the extent that they allow themselves to be conditionedby the »contingency communication« of sociology (Fuchs 2004: 22). We can say, with PaulFeyerabend (1975), that methodological orthodoxy is not worth protecting in itself and thatscientific discoveries can be won by any method that works. The methodological anarchistis, nonetheless, a devout believer in science as a special way of observing and reproducingcommunication. When it comes to theories and methods, it is true that »anything goes!« Thatwhich goes, however, goes only by establishing a meaningful connection within the flow ofscientific communication, by relating itself in agreement or disagreement with previously

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identified theories and methods. No matter how many empirical observations are amassed:one cannot distinguish between truth and error without a theory.

Systems theory should have a strong appeal for those ethnographers who share an aversionfor heavy handed deductive theories. As a theory, it has no end in sight; no desire to pre-viously determine the plot of the story the ethnographer will eventually tell. The theory isclosed to itself, to its own concepts and ways of relating constructs; but it does so in order toopen itself to the scientific study of society. Society is emergent and reproduces itself wit-hout a teleological imperative. It possesses, as Ortega y Gasset once said of mankind, no na-ture or essence, only history. Sociology observes the conditions under which communicationunfolds its own history, creating itself with its own operations (Luhmann 1991c: 260). Eth-nographers observe the real-time moments, the occurring events, the actualizations, the em-pirical operations that produce this ongoing history. The ethnographer grounds his own storyof society by telling it in a manner that is filled with redundancies: providing anticipated in-formation that relieves sociological suspense. The ethnographer’s story is a story because itis new and filled with variety; but it is ethnographic because it takes the form of a sociologi-cal observation. The participant-observer oscillates between observing as a participant andobserving as a sociologist.

Before we can describe the form of ethnographic observation in greater detail, it is neces-sary to reject a traditional image of how ethnographers see what they see in the field. Wemay turn to Hammersley (1990), for example, to find evidence of the typical construction.The ethnographer enters the targeted site and watches members interact, occasionally spea-king with them about what they feel, think, and do. In other words, the ethnographer percei-ves what actors do with reference to each other and listens to what actors say about the mea-ning of what they do.

The image of an ethnographer as one who collects perceptions fits nicely with an old fa-shioned sociological interest in the empirical observation of human subjects and social ac-tion. Nevertheless, systems theory breaks with this familiar pattern by distinguishing bet-ween perception, observation, and understanding. When it comes to perception, one mayindeed observe behavior. The ethnographic observer, however, is not interested in merelyobserving behavior. Rather, the point is to interpret the meaning of behavior.

We must take the time to theorize what is meant by this kind of observation. In his highlyregarded »call to arms« for interpreting culture (van Maanen 1988: 44), Clifford Geertz(1973) describes the »natives« of a targeted social group as »first-order observers«. The eth-nographer writes an interpretive report as a second order observer. This distinction is alsocentral among constructivists and those familiar with second-order cybernetics (von Foerster1995). Geertz notes that the native is a first-order observer because it is, after all, »his cultu-re«. In the same text, however, Geertz also suggests that »culture is public because meaningis« (Geertz 1973: 12). How does the native possess his culture, if that culture is meaningfulonly because it is public? With these two assertions, Geertz creates a riddle that he tries tosolve by adopting the practice of »thick description,« as developed by Gilbert Ryle (1971:480-496)1. As a second-order observer, the ethnographer’s task is to describe how nativesshare an understanding »of interworked systems of construable signs«. (Geertz 1973: 14)For Geertz, intelligibly describing this semiotic context of sign systems and »established co-des« (1973: 9) is the essence of thick description. When participant-observers succeed atthick description – that is, at observing observers – they »enlarge the universe of human dis-

1) In his own theory of observation, Gilbert Ryle (1949:228-229) emphasizes the crucial role advanceexpectations play in interpreting perceived sensations. We suggest that sociology can condition field-workers and those who observe their reports, culturing expectations on both sides.

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course« (1973: 14). With this discourse enlargement, Geertz seems to imply that the ethno-grapher simply connects the established codes of natives to the non-native, all-encompassingworld of human understanding. In contrast, a thin description would give a simple account ofexactly what the observer perceived. Citing the analytical philosopher Ryle, Geertz discussesthe problem of understanding the meaning conveyed by three different winking boys. A thindescription would describe a swift contraction of the facial muscles around the right eye, asone might perceive in each case. A thick description would differentiate between the firstboy who suffers from a meaningless nervous twitch, a second boy who is trying to romanti-cally attract the attention of a girl, and a third boy who wants to tease the second by winkingin comic parody. Ryle and Geertz both stress that the key to understanding social behaviorlies in learning that the same operation, winking, can be coded with different meanings.They emphasize that these meanings have nothing to do with what actors think. Winks onlywork as winks if they are recognized as social resources, available for public use within »in-terworked systems of construable signs«.

Geertz’s work is cited as a guiding resource in numerous ethnographies, and he certainlyoffers several key insights. His call for thickly describing established codes and the culturalconditions under which symbols may be construed as meaningful is easy to defend. Howe-ver, his semiotic approach does not explain how established codes function as structures thatselectively build understanding in society. His method of understanding still requires us tobelieve in the reality of a freely expandable »universe of human discourse« and »a naturalorder in human behavior« (Geertz 1973: 14). Mutual understanding is assured because, de-spite cultural conditioning, we all participate in human discourse. It would seem, followingGeertz, that we can observe the behavior of the winker to understand what his wink means.In a frequently cited passage, Geertz supplements his notions of codes and sign systems bysuggesting the metaphor of writing (and with it the operation of reading) to further elaborateon the relationship between behavior, meaning and ethnographic observation: »Doing ethno-graphy is like trying to read (in the sense of ›construct a reading of’) a manuscript – foreign,faded, full of ellipses, incoherencies, suspicious emendations, and tendentious commentari-es, but written not in conventionalized graphs of sound but in transient examples of shapedbehavior« (Geertz 1973: 10). The differences between perception, observation, and under-standing appear within this metaphor as the difference between observation and reading. Thewriting itself, the practices which are read by the ethnographer, appears to be universally me-aningful and safely harbored within the boundaries of »human understanding». As the de-scription of behavior thickens, it seems, interpretation becomes easier.

This is where systems theory can contribute an especially valuable insight: understandingis itself a specific form of observation – it is the observation of self-reference (Luhmann1986: 79). No matter how thick it is, a description should not be confused with understan-ding. We may see a person’s behavior; but we may not see the meaning of the behavior inthe strict sense of seeing as a mode of perception. Understanding must refer to what is per-ceived, but it must also go beyond the perceptual field and presume a reference which ex-presses itself through perceivable signs and signals. This presumption of self-reference can-not be verified or falsified through perception of a single operation or event. Instead, it canand must be tested through further observations, which either confirm or contradict ourpresumptions. Ethnographers would be the first to agree that we must slowly build expectati-ons in the field, testing what we think we understand in more than one situation. This requi-site for understanding applies to persons as well as to social systems. It is exactly this con-nectivity between observations – observations that reciprocally support, resist, and completeeach other – that Geertz seems to imply with his call for thick description. However, he over-looks that this self-referential connectivity itself differentiates a social system for observingobservers. This system is not part of the universe of human discourse to which Geertz allu-

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des: it excludes all observers who do not refer to its own special connectivity. Nonetheless, itis this differentiation that is marked by the concept of culture. Indeed, a culture is only a cul-ture if it is different from other cultures (Baecker 2001). Geertz’s idea of understanding imp-lies that the differences between native cultures may be resolved within the universe of hu-man discourse. This idea may have some merit from an aesthetic or moral vantage point, butit does not contribute to a strategy for conducting ethnographic observation and understan-ding. We argue that it depreciates the value of culture. Systems theory replaces this assump-tion of a final, all-encompassing unity – the happy ending of universal understanding – withthe idea that there are social systems which may be observed, but only when one participatesin their observations. As Stephan Fuchs puts it: every observation is a cultured observation(Fuchs 2001: 339). Without consideration of the self-reference of culture, there can be nomeaning making. How does this argument relate to ethnography and research methodology?

We cannot perceive, but we can observe three boys winking and decide that the threewinks have three different meanings. Understanding the winks requires cultured observerswho have been previously prepared (cultured!) by communication. Communication makesits own connections in the flow of real time, establishing its own meanings beyond what canbe perceived in any given instant. To observe and understand a communicative event, onemust be familiar with the communication that preceded it, with the relevant themes and thepossible meanings participants have already publicly constructed and conditioned themsel-ves to remember (Luhmann 1995b: 115-121). To observe in the form of understanding, theethnographer must gain access to the memory of a social system, to its own imaginary histo-ry. Culture is for a social system as memory is for a psychic system (Luhmann 1997: 586-94). It provides a history that supplements each selective empirical operation with meaning.First and second-order observers, natives and ethnographers, both participate in society onlyby learning how to assimilate and accommodate their selective understanding to the historyof the social system they are observing. Participants and ethnographers are both participant-observers, struggling to inform their conscious understanding with what they can and cannotperceive in society.2 Observation is the form that unifies natives, ethnographers, and theiraudience of readers. It is the self-reference of ethnographic understanding that processes theother-reference of natives, recasting native observations as sociological observations.

Form, Paradox, and Meaning

We can more clearly appreciate the relationship between perception, observation, and under-standing by making reference to the distinction between medium and form, as used by Luh-mann in his theory of observation (Luhmann 2001c: 231; 2000: 102-131). His approach toobservation is especially indebted to the pioneering work of two unusually creative thinkers,Fritz Heider (1959) and George Spencer Brown (1979). From the Austrian psychologist Hei-der, Luhmann takes a theory of perception that distinguishes between medium and form andloose and strict couplings. A particular form emerges from a medium, a substrate that couldhave taken on a different form under different conditions. Social systems build themselvesby observing the differences between the loose couplings that are readily made available bya medium and the strict couplings that may temporarily take on fixed form. For instance, wehear words when our lover whispers (but our ears only register noise). We see particular let-ters on the page of a book using the medium of light (but our eyes only register light). Wri-

2) Describing how an observer may understand another’s behavior, Gilbert Ryle (1949: 54) writes:»You learn as you proceed, and I too learn as you proceed. The intelligent performer operates criti-cally, the intelligent spectator follows critically. Roughly, execution and understanding are merelydifferent exercises of knowledge of the tricks of the same trade.« The fieldworker and the native areboth participant observers.

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ters and readers use their eyes to recognize specific (strict) sentences formed from the (loose)medium of words. To make sense of the Braille system, blind readers train themselves to feelraised dots within a rectangular cell containing six dot positions. The ability to perceive thedifference between raised and unraised dots sets up the possibility to construct a medium thatoffers sixty-four possible loose couplings. Using fingertips, a cultured observer may feel thedifference within the medium (raised/unraised) that makes an informative difference by rep-resenting a recognizable strict coupling. One who uses Braille produces meaning by obser-ving the difference between dots that are raised (the actual) and dots that could have beenraised but were not (the possible). Those who use the Braille system must assimilate and ac-commodate themselves to its self-reference. Everyone participating in the system (as outsi-ders!) must allow Braille to interpenetrate and coordinate their expectations. Much like lan-guage, Braille makes understanding possible by supplying a symbolically generalizedmedium that augments or substitutes what participants actually perceive. Systems theory de-pends on Heider’s insights to explain the difference between perception and understanding.

As Gilbert Ryle observed (1971: 483), »A boy who cannot wink cannot parody a wink«. Itis possible to construe a wink with meaning precisely because the form is not the medium.To gain meaning, the form must be related to other possible forms available within a medi-um that were not perceived. Because he cannot stop himself, the poor kid with the nervouslytwitching eye will never be able to wink. Observers learn to construct meaning by separatingform and medium, controlling the difference by enacting culture. Ethnographers take on thechallenge of explaining how specifically meaningful forms can be empirically produced orenacted within a generally irritating – and thus perceptible – medium. Communication mediareach across the operational closure of human minds, irritating nerves in specific ways andthereby allowing participants to inform themselves about meaning. Heinz von Foerster(1960) suggested this with his principle of »order from noise«. With Luhmann, we read(1995c: 142), »Coded events operate as information in the communication process, uncodedones as disturbance (noise)«. Elsewhere, Luhmann maintains: »Without ›noise,‹ no system«(1995c: 116). As humans, we may thickly describe the noise we perceive without ever un-derstanding the self-referential codes of the system in which natives participate. Being hu-man does not guarantee the success of ethnography.

At a later stage in his career, Luhmann discovered the work of George Spencer Brown, anenigmatic philosopher of mathematics. After the mid-1980’s, nearly every one of Luhmann’spublications cites Spencer Brown’s theory of observation. In Spencer Brown’s book, Lawsof Form (1979), we learn that every observation is an operation that requires the observer todo two things at once: draw a distinction and indicate one side or the other. Before a distinc-tion is drawn, there is nothing to observe: no universe, no world, no meaning, no observer.For an observer, a particular form is a unity in difference, it is comprised of both of its sides.The difference between the system and environment is the world. The difference betweenknowledge and object is reality. The difference between the actual and the possible is mea-ning (Luhmann 2001c: 234). The drawing of such a distinction creates a two-sided form, aparadox that cannot resolve itself except by an »outer determination« that indicates a selec-tion (Luhmann 2001b: 201). Luhmann wants to avoid ontological assumptions and essentia-lism, but he begins his own analysis by assuming that »there are systems« (1995c). Socialsystems draw their own distinctions and self-referentially determine their own selectionswith »pragmatic intention« (Luhmann 2001d: 246). They do this by developing strategies oroperating programs for resolving the paradoxes of their forms, by preferring one side to theother.

From the observing system’s vantage point, only one side of its form may be selected as acontinuation of its history. For example, as a social system, the economy observes with theform pay/no pay. During an actual communicative event, the system indicates one side or the

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other according to the outer determination of the market participants (are the buyer and sellerin agreement?). Without engaging participants, the economy cannot resolve the paradox ofits form, even though it prefers the »pay« side of its form to the »no pay« side of its environ-ment. The economy depends on its participants to resolve its basic paradox.3

We may also illustrate the paradoxical nature of forms by referring to an imaginary socialcollective. Suppose we want to conduct an ethnography of a secret fraternity, a criminalgang, religious sect, or other group that is keenly aware of its own boundaries. As second-or-der observers, we must first imagine that this group »exists« as a first-order observer that ini-tially creates itself from the difference between members and non-members. Every observa-tion it ever makes will have to »re-enter« and refer back to this initial form. How does thesystem inform itself of this difference? Do members exchange secret handshakes? Do theywear special leather jackets? Are they supplied with identity cards? Were they inducted th-rough a ritual procedure? There are many functionally equivalent strategies for indicatingmembers to the exclusion of outsiders. Of all of the possibilities, which strategy is empirical-ly actualized and therefore construed with meaning? Which operations will confirm and re-cursively relate back to this initial distinction?

A social system emerges from its own ongoing operations, and those operations refer backto the paradoxical form that draws a distinction between the system and its environment.Luhmann admits that his theory cannot decide which forms will work for particular systems.Again, we realize that his theory does not imply a suspicious sort of heavy handed deductiveinterest in predicting empirical events. Only evolution, he argues, can filter out the most vi-able forms, those that can stabilize themselves through repeated operations over longer peri-ods of time (2001a: 143). With Heider’s insights in mind, the ethnographer attempts to exp-lain how systems irritate themselves with the differences required to enable meaningfulindications. How does society inform itself about the status of differences that matter? Howdoes it detect the basic distinction and locate the boundary between its loose and strict cou-plings? A social medium cannot develop unless observers are able to observe what other ob-servers can observe. Thus, the natives are also bound to be second-order observers of oneanother. The medium is ready to take on different forms, and this is what enables participantsin society to construe the meaning of what they perceive as a selective understanding (Luh-mann 2001b: 210). Furthermore, the ethnographer attempts to explain how observers createand resolve the paradoxes they create. For example, how can sociology observe the diffe-rence between a social system and an ethnographer who claims to describe it? It can only dothis by referring to itself! The social system makes a re-entry on the side of ethnography, re-flecting recognizable differences and calling forth a meaningful identity according to thepossibilities sociology has already prepared itself to expect as an observer.

Sociological Ethnography: What to Expect

While developing his notion of thick description, Gilbert Ryle discusses the situation of aman lost in introspection, le Penseur, who appears to be talking to himself in order to solvesome intellectual quandary (1971: 487). Ryle suggests that we might observe the man testingout the sounds of his ideas in terms of their success or failure, letting his imagination speak inan experimental manner. He proposes hypothesis after hypothesis, disappointing himselfagain and again. Much of what he hears himself say fails to meet the test of his own reason;as if, by thinking and muttering, he could control the quality of his own thoughts. »This con-nects to what I have already accepted as reasonable«, he seems to tell himself, »but that

3) It is important to generalize this point: every social system needs participants to resolve the paradoxesof its forms. In participant observation the interests of systems theory and ethnography converge.

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doesn’t«. Ryle compares his thinker to a pioneer who takes »his present paces not to get to hisdestination – since he does not know the way – but to find out where, if anywhere, just thesepaces take him« (1971: 495). The thinker, as a pioneer, lets his mind wander toward successand failure, either one of which would help him move toward his goal. His memory of pastunderstandings is the only resource he can use to mentally separate the wheat from the chaff.

Ethnographers might creatively develop their stories in a similarly playful and experimen-tal manner,4 using sociology to guide them toward success or failure. An ethnography is suc-cessful when it establishes a recursive connection, whether negative or positive, with socio-logical observations made in the past. Though one might start with anything but sociology,sociology suggests its own standards for evaluating and limiting what it recognizes as pos-sible forms of knowledge (see Goldenweiser 1913). Systems theory takes it for granted thatknowledge does not exist outside of a system (Luhmann 2001c: 223), simply waiting patient-ly for a scientist to perceive it. Rather, all knowledge is produced by observers who drawtheir own distinctions to separate what they can use from what they cannot. Not all storiesare useful for sociology. It is no coincidence that we make repeated references to the distinc-tion between useful and useless. We want to emphasize the first-order observer’s concernwith remaining a viable operator; of continuing to steer self-constructed problems towardself-constructed solutions. At the second-order, the ethnographer observes the empiricalpractices that simulate this operative functionalism (Nassehi 2006: 457).

Observations are only possible as operations, and operations always produce and reprodu-ce the system that operates and observes. Instead of looking for subjects and objects andsymbolic interaction, the ethnographer seeks to identify a social system and to record empiri-cal evidence that demonstrates that this system makes its own observations and invents itsown boundaries as it operates. In other words, the ethnographer aims to witness the systemdrawing and redrawing distinctions and indicating selections. If witnessing leads to under-standing, then the »other reference« of sociology emerges: that which we imagine to be theself-reference of the system. Which distinctions does the system draw, again and again, in or-der to reproduce itself as an observer? The system makes every one of its operations in thepresent, with each operation inevitably slipping away into the past. How does it stabilize itsidentity and self-reference from event to event? How does it limit its options to those it canrecognize? A system’s repeated distinctions, when recursively applied to themselves, mayappear to the ethnographer as increasingly stable »eigenbehaviors« that contribute to the sys-tem’s ability to steer and reproduce itself (Luhmann 1991b: 175-6; 2001e: 270).5 The deve-lopment of such eigenbehaviors produces a dynamic form of stability that allows the systemto confront changing conditions and adapt to new situations. The current operation may mea-ningfully follow a preceding one, and may itself be connected to a future operation. Despitethe fact that each of the system’s operations can never happen a second time, its continuedoperations can appear as imaginary eigenbehaviors that repeat the use of the same distinc-tions. This dynamic stability reproduces society by permitting consciously isolated obser-vers, natives of social collectives, to anticipate one another’s conscious expectations and sol-ve the problem of double contingency (Luhmann 1997: 332). There are no short cuts to befound in intersubjectivity, collective conscious, human discourse, or a natural order of humanbehavior. Natives can and must learn how to expect and understand the use of coded formsand the eigenbehaviors of their community. Through the hard work of participation in com-munication, ethnographers can also learn to understand the other-reference of what nativesknow. Observing observers necessitates participation in their redundant form of observation.

4) On the relationship between »experiential« and »experimental« ethnography, see Poewe (1996). 5) Qualitative methodologists speak of »redundancy« and »saturation« in this regard (Stake 2000: 437;

Strauss & Corbin 1998:136; Bogdan & Biklen 1999: 62).

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As outlined above, every observation begins with a distinction that can be described as aparadox, a unity in difference. The form of observation is functionally effective because it isnot decided in advance; it requires the system to spontaneously determine selection after se-lection. Critically reassessing Geertz’ »public codes« and »universe of human understan-ding,« we assume with Luhmann that »every code appears as a form; that reformulates theproblem of form« (2000: 124). We also recognize that humanity cannot ensure a universe ofunderstanding because, as Luhmann put it, only communication communicates (1995a: 37).Every form used by society is a two-sided unity that cannot solve the paradox it represents.How, then, do observers construct the vital supplements within society with which they caninform themselves and escape the uncertainty of their two-sided forms?

We must expect that an ethnographer will initially identify a first-order observer (the sour-ce of other-reference!) who will then be described in (self-referential!) sociological terms asa social system. Which system will the ethnographer observe and for what reasons? As a se-cond-order observer, the ethnographer must explain and justify the decision of having selec-ted a particular observer for observation, given the fact that other candidates were also avai-lable. Luhmann (2001e:278) would expect the ethnographer to have an answer for thequestion: why observe this system and not another? The ethnographer is therefore compelledto begin work by describing the supplement that functioned for his own disambiguation. Ineffect, the ethnographer must become a second-order observer of ethnography and offer aself-description of himself as a participant (compare Stocking 1983). The self-reference ofsociology offers the ethnographer resources for disambiguation. As a social system, sociolo-gy emerges by connecting a sequence of empirical operations and claiming to recognize itsown unity. The individual ethnographer can construct an opinion of where sociology has be-en, where it ought to be headed, and what sort of social research might establish future con-nections to science. The ethnographer might inform himself with the memory of sociology, amemory represented by the discipline’s publications and one which seeks to be re-actualizedby observers who recognize its relevance for their own observations and descriptions. Inshort, the ethnographer will find direction by participating in and being conditioned by thecontingency communication of sociology’s own operations. We have already criticized thenotion of grounded theory; now we recommend grounding observation with the historicallyproduced discipline of sociology. This discipline, as Michel Foucault might put it, is prepa-red to self-control the coincidence – the contingency – of its own discourse. This anonymoussystem is ready to provide every ethnographer with its own expectations: repeated themes,techniques for perceiving, measuring, describing differences, and possibilities for identifyingthe recurrence of truth (see Foucault 1996: 22). It has already set up the problems for whichit anticipates solutions. As a discipline, sociology calibrates the expectations of both the eth-nographer and those who read ethnography in a manner that increases the chances for ma-king sense out of new stories.

When it comes to empirical research, the ethnographer should tell a story that explainshow the system that was selected for observation informs itself about resolving the parado-xes of its own forms. Systems can only operate in the present, connecting what they do at themoment with what they have already done. How does a system identify itself in the presentand practice continence with respect to the past? With an apparent interest in stimulating eth-nomethodological research with a systems theoretical orientation, Armin Nassehi (2006:458) suggests: »It must be empirically established, with respect to concrete settings, what isand what can be the matter at hand; how problems and solutions are related to each other inactu and how presences are transformed into pasts«. Fieldworkers should concentrate onidentifying the forms used by observers as they operate in real social settings, clearly sho-wing how communication continually makes available paradoxical distinctions that can beresolved by decisions that refer to self-constructed information. Social systems limit the re-

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Participant Observation and Systems Theory 265

quisite variety (Ashby 1957) of the cultured observers who participate in them in two ways.First, they restrict the problem of selectivity to established forms. Second, they provide sup-plements and programs that help observers make a choice and escape the ambiguity of estab-lished forms (Luhmann 1997: 750-1). This second restriction conditions observers to antici-pate a reciprocal perception of differences that can be understood as meaningful information;meaningful, that is, with regard to disambiguation.

Theorizing the Ground

Ethnographies document natives engaging in cultural practices and then explain how thosepractices continuously involve the drawing of a self-referential distinction and the indicationof one side or the other. Within vastly different social settings, ethnographers describe howthey observed observers setting up their own problems of form and then solving their para-doxes by informing themselves with a supplement that refers to an order, the necessity of ti-ming, or by differentiating observers according to distinct roles. As a methodology for obser-ving how social systems steer themselves from operation to operation, participantobservation is of instrumental value to sociological reflection. As we have suggested above,systems theory can remedy several significant weaknesses commonly found within ethno-graphic work. First, participant-observation studies have uniformly failed to adequately re-flect on observation itself; there are many insightful discussions of how to gain access formaking observations, but there is no theory of how observation works as a self-referential,self-informing operation.6 Second, studies from the past tend to share an actor-centered fo-cus that takes attention away from society as a reality sui generis. Systems theory asserts thatthe sociological gaze should be cast exclusively on social systems formed by the operation ofcommunication. Finally, traditional ethnographies have commonly obscured the fact that na-tives and ethnographers are both observers who cannot operate without enacting their owncultures. There is no such thing as a universal human discourse that unites everyone in acommon understanding, a truly all embracing »imaginative universe within which their actsare signs« (Geertz 1973: 14). Culture must be taken much more seriously: it divides even asit unites. As a scientific discipline, sociology has moved past explaining patterns of behaviorand social order with dubious claims of a final web of intersubjectivity, natural order, orshared consciousness. The unity of social systems compels ethnographers to observe theself-reference of communication and to tell stories about how these systems empirically pro-duce, differentiate, and unify themselves. For their part, ethnographic studies about culturedobservers participating in actual social situations would contribute valuable data for systemstheoretical analysis. Systems theory would benefit from an increased appreciation for thebasic question that has long entertained ethnographers: how is participation in society perfor-med?

We suggest that ethnography could benefit from using the resources of systems theory;that it could make stronger connections to the self-reference of sociology without sacrificingits central concerns for openness, reflexivity, and aversion to any »big theory« that woulddepreciate cultural microcosms. Systems theory makes it possible to more precisely describethe difference we want to make when using key concepts such as observation and understan-ding, communication and culture, and even »grounded theory«. The theory suggests mea-ningful ways to link such concepts back to the wider context of sociology in general. We ob-serve the actors observing society, we watch them participate in the enactment of

6) Indeed, the concept and form of observation is often discussed and debated. However, such discus-sion is always restricted to the narrow confines of »methodology.« With this limitation, ethnographyblindly adopts the established conventions of sociology and sacrifices the possibility of making itsown contribution to a theory of observation.

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communication, and we reflect on and report about what and how we see with reference to atheory that elegantly builds itself in a logical, transparent, step-by-step manner. Observingparticipants in a sociologically relevant manner requires us to refer to self-constructed mo-ments of meaning which seem to appear and disappear – for both participants and ethnogra-phers – within the empirical. When ethnography is informed by systems theory, two diffe-rent types of observations are recursively related to each other. The first describe what hasclassically been attributed to what may actually be observed in the »field«. The second typeof observations may be attributed to the theoretical resources available as loose couplingswithin the discipline of sociology. Both observations – from the field and from sociology –are recursively related within society.7 As many ethnographers have already suggested intheir own self-reflections, no observations can be made »from outside,« there is no safe anddistanced place from which to watch the insiders. For reflecting on this position that is bet-wixt and between, no contemporary theory has more promise than systems theory with itsconstruct of second order observation.

To understand the natives, ethnographers have traditionally stressed the need for gainingaccess, proximity, and immediate contact. Paradoxically, for systems theorists the key to un-derstanding lies in gaining distance:

»The concepts of reference and observation, including self-reference and self-observation,are introduced with respect to the operative handling of a distinction. They imply that thisdistinction is posited as a difference. This positing operates as a presupposition in the sys-tem’s operations, and nothing more is usually required than working with that presupposition.One wants to make some tea. The water is not yet on. Thus one must wait. The differencesbetween tea/another drink, putting the water on/not putting the water on, having to wait/beingable to drink structure the situation without it being necessary or even helpful to thematize theunity of the difference used at any one time. We need a concept for the special case of orien-tation to the unity of the difference, which we will call distance. In other words, systems gaindistance from information (and possibly from themselves) if they make the distinctions thatthey use as differences accessible to themselves as a unity«. (Luhmann 1995c: 440)

To understand the social meaning of what they perceive natives doing, ethnographers mustdistance themselves from every operation they empirically observe. Each concrete event wit-nessed in the field, every single discrete social practice observed, must be referenced to animaginary form that provides an opportunity for making meaning out of differences. From ourpoint of view, the famous call for »grounded theory« makes sense only if we consider whatwould happen if theory never left the ground. To be tested as a scientific premise, a theorymust eventually refer to observed practices. Nonetheless, sociology cannot be confused with adescription of purely empirical phenomena, no matter how thick or thin. A report of »nothingbut the facts« would mask the observer and miss every instance of culture. Clifford Geertzwas well aware of this problem: »… What we call our data are really our own constructions of

7) A virulent debate about ethnography’s participation in society may be detected in ethnography’s ownalleged »crisis of representation« (Berg and Fuchs 1993; van Maanen 1995; Gottowik 1997). None-theless, the issue has been treated as a text-production problem which »author-fieldworkers« (vanMaanen 1988: 74) may solve by using alternative performance strategies (Wolff 1987; Atkinson1990; Reichertz 1992; van Maanen 1995; Lüders 1995; Poewe 1996; and Hirschauer 2001). More orless »literary« strategies aim at the public sphere, at art and literature, and at politics (Clifford andMarcus 1986). »Scientific« strategies aim for recognition within the social subsystem of science, ap-pealing to methodological criteria such as reliability and validity (Hammersly 1992). Consolidatingthese various strategies does not appear to be possible within this debate, as a theory of the unity anddifferentiation of society is not available and, in fact, decidedly rejected. As usual, unity is sought afterwith an appeal to the old concept of culture and, as is characteristic of the concept itself, no unity isfound.

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other people’s constructions of what they and their compatriots are up to…. Most of what weneed to comprehend a particular event, ritual, idea, or whatever is insinuated as backgroundinformation before the thing itself is directly examined« (1973: 9). Sociology emerges only asa supplemental source of »background information« that both connects and connects itself towhat can be examined on the ground. A thoroughly grounded theory would produce nothingbut disconnected observations of empirical phenomena. Not even the natives can constructmeaning solely on the ground, referring only to the present; that is why they condition and dis-tance their own observations with culture. To make sense of its observations of participants,ethnography must refer to both what happens on the ground and to its own cultured expectati-ons and self-referential observations. The natives refer to culture, the ethnographer refers tosociology. There is no meaning in the practice and no theory on the ground. The sociologicalproblem is how to use distance to recognize theory in what can be observed in the field.

To conclude our discussion of how systems theory can inform ethnographic work, it makessense to turn the tables and consider how ethnography might enhance the theory’s ability todescribe the operations of society and its social systems. One specific difference ethnographycould make may be seen in its concept of participation. We have argued above that no obser-ver may observe society from the outside; every observer participates in society or else theydo not observe. For the most part, systems theoretical research tends to practice its participati-on almost exclusively in the form of reading: in interpreting and citing texts. These texts arecarefully dated and historically situated (as in numerous studies of the semantics of modernsociety), or else they are analyzed according to categories or attributed functions (as in manystudies of particular functional systems). Ethnography, in contrast, typically practices its par-ticipation in the form of interaction, and has developed a rewarding interest in the differencesbetween ego and alter and in showing how that difference is handled within interactions (Luh-mann 1995c: 418-422). With reference to Luhmann’s heuristic discussion of three dimensionsof meaning – the categorical or factual (this and the other), the temporal (before and after),and the social (ego and alter) – one could assert that ethnography has concentrated on investi-gating the social dimension of meaning, communication, and culture. Systems theory, in cont-radistinction, has focused on the factual and temporal dimensions. We must acknowledge thecommon sociological interest that may be found in each of these dimensions. Systems theo-rists should learn to more fully appreciate ethnography’s playful passion for documenting thesocial dimension of meaning as enacted by participants in the field. It is time for ethnogra-phers to gain a theory of observation and for systems theorists to theorize the ground.

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Prof. Daniel B. Lee, PhDCalifornia State University Channel Islands

Department of SociologySage Hall

Camarillo, California 93012e-mail: [email protected]

Prof. Dr. Achim BrosziewskiPädagogische Hochschule Thurgau

Nationalstrasse 19CH-8280 Kreuzlingen 1

e-mail: [email protected]

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Soziale Welt 58 (2007), S. 271 – 293

Formalität, Informalität und Illegalität in der Organisationsberatung1

Systemtheoretische Analyse eines Beratungsprozesses

Von Stefan Kühl

Zusammenfassung: Wenn Organisationen mit widersprüchlichen Zwecksetzungen konfrontiertsind, bilden sich informelle, häufig auch illegale Umgangsweisen mit den gegensätzlichen Anfor-derungen aus. In diesem Artikel wird aus einer systemtheoretischen Perspektive ein Beratungspro-zess in einem Unternehmen untersucht, das sich einerseits am Markt orientieren soll und anderer-seits einen öffentlichen Versorgungsauftrag zu erfüllen hat. Ziel des Beratungsprozesses war es,die informellen Lösungen, die sich in dezentralen Einheiten ausgebildet hatten, zu formalisieren.Das Formalisierungsziel konnte nur sehr begrenzt umgesetzt werden, weil dabei die widersprüch-lichen Anforderungen an die Oberfläche des Unternehmens drangen. Die Berater waren immerweniger Betreiber der Formalisierung und wurden schrittweise in die Illegalität der Organisationhineingezogen.

1. Einleitung: Der Beitrag der Systemtheorie zur Soziologie der Organisationsbe-ratung

Mit dem Boom der Organisationsberatung in den letzten Jahrzehnten hat das Thema zuneh-mend auch in der Soziologie an Prominenz gewonnen. Dabei konzentriert sich ein Großteilder Studien darauf, die Möglichkeiten und Grenzen einer »Soziologie in der Beratung« zueruieren. Über Bücher, Artikel und Vorträge sollen Berater in die Lage versetzt werden, ihrePraxis um soziologische Elemente anzureichern (für deutschsprachige Beispiele siehe Wim-mer 1992; Mingers 1996; Willke 1996).

Der »Soziologie in der Beratung« steht eine »Soziologie der Beratung«, also die soziolo-gisch informierte Beforschung der Beratung, gegenüber. Während es in der Soziologie in derBeratung darum geht, soziologische Wissensbestände für die Beratungspraxis nutzbar zumachen, richtet sich die Soziologie der Beratung vorrangig an wissenschaftliche Fachkolle-gen und nur zweitrangig an wissenschaftlich interessierte Praktiker.2 Anders als angewandteWissenschaften wie die Betriebswirtschaftslehre, die Arbeitswissenschaft oder die Ingeni-

1) Am Anfang dieses Artikels stand vor fast zehn Jahren eine im Nachhinein fast naiv zu nennende Ver-wunderung über den Ablauf eines Beratungsprojektes. Diese Verwunderung veranlasste mich da-mals, diesen sechsmonatigen Organisationsberatungsprozess sehr genau zu protokollieren. Währendanfangs diese Feldtagebücher wohl eher die Funktion einer »Psychohygiene« hatten, nahm im Laufedes Beratungsprozesses das Interesse an einer wissenschaftlichen Erklärung dieser »Unglaublichkei-ten« (so ein frühe Formulierung im Feldtagebuch) zu. In diesem Prozess sind verschiedene, auch the-oretisch unterschiedlich angelegte Interpretationen des Materials entstanden. Diese teilweiseschriftlich ausgearbeiteten, teilweise nur mündlich dargelegten Interpretationen konnte ich bei ver-schiedenen Gelegenheiten diskutieren. Mein Dank gilt besonders den Teilnehmern des Workshopsder Pilotfische an der Universität Bielefeld und der Konferenz ‚Grenzen der Strategieberatung’ an derUniversität München. Ein besonderer Dank gilt einem anonymen Gutachter/einer anonymen Gutach-terin der Sozialen Welt, dessen (oder deren) Kritik mich noch einmal zur Schärfung der Argumenta-tion gezwungen hat.

2) Zu der inzwischen eingeschliffenen Unterscheidung zwischen »Soziologie in der Beratung« und »So-ziologie der Beratung« siehe Iding 2000: 10ff; Iding 2001: 80f; Scherf 2002: 1ff. Selbstverständlichkönnen Autoren Texte für beide Verwendungszusammenhänge schreiben, was dann jedoch zu Rol-lenkonflikten bei den Autoren und besonders zu Schwierigkeiten bei ihrer Beobachtung führen kann.

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eurswissenschaft legt die Soziologie Wert auf eine solche Trennung zwischen »Wissenschaftin der Beratung« und »Wissenschaft der Beratung« und betrachtet das Verhältnis dieser bei-den Ansätze als konfliktuös.

Die Rezeption der Systemtheorie Niklas Luhmanns steht fast idealtypisch für dieses Schis-ma zwischen einer »Soziologie in der Beratung« und einer »Soziologie der Beratung«. Wäh-rend es bei Praktikern der systemischen Beratung eine Tendenz gibt, den Beratungsansatz alseine Ableitung aus der Systemtheorie Niklas Luhmanns zu verstehen, wird in der wissen-schaftlichen Auseinandersetzung auf die Differenzen, ja Widersprüche zwischen einer sys-temtheoretischen Organisationssoziologie und der systemischen Beratung verwiesen (vgl.Groth 1999; Kühl 2001a; Scherf 2002). Es ist sicherlich eine Stärke der Soziologie, dass sie– anders als angewandte Wissenschaften – den Unterschied zwischen »Umsetzung von Wis-senschaft in die organisatorische Praxis« und »wissenschaftlicher Beforschung organisatori-scher Praxis« beobachtungstheoretisch rekonstruieren kann (vgl. Kieserling 2004a: 85ff).

Aus dieser Differenz kann kein Überlegenheitsanspruch der Wissenschaft abgeleitet wer-den. Gerade aus einer differenzierungstheoretischen Sicht gibt es keine Gründe, die »Sozio-logie der Beratung« als hochwertiger einzuschätzen als eine »Soziologie in der Beratung«.Die Unterscheidung zwischen »Soziologie der Beratung« und »Soziologie in der Beratung«verweist lediglich auf zwei unterschiedliche Verwendungszusammenhänge. Sowohl der ten-denziell abschätzige Ton von Wissenschaftlern gegenüber der systemischen Beratung alsauch die Fremdeleien systemischer Berater mit den Teilen der Organisationssoziologie, dieder systemischen Beratung kritisch gegenüberstehen, erklären sich aus der Absolutsetzungder eigenen Perspektive.

Interessant ist, dass die Umtriebigkeit einer »Soziologie in der Beratung« nur wenige For-schungs- und Theorieaktivitäten in einer »Soziologie der Beratung« ausgelöst hat. Besondersfällt auf, dass im Rahmen dieser »Soziologie der Beratung« bisher kaum Beratungsprojektein den Mittelpunkt der Analyse gestellt wurden (vgl. Iding 2001: 73f).3 Die vielen normativaufgeladenen Beschreibungen von Beratungsprozessen dienen als kaum kaschierte Marke-tinginstrumente für Organisationsberater. Sie sind, wenn sie überhaupt Bezug auf die Sozio-logie nehmen, Teil der »Soziologie in der Beratung«. Es fehlen soziologisch distanzierteStudien über Beratungsprojekte. Die wenigen lesenswerten Ausnahmen (vgl. besonders imdeutschsprachigen Raum Iding 2000; Rottenburg 2002) wählen einen mikropolitischen bzw.ethnographischen, keinen systemtheoretischen Zugang.

Das Ziel dieses Artikels ist es, aus einer systemtheoretischen Perspektive den Umgang mitFormalität, Informalität und Illegalität in Beratungsprozessen näher in Augenschein zu neh-men. In Anlehnung an Niklas Luhmann wird Formalität als die Erwartungen verstanden, dievon Organisationsmitgliedern erfüllt werden müssen, um ihrer Mitgliedschaftsrolle gerechtzu werden. Man ist als Organisationsmitglied nicht angreifbar, wenn man sich auf die forma-lisierten Erwartungen beruft und dementsprechend ist Formalität in besonderer Weise für dieDarstellung in der Öffentlichkeit (oder auch die Ablage in Akten) geeignet (vgl. Luhmann1962: 13).

3) Schwerpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Beratung war die Erforschung ihrerEntstehungsgeschichte. Die Entstehung und globale Verbreitung von Beratungsfirmen ist in den letz-ten Jahren sehr genau rekonstruiert worden (vgl. dazu einschlägig McKenna 1995; McKenna 2006;siehe für den deutschsprachigen Raum auch Faust 1998; Faust 2002). Unter dem Begriff der »Profes-sionalisierung ohne Profession« ist inzwischen auch die gescheiterte Professionalisierung der Exper-tenberatung, der Organisationsentwicklung und der systemischen Beratung untersucht worden (vgl.für die deutschsprachige Diskussion Groß 2001; Kühl 2001b; Bohn/Kühl 2004).

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Formalität, Informalität und Illegalität in der Organisationsberatung 273

Unter Informalität werden dann – ebenfalls in Anschluss an Luhmann – die Erwartungenan Organisationsmitglieder verstanden, die nicht zur Mitgliedschaftsbedingung erhoben wer-den können. Wenn Organisationsmitglieder informell handeln, versuchen sie, Erwartungender Organisation zu erfüllen, können sich dabei aber nicht auf Anweisungen des Vorgesetz-ten, auf offizielle Wenn-dann-Regeln oder Zielvorgaben berufen. Bei Informalität müssendie Formalstrukturen nicht unbedingt verletzt werden, sondern häufig werden Anweisungenlediglich sehr frei interpretiert. Anweisungen werden sehr weit ausgelegt, deren Befolgungaufgeschoben oder gar mit vermeintlich stichhaltigen Gründen abgelehnt (vgl. Luhmann1972a: 275).

Illegalität bezeichnet eine Steigerungsform von Informalität. Die Handlungen sind auch indiesem Fall durch die Formalstruktur nicht abgesichert, weitgehend verletzen die Handlun-gen diese aber auch offensichtlich (vgl. Luhmann 1964: 304). Bei Illegalität in Organisatio-nen ist den beteiligten Organisationsmitgliedern die Regelabweichung des Verhaltens be-wusst. Anders als bei Informalität müssten Vorgesetzte oder Kontrollinstanzen einschreitenund das verantwortliche Mitglied sanktionieren, wenn sie auf illegale Handlungen aufmerk-sam gemacht werden. Sonst kann ihr Verhalten selbst als illegal betrachtet werden.

Bereits in den sechziger Jahren ist es weitgehender Common Sense, dass es für die Organi-sation funktional sein kann, informelle, ja sogar illegale Verhaltensweisen ihrer Mitgliederzu dulden. Organisationen müssen – wie andere soziale Systeme auch – ein gewisses Maß anNormabweichung akzeptieren. Dahinter steckt der Gedanke, dass besonders Organisationeneigentlich auf eine widersprüchliche Normorientierung angewiesen sind. Weil sich Organi-sationen aber gleichzeitig gezwungen sehen, eine widerspruchsfreie Normordnung nach au-ßen und innen zu präsentieren, wird ein gewisses Maß an Illegalität unvermeidlich. IndemOrganisationsmitglieder situativ ausbalancieren, ob sie den formalen Strukturen entspre-chend handeln oder ob sie informelle Wege gehen, erreichen Organisationen überhaupt erstihre schnelle Anpassungsfähigkeit (vgl. Luhmann 1964: 305; Friedberg 1993: 153; Ortmann2003: 33ff). Dabei besteht jedoch kein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen Informalitätund Formalität. Jedes Mitglied kann sich auf seine formale Rolle zurückziehen und damit in-formelle »Kommunikationsschranken« in Kraft setzen. Dieses Zurückziehen auf die formaleRolle kann dem Mitglied nur latent zum Vorwurf gemacht werden, nicht jedoch offen alsVersagen angekreidet werden (vgl. Luhmann 1964: 64).

Die Innovation der frühen Luhmannschen Bestimmungen war es, die Formalität (und da-mit auch die Informalität) genauer als bis dahin üblich zu bestimmen, indem sie Formalitätals Erwartungen definieren, denen sich Personen im Rahmen ihrer Organisationsmitglied-schaft unterwerfen müssen. Luhmann (1964: 31ff) grenzte sich so gegen Organisationsfor-scher ab, die versuchten, formale Organisation über »verschriftlichte Regelungen« oder überdie Orientierung an einem gemeinsamen Zweck (Parsons 1960), über die Koordination vonLeistung (Barnard 1938) oder als Mittel rationaler Herrschaft (Weber 1976) zu bestimmen.4

Dieser frühe Ordnungs- und Argumentationsvorschlag Luhmanns war auch für Nicht-Sys-temtheoretiker besonders deswegen beeindruckend, weil Luhmann wie in kaum einem ande-ren Werk deutlich machen konnte, wie theoretische Innovation empirisch fruchtbar gemachtwerden kann. Verwiesen sei nur auf die empirischen Beobachtungen zu Führung und Vorge-setzten, zum Umgang mit Fehlern in Organisationen oder zu Takt und Höflichkeit in Organi-sationen (vgl. Luhmann 1964: 206ff; 256ff und 358ff).

4) Siehe auch deutlich die Unterschiede zu neueren arbeitssoziologischen Bestimmungen von Formali-tät und Informalität, die ohne Bestimmung eines Organisationsbegriffs auszukommen versuchen(Bolte/Porschen 2006: 27).

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Angesichts dieser Vorlage einer empirischen Unterfütterung theoretischer Gedanken kannder Anspruch dieses Artikels nur ein bescheidener sein. Es geht darum, anhand eines empiri-schen Falles zu rekonstruieren, wie mit der Differenz von Formalität und Informalität undweitergehend mit Illegalität im Rahmen von Organisationsberatungen umgegangen wird.Luhmanns Überlegungen zur Formalität, Informalität und Illegalität sollen also um einenAspekt angereichert werden, der sowohl in seinen frühen (vgl. Luhmann 1964; 1973) alsauch posthum veröffentlichten organisationssoziologischen Hauptwerken (vgl. Luhmann2000) kaum eine Rolle gespielt hat.

Die Empirie dieses Artikels basiert auf der »Archäologie« eines Beratungsprozesses. Un-ter Archäologie wird die Rekonstruktion eines Prozesses aus einer größeren zeitlichen Dis-tanz verstanden. Dafür werden Materialien aus dem »vergessenen« Prozess gesichtet, in denberatenden und dem beratenen Unternehmen nach Spuren des mehrere Jahre zurückliegen-den Prozesses gesucht und Teilnehmer des Beratungsprozesses mit den Spuren und Materia-lien konfrontiert. Die Hoffnung dabei ist, dass die zeitliche Distanz zu dem mehrere Jahrezurückliegenden Prozess auch eine sachliche Distanz der Betroffenen nach sich zieht.

Diese Archäologie des Beratungsprozesses setzt auf eine sechsmonatige beobachtendeTeilnahme auf. Im Gegensatz zur teilnehmenden Beobachtung (vgl. Becker/Geer 1957; Gold1958; als Überblick Graaf/Rottenburg 1989: 19ff; Bachmann 2002: 323ff) spielt bei der beo-bachtenden Teilnahme (vgl. Weltz 1997; als Überblick Springer 1999: 42ff) der Beobachtereine die Situation verändernde Rolle.5 Beobachtet wurden fünf Beratungsprozesse in mit ho-her Autonomie ausgestatteten Einheiten einer im öffentlichen Besitz befindlichen Unterneh-mung. Die Beobachtungen während der Gespräche, der Workshops und der konkreten Um-gestaltung in Werkstätten wurden mitprotokolliert.6 Aufbauend auf diese Beobachtungenwurden fünf Jahre nach dem Beratungsprozess Interviews mit Beteiligten des Beratungspro-zesses geführt und zusätzliche Dokumente des Beratungsprozesses analysiert.

Das analysierte Beratungsvorhaben wurde im Unternehmen Technical Facility Manage-ment (TFM) durchgeführt.7 Technical Facility Management war landesweit für das Gebäu-demanagement in Flughäfen zuständig. Die Gebäudemanagementtätigkeiten reichten voneinfachen Aufgaben wie dem Auswechseln von Glühbirnen bis hin zu komplexen Operatio-nen wie der Reparatur von Rolltreppen und der Wartung von Parkticketautomaten und Com-puternetzen. Die Tätigkeiten waren lange Zeit in Meistereien abgewickelt worden, die denjeweiligen Regionalbereichen des Mutterkonzerns zugeordnet waren. Durch einen Beschlussdes Konzernvorstandes wurde das technische Gebäudemanagement in eine eigene landes-weit organisierte Gesellschaft ausgegliedert. Diese eigenständige Gesellschaft mit knapp 10000 Mitarbeitern sollte sich unter der Maßgabe der Wirtschaftlichkeit um den Instandhal-tungsbedarf in den Flughäfen mit einem jährlichen Volumen von über einer Milliarde Eurokümmern.

5) Zur Tradition dieser Forschungen und den Problemen der Methodik siehe die Vorreiterstudien vonWhyte 1943; Warner/Low1947; Dalton 1948; Roy 1952.

6) Der Autor war in mehreren Workshop-Phasen als Berater in untergeordneter Funktion beteiligt (Vi-sualisierer, Co-Moderator). Dies ermöglichte Beobachtungen der Interaktionsprozesse. Aufgrund derSensibilität der beobachteten Beratungsprozesse waren die sonst üblichen Standards der Datensiche-rung (Tonbandmitschnitte oder Videoaufzeichnungen) nicht einzuhalten. Bei der Protokollierung derBeobachtungen im Feldtagebuch wurden Zitate, die mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad denursprünglichen Wortlaut wiedergaben, anders gekennzeichnet als später rekonstruierte Beobachtun-gen und Gesprächssequenzen (vgl. zu dieser Methode Bachmann 2002: 340). Die im Beratungspro-zess durch die Teilnehmer produzierten Materialien (Skizzen, Poster, Flipcharts etc.) wurden soweitmöglich für die spätere Dateninterpretation gesichert.

7) Die Angaben zum Unternehmen, zur Beratungsfirma und zu Projektdetails wurden aus Gründen derAnonymisierung geändert.

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Das Ziel dieser Ausgliederung war, dass das technische Gebäudemanagement in wenigenJahren kostendeckend arbeiten sollte. Vorbild für diese Ausgliederung in eine eigene GmbHwar die als erfolgreich betrachtete Ausgliederung von Bank- und Versicherungsaktivitätendes Konzerns. TFM sollte seinen Kunden, die fast ausschließlich andere Töchter des Kon-zerns waren, nach einer Übergangsphase Leistungen zu Marktpreisen anbieten. Der Plan sahvor, dass die verschiedenen Bereiche des Konzerns zukünftig wählen können sollten, ob sieihre Hausmeisterleistungen von der konzerneigenen TFM, von Gebäudemanagementfirmenanderer Konzerne oder von kleinen, örtlich ansässigen Handwerksbetrieben erbringen las-sen. Parallel wurde TFM zugestanden, auch Kunden am externen Markt zu gewinnen (vgl.Dokument TFM Handbuch: 2).

Nach der Ausgliederung von TFM als eigenständige Gesellschaft, die im hundertprozenti-gen Besitz des Konzerns blieb, wurden die vorher existierenden vierzig Meistereien in einer»Bombenwurfstrategie« (Interviewpartner Personalentwickler) aufgelöst und durch zwei-hundert Handwerksteams ersetzt. Diese Handwerksteams, die auf die verschiedenen Flughä-fen verteilt waren, sollten die wichtigste »organisatorische Einheit« von TFM darstellen. Dieeinzelnen Teams hatten »Ergebnisverantwortung« und sollten durch den Teamleiter nachdem Vorbild des »selbständigen Handwerksmeisters« geführt werden (vgl. Dokument TFMHandbuch: 2). Die Teamleiter sollten, so der Geschäftsführer von TFM, davon ausgehen,dass der »Betrieb ihnen gehört« (vgl. Dokument TFM Aktuell Mitarbeiterzeitschrift 3).

Parallel zu dieser Dezentralisierung wurde von einer Stabsstelle der Zentrale versucht, dieArbeitsabläufe firmenweit zu standardisieren. Dadurch sollten die Prozesse für die Auf-tragsannahme, für die Einsatzplanung, die Arbeitsvorbereitung, die Materialwirtschaft, dieNachkalkulation und die Abrechnung standardisiert und für die hundert Handwerksteamsvereinheitlicht werden. In einer ersten Kundenbefragung nach der Ausgliederung wurden er-hebliche Defizite in allen Phasen des Gebäudemanagements verzeichnet. Bei der Phase derAuftragseinleitung (bei der Bearbeitung der Kundenanfrage, der Kalkulation, der Angebots-erstellung und der Auftragsannahme) beklagten die Kunden besonders die fehlende Service-orientierung. Bei der Phase der Arbeitsplanung (bei der Materialbeschaffung, der Einsatzpla-nung, der Beauftragung des Handwerkers und der Terminvereinbarung mit dem Kunden)wurde die Zuverlässigkeit negativ eingeschätzt. Für die Phase der Durchführung, die Kern-aktivität des Gebäudemanagementunternehmens, wurde die Qualität zwar als zufriedenstel-lend eingeschätzt, aber die Kontaktaufnahme mit dem Kunden, die Vorbereitung der Bau-stelle, die Nachbereitung der Baustelle, die Abmeldung beim Kunden und die Abnahme derLeistungen stießen teilweise nicht auf Zufriedenheit beim Kunden. Auch bei der Phase derArbeitsnachbereitung, also der Nachkalkulation und der Rechnungsstellung, herrschte häufigUnzufriedenheit (vgl. Dokument dezentrale Kundenbefragung).

Die Ergebnisse der Kundenbefragung waren Anlass für die Geschäftsführung von Techni-cal Facility Management, unter dem Begriff Kaizen ein Qualitätsverbesserungsprogrammaufzulegen. Bei Kaizen handelt es sich um einen japanischen Begriff, der grob übersetzt»Veränderung zum Besseren« bedeutet. Unter diesem auf den japanischen Managementbera-ter Masaaki Imai (1991) zurückgehenden Begriff wurden seit den achtziger Jahren großekontinuierliche Verbesserungsprogramme besonders in der Investitions- und Konsumgüter-industrie durchgeführt. Bei Kaizen wird nicht nur eine Produktverbesserung (Ergebnisquali-tät) angestrebt, sondern der ganze Wertschöpfungsprozess soll auf den Kunden ausgerichtetund permanent verbessert werden (Prozessqualität). Dabei sollen die Produkte, Prozesse undArbeitshandgriffe in kleinsten Schritten durch die Mitarbeiter selbst verbessert werden (vgl.Zollondz 2001: 402).

Ausgangspunkt des Kaizen-Programms bei TFM war, dass die »Experten für die Reorga-nisation« die »Handwerker aus den Teams« sind und diese lediglich durch Berater in der Re-

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organisation geschult und unterstützt werden. Die in Workshops entwickelten Maßnahmensollten noch im Rahmen dieses Zusammenkommens umgesetzt werden (vgl. Dokument Vor-gehensweise im Überblick).

Im folgenden zweiten Abschnitt wird aufgezeigt, weswegen durch Berater gestützte Ratio-nalisierungsvorhaben an Grenzen stoßen. Diese Grenzen lassen sich auf eine widersprüchli-che Zwecksetzung des Unternehmens zurückführen. Die widersprüchliche Zwecksetzungwird von dem beratenen Unternehmen nicht an der Spitze gelöst, sondern in dezentraleTeams an den einzelnen Standorten weitergereicht. Da die an den dezentralen Standortenentwickelten informellen »Lösungen« häufig nicht den durch die Zentrale vorgegebenenStandards entsprechen und Kunden sich über Qualitätsprobleme beschweren, soll eine breitangelegte Beratungskampagne Abhilfe schaffen.

Im dritten Abschnitt werden die Probleme bei der Überführung der informellen in formel-le Arbeitsprozesse beschrieben. Wenn die informellen Arbeitsprozesse als dezentrale Reakti-on auf die widersprüchlichen Anforderungen innerhalb der Organisation verstanden werden,dann werden die Formalisierungsversuche im Beratungsprozess fast unvermeidlich mit die-sen Widersprüchlichkeiten konfrontiert.

Besonders durch die Beratungs-Workshops können, so die Argumentation im vierten Ab-schnitt, die informellen Arbeitsprozesse in eine organisationsinterne Öffentlichkeit gezerrtwerden, weil Vorgesetzte, Stabsstellen und auch Top-Manager die regelwidrigen Vorgehens-weisen mitbekommen können. Effekt ist, dass die informellen Arbeitsprozesse nur sehr be-grenzt für den Beratungsprozess geöffnet werden, wenn Top-Manager zu den Präsentationendazukommen. Die Berater selbst werden jedoch schrittweise in die informellen Strukturenhineingezogen und tragen zum Schutz der Informalität gegenüber dem Top-Management bei.

Im abschließenden fünften Abschnitt wird dann diskutiert, inwiefern erst durch die Sys-temtheorie eine tiefer gehende empirische Analyse des Themas möglich ist. Man braucht, sodie These, einen systemtheoretisch präzise bestimmten Organisationsbegriff, um nicht ein-fach ein weiteres Beispiel zu Regel und Regelabweichung in sozialen Ordnungen beizutra-gen, sondern präzise Aussagen über die Anbindung des Beratungsprozesses an die Organisa-tion vornehmen zu können.

2. Rationalisierung in Organisationen mit widersprüchlichen Zwecksetzungen

Die Strategien, Herangehensweisen und Werkzeuge der auf Rationalisierung zielenden Or-ganisationsberatung sind größtenteils am Typus des profitorientierten Unternehmens entwi-ckelt worden. Der Taylorismus, eine der ersten von Beratern konzipierten und weiterentwi-ckelten Managementstrategien, wurde von Frederick Taylor für die Industrieproduktionersonnen und diffundierte als Leitbild dann in andere Organisationstypen wie Kirchen undUniversitäten (siehe für historische Überblicke Haber 1964; Kakar 1970; Kieser 1995). LeanManagement setzte als Leitbild auf vermeintliche Erfolgsfaktoren der japanischen Automo-bilindustrie und wurde mit einer Verzögerung von drei, vier Jahren dann unter Begriffen wieLean Public Administration (Metzen 1995) beispielsweise in öffentlichen Verwaltungenübernommen (siehe für Überblicke Ortmann 1994; Benders/Bijsterveld 2000). Auch dieKaizen-Idee wurde von dem japanischen Berater Masaaki Imai für Unternehmen – und nochgenauer für den Produktionsbereich von Unternehmen – entwickelt. Schon im Untertitel desBuches »Kaizen – der Schlüssel zum Erfolg der Japaner im Wettbewerb« wird deutlich, dasses ihm vorrangig um Organisationen ging, die in einem internationalen Wettbewerb zu ande-ren stehen – also besonders Automobil-, Elektronik-, Schiffbau- und Maschinenbauunter-nehmen (vgl. Imai 1991). Aber ähnlich wie beim Taylorismus und beim Lean Managementwurde die Kaizen-Idee von Unternehmen auf andere Organisationen wie Krankenhäuser,Verwaltungen, Kirchen oder Universitäten übertragen.

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Managementkonzepte wie Taylorismus, Lean Management oder Kaizen ließen sich fürUnternehmen gut entwickeln, weil diese – jedenfalls in ihrer Selbstbeschreibung – mit dereinfachen Zweckorientierung der Gewinnmaximierung auskommen. Ihre simple Zweck-struktur ermöglicht es Unternehmen, ihre Wertschöpfungsprozesse auf diesen Zweck hin zurationalisieren. So wurden bei TFM die Kaizen-Maßnahmen aus der Notwendigkeit einerbesseren »Performance« am Markt abgeleitet. Ein Mitglied der Geschäftsleitung erklärte bei-spielsweise, dass man nicht zuletzt aus der Kundenbefragung wisse, dass man sich »in vielenBereichen erheblich steigern« müsse, »um langfristig am Markt bestehen zu können«. Dafürsei es notwendig, durch standardisierte Arbeitsabläufe die »langen Durchlaufzeiten und ho-hen Fehlerquoten« zu beseitigen (vgl. Dokument TFM Handbuch: 0).

Die Strategie der Geschäftsleitung von TFM sah vor, dass die Logik der Gewinnorientierungauf die Ebene der einzelnen Teams heruntergebrochen werden sollte. Die Teamleiter erhieltenneben ihrem Grundgehalt entsprechend ihrer »Performance« eine Leistungsprämie, und dieverschiedenen Teams wurden entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit in einem Ranking abge-bildet. Aus dieser Logik heraus hätten, so die Auffassung der Geschäftsführung, die Hand-werksteams die Kaizen-Maßnahmen begrüßen müssen, weil darüber die Leistungsfähigkeit ih-rer Teams hätte gesteigert werden können. In der Realität war jedoch das Gegenteil der Fall.

Fast ausnahmslos versuchten die Handwerksteams, sich den Kaizen-Maßnahmen zu entzie-hen. In einem Fall beklagte sich der Leiter eines Handwerksteams, dass sich schon wieder sei-nes als eines der ersten Teams an einer von der Zentrale gewünschten Maßnahme beteiligenmüsse (vgl. Beobachtung Nizza). In einem anderen Fall beschwerte sich der Teamleiter darü-ber, dass »Kaizen von oben kommt«, was von dem Leiter des Prozessteams mit den Wortenzurückgewiesen wurde, dass »die Handwerker Kaizen selbst wollen müssen« (vgl. Beobach-tung Lyon). In einem anderen Fall verwies der Leiter des Teams darauf, dass man gerade ineiner wichtigen Restrukturierung stecke und es deswegen keinen Sinn mache, dass sich dasTeam schon so früh an der Qualitätskampagne beteilige (vgl. Beobachtung Straßburg). In ei-nem weiteren Fall wurde darauf verwiesen, dass über die Workshops die Handwerker für eineWoche gebunden werden und dadurch Ausfallzeiten entstehen. Auch wenn die Kosten für dieBerater von der Zentrale übernommen werden würden, würden sich durch die Ausfallzeitendie Kaizen-Maßnahmen negativ auf das Ergebnis des Teams auswirken. Dies sei mit der stär-keren Ausrichtung auf Wirtschaftlichkeit nicht vereinbar (vgl. Beobachtung Paris).

Wie lässt sich diese Resistenz erklären?

2.1. Dezentralisierung als Reaktion auf widersprüchliche Anforderungen

Auch wenn sich die Firma Technical Facility Management in ihrer Selbstbeschreibung alsUnternehmen präsentierte, das sich am Markt zu bewähren hat, sah die Realität aufgrund derEinbindung in einen staatlichen Konzern anders aus. Die Gebäudemanagementfirma befandsich in einem Spannungsfeld zwischen zwei widersprüchlichen Zwecken. Einerseits war dieFirma in einen Konzern eingebunden, der einen öffentlichen Versorgungsauftrag hatte. Weilsich der Konzern im alleinigen Besitz des Staates befand, war das Gebäudemanagementun-ternehmen in restriktive staatliche Regelungen eingebunden. Andererseits wurde das Unter-nehmen als Spieler in einem marktwirtschaftlichen Wettbewerb verstanden. Die Idee desKonzerns war, dass TFM mit anderen Anbietern von hausmeisterlichen Tätigkeiten unterPreis- und Qualitätsgesichtspunkten konkurrieren muss.

Solche widersprüchlichen Zwecksetzungen sind für Unternehmen vielleicht nicht typisch,finden sich jedoch in einer Vielzahl von anderen Organisationstypen. Universitäten habenbeispielsweise das Ziel, sowohl wissenschaftliche Forschung zu betreiben als auch durchLehrtätigkeiten Studierende zu bilden – zwei Zwecksetzungen, die nicht so einfach zu har-monisieren sind, wie es das Humboldtsche Ideal der Verbindung von Forschung und Lehre

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vorsieht. Stadtwerke, die Besitz von Gemeinden sind, haben sowohl einen öffentlichen Ver-sorgungsauftrag wahrzunehmen als auch die Vorgabe, über Gewinne Gemeindefinanzen auf-zubessern. Aber schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass eine kostengünstige und flä-chendeckende Versorgung mit öffentlichem Nahverkehr, Strom oder Wasser und das Zielder Steigerung der Betriebsgewinne nicht ohne weiteres vereinbar sind (vgl. Mayntz 1993:39ff). Staatliche und halbstaatliche Entwicklungshilfeorganisation sind auf der einen Seitegenötigt, einen den Haushaltsrichtlinien ihres Landes entsprechenden Mittelabfluss zu ge-währleisten. Auf der anderen Seite treten sie mit dem Anspruch an, ihre Interventionen flexi-bel den soziokulturellen Bedingungen in den Entwicklungsländern anzupassen. Da diese Be-dingungen jedoch häufig nicht mit den Haushaltsrichtlinien in Industriestaaten vereinbarsind, entstehen widersprüchliche Zweckprogrammierungen, mit denen die Entwicklungshil-feorganisationen umgehen müssen (vgl. auch Rottenburg 2002: 94ff).

Im Fall von TFM konnte der Zielkonflikt zwischen Wirtschaftlichkeit auf der einen undErfüllung eines öffentlichen Auftrages auf der anderen Seite nicht an der Spitze entschiedenwerden. Die Unternehmensleitung hatte kein Interesse, das Unternehmen aus dem Konzernherauszulösen. Wegen der Abhängigkeit vom Konzern als dem einzigen Großkunden, derschwerfälligen und kostenintensiven Zentrale und den relativ hohen Gehältern der teilweiseverbeamteten Mitarbeiter hätte TFM nach Einschätzung aller Beteiligten als selbständigesUnternehmen keine Überlebenschance gehabt. Gleichzeitig konnte sich das Unternehmenaber auch nicht in den Schutz eines Status als öffentliche Anstalt zurückziehen, weil die Vor-gaben des Konzerns eindeutig in Richtung Marktausrichtung und Profitorientierung gingenund zunehmend Aufträge an günstigere lokale Handwerksunternehmen vergeben wurden.

Weil die widersprüchliche Zweckprogrammierung von TFM nicht an der Spitze grund-sätzlich gelöst werden konnte, setzte eine zunehmende Verlagerung der Verantwortung inTeams ein. Dies hatte den Effekt, dass der Widerspruch zwischen der Erfüllung des öffentli-chen Auftrages und der marktwirtschaftlichen Orientierung nicht mehr primär in der Unter-nehmensspitze anfiel, sondern vor Ort in den Handwerksteams bearbeitet werden musste.Die Handwerksteams mussten Aufträge an Subunternehmer mit ähnlich aufwendigen Ver-fahren vergeben wie Gemeinden oder Städte, sahen sich aber gleichzeitig dem Druck ausge-setzt, Kundenanforderungen ähnlich schnell zu bearbeiten wie selbständige Handwerksmeis-ter, die nicht an diese Vergabeverfahren gebunden sind (Beobachtung Montpellier). Von denHandwerksteams wurde erwartet, dass sie Lager mit Ersatzteilen für die Rolltreppen, Klima-anlagen oder Ticketautomaten auflösten. Nach der Ausgliederung von TFM gehörten dieseMaschinen einem anderen Konzernbereich, und die kostspielige Pflege von Lagern hätte Ka-pital von TFM gebunden. Gleichzeitig wurde aber von den Teams erwartet, dass sie in derLage waren, innerhalb kürzester Zeit die Maschinen wieder in Gang zu setzen, da ansonstendie im öffentlichen Interesse liegende Aufrechterhaltung der Verkehrswege nicht hätte ge-währleistet werden können (Beobachtung Straßburg).

Die Teams befanden sich in einer Doppelbindungsfalle (double bind). Sie mussten gleich-zeitig zwei über die Zentrale an sie herangetragenen Anforderungen erfüllen, die sich jedochwidersprachen. Dabei war das zweite Gebot, das mit dem ersten im Konflikt stand, häufig soausgedrückt, dass die Widersprüchlichkeit nicht sofort offensichtlich war. Dieses Latenthal-ten war wichtig, weil es eine Offenlegung des Widerspruchs durch die Teams erschwerteund die Zentrale vor Desavouierung schützte (vgl. Bateson et al. 1963; siehe auch Siporin/Gummer 1988: 210).

Diesen Prozess einer faktischen Dezentralisierung kann man auch bei anderen Organisati-onen mit widersprüchlichen Zwecksetzungen beobachten. In Universitäten könnte die Span-nung zwischen Lehre und Forschung nur dann aufgehoben werden, wenn diese durch zweiunterschiedliche Organisationen bearbeitet würden. Man hätte dann Fachhochschulen, die

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lediglich für die Ausbildung von Studierenden zuständig wären, und Forschungsinstitute, diesich auf die Produktion von wissenschaftlichen Erkenntnissen konzentrieren können und kei-ne Verantwortung für die Ausbildung von Studierenden haben. Da diese Modelle zumindestin der deutschsprachigen Universitätslandschaft wenig Unterstützung finden, kommt es zueiner Verlagerung der Verantwortung auf die Ebene der einzelnen Lehrenden. Das hohe Maßan Autonomie der Professorenschaft in Universitäten basiert weitgehend darauf, dass sichUniversitäten aufgrund ihrer widersprüchlichen Zwecksetzung – allen Phantasien der ThinkTanks großer Medienkonzerne zum Trotz – nicht durchrationalisieren lassen und die Wider-sprüche zwischen Lehre und Forschung auf der Ebene des einzelnen Lehrenden bearbeitetwerden. In Universitäten bietet das Austarieren zwischen den Lehr- und Forschungsanforde-rungen fast unbegrenzte Beschäftigungs- und Konfliktmöglichkeiten auf der Ebene der Insti-tute oder Lehrstühle (vgl. Kieserling 2004b: 250ff). In Entwicklungshilfeorganisationenkann der Widerspruch zwischen dem ordnungsgemäßen Mittelabfluss einerseits und der An-passung an die Erfordernisse in den Entwicklungsländern andererseits nicht auf der Ebeneder Zentrale gelöst werden. Effekt ist, dass die Verantwortung für das Lavieren zwischenden beiden widersprüchlichen Anforderungen auf die Ebene der einzelnen Projekte und be-sonders auf die für die Vorhaben zuständigen Berater verlagert wird. Entwicklungshilfepro-jekte werden für die Verwaltungen der Weltbank oder anderer Entwicklungshilfeinstitutio-nen zu einer Black Box, die gegenüber der Zentrale eine ordnungsgemäße Verwendung derMittel vermeldet und gleichzeitig die Mittel in den Entwicklungsländern so »flexibel« ein-setzt, dass eine nachweisbare Wirkung erzielt wird (vgl. Rottenburg 2002: 101ff).

2.2. Das Unterleben der Organisation

Weswegen konnten die selbstgestrickten Verfahren nicht einfach in offizielle Regeln über-führt werden? Der Grund lag darin, dass es bei der Dezentralisierung von TFM zu einer neu-en Mischform von Programmen gekommen war. Bei der übergreifenden Steuerung derHandwerksteams stellte die Zentrale immer mehr auf Zweckprogramme um (siehe Luhmann2000: 265ff zu Zweckprogrammen). Die Anweisungen hießen »Erreiche den Umsatz X«,»Gewinne möglichst viele Aufträge von Kunden außerhalb des Konzerns« oder »Erreichebeim Ranking der Teams einen möglichst guten Platz«. Diese Zielvorgaben wurden vonWenn-dann-Regeln begleitet, die besonders durch das Prozesshandbuch »Neue Arbeitsab-läufe« vorgegeben wurden (siehe Luhmann 2000: 263ff zu Konditionalprogrammen). Re-geln wie »Wenn eine Anfrage für Instandsetzung kommt, prüfe, ob die Kundendaten gespei-chert sind« oder »Wenn eine Wertgrenze von 2500,- Euro überschritten ist, reiche dieAnfrage zur Klärung technischer Details an den Teamleiter weiter« waren für Teams ver-bindlich (vgl. Handbuch Neue Arbeitsabläufe: 6). Wegen der räumlichen Distanz zwischender Zentrale bzw. den Niederlassungen und den Handwerksteams war es jedoch für die über-geordneten Instanzen kaum möglich, die Einhaltung der Konditionalprogramme, aber auchvieler detaillierter Zielvorgaben zu überprüfen. Erfasst wurde von der Zentrale nur noch, in-wiefern einige wenige übergreifende Zielvorgaben erfüllt wurden oder nicht.

Das sich in den Handwerksteams ausbildende Unterleben wurde für die Zentrale von TFMimmer mehr zum Problem.8 Die in den Handwerksteams entwickelten dezentralen Prozessekonnten die Kundenanforderungen in Bezug auf Preis, Schnelligkeit und Abrechnungs-

8) Auch dieser Prozess ist aus Organisationen mit widersprüchlichen Zwecksetzungen bekannt. Wenndas universitäre Personal die sich aus der widersprüchlichen Zweckprogrammierung ergebenden Frei-räume dafür nutzt, allzu esoterische Forschungsinteressen zu pflegen, können sich die Effekte für dieUniversitätsspitze als ein Qualitätsproblem der Lehre präsentieren. Wenn die Entwicklungshilfepro-jekte ihre Lösungen zu »flexibel« wählen und die dezentral entwickelten Lösungen eine zu hohe Auf-merksamkeit erreichen, dann muss sich die Zentrale mit Problemen der Korruption auseinandersetzen.

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genauigkeit häufig nicht erfüllen, was dann als übergreifendes Qualitätsproblem an die Füh-rungsspitze von TFM herangetragen wurde, oder die Handlungen der Handwerker entspra-chen nicht den Formalvorgaben, denen TFM zu folgen hatte. Das unter dem Begriff Kaizenlaufende Beratungsvorhaben war der Versuch, dieses Unterleben in den Griff zu bekommen.Bei TFM bildete sich im Schatten der Formalstruktur von TFM eine Vielzahl von selbst ge-strickten Prozessen aus. Diese selbst gestrickten Prozesse hatten dabei nicht – wie es die Or-ganisationsliteratur über Informalität der fünfziger Jahre suggeriert hatte – vorrangig einepositive Funktion für die einzelnen Mitglieder. Es ging bei den sich ausgebildeten Devianzennicht darum, den Mitgliedern ein Drücken vor der Arbeit, ein Ausüben spaßvoller Freizeit-aktivitäten in der Arbeitszeit oder ein Erschließen attraktiver Nebenverdienste zu ermögli-chen. Vielmehr hatten die vom Regelwerk abweichenden selbst gestrickten Prozesse dieFunktion, die Leistungsfähigkeit der Handwerksteams aufrechtzuerhalten.

Beispielsweise verfügten einige Handwerksteams über eine Vielzahl von Räumen – undzwar trotz der Vorgabe des Managements, dass die von den Flughäfen zur Verfügung ge-stellten Werkstatt- und Lagerräume reduziert werden sollten. Ein Großteil der verwaltetenRäume war jedoch »illegal« und tauchte in keiner Aufstellung des vermietenden Konzernsoder der mietenden Gebäudemanagementfirma auf. Über die Jahrzehnte hatten sich War-tungsteams immer wieder Lüftungsräume, Stauräume unter Rolltreppen, ehemalige Fahr-zeugwärterräume und vergessene Abstellräume »angeeignet«. Diese Räume hatten sich überdie Jahre zu bequemen Einzelarbeitsplätzen für Mitarbeiter entwickelt, die teilweise mit Ta-peten, Teppichen, Mikrowellenherden und in einem Fall mit einem Le Pen-Bildchen ausge-stattet waren. Weder die Teamleiter noch die Mitarbeiter hatten ein Interesse daran, diese»illegalen Räume« aufzulösen, weil sie bei der Mietberechnung nicht anfielen, gleichzeitigso aber über den ganzen Komplex dezentrale Lager- und Arbeitsräume zur Verfügung stan-den.

Ein weiteres Beispiel betraf die Bildung von Ersatzteillagern. Die offizielle Geschäftspoli-tik sah vor, die Materiallager der Teams auf ein Minimum zu reduzieren. Die Logik dahinterwar, dass möglichst wenig Kapital durch die Vorratshaltung von Ersatzteilen gebunden wer-den sollte. Stattdessen sollten Ersatzteile bei Bedarf von zentralen Beschaffungsstellen odervon externen Zulieferern zugeschickt werden. Da diese Form der Beschaffung jedoch häufigsehr lange dauerte, vertrauten die Team-Mitglieder eher auf ein selbstorganisiertes Ersatz-teilmanagement. So bildete sich neben den offiziellen »weißen Lagern« eine Vielzahl von»schwarzen Lagern« aus. Diese schwarzen Lager wurden dann regelmäßig dadurch bestückt,dass beispielsweise bei Reparaturaufträgen häufig mehr Material als nötig bestellt wurde undso Reparaturaufträge kurzfristig erfüllt werden konnten.

3. Die Funktion von Informalität und Illegalität und die Schwierigkeit ihrer The-matisierung im Beratungsprozess

In den betriebs-, ingenieur- und arbeitswissenschaftlichen Organisationsansätzen, die diePraxis der Organisationsberatung am stärksten geprägt haben, gibt es zwei auf den erstenBlick entgegengesetzte Formen des Umgangs mit Informalität – oder weitergehend mit Ille-galität (vgl. Drepper 2001: 33f). In dem von Frederick Taylor entwickelten Konzept der wis-senschaftlichen Betriebsführung dominierte die Vorstellung, dass alle in einer Organisationablaufenden Prozesse formalisiert werden müssen. In dieser Zelebrierung des Formellen wa-ren Informalität oder gar Illegalität Pathologien, die auf ein Versagen des Managements hin-deuteten (vgl. Taylor 1967; siehe auch Fayol 1916; zur Kritik siehe Weltz 1988: 102; Kieser1995: 82ff).

In dem in Abgrenzung von Taylor entstandenen Human Relation-Ansatz lässt sich eineZelebrierung des Informellen beobachten. Die informellen Gruppenprozesse, die sich jen-

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seits der offiziellen Arbeitsstruktur ausbilden, seien nicht nur der Hort der Menschlichkeit ineiner entfremdeten Arbeitswelt, sondern auch der Schlüssel zu einer gesteigerten Wirtschaft-lichkeit. Es käme, so die Konzeption der Human Relation-Bewegung, darauf an, diese infor-mellen Prozesse in formal akzeptierte Arbeitsverfahren zu überführen (vgl. Roethlisberger/Dickson 1939; Mayo 1948; zur Kritik siehe Luhmann 1964: 376; Jackall 1988: 138).

Der dominierende Strang des Qualitätsmanagements hat den Anspruch, die auf die wis-senschaftliche Betriebsführung zurückgehende Rationalisierungslogik mit dem aus dem Hu-man Relation-Ansatz stammenden Humanisierungsgedanken zu verknüpfen. Die Existenzinformellen Arbeitsverhaltens, verdeckter Spielräume und leistungsrelevanter Reserven wirdinsofern als Ansatzpunkt für die Qualitätsmaßnahmen gesehen, als sie in optimierte und all-gemein akzeptierte Verfahrensweisen überführt werden sollen (vgl. auch Schumann et al.1994: 37). Man setzt an den informellen Aspekten der Organisation an, um sie in formali-sierte Arbeitsbedingungen zu überführen.

In der Systemtheorie bezeichnet man diese Überführung in Formalstruktur als Entschei-dungen über Entscheidungen (Entscheidungsprämissen), die an die Stelle von unentschiede-nen Entscheidungsprämissen treten. Entscheidungsprämissen sind in dem Verständnis Luh-manns Vorgaben, die für eine Vielzahl von anderen Entscheidungen gelten. Es werden überProgramme Kriterien festgelegt, wann Mitarbeiter regelgerecht oder regelwidrig handeln,oder über Kommunikationswege, wer mit wem wie zu kommunizieren hat (vgl. Luhmann2000: 222ff). Die Mitarbeiter werden über die Mitgliedschaftsregel angehalten, sich an dieseProgramme und Kommunikationswege zu halten. Sie sind sich bewusst, dass sie ihre Mit-gliedschaft riskieren, wenn sie sich nicht an die Programmstruktur der Organisation haltenoder die hierarchischen bzw. lateralen Kommunikationswege ignorieren (vgl. Luhmann2000: 80ff).

3.1. Formalisierung als Entscheidung von Team und Zentrale

Ein Teil der Entscheidungsprämissen kann vom Team oder vom Teamleiter festgelegt wer-den. Es kann dezentral darüber entschieden werden, wie die Bereitschaft organisiert ist, werder Ansprechpartner für den Kunden ist oder wer den Teamleiter in Abwesenheit vertritt.Viele Entscheidungsprämissen können jedoch nicht vom einzelnen Team geändert werden.Wenn der Arbeitsprozess durch die Neuanschaffung einer Maschine optimiert werden soll,muss sich das Handwerksteam diese Investition genehmigen lassen. Wenn bei einem Work-shop herauskommt, dass das von der Zentrale vorgesehene Standardverfahren für die Stel-lung einer Rechnung über 1000 Euro sechs Wochen dauert, durch sieben Hände geht und amEnde drei Stunden Arbeitszeit in Anspruch nimmt, dann muss, so die Vorstellung, diese Pro-zedur auf der Ebene des zuständigen Vorstandes geändert werden. Wenn festgestellt wird,dass es in den Handwerksteams notwendig ist, Lager für Ersatzteile anzulegen, auch wenndie offizielle Politik des Unternehmens vorsieht, dass in den Wartungsteams die Lagerhal-tung gegen Null gedrückt werden soll, dann müsse, so die Logik des Beratungsansatzes, eineSondergenehmigung durch die vorgesetzte Stelle eingeholt werden.

Das Prinzip der Kaizen-Beratung sieht vor, dass Probleme, die von den Workshop-Betei-ligten nicht bearbeitet werden können, in der Hierarchiekette nach oben weitergereicht wer-den. Bei TFM wurde von den Organisationsberatern in diesem Sinne vorgeschlagen, einesolche Programmkritik zu institutionalisieren. In jedem Workshop sollten »systematisch An-regungen zur Optimierung der Geschäftsprozesse gesammelt werden«. Während der Work-shops sollten Mitglieder der Geschäftsleitung telefonisch zur Verfügung stehen, um kurzfris-tig eine illegale Routine zu einem offiziellen Programm zu erklären. RegelmäßigeAbweichungen in den Handwerksteams sollten anonymisiert auf einem Workshop der Ge-schäftsführung diskutiert werden. Im Mittelpunkt dieser Workshops sollte die Frage stehen,

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was die Leitung aus den Team-Workshops lernen kann und wie die Geschäftsprozesse geän-dert werden können (Dokument Anregungen und Potentiale für die Flächenphase).

Hinter dieser Beratungsideologie steckt die Auffassung, dass die während der Beratungs-projekte durchgeführten Kontrollen zwei Funktionen haben können: Einerseits können dieKontrollen die Funktion haben, das Verhalten in den Teams den Geschäftsprozessen des Un-ternehmens anzugleichen. Wenn das Handeln der Teammitglieder von den vorgeschriebenenProgrammen abweiche, sei dies ein Problem der Teammitglieder, die auf Vordermann ge-bracht werden müssten. Andererseits haben die im Rahmen der Workshops durchgeführtenKontrollen auch die Funktion, die Nützlichkeit der Programme zu überprüfen. Wenn Team-mitglieder permanent von einem Programm abweichen, dann sei das nicht primär ein Pro-blem der Teammitglieder, sondern eines der Programme. Konsequenz müsse dann nicht eineAnpassung der Handlungen an die Programme, sondern eine Anpassung der Programme andie Handlungen sein.

In der systemtheoretischen Organisationsforschung werden die beiden Funktionen mit derGegenüberstellung eines »strukturkonservativen« und eines »strukturkritischen« Kontrollbe-griffs bezeichnet. Die Idee Niklas Luhmanns (1973: 324ff) ist, dass beim Abweichen vomvorgeschriebenen Programm nicht automatisch der Abweichende bestraft wird, sondern dasslediglich die Rechtfertigungslast neu verteilt wird. Bei einem regelkonformen Verhalten istder Handelnde auf der sicheren Seite. Die Regelung kann im Einzelfall noch so schwachsin-nig sein. Der Verweis auf die in den Geschäftsprozessen festgelegte Prozedur reicht aus, umdie Handlung des Mitarbeiters zu rechtfertigen. Bei der Abweichung vom vorgeschriebenenProgramm verlagert sich nun, so Luhmann, die Beweislast. Der Abweichende muss mit demHinweis auf Systemanforderungen rechtfertigen, weswegen er so (regelabweichend) undnicht anders (regelkonform) gehandelt hat.

Es fiel jedoch auf, dass die dezentral aufgeworfenen Probleme von den zuständigen Mitar-beitern in den Spitzenpositionen kaum aufgegriffen wurden. Die Spitze der Organisationschien kapazitätsmäßig überfordert zu sein, wenn sie sich mit den Detailproblemen derHandwerksteams intensiver auseinander setzte. Dies wurde noch dadurch verschärft, dassdie Probleme nicht von einem Vorstandsbereich allein gelöst werden konnten, sondern zwi-schen verschiedenen Bereichen abgestimmt werden mussten. Solche Abstimmungen zwi-schen Vorstandsbereichen unterliegen einem hohen Maß an Willkür und Beliebigkeit. Auchsinnvoll durchgeplante Vorschläge für Regelsetzungen scheitern, so eine Einsicht NiklasLuhmanns, an dem »einfachen System unmittelbarer Interaktion«. Sie fallen oft den »Zufäl-ligkeiten« des »relativ unstrukturierten Prozessverlaufs« von Interaktionen in Spitzengremi-en zum Opfer (vgl. Luhmann 1972a: 276).

3.2. Die Grenzen der Formalisierung

Die Formalisierung der Prozesse war deswegen schwierig, weil sich die in den Teams prakti-zierten informellen Prozesse nicht – wie es die Kaizen-Logik behauptet – vorrangig aus Ge-dankenlosigkeit, Schludrigkeit oder Unwissenheit ausbildeten, sondern Reaktionen auf wi-dersprüchliche Anforderungen an die Handwerksteams waren.

In einem Workshop gab es die Situation, dass sich ein Wartungsteam mit Händen und Fü-ßen dagegen wehrte, ein Kleinteillager aufzuräumen. Dies erschien den Kaizen-Beratern ir-rational, weil ein gut geordnetes Lager allen Mitarbeitern die Materialsuche erleichtert hätte.Erst in Randgesprächen wurde den Beratern dann mitgeteilt, dass auch Fremdfirmen Zugangzu diesem Lager hätten, wenn sie ihre Reparaturleistungen günstiger als das Handwerksteamanbieten. Da die Kleinteile offiziell im Besitz des Kunden waren, konnte man den Fremdfir-men den Zugang nicht verwehren. Die Strategie des Teams war es aber, ein solches Chaosim Lager zuzulassen, dass nur die »Lagerexperten« des eigenen Teams die notwendigen Tei-

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le finden konnten. So konnte eine Entnahme von Teilen durch die Fremdanbieter weitgehendausgeschlossen werden, weil diese sich nicht in dem Chaos zurechtfanden. Ein nach Kaizen-Maßstäben aufgeräumtes Lager hätte jedoch diesen Fremdfirmen den Zugang zu den Klein-teilen erleichtert und damit beim Kunden die Tendenz verstärkt, Aufträge auch an Fremdfir-men zu vergeben (vgl. Beobachtung Workshop Paris). Für die Organisation TFM war dieseorganisierte Unordnung funktional, weil sie – auf Kosten des Kunden – die eigene Monopol-stellung stärken konnte.

In einem Team fiel beispielsweise auf, dass das Abrechnungssystem eine überraschendeVerteilung der Aufträge in die Kategorien Instandsetzung, Wartung, Entstörung und Not-dienst zeigte. Vom Gesamtarbeitsaufkommen des Handwerksteams waren lediglich 12% ge-plante Instandsetzungen und 7% Wartungen, während 30% auf Montagen und sogar 51% aufEntstörungen und Notdienst entfielen. Wenn diese Zahlen die Arbeitsrealität des einzelnenHandwerkers widergespiegelt hätten, dann hätte dies bedeutet, dass dieser über die Hälfteder Arbeitszeit nur mit Notdiensten beschäftigt gewesen wäre – eine Zahl, die sich nicht mitder Selbstwahrnehmung der Handwerker decken ließ. Hintergrund dieses hohen Anteils anNotdiensten und Entstörungen war, dass für diese ein vereinfachtes Auftragseinleitungsver-fahren galt und deswegen eine Vielzahl von Instandsetzungs-, Inspektions- und Montageauf-trägen zu Notdiensten umdefiniert wurden. Bei Notfällen reichte ein Anruf auf das Handydes Handwerkers, damit mit der Arbeit begonnen werden konnte. Der Auftrag brauchte erstnachträglich vom Service-Team eröffnet zu werden. Dagegen waren die Verfahren der Auf-tragseinleitung bei Instandsetzung, Inspektion und Montage äußerst umständlich und ver-langten die Hinzuziehung der Teamleiter, der Ingenieursbüros und der Servicebüros, bevormit dem Auftrag begonnen werden durfte (vgl. Beobachtung Workshop Lyon).

In einem anderen Workshop fiel auf, dass in den Werkstätten des Wartungsteams völligunkoordiniert Schrott gesammelt wurde. Die Schrottcontainer des Werkes, von dem dasTeam seine Aufträge erhielt, waren in Reichweite. Die Berater entwickelten mit den Mitar-beitern einen Prozess, mit dem der Schrott sofort in die Container verbracht werden konnte.Es bildeten sich jedoch immer wieder neue Schrotthaufen in der Werkstatt. Teilweise wan-derte der Schrott aus den Schrottcontainern auch wieder zurück in die Werkstätten. Unter derHand wurde den Beratern vom Teamleiter zu verstehen gegeben, dass man doch den Schrottlieber nicht weiter thematisieren sollte, weil der Verkauf des Schrotts durch das War-tungsteam (und nicht über das Werk) zur Aufbesserung der Bilanz des Handwerkteams ge-nutzt wurde (vgl. Beobachtung Workshop Nizza).

Die Versuche der Berater, unter dem Label »Kaizen« die Einhaltung der formalisiertenRegeln durchzusetzen, wurden von den Teams unterlaufen, weil bei der Durchsetzung derRegeln schwere Folgeprobleme für die eigene Arbeitsweise erwartet wurden. Die verordneteAufhebung der »organisierten Unordnung« in den Lagern wurde als ökonomische Bedro-hung für TFM wahrgenommen. Die formal richtige Zuordnung von Aufträgen in die Katego-rien Instandsetzung, Wartung, Entstörung und Notdienst wurde als Verlust von Reaktions-schnelligkeit betrachtet. Inwiefern diese Annahmen der Teams stimmten, konnte letztlich indem Projekten nicht überprüft werden, weil die Sorge um Folgeschäden eines regelkonfor-men Verhaltens zu hoch war.

Was steckte aber jetzt hinter der starken Neigung zum regelabweichenden Verhalten indieser Organisation?

Organisationen mit widersprüchlichen Zwecksetzungen sind Musterbeispiele dafür, dassdie Erhaltung des Bestandes einer Organisation häufig Leistungen erfordert, die einander wi-dersprechen. Die Bestandsvoraussetzung einer Organisation kann häufig, so Niklas Luh-mann, nur durch Handlungen erfüllt werden, die »zugleich dysfunktionale Folgen für andereBestandsprobleme nach sich ziehen« (vgl. Luhmann 1964: 154). Wenn man beispielsweise

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im Falle von Universitäten versuchte, die Qualität der Lehre durch tägliche Anwesenheits-pflichten oder durch eine effektive Verhinderung der kleinen Tricks zur Lehrdeputatsreduk-tion zu steigern, dann ließen sich nur schwer gleichzeitig die Formalanforderungen an dieForschungsaktivitäten hochschrauben. Wenn im Falle von Entwicklungshilfeprojekten dieProgramme zur Mittelverwendung verschärft werden, dann hat dies Auswirkungen auf dieHandlungsspielräume der lokalen Verantwortlichen, die ihre Projekte immer wieder den sichwandelnden politischen, sozialen und ökonomischen Gegebenheiten anpassen müssen.Wenn man ein Industrieunternehmen allein nach den »technischen Anforderungen der Pro-duktionsaufgabe« gliedern könnte, dann würde dies jedoch auf Kosten anderer Anforderun-gen gehen, beispielsweise der Kapitalgeber, der arbeitenden Mitglieder oder der Vertreterder weiteren Öffentlichkeit (vgl. Luhmann 1964: 88).9

Diese widersprüchlichen Bestandsvoraussetzungen können nicht durch Entscheidungenauf der Formalebene gelöst werden. In Organisationen kann es immer nur eine »konsistentgeplante, legitime formale Erwartungsordnung« geben. Werden Mitglieder mit einer Über-zahl offensichtlich widersprüchlicher, formalisierter Erwartungen konfrontiert, kann dasHandeln der Organisationsmitglieder nicht mehr gebunden werden, weil sie sich jeweils aufdie für sie gerade besonders sinnvolle Regel berufen (vgl. Luhmann 1964: 155). Organisatio-nen reagieren deswegen auf widersprüchliche Bestandsvoraussetzungen mit einem hohenMaß an Illegalität (vgl. Luhmann 1964: 154).10 Da Organisationen zu ihrer Erhaltung »eineFülle von Leistungen brauchen, die nicht als formale Erwartungen formuliert« und »als ex-klusive Aufgabe zugeteilt werden können«, bleibt dem Management häufig nichts anderesübrig, als diese Illegalität zu akzeptieren oder sogar zu fördern (Luhmann 1964: 86).11

4. Die Bedrohung der Informalität und Illegalität: Zensurmechanismen oder Einbindung

Durch den Beratungsprozess bei TFM drohten die informellen Lösungen an die organisati-onsinterne Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Es hätte deutlich werden können, dass die imHandbuch »Neue Arbeitsabläufe« festgelegten Prozeduren in vielen Handwerksteams kaumbeachtet wurden und Auftragsannahmen und Abrechnungen nach selbst gestrickten Lösun-gen erfolgten. Die auch strafrechtlich problematischen »Tricksereien« bei der Vergabe vonUnteraufträgen hätten dem Niederlassungsleiter bekannt werden können. Die Unterneh-mensspitze hätte mitbekommen können, dass die teilweise chaotischen Lager die Funktionhatten, Fremdfirmen den Zugang zu Ersatzteilen zu verwehren.

9) Wenn deren Interessen innerhalb der Organisation abgebildet werden würden, dann wäre diese zwarim Verhältnis zu ihrer Umwelt »besser balanciert«, aber dafür mit »internen Widersprüchen belas-tet«. Die »Probleme der Umweltanpassung« würden »in interne Probleme verwandelt«. Durch Ver-wandlung in interne Probleme ergäben sich »andere Formen der Problemlösungen«. DieOrganisation schafft innere Problemverarbeitungsmechanismen. Es werden Vorgänge entwickelt,mit denen die widersprüchlichen Anforderungen intern koordiniert werden können. Es bilden sich so-wohl formale als auch informale Mechanismen der »Streitschlichtung« und »Machtentfaltung« aus(vgl. Luhmann 1964: 88).

10) Für Luhmann (1964: 154) ist dies ein wesentlicher Grund, weshalb das »Zweckmodell, d.h. die aus-schließliche Orientierung am Organisationszweck, als Theorie abgelehnt werden« musste.

11) Für eine eindrucksvolle Schilderung, wie weit eine solche Akzeptanz von Illegalität gehen kann, sie-he die Fallstudie von Joseph Bensman und Israel Gerver (1963) über Vergehen und Bestrafung in ei-ner Rüstungsfirma.

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4.1. Workshops: Öffentlichkeit als Zensurmechanismen?

Die unmittelbare Reaktion in den Workshops war, die informellen Lösungen zu schützen.Gerade die Anfangsphase eines Workshops war durch ein »Fremdeln« der Mitarbeiter ge-genüber den internen Organisationsentwicklern und Beratern gekennzeichnet (Interview Be-rater). In zwei Workshops wurde deutlich, dass der Teamleiter vorher den Mitarbeitern mit-geteilt hatte, dass man gegenüber den Externen vorsichtig zu agieren hätte (vgl.Beobachtung Workshop Nizza und Straßburg). In der Phase der Problembestimmung wur-den häufig Themen gewählt, die nicht in der Verantwortung des Teams lagen. Bei der Dis-kussion wurden mit »Impfung gegen Hepatitis«, »Desinfektionsanlagen in den Duschen«,»Reinigung der Sozialräume durch die Flughafenreinigungsgesellschaft« oder »Informatio-nen zur Jahresarbeitszeit« Themen bestimmt, für die die Niederlassungsleiter, die Stabsstel-len der Zentrale oder andere Dienstleister des Konzerns verantwortlich waren (vgl. Beobach-tung Workshop Paris).

Auf dieses Problem zielt André Kieserlings (2002: 1) Beobachtung von organisationsin-terner »Öffentlichkeit als Zensurmechanismus«. Wenn bei Workshops alle Gruppen einerUnternehmenseinheit vertreten seien, dann bedeute dies vor allem, so Kieserling, dass »manauf Vertrauen und Diskretion nicht zählen« könne. Bei informellen Treffen mit Kollegenund manchmal auch mit Vorgesetzten könne man sich auf diese »wertvollen Ressourcen«verlassen, in einem Workshop würden diese Ressourcen aber allen zugänglich gemacht wer-den. Es hieße, die Intelligenz der Mitglieder gering zu schätzen, wollte man annehmen, dasssie unter den Bedingungen einer organisationsinternen Öffentlichkeit bereit wären, zu sagen,wo sie das Problem sehen.

Effekt sei, dass die Mitglieder in den Workshops in allgemeine Wertformulierungen flie-hen würden. Es gibt, so Kieserling (2002: 2), in jeder Organisation eine Menge von Wertenund Formeln, zu »denen man sich unter allen Umständen bekennen kann«. Von allen Mit-gliedern könne erwartet werden, dass »auch sie diese Werte schätzen oder jedenfalls nichtoffen zugeben werden, dass sie es nicht tun«. Wolle man in den Workshops nicht völlig ver-stummen, dann empfehle es sich, sich in seinen Beiträgen auf die in der Organisation ge-pflegten Werte zu beziehen.

Die Argumentation einer Öffentlichkeit als Zensurmechanismus mag für bestimmte Ver-anstaltungsformen einleuchtend sein. Der Zensurmechanismus lässt sich bei Kongressen,Konferenzen und Seminaren beobachten, in denen Mitglieder verschiedener Organisationenzusammenkommen. Die Zensurwirkung entsteht durch die Notwendigkeit der »Darstellungdes Systems für Nichtmitglieder« (vgl. Luhmann 1964: 108ff).12 Bei Abwesenheit vonNichtmitgliedern treten diese Zensurmechanismen vorrangig dann auf, wenn an den Veran-staltungen Top-Führungskräfte aus dem »Raumschiff der Unternehmenszentrale« teilneh-men. Dann wird auf den Veranstaltungen häufig Konsens zelebriert, die Beitragenden verfal-len in die Pflege der allseits geteilten Unternehmenswerte und Beobachter können denEindruck bekommen, an einer religiösen Veranstaltung teilzunehmen.

Eine Generalisierung des Kieserlingschen Arguments auf organisationsinterne Workshop-Situationen insgesamt scheint mir jedoch fragwürdig. Der Zensurmechanismus in Work-shops wird gerade durch die Eigendynamik von Face to Face-Interaktion außer Kraft setzt.Es bilden sich Ermüdungserscheinung gegenüber Phrasendrescherei aus, die nur selten durch

12) Viele Wissenschaftler, die monetär motiviert wurden, an solchen Tagungen für Manager teilzuneh-men, berichten von starken Fluchtreflexen nach dem Abliefern ihres eigenen Vortrages. Tagungensoziologischer Sektionen sind aller akademischer Folklore zum Trotz im Vergleich zu solchen Ma-nagementtagungen wahrhaftig aufregende Veranstaltungen.

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noch intelligenter gemachte Wertformulierungen aufgefangen werden können, sondern inder Regel zu einem Zwang zur Offenheit führt.

Dieser Prozess ließ sich in dem Beratungsprozess gut beobachten. Die reine Dauer derWorkshops und die Wiederholung von Themen führte dazu, dass das Spielen von »Bullshit-Bingo« schnell an Attraktivität verlor.13 Allein durch die Arbeit an Details der Auftragsver-gabe, der Lagerhaltung oder der Abrechnung kamen immer mehr informelle Lösungen derHandwerksteams an die Oberfläche.

Welche Auswirkungen hat das Sichtbarwerden von Informalität und Illegalität in den Be-ratungsprozessen?

4.2. Einbindungen der Berater in das Unterleben der Organisation

In den einzelnen Workshops bildeten sich stillschweigende Vereinbarungen zwischen Team-leitern, Beratern und internen Organisationsentwicklern darüber aus, welche informellen As-pekte ansprechbar waren und welche nicht. Ein Team signalisierte deutlich, dass man bereitsei, sich aktiv an der Freiräumung einiger genutzter Räume zu beteiligen, wenn die Grund-problematik der weit über zwanzig belegten, aber nicht offiziell registrierten Räume nichtangesprochen würde (Beobachtung Workshop Paris). In einem anderen Team wurde den Be-ratern Zugang zu den Daten über die verschiedenen Arten der Auftragsvergabe gewährt, da-für aber erwartet, dass der hohe Anteil an kaschierten Notdiensten in dem Team nicht offenproblematisiert wurde (Beobachtung Workshop Montpellier). In einem anderen Team wurdeunter dem Begriff »Modell Lyon« sogar ein lange Zeit praktizierter Abrechnungsvorgang soverändert, dass er für das Team eine Arbeitserleichterung darstellte, aber eindeutig den Vor-gaben des Prozesshandbuchs widersprach (Beobachtung Workshop Lyon).

Interessant ist, dass die Berater im Laufe des Prozesses immer weiter in das Unterlebender TFM-Handwerksteams hineingezogen wurden. Bei der Rekonstruktion einer Auftragsab-wicklung in einem Team wurde deutlich, dass in dem behandelten Beispielfall keine konkur-rierenden Angebote für Aufträge eingeholt worden waren, sondern vielmehr der Subunter-nehmer mit Wissen des Teamleiters fingierte Angebote von Konkurrenten eingereicht hatte.Nach einem kurzen Stocken im Workshop wurde dieses »Detail« dann von allen Beteiligtengeflissentlich übergangen (Beobachtung Workshop Montpellier). In einem anderen Fallzeigten die Handwerker bei einer Tour durch das Unternehmen auch Räumlichkeiten, die of-fiziell gar nicht von Technical Facility Management genutzt werden durften. Diese Räumewurden im stillen Einvernehmen zwischen Beratern, internen Organisationsentwicklern undTeamleitern im Workshop nicht angesprochen, weil sie offiziell nicht im Raumplan ver-zeichnet waren (Beobachtung Workshop Paris).

Besonders in den Abschlusspräsentationen für das Top-Management wirkten die externenBerater und die internen Organisationsentwickler aktiv am Schutz der informellen Lösungenmit. Bei einem anderen Workshop wurde unter anderem der Einsatz von Multi-Cars opti-miert. Nach der offiziellen Fuhrparkregelung der Zentrale durfte das Team jedoch diese überdreißig Jahre alte Mischung zwischen Gabelstapler und Kleinwagen nicht mehr besitzen. Bei

13) Bullshit-Bingo ist ein gerade bei subalternen Mitarbeitern beliebtes Spiel, bei dem das Vorkommenvon Wertformulierungen wie »Synergie«, »Effizienz« oder »Kundennähe« mitgezählt wird. Wennein Wort mehr als fünf Mal in den Diskussionen erwähnt wurde, ruft der Mitarbeiter, der dieses Wortmitgezählt hat, (leise) Bingo. Mit dem Bologna-Prozess und den einsetzenden Evaluationsorgien ge-winnt dieses Spiel auch in akademischen Gremien an Attraktivität. Mit Blick auf die laufende Wis-senschaftsratsevaluation der Soziologie könnte man »Exzellenz«, »Internationalität« und»Interdisziplinarität« als Begriffe vorschlagen (vgl. für eine ausführliche Liste Forschung & Lehre12/2006, S. 728).

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der Abschlusspräsentation mit dem Niederlassungsleiter verschwanden diese Wagen – mitder stillschweigenden Zustimmung von Beratern und Organisationsentwicklern – aus demBlickfeld (Beobachtung Workshop Straßburg). Bei einem Rundgang am Ende des Work-shops mit dem Niederlassungsleiter und den Vertretern der Konzernzentrale wurden die auf-geräumten Lager präsentiert. Es wurde dabei der Eindruck vermittelt, die Gäste bekämen allevon TFM an diesem Standort genutzten Räume zu sehen. Während der Tour trat jedoch einjüngerer Handwerker in TFM-Uniform aus einem der illegalen Räume heraus und lief demNiederlassungsleiter direkt in die Arme. Sofort begannen Teamleiter und Berater, den Vor-fall mit Verweis auf einen anderen Rationalisierungserfolg zu überspielen und den Nieder-lassungsleiter von diesem Raum abzulenken (Beobachtung Workshop Straßburg).

Warum ließen sich die Berater in das Unterleben der Handwerksteams hineinziehen? Ge-rade wegen des partizipativen Ansatzes des Kaizen-Programms waren die Berater auf dieMitarbeit der Handwerker angewiesen. In der Beratungsliteratur wird dieses Phänomen als»zweiter Vertrag« von Beratern bezeichnet. Der Berater einigt sich mit seinem Auftraggeber,der ihn auch bezahlt, auf einen »ersten Vertrag«. Dieser »erste Vertrag« stellt aber nicht si-cher, dass auch die Betroffenen sich auf den Beratungsprozess einlassen. Deswegen, so dieStandardauffassung in der Beratungsliteratur, sei es nötig, einen nicht formalisierten »zwei-ten Vertrag« zum Beispiel mit den Workshoppartnern zu schließen (vgl. Wimmer 1993:84ff; Zwingmann et al. 2000: 180ff).

Der Umgang mit der Informalität im Beratungsprozess wurde stark dadurch beeinflusst,mit welchen Ensemblestrukturen man es jeweils zu tun hatte. Bei Ensembles handelt es sichum eine Gruppe von Personen, die gemeinsam eine Rolle aufbauen. Jedes Ensemblemitgliedmuss sich dabei auf das gute Benehmen der anderen Mitglieder verlassen können. Diese Ab-hängigkeit innerhalb eines Ensembles überbrückt hierarchische und funktionale Differenzeninnerhalb einer Organisation, teilweise sogar auch über Organisationsgrenzen hinweg (vgl.Goffman: 1971: 83ff).

Während des Beratungsprozesses veränderte sich die Zusammensetzung der Ensemblesimmer wieder. Waren die externen Berater und die internen Organisationsentwickler untersich und diskutierten über den Umgang mit den informellen Prozessen, standen die beidenGruppen sich tendenziell als zwei Ensembles gegenüber. In der Workshopsituation mit denHandwerkern bildeten sie sowohl in der Eigen- als auch in der Fremdwahrnehmung ein En-semble. Als in einem Workshop der Leiter der internen Organisationsentwickler vor denHandwerkern die Berater kritisierte, wurde damit gegen die Regeln einer impliziten En-semble-Bildung verstoßen und dadurch der Workshop fast gesprengt. Bei den Präsentationenfür die Niederlassungsleiter und die Vertreter des Unternehmensvorstandes bildeten die Be-rater, internen Organisationsentwickler und Handwerker ein Ensemble, das versuchte, die In-formalität in den Teamprozessen vor Einblicken durch »Externe« zu schützen.

4.3. Die schwierige Trennung zwischen funktionaler und funktionsloser Regelabweichung

Aus der Perspektive der Systemtheorie wird nicht jede Form von Normen- oder Regelabwei-chung in der Organisation als funktional betrachtet. »Brauchbare Illegalität« liegt nur dannvor, wenn die Normen- oder Regelabweichung für die Organisation selbst funktional ist. Dasstellt den zentralen Unterschied zum Funktionalismus der frühen US-amerikanischen Orga-nisationssoziologie dar, in der häufig auch solche Regelabweichungen als funktional be-zeichnet werden, die letztlich nur einzelnen Personen, Teilgruppen der Organisation oder In-teressensgruppen außerhalb der Organisation dienten.14 Die Systemtheorie bindet dagegen

14) Unter diesem Gesichtspunkt müsste meines Erachtens das Pionierwerk von Philip Selznick (1949)über die Tennessee Valley Authority gelesen werden.

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den Begriff der Funktionalität an das jeweils beobachtete System. Es geht also bei der Ana-lyse von Regelabweichungen in Organisationen vorrangig um die Frage, inwiefern diese fürdie Organisation (und nicht für einzelne Teams oder einzelne Personen) funktional ist.

Damit entsteht ein diskriminierendes Prinzip, mit dem brauchbare Informalität oder Illega-lität genauer bestimmt werden kann. Wenn es um eine regelwidrige Einkommenssteigerungdurch Korruption oder Arbeitserleichterung auf Kosten der Organisation geht, würde Luh-mann nicht von einer Funktion dieser Form von Informalität für die Organisation sprechen.Auch wenn beispielsweise Mitarbeiter im Produktionsbereich selbst unter Bedingungen ei-ner restriktiven Arbeitsorganisation eigene »Spiele« betreiben, dann ist dies nicht automa-tisch »brauchbare Illegalität«. Erst wenn diese Spiele, wie von Michael Burawoy eindrucks-voll geschildert, dazu dienen, die Arbeiter an der Herstellung eines Konsens auf demShopfloor mitarbeiten zu lassen und darüber letztlich der Organisation Flexibilitätsvorteilezu verschaffen, würde man von brauchbarer Illegalität im engeren Sinne sprechen.

Der Beratungsprozess war dadurch gekennzeichnet, dass die Trennung zwischen funktio-naler und nichtfunktionaler Informalität nur schwer festzustellen war: Wann sind schwarzeKassen für die Organisation funktional – nur wenn von diesen Geldern sonst nicht finanzier-bare Ersatzteile gekauft werden oder auch wenn diese zur Finanzierung besonderer Ausstat-tungen im Aufenthaltsraum genutzt werden? Stellen die illegalen Räume lediglich kostenlo-se Werkstattmöglichkeiten nahe den Einsatzorten dar oder bieten sie nicht auch komfortableSchutzräume für Mitarbeiter, die sich der Aufsicht der Hierarchie entziehen wollen? Ist dienicht regelkonforme Definition von Instandhaltungsaufträgen als Notdienst ein effizientesMittel zur Beschleunigung organisatorischer Prozesse, und wird damit ein für die Organisati-on nicht funktionaler Schlendrian bei der Arbeitsplanung ermutigt?15

Während, wie oben gezeigt, das Phänomen der Regelabweichung in den Beratungsprozes-sen angesprochen werden konnte, war aber die Frage, ob eine Regelabweichung der Organi-sation oder vielleicht nur einzelnen Mitgliedern diente, nicht besprechbar. Wenn es aktiveZensurmechanismen in den Workshops gab, dann bezog sich dies nicht auf die Frage, wel-che Regelabweichung es gab, sondern auf die Frage, wem die Regelabweichung nutzte. Vonden Teammitgliedern wurde jede identifizierte Regelabweichung mit einem Verweis auf dieFunktionalität für die Organisation gerechtfertigt und eine Diskussion über die Funktionalitätunterbunden.

5. Schlussbemerkungen – Systemtheoretische Zugänge zur Regelabweichung

An Beschreibungen von Regeln und Regelabweichungen mangelt es gerade in der Soziolo-gie nicht. Wir sind inzwischen informiert über illegale Schnapsbrennerei während der Prohi-bitation in den USA, über Schummeleien in Schulen und Universitäten, Nepotismus inAfrika (vgl. z.B. Williams 1970: 421), das Verpfeifen von Fußballspielen oder die Parteis-pendenaffären bei christ- und sozialdemokratischen Parteien (vgl. Weick 1985; Ortmann2003). Wir kennen das Produzieren von »Vorderwasser«, jenes Bevorraten von Akkordzet-telchen, mit denen Arbeiter versuchen, sich Puffer für ruhigere Phasen in Unternehmen zuschaffen (vgl. Schumann et al. 1982). Wir wissen Bescheid über Regelabweichungen im

15) Ich bin mir nicht sicher, ob diese Frage von dem empirisch forschenden Wissenschaftler allein beant-wortet werden kann. Er müsste zur Beantwortung dieser Frage den Standpunkt eines »Mega-Analy-tikers« einnehmen, der sich traut, die Funktionalität sowohl der Informalisierung als auch derFormalisierung des gleichen Arbeitsprozesses einzuschätzen. Das Problem für den Wissenschaftlerist jedoch, dass man nur selten den gleichen Arbeitsprozess sowohl in formalisierter als auch infor-malisierter Form beobachten kann. So wären Aussagen über Funktionalität (oder gar Effizienz) nureine Form intelligenter Spekulation.

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Flugzeugbau (vgl. Bensman/Gerver 1963), über die kleinen Tricks der Briefträger zur Ar-beitserleichterung (vgl. Harper/Emmert 1963) und über Streiks, die ausbrechen können,wenn ein Management versucht, Regeln durchzusetzen (Gouldner 1954).

Worin liegt jetzt angesichts dieser Vielzahl von Beschreibungen über Regelabweichungder Mehrwert eines systemtheoretischen Zugangs?

Ein zentraler Mehrwert besteht meines Erachtens darin, dass über einen systemtheoreti-schen Zugang der Blick für die Besonderheit der Regelabweichungen in ganz unterschiedli-chen sozialen Situationen geöffnet wird. Damit unterscheidet er sich von einer soziologi-schen Tradition, in der Regelabweichungen ganz unterschiedlicher Natur weitgehendungeordnet aneinandergereiht werden (vgl. beispielhaft Williams 1970; Popitz 1968 und zu-letzt Ortmann 2003; siehe auch die Kritik von Falke 2003). Man ist in diesen Studien faszi-niert von der Allgegenwart der Regelabweichung und behandelt den Verstoß gegen die still-schweigende Konventionen im Literaturbetrieb, die Gefechtspausen im Zweiten Weltkrieg,die punktuelle Anarchie beim venezianischen Karneval und den Kölschen Klüngel mit dem-selben analytischen Apparat.16 Die Stärke der Systemtheorie – man verzeihe die tautologi-sche Formulierung – ist, dass sie die unterschiedlichen Logiken in verschiedenartigen sozia-len Systemen begreifbar machen und für ihre Analysen nutzen kann. Face to Face-Interaktionen sind eben etwas anderes als Gruppen. Familien haben andere Regeln als Orga-nisationen. Die einzelnen Funktionssysteme wie Recht, Religion oder Politik haben ihre ei-genen spezifischen Logiken und Programme. Deswegen ist für die Systemtheorie ein Geset-zesbruch etwas grundlegendes anderes als die Vernachlässigung einer Soll-Menge bei derLagerhaltung. Deswegen ist eine Straftat etwas anderes als die Vernachlässigung eines all-seits akzeptierten Taktgefühls auf einer Party. Deswegen kann der Besuch einer ukrainischenProstituierten sowohl im System der Familie als auch bei entsprechender Prominenz im Sys-tem der Massenmedien als eine Regelabweichung markiert werden, die Bezeichnung undBehandlung dieser Abweichung erfolgt aber nach grundlegend unterschiedlichen Regeln.Dadurch dass Luhmann über Mitgliedschaft zu einer präzisen Bestimmung von Organisationkommt, kann die Systemtheorie den Begriff der Formalität und Informalität für genau dieseeine soziale Ordnung reservieren und mit Referenz auf diese die Funktionalität einer Regel-abweichung analysieren.

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16) Dies wird besonders deutlich bei Günther Ortmann (2003: 100 und 103f), der zum Beispiel vor-schlägt, bei einem Zitat von Jorge Luis Borges (»Literatur ist ein Spiel mit stillschweigenden Kon-ventionen. Teilweise oder ganz gegen sie zu verstoßen, ist eine der vielen Freuden (und eine dervielen Verbindlichkeiten) des Spiels, dessen Grenzen wir nicht kennen.«) einfach das Wort »Litera-tur« durch »Organisation« zu ersetzen. Dann sei man mitten im Thema. Man fühlt sich an eine ge-wisse postmoderne Beliebigkeit erinnert, die ja auch in Teilen der Systemtheorie Einzug zu haltenscheint. Das Treffen des analysierten Gegenstands tritt in den Hintergrund, wichtig sind elegante For-mulierungen und Theoriekonstruktionen.

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Soziale Welt 58 (2007), S. 295 – 321

Empirie oder Theorie?

Systemtheoretische Forschung jenseits einer vermeintlichen Alternative

Von Werner Vogd

Zusammenfassung: Die Luhmannsche Systemtheorie ist weder ein Glasperlenspiel noch einGrenzgang zwischen Philosophie und Soziologie. Ihre Abstraktionen sind nur sinnvoll, wenn Sys-teme als empirische Gegenstände begriffen werden, die zwar als relationale Gebilde nicht sichtbarund greifbar, die sehr wohl aber als prinzipiell rekonstruierbar zu verstehen sind. Doch sowohl imSinne der eigenen Theorieentwicklung als auch im Kontext einer Drittmittel getriebenen For-schungslandschaft, für die der methodologisch explizite Empiriebezug unverzichtbar erscheint, hatsich die soziologische Systemtheorie bislang wenig um eine Methodologisierung ihres Verhältnissesvon Theoriearbeit und empirischer Forschung bemüht. In diesem Beitrag werden Wege ausgelotet,dieses Defizit zu überwinden. In diesem Sinne werden zunächst die Bedingungen der methodologi-schen Operationalisierung des Systembegriffs aufzuzeigen sein, um dann Anschlüsse an rekonstruk-tive Methodologien zu finden, die auch den Besonderheiten des Luhmannschen Kommunikations-begriffs gerecht werden. Am Beispiel des Untersuchungsdesigns meiner Studien zum ärztlichenEntscheiden im Krankenhaus wird abschließend aufgezeigt, wie empirische Forschung den komple-xen Anforderungen einer Beschreibung polykontexturaler Verhältnisse gerecht werden kann.

Für die Systemtheorie lassen sich insbesondere zwei Gründe nennen, warum eine Auseinan-dersetzung mit den Fragen expliziter empirischer Methodologie für sie wichtig werden könn-te. Der eine beruht auf veränderten Fronten im sozialwissenschaftlichen Feld, der andereliegt in der Herausforderung einer fruchtbaren Theorieentwicklung, die über die Rezeptionvon Luhmann als einem soziologischen Klassiker hinaus geht.

Im Folgenden möchte ich diesen Motiven zunächst ein wenig nachspüren (I), um anschlie-ßend systematisch die Potentiale einer systemtheoretisch inspirierten und begründeten empi-rischen Sozialforschung zu erkunden. Ich beginne zunächst mit einigen grundlegendenwissenschaftstheoretischen Überlegungen, welche die Systemtheorie – entgegen der landläu-figen Meinung – sehr wohl als einen ernst zu nehmenden metatheoretischen Rahmen fürwissenssoziologische Forschungsprojekte erscheinen lassen (II). Im Anschluss daran möchteich zunächst das Verhältnis von Systembegriff und Empirie beleuchten (III), dann nachMöglichkeiten der Operationalisierung des Systembegriffs für empirische Forschungen fra-gen (IV), um mich schließlich ausführlicher der Herausforderung semantischer Systeme (V)in polykontexturalen Verhältnissen zu stellen (VI). Da die Systemtheorie in ihrer inhärentenForschungspraxis ein rekonstruktives Verfahren darstellt, werden diesbezüglich gerade auchan jene so genannten qualitativen Methodologien Anschlüsse zu suchen sein, welche dieSinngenese ins Zentrum ihrer Analyse rücken. Abschließend wird am Beispiel meiner eige-nen Forschungsprojekte zum ärztlichen Entscheiden im Krankenhaus ein Untersuchungsde-sign vorgestellt, das polykontexturalen Verhältnissen sowohl konzeptionell als auchmethodologisch gerecht werden kann (VII).

I. Gründe für eine empirisch-methodologische Wendung der Systemtheorie

Im semantischen Raum einer bundesdeutschen Nachkriegssoziologie, die mit dem Schre-cken des Nationalsozialismus umgehen musste, entwickelte sich die Systemtheorie als großeTheorie vor allem mit und gegenüber einer aus guten Gründen sich anti-empirisch verstehen-den ›Kritischen Theorie‹. Nolens volens trat sie innerhalb des soziologischen Diskurses ge-wissermaßen das Erbe des Positivismusstreits an und hatte zu beweisen, dass sie keineswegs

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296 Werner Vogd

»Sozialtechnologie«, sondern die eigentliche »Theorie der Gesellschaft« darstelle (Haber-mas/Luhmann 1971).1 Im Kontext der gesellschaftstheoretischen Diskurse der 70er Jahre be-stand das Problem der Systemtheorie (noch) weniger darin, als empirische Wissenschafternst genommen zu werden – die Kybernetik umgab damals noch die Aura des technischMachbaren –, denn als Soziologie ernst- und wahrgenommen zu werden.2

Doch auch als die Systemtheorie schließlich mit der grundlegenden Monografie »SozialeSysteme« (Luhmann 1993 [1984]) endgültig ihre eigene Form fand, blieb ihr wichtigster Re-ferenzpunkt die Idee der »soziologischen Aufklärung«, welche die »Dialektik der Aufklä-rung« der Frankfurter Schule nun konterkarierte, indem sie soziologisch begründet vor Mo-ral warnen konnte. Zugleich drückte sich hiermit jedoch eine bis heute andauernde ideelleVerbindungslinie aus, die sich beispielsweise in dem gemeinsam verfolgten anti-empirischenHabitus zeigt (vgl. Nassehi 1998).

Jetzt, nur wenige Jahrzehnte später, hat sich der Diskurs über den Reproduktionszusammen-hang soziologischer Forschung radikal geändert. An vielen Hochschulstandorten verschwin-den die soziologischen Institute. Soziologische Aufklärung, als state of the art ihrer Disziplin,wandelt sich weg vom Entwurf einer richtigen Gesellschaft hin zu einer Trias von Zeitdiagno-se, methodologisch-empirischer Operationalisierung und Methodenkritik und findet ihre Re-produktionsbasis vermehrt in sozialwissenschaftlichen Verbünden, in denen Soziologen mehrals Methodiker, denn als Theoretiker gefragt sind. Man mag dies beklagen – so wie man be-dauern kann, dass Habermas trotz seiner Präsenz längst am verblassen ist – doch dies ändertwenig daran, dass auch die Systemtheorie als akademische Disziplin nur in den Feldern ange-wandter Theorie überleben kann (von den wenigen expliziten Theorielehrstühlen abgesehen).

Der zweite Grund, die Systemtheorie auch als Methode fassen zu wollen, liegt in der Her-ausforderung, die Systemtheorie durch die dritte Generation weiterzuentwickeln, also durchjene Soziologen und Sozialwissenschaftler, die Luhmann nicht mehr persönlich in seiner The-oriegenese beobachten konnten. Wenn ein Soziologe »systemtheoretisiert«, erzeugt erzwangsläufig Konzepte, die von empirischen Gegenständen handeln. Der rekonstruktive So-zialforscher würde hier beobachten können, dass er Daten interpretiert, nur dass die Art undWeise, wie er dies tut, implizit bleibt. Es geschieht, ohne darüber zu reden (und zu schreiben),dass und wie es geschieht. Wenn beispielsweise in Luhmanns organisationssoziologischenAbhandlungen Bezüge zu Vorgängen in Verwaltungen zu finden sind, so weist dies auf ent-sprechende empirische Daten hin. Allein aus diesem Grunde erscheint die Alternative Theorieund Empirie unsinnig. Der gute soziologische Theoretiker ist immer zugleich Empiriker – dies war schon bei Talcott Parsons so.3 Nur wird in der gängigen Praxis des Theoretisierensdas Datenmaterial nicht weitergehend expliziert, wie dies beispielsweise in der für rekonstruk-tive Forschung üblichen Form geschieht (etwa der Form: »ich referiere hier auf eine Beobach-tung, die ich in der Zeit a und am Ort b und die ich zur Zeit c am Ort d als Erinnerungsproto-

1) Popper konnte sich schon immer als Teil einer sich als moralisch überlegen verstehenden »offenen Gesell-schaft« sehen und stand hiermit außerhalb des bundesdeutschen Spiels. Empirie, wissenschaftlich begrün-dete Praxis und Gesellschaftstheorie waren aus seiner Position keine Gegensätze (siehe Popper 1957).

2) Obwohl Luhmanns Soziologie, anders als die von Habermas, Adorno und die anthropologischen Va-rianten der Wissenssoziologie, schon immer originär soziologisch argumentierte (vgl. Kieserling2004, 109ff.), konnte sie sich zunächst vor allem durch ihre theoretische Brillanz beweisen, indem siemit Kant und Husserl über Kant und Husserl die subjektphilosophischen Begrenzungen überwindenund mit Weber und Parsons über die Theorie der Handlungssysteme hinausgehen konnte.

3) Es wird oft vergessen, dass Parsons’ strukturfunktionalistische Theorie mit »The Social System« ih-ren empirischen Ausgangspunkt in Feldbeobachtungen zur ärztlichen Arbeit in Boston und Umge-bung gefunden hat und mit »der amerikanischen Universität« auf ihrem Höhepunkt sogar explizitwieder einen empirischen Bezug findet (Parsons 1951; Parsons/Platt 1990).

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koll niedergeschrieben habe«). In diesem Sinne muss auch der soziologische Theoretiker alsEmpiriker gelten – nur dass er nicht über die Methode, wie er Daten erhebt und wie er sie in-terpretiert, spricht. Unter einem pragmatischen Blickwinkel erscheint dies zunächst auch nichtweiter problematisch, denn der Erfolg der Luhmannschen Theorie zeigt sich in der wissen-schaftlichen Gemeinde in der Schlüssigkeit ihrer zentralen Konzepte, nicht jedoch wie dieseaus der Empirie generiert wurden. Hierzu braucht man üblicherweise nicht auf eine rekonst-ruktive Forschungsmethodologie zu rekurrieren, denn im Zweifelsfall reicht es für die Theo-riebildung aus, sich diesbezüglich auf die Kunstfertigkeit des Autors zu berufen.

Die Schwierigkeiten entstehen erst dann, wenn versucht wird, Luhmanns Methode der Be-griffs- und Theoriegenerierung zu lehren bzw. zu erlernen. Da die Beziehung zwischen em-pirischem Gegenstand und Empirie, sozusagen die Verfahren der Interpretation und Datener-hebung, in Luhmanns Werk nicht weiter expliziert sind, bleibt dem nachfolgendenSystemtheoretiker nichts weiter übrig, als intuitiv zu versuchen, dem ›Meister‹ dadurch zufolgen, dass man so tut, als ob man es genauso könne. Nicht in formaltheoretischer Hinsicht– hier sind die Begriffe hinreichend expliziert –, sondern in gegenstandstheoretischer Hin-sicht zeigt die Luhmannsche Konzeption entsprechend ihre blinden Flecken, denn sie liefertkeine begriffliche Explikation dessen, wie ihre Konzepte in Beziehung zur Empirie zu setzensind. Wenngleich die Systemtheorie in Abgrenzung zur Popperschen Tradition das Primatdes »methodologischen Pragmatismus« formuliert (Luhmann 1998, 509) und feststellt, dasses keinen exterioren Standpunkt der Forschungslogik mehr geben kann, Theorien also ge-genstandsbezogen und gegenstandsadäquat zu formulieren sind,4 ist sie bisher nur unzurei-chend in der Lage, ihre eigenen implizit immer mitschwingenden empirischen Gegenstands-bezüge methodologisch zu rekapitulieren. Da sie keine expliziten Kriterien in die Hand gibt,ihre eigenen diesbezüglichen Interpretationsleistungen erkennen zu können, besteht die Ge-fahr, dass eben diese originäre Leistung Luhmanns in der Rezeption seiner Theoriekonzepti-on verloren geht. Hiermit könnte ihr empirischer Bezug mehr und mehr verschwinden, dieTheorie würde sich zunehmend mit sich selber beschäftigen, zu einem Klassiker werden,neue faszinierende (paradoxe) Formen entdecken, gar eine transzendentale Gestalt anneh-men,5 indem ursprünglich relationale Konzepte als unbezogene Substantivierungen zuneh-mend ihr Eigenleben führen.6 Gerade um ihrer eigenen Degeneration vorzubeugen, hätte die

4) »Wenn genügend Vorsorge gegenüber Irrtümern getroffen war, gab es keinen Grund, dem Wissen inseinem Anspruch auf Orientierung der Praxis Widerstand entgegen zu setzen. [...] Mit der Ordnungder Ebenen hatte man sich auf ein instrumentalistisches Verhältnis dessen eingelassen, was auf denunteren Ebenen zu beobachten war«. In der Beobachtung zweiter Ordnung sieht man jedoch »die Un-terscheidungsabhängigkeit allen Wissens und damit auch die notwendige Latenz, auf die man sich imoperativen Gebrauch von Unterscheidungen einlassen muß. Hier dekonstruiert man dann, auf ihrenblinden Fleck hinweisend, die Ontologie und mit ihr jede Hierarchisierung des Besserwissens. [...]Hier kann Wissenschaft sich selbst beschreiben als ein ausdifferenziertes Funktionssystem, das be-stimmte Weltzugänge eröffnet und verschließt – als nicht mehr und als nicht weniger. Das Reflexi-onsproblem ist dann nicht länger die Einheit der Differenz von Erkenntnis und Gegenstand; sondernes geht bei der Einheit des Systems um die Vernetzung der Beobachtungsverhältnisse und die damitlaufend reproduzierten Systemgrenzen, also um Autopoiesis« (Luhmann 1998, 506f.).

5) Ganz in diesem Sinne spricht Luhmann von einer naturalistischen Epistemologie: »Ungeachtet allerspezifischen Theorieannahmen (Bewußtsein, Vernunft, Subjektivität betreffend) kann man eine The-orie als transzendental charakterisieren, wenn sie nicht zuläßt, daß die Bedingungen der Erkenntnisdurch die Ergebnisse der Erkenntnis in Frage gestellt werden. Transzendentale Theorien blockierenden autologischen Rückschluss auf sich selber. Als empirisch oder als naturalistisch kann man dage-gen Erkenntnistheorien bezeichnen, wenn sie für sich selbst im Bereich der wissenswerten Gegen-stände keinen Ausnahmezustand beanspruchen, sondern sich durch empirische Forschung treffen undin der Reichweite der für Erkenntnis offenen Optionen einschränken lassen« (Luhmann 1998, 13).

6) In diesem Sinne ließe sich auch die Kritik von Kastl an der geheimen Transzendenz der Autopoiesisverstehen (Kastl 1998).

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Systemtheorie sich mit der Interpretation empirischer Daten zu beschäftigen, hätte sich alsoauch als interpretative Methode zu explizieren.

II.Systemtheorie als Metatheorie empirischer Sozialforschung

Spätestens mit Kant wissen wir, dass theoriefreies Erkennen nicht möglich ist. Der neurobiolo-gische Konstruktivismus stellt die transzendentalen Bedingungen der Erkenntnis nochmals aufnaturwissenschaftliche Füße, indem er zeigt, dass scheinbar selbstverständliche Wahrneh-mungsvorgänge wie Sehen, Hören und Fühlen bereits auf vorformatierten neurologischenBahnungen beruhen, wir also immer nur das erkennen können, wofür wir aufgrund unsererverkörperten Einstellungen bereits bereit sind. Aus heutiger Perspektive ganz ähnlich konnteKarl Popper formulieren, dass »Erkenntnis [...] nicht mit Wahrnehmungen oder Beobachtungenoder der Sammlung von Daten oder Tatsachen« beginne, sondern »mit Problemen«. Erkenntnisbeginne also mit der »Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen« (Popper 1972, 104).

Ohne Theorie lasse sich also weder Wissenschaft betreiben noch könne man sich sonst wiein der Welt zurechtfinden. Im Sinne eines kritischen Rationalismus – nicht eines kritischen Em-pirismus! – gehe es dann darum, intelligente Theorien zu entwickeln – also Sichtweisen derWelt – die bestimmte Fragen eröffnen und auf eine solche Weise in Widerspruch mit der Erfah-rung treten können, dass sie zur Entwicklung komplexerer, besserer Theorien anregen können.

Da nun Wissenschaft – auch hierauf hat schon Popper hingewiesen7 – nicht in den Köpfeneinzelner Wissenschaftler stattfindet, sondern in den Selektionsprozessen der wissenschaftli-chen Anschlusskommunikation, gilt – zunächst noch unabhängig vom Forschungsgegen-stand und auch unter einer konstruktivistischen Epistemologie (vgl. Knorr-Cetina 1989) – ein Minimalset von Anforderungen an das Verhältnis von Theorie und Empirie, das sich mitMaturana und Varela folgendermaßen umschreiben lässt:

»1. Beschreibung von dem (den) zu erklärenden Phänomen(en) in einer für die Gemein-schaft der Beobachter annehmbaren Weise.

2. Aufstellung eines Systems von Konzepten, das fähig ist, das zu erklärende Phänomen ineiner für die Gemeinschaft der Beobachter annehmbaren Weise zu erzeugen (explikative Hy-pothese).

3. Ausgehend von (2.) Ableitung von anderen in dieser Aufstellung nicht explizit berück-sichtigten Phänomenen, sowie Beschreibung der Beobachtungsbedingungen in der Gemein-schaft der Beobachter.

4. Beobachtung dieser aus (2.) abgeleiteten Phänomene« (Maturana/Varela 1987, 34).

Mit den ersten beiden Punkten wird dem Problem der Anschlussfähigkeit im System derWissenschaft Rechnung getragen, wobei der zweite Punkt Gesetzlichkeiten befragen und be-schreiben lässt, die den Common sense-Beschreibungen verborgen sind, die also der Heraus-forderung latenter Strukturen und Funktionen gerecht werden. Erst auf dieser Ebene wirdeine intelligente Wissenschaft als »begriffliche Abstraktion (die auf Theorie abzielt)« mög-lich, die sich »von der Selbstabstraktion des Gegenstandes (die auf Struktur abzielt)« unter-scheiden kann (Luhmann 1993, 16). Im dritten Punkt werden die Generalisierungspotentiale

7) »Was man als wissenschaftliche Objektivität bezeichnen kann, liegt einzig und allein in der kritischenTradition, die es trotz aller Widerstände so oft ermöglicht, ein herrschendes Dogma zu kritisieren.Anders ausgedrückt, die Objektivität der Wissenschaft ist nicht eine individuelle Angelegenheit derverschiedenen Wissenschaftler, sondern eine soziale Angelegenheit ihrer gegenseitigen Kritik, derfreundlich-feindlichen Arbeitsteilung der Wissenschaftler, ihres Zusammenarbeitens und auch ihresGegeneinanderarbeitens. Sie hängt daher zum Teil von einer ganzen Reihe von gesellschaftlichenund politischen Verhältnissen ab, die diese Kritik ermöglichen.« (Popper 1972, 113)

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der begrifflichen Abstraktionen expliziert, um in Verbindung mit dem letzten Punkt die Aus-sagen in eine Form zu bringen, so dass sie im Sinne des binären Wissenscodes (wahr/falsch)einer Überprüfung zugeführt werden können.

Trotz der Konvergenz zum Kritischen Rationalismus deutet sich hier eine andere Wei-chenstellung an: Bei Popper steht die ›Logik der Forschung‹ außerhalb des Erkenntnisgegen-standes und des Forschungsprozesses. Der »Gottesaugenstandpunkt« (Putnam 1991) wirdzumindest noch für die Wissenschaftstheorie und die hieraus abgeleitete Methodologie bean-sprucht. Bei Popper mündet die »Logik der Sozialwissenschaften« in eine objektive Welt so-zialer Institutionen und in eine Theorie der allgemeinen Situationslogik, in der Epistemolo-gie und Forschungspraxis klar getrennt sind.8

Demgegenüber zeigen sich für Maturana, Varela und Luhmann die Verhältnisse komple-xer. Geist und Natur sind nun auch analytisch nicht mehr zu trennen, sondern bilden eineEinheit (vgl. Bateson 1987). Jede Lebensform und jedes System erzeugt sozusagen seine ei-gene Epistemologie. Der Forscher hat nun mit Gegenständen zu rechnen, die Struktur da-durch aufbauen, dass sie Unterscheidungen treffen und hierdurch in sich selbst Symmetrieb-rüche und Selektionen erzeugen. Es geht also um Gegenstände, die weder objektiv gegebensind, noch hinreichend beschreibbar sind als das ›idealtypische Befolgen von den Regeln,welche die Situationslogik gebietet‹. Der Forscher hat nun eine strenge logische Buchhal-tung zu beachten, die dem Rechnung trägt, dass es auf der einen Seite für einen äußeren Beo-bachter so aussehen kann, als folge ein System Regeln und hege eine Absicht, die sich situa-tionslogisch als Zweck-Mittel-Kalkül beschreiben lässt, um dann auf der anderen Seite imLatenzbereich verborgen die strukturelle Dynamik eines Systems vorzufinden, das wederZwecke verfolgt und noch Regeln beachtet, sondern nur den durch die internen Prozesse ge-bahnten Unterscheidungen folgt (vgl. Maturana/Varela 1985).

Insbesondere die moderne Biologie hat langsam gelernt, die Differenz zwischen diesenbeiden Ebenen unter dem Blickwinkel der Zeit- und Selektionsverhältnisse des DarwinschenEvolutionsschemas zu begreifen (kein Organismus passt sich an, um zu überleben, sonderner erscheint post hoc angepasst, weil er lebt). Innerhalb der großen soziologischen Theoriehat neben Luhmann nur Pierre Bourdieu das empirische Potential der Unterscheidung zwi-schen ›Logik der Praxis‹ und ›Theorien über die Praxis‹ erkannt.9

Während Karl Popper und die ihm in dieser Hinsicht folgenden handlungstheoretischenAnsätze den Preis der Spaltung einer Welt in drei Teile zu zahlen haben (das Subjekt, diephysikalische Objektwelt und drittens ein objektivierbares gesellschaftliches System von Re-geln und Institutionen),10 kann die Systemtheorie die Mikro/Makro-Unterscheidung ebensounterlaufen wie die von Subjekt und Objekt. Von ihrer metatheoretischen Anlage her ist dieSystemtheorie in einer radikalen, bislang unerreichten Weise empirisch, denn sie darf nunnicht mehr nur das Produkt einer Unterscheidung in den Blick nehmen, sondern das Unter-scheiden selber, mithin auch die Epistemologien, welche die Gegenstände konstituieren. DieSystemtheorie braucht als Startpunkt weder Max Webers unerklärten Erklärer des ›subjektiv

8) Was dann der Rational Choice-Theorie den metatheoretischen Rahmen für ihr Forschungsprogrammmit universellem Erklärungsanspruch liefert.

9) Hier im Sinne einer praxeologischen Wissenssoziologie verstanden: »Die gemeinsame Wurzel derWidersprüche und Widersinnigkeiten, die das banal scholastische Denken in einer strengen Beschrei-bung der praktischen Logiken zu entdecken glaubt, liegt nur in der ihm eigenen Bewusstseinsphilo-sophie, die sich Spontaneität und Kreativität nicht ohne das Zutun einer kreativen Absicht vorstellenkann, Zweckhaftigkeit nicht ohne bewußtes Anstreben von Zwecken, Regelhaftigkeit nicht ohne Be-folgen von Regeln, Bedeutsamkeit nicht ohne Absicht zu bedeuten« (Bourdieu 2001, 176).

10) Auch Alfred Schütz‘ Lösung des Intersubjektivitätsproblems hilft hier nicht weiter.

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gemeinten Sinns‹, um diesen dann durch empirische Forschung noch weiter zu vernebeln,noch Annahmen bezüglich einer vorgegebenen gesellschaftlichen Ordnung oder hinsichtlichinvarianter anthropologischer Konstanten.11 Um mit ihrer Untersuchung beginnen zu kön-nen, braucht die Systemtheorie weder Bewusstseinsphilosophie noch Anthropologie zu be-mühen. Sie beginnt allein mit der Hypothese der Selbstorganisation, also der Annahme, dassdie Wirklichkeit die Probleme und Lösungen selber schafft, die dem Beobachter dann alsOrdnungen und Strukturen erscheinen, und formuliert hieraus den Systembegriff zunächst inabstrakter Form. Im mathematischen Formalismus erscheint ein System nun als Funktionseiner selbst und seiner Umwelt: S = f(S, U)12 – nicht mehr und nicht weniger.

III. Systembegriff und Empirie

Mit der Operationalisierung des Systembegriffs ist die Systemtheorie eine empirische Theorie,die sich auf die »wirkliche Welt« bezieht. »Der Systembegriff bezeichnet also etwas, was wirk-lich ein System ist, und läßt sich damit auf eine Verantwortung für Bewährung seiner Aussagenan der Wirklichkeit ein« (Luhmann 1993, 30). Bevor wir uns der Beziehung zwischen System-theorie und Empirie näher widmen können, haben wir einige Eigenarten von Systemen zu reka-pitulieren. Wenngleich ein System nur nach den eigenen, durch die interne Struktur bestimmtenGesetzlichkeiten operieren kann und in diesem Sinne als autonom zu bezeichnen ist, lässt es sichdennoch durch Störungen von außen irritieren. Es muss seinen eigenen Fluss, seine eigene Funk-tion permanent den veränderten Umweltbedingungen anpassen. Systeme sind in diesem Sinnezugleich autonom wie heteronom, selbst-bestimmt wie unbestimmt. Obgleich sie ihren eigenenFunktionsbezug setzen und in diesem Sinne auch die Störungen aus der Umwelt selbst verwal-ten, verändert sich ihre Struktur und damit ihre Funktion mit jeder Störung, auf die sie reagieren.Systeme verändern ihre Strukturen über die Zeit, behalten ihre Identität als System nur, indemsie sich verändern. Sie bestehen nicht als Entität, als ein Ding, sondern als eine Relation, nämlichals selbstbezügliche Funktion, die über die Zeit entfaltet wird (vgl. Fuchs 2001). Als solche sindsie substanzlos, wenngleich sie auf einem Medium beruhen, in dem die Relationen, welche dieRelationen erzeugen, eingeschrieben sind. Genau in diesem Sinne sind Systeme unsichtbar.

Wir haben kein Sensorium für Systeme (vgl. Baecker 2002, 92). Erst über eine Abstrakti-onsleistung, in der wir Einzelbeobachtungen in Bezug auf ihren zeitlichen Verlauf in Bezie-hung setzten, erhalten wir Relationen, die dann ggf. den Charakter von Systemen annehmen

11) Die Rational Choice-Theorie greift in letzter Zeit vermehrt auf soziobiologische Brückenhypothesenzurück, um in ihren Gleichungen von invarianten Bedürfnissen ausgehen zu können.

12) »Die Systemtheorie verlängert zunächst nur die klassische Welttheorie, indem sie mit Hilfe des ky-bernetischen Erklärungsprinzips jedes System als Funktion seiner selbst beschreibt: S = f (S). JedesSystem ist eine Funktion der Einschränkungen, die es konstituieren. Das ist genauso tautologisch wiedie klassische Welterklärung. Allerdings wird die Kausalität in einem zweiten Schritt gespalten, in-dem die Formel erweitert wird zu der Behauptung, daß jedes System eine Funktion seiner selbst undseiner Umwelt ist, und letzteres in der Weise, daß es sich in dieser Umwelt von dieser Umwelt unter-scheiden können muß. Das System wird als der Unterschied definiert, den es macht: S = f (S, U). DasSystem S ist eine Funktion f seiner selbst, S, und seiner Umwelt U. In einem dritten Schritt, der in-nerhalb der Systemtheorie bis heute zwischen biologischen und soziologischen Theorievarianten aufder einen Seite und ingenieurwissenschaftlichen Varianten auf der anderen Seite umstritten ist undunter dem Paradigma der »Selbstorganisation« nach wie vor für Unruhe sorgt, wird das System ge-schlossen und damit zur Funktion seiner Selbst erklärt: S = S (S, U). Damit handelt sich die System-theorie das Problem einer Oszillation zwischen Tautologie [S = S (S)] und Paradoxie [S = S (U)] ein,das im Nachhinein verständlich macht, welche theorietechnische Leistung in der Einführung desFunktionsbegriffs bestand. Das kleine f verschob die Frage nach der Reproduktion des Systems aufein Drittes, das sich weder in der Identität des Systems (S = S) noch in der Differenz zwischen Systemund Umwelt (S ? U) erschöpfte. Dieses Dritte ist der Joker, den niemand je zu Gesicht bekam, demdie Systemtheorie jedoch nicht aufhört nachzustellen« (Baecker 2002, 86).

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können. Um überhaupt ein System entdecken zu können, relationieren wir also Datenele-mente miteinander, von denen wir annehmen, dass sie in einer systemischen Beziehung zu-einander stehen. Wir bringen sie in ein raumzeitliches Muster, um dann im dritten Schritt zuschauen, ob die sich hierin zeigenden Figurationen einen systemischen Charakter haben, obalso der Gegenstand durch eine rekursive Iteration des Gegenstandes (mit)erzeugt wird. Sol-che Figurationen werden dann eine strukturelle Drift zeigen. Sie werden ihre Identität nurbehalten, indem sie sich (langsam) verändern.

Im Sinne einer rekursiv iterativen Funktionsbeziehung charakterisiert die Systemtheorieihren empirischen Gegenstand als ein fluides Phänomen, dessen einzelne Stadien dann je-doch sehr wohl in einer rekonstruierbaren Beziehung zueinander stehen.

Systemtheorie – und hiermit verbunden: systemempirische Forschung – ist ein eher an-spruchsvolles Unterfangen. Was die Mühe rechtfertigt, sich diesbezüglichen Forschungspro-jekten zu verschreiben, ist zunächst allein die Intuition, auf diesem Wege unsere Wirklichkeitangemessener verstehen zu können. Es ist die Vermutung, bestimmte Fragestellungen nur un-ter dem Paradigma der Selbstorganisation sinnvoll angehen zu können, wenngleich wir hier-für den Preis einer komplexen Beschreibung in Kauf nehmen müssen, die jeden Forschungs-prozess zu überfordern droht. Auch hier deutet sich eine Abweichung von der Konzeptiondes kritischen Rationalismus an. Während Popper noch annehmen konnte, dass wir uns durchraffinierte Experimente in ein Stadium immer gehaltvollerer Theorien entwickeln, die dannunsere Wirklichkeit immer besser vorhersagen und beherrschen lassen, stellt sich mit derSystemtheorie notwendiger Weise das Problem der Überkomplexität einer Theorie, die, umüberhaupt einen praktischen (und wenn auch nur forschungspraktischen) Bezug gewinnen zukönnen, wieder vereinfachen und idealisieren, also Komplexität wieder ausblenden muss.

Im Sinne ihrer autologischen Konzeption steht die Theorie hier nicht mehr außerhalb desuntersuchten Feldes, sondern ist selbst Teil von ihr, ist selbst ein epistemisches System undmuss als solches in der Einheit von Erkennen und Handeln Vieles unscharf stellen, um Weni-ges anderes erkennen zu können. Sie erscheint nun in der eigentümlichen Situation einer the-ory of everything, die, gerade wenn sie in ihrer Beschreibung sehr genau und exakt wird, unsnicht unbedingt wirklich bei unseren täglichen Problemen weiterhilft – denn praktikableTheorie verlangt erhebliche Komplexitätsreduktionen. Was dennoch die Systemtheorie alsMetatheorie für empirische Forschungsprojekte empfiehlt, ist die Reflexion dieses Prozes-ses, denn »reduzierte Komplexität ist für sie nicht ausgeschlossene Komplexität, sondernaufgehobene Komplexität. Sie hält den Zugang zu anderen Kombinationen offen – vorausge-setzt, dass ihre Begriffsbestimmungen beachtet und theoriestellenadäquat ausgewechseltwerden. Wenn freilich das Begriffsbestimmungsniveau aufgegeben würde, würde auch derZugang zu anderen Möglichkeiten der Linienziehung im Nebel verschwinden, und man hättees wieder mit unbestimmter, unbearbeiteter Komplexität zu tun« (Luhmann 1993, 12).

IV. Empirische Operationalisierung des Systembegriffs

Bevor wir uns mit der methodologischen Operationalisierung der soziologischen Systemthe-orie eingehender beschäftigen, ist ein kurzer Seitenblick auf die Disziplinen hilfreich, dieschon länger erfolgreich mit Systemen als sich in der Zeit stabilisierenden rekursiven Funkti-onen rechnen können. Als Beispiel für eine auch in empirischer Hinsicht außerordentlich er-folgreiche Disziplin ist hier die Quantentheorie zu nennen, die ihre Gegenstände als raum-zeitliche Wahrscheinlichkeitswellen beschreibt, die in ihren Eigenwerten kollabieren können,um dann an den Grenzbereichen ihrer Disziplin den Materie- und den Informationsbegrifffließend ineinander übergehen lassen zu können (vgl. Zeilinger 2005). Für die physikalischeChemie sind hier vor allem die Arbeiten um den Nobelpreisträger Ilya Prigogine (1979) zunennen, der mit seinem Konzept der dissipativen Strukturen die Bedingungen formulieren

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konnte, wie aus Materie- und Energieflüssen Strukturen entstehen, die sich als Symmetrieb-rüche in Raum und Zeit entfalten und so eine individuelle Geschichte bekommen. Ebensokönnen Neurobiologen mittlerweile mit Mustern von neuronalen Aktivitäten rechnen, diewiederum neue Muster von neuronalen Aktivitäten erzeugen, um hierdurch im Einklang mitdem phänomenalen Erleben eine Hirndynamik zu erklären, die zugleich der operationalenGeschlossenheit des Nervensystems gerecht wird, wie auch die Dynamiken des In-Resonanz-Tretens mit den Sinneswahrnehmungen beschreiben kann (siehe etwa Varela 1999).

Die Operationalisierung der systemischen Modellbildungen erfolgt in den benannten Dis-ziplinen auf Basis einer anspruchsvollen Mathematik, die mit rekursiven Verhältnissen zurechnen erlaubt.13 Zumindest in der internationalen Spitzenforschung ist die general systemstheory in den hard sciences sehr wohl empirisch anschlussfähig.

In den Sozialwissenschaften stellt sich das Verhältnis von Systemtheorie und Empirie ausverschiedenen Gründen vielschichtiger dar. Wie insbesondere Loet Leydesdorf am Beispielvon Netzwerken wissenschaftlicher Kommunikation aufzeigt, lassen sich zwar durchaus aufBasis quantitativer mathematischer Modellierungen Hypothesen zur Selbstorganisation bil-den und testen (Leydesdorff 2001). Doch Luhmanns Theorie stellt an die empirische Sozial-forschung Anforderungen, die weit darüber hinausgehen, festzustellen, ob und auf welchemWege sich Kommunikationsnetzwerke rekursiv stabilisieren.

Die größte empirische Herausforderung besteht in dem Luhmannschen Sinnbegriff, der imAnschluss an Husserl eine komplexitätstheoretische Deutung bekommt. Sinn erscheint nunals Selektionszusammenhang, in dem ein System aus einem begrenzten Arsenal von Mög-lichkeiten einzelne Optionen auszuwählen hat. Der Vollzug der eigenen Praxis zwingt zudieser Auswahl aus einem Selektionsbereich schon deshalb, weil allein aus Gründen be-grenzter Zeit und Ressourcen nicht alle denkbaren Bezüge beachtet und realisiert werdenkönnen.14 Sinn lässt sich nun abstrahierend als eine fortschreitende, sich selbst prozessieren-de Sukzession der Aktualisierung der »modaltheoretischen Unterscheidung von Wirklichkeit(Aktualität) und Möglichkeit (Potentialität) bestimmen« (Luhmann 2000, 18f.). Dabei er-scheint der Sinn selbst als ein selbstreferenzieller Reproduktionszusammenhang, als »einProzessieren nach Maßgabe von Differenzen, und zwar von Differenzen, die als solche nichtvorgegeben sind, sondern ihre operative Verwendbarkeit (und erst recht natürlich: ihre be-griffliche Formulierbarkeit) allein aus der Sinnhaftigkeit selbst gewinnen. Die Selbstbeweg-lichkeit des Sinngeschehens ist Autopoiesis par excellence« (Luhmann 1993, 101).15

13) Francisco Varela entwickelte hierzu eine Variante von Spencer Browns Kalkül der Form, auf den be-kanntlich auch Niklas Luhmann zurückgreift, jedoch eher mit Blick auf die Metaphorik der Einheitdes Bezeichnens und Unterscheidens und des Re-entrys der Form, denn mit Blick auf die mathema-tischen Implikationen des Kalküls (vgl. Schönwälder et al. 2004).

14) »Man kann sagen, daß die Welt (für einen Beobachter) komplex ist und sich daher jede Verknüpfungvon Elementen (=Operationen) nur selektiv unter Außerachtlassen bzw. Ablehnung anderer Möglich-keiten vollziehen läßt – anderer Möglichkeiten, die aber an der Operation noch sichtbar sind und ihreSelektion als kontingent erscheinen lassen. Die Welt kann sich selbst nur über Einschränkungen undnur über Inanspruchnahme von Zeit realisieren. Oder man kann in der phänomenologischen Traditiondas Erscheinen sinnhafter Formen analysieren und dabei feststellen, daß jedes aktual intendierte Itemin der Form eines Sinnkerns gegeben ist, der auf zahllose andere Möglichkeiten der Aktualisierungvon Sinn verweist, und wiederum: teils auf gleichzeitig Mitvorhandenes, teils auf Anschlußmöglich-keiten. Die Unterscheidung der beiden Darstellungsmöglichkeiten beruht auf der Unterscheidung vonObjekt und Subjekt. Das Komplexitätstheorem vertritt einen objektiven (die Gegenseite sagt dann:objektivistischen) Weltbegriff. Die Phänomenologie versteht sich als subjektive (also: subjektivisti-sche) Analyse sinnstiftender Bewußtseinsleistungen« (Luhmann 2000, 18).

15) Grundlegend zum Sinnbegriff siehe Luhmann 1993.

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Eine quantifizierende mathematische Modellbildung findet hier keinen Ansatzpunkt mehraber auch eine sinnverstehende Soziologie scheint an der Fluidität eines solchen Sinngesche-hens kapitulieren zu müssen. Letztere scheint mit Saake und Nassehi (2002) dann nur nochfeststellen zu können, dass auch der soziologische Interpret in seinem Datenmaterial vor al-lem Kontingenz vorfindet und dann in seinem Verstehen üblicherweise nichts anderes tut, alsdiese Kontingenz auf eine bestimmte und nicht auf eine anders mögliche Weise sinnhaft zuerschließen. Von hier scheint es nur ein kleiner Schritt, jeglichen Versuch wissenschaftlichenFremdverstehens zu dekonstruieren, denn Sinnverstehen scheint aus dieser Perspektivenichts anderes mehr zu bedeuten, als dem fremden Gegenstand die eigene Sichtweise, die ei-genen Schemata und Motivzurechnungen als Interpretation zu unterstellen.

Sich in einem Luhmannschen Sinne auf den Sinnbegriff einzulassen, heißt vor allem, sichder Herausforderung der Unbestimmtheit zu stellen. Auf der Ebene der Bewusstseinssystemeerscheint das Sinnprozedere nun nicht mehr wie noch bei Alfred Schütz und Thomas Luck-mann (2003, 465) als vorgefertigter Entwurf, der seiner Realisierung zustrebt, sondern alseine Kette sukzessiver Bestimmungen, in denen jeweils das jüngste Glied den vergangenenElementen Sinn zuschreibt (Luhmann formuliert hier das Bild vom Denken, dass immer nurnach hinten schaut, vgl. Luhmann 1995). Homolog bekommt die Kommunikation ihre Be-stimmung erst durch die Anschlusskommunikation. Anders als noch in der technischen In-formationstheorie lässt sich der Sinn einer Botschaft nun nicht mehr bestimmen, indem dieInformation als Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Signals aus einem definierten Aus-wahlbereich zurückgerechnet wird, denn der Auswahlbereich, d.h. das Spektrum möglicherSelektionen, ist nun ebenso unbestimmt, wie die Information (siehe Baecker 2005, 22). Diedem Common sense vertrauten Verhältnisse verkehren sich auch hier: »Man findet nicht et-was vor, das dann Anlass für Kommunikation ist. Sondern man kommuniziert bereits undfindet deswegen und darin Anlässe, die es erlauben, weiterzukommunizieren oder die Kom-munikation abzubrechen« (Baecker 2005, 29).

Der Ausgangspunkt ist nicht mehr der bestimmte Sinn und der vom Gegenüber her zu be-stimmende Sinn, sondern die auf beiden Seiten ungewisse Ausgangslage des von TalcottParsons formulierten Problems der ›doppelten Kontingenz‹. Zunächst erscheint der Sinn un-bestimmt, um dann später in der Kommunikation in einen bestimmbaren, jedoch nicht unbe-dingt für beide Seiten auf gleiche Weise zu bestimmenden Sinn einzurasten. Dieser Prozesserhält gleichsam erst vom Ende der Kommunikation her seine Form. Kommunikation er-zeugt dann erst die Information, »die bestimmte Nachrichten in ein Verhältnis zu mitlesen-den, jetzt aber unbestimmten Auswahlbereich möglicher anderer Nachrichten setzt. Kommu-nikation, wird dies dann heißen, arbeitet an der Bestimmung des Unbestimmten, aberBestimmbaren, um Bestimmtes verstehen zu können« (Baecker 2005, 22).

Wir befinden uns hier noch auf einer sehr basalen Ebene des Theoriedesigns, auf der andieser Stelle nur zwei Aspekte zu rekapitulieren sind:

1. Kommunikation und Psyche sind als getrennte Systeme anzusehen, die zwar einanderbedürfen, um jeweils ihre eigenen Strukturen aufbauen zu können, die dann aber mit Bezugauf ihre Funktion eine jeweils eigenständige selbstreferenzielle Schließung realisieren.

2. Als Autopoiese vollzieht sich jedes Sinngeschehen als ein sich zeitlich entfaltender Pro-zess, der dann jeweils von der »Zukunft«, vom jeweils jüngsten Ereignis her seine Bestim-mung erfährt.

Auf den ersten Blick mag die zentrale Figur ›Bestimmung des Unbestimmten, aber Be-stimmbaren, um Bestimmtes verstehen zu können‹ für empirische Forschung nur schwierigzu operationalisieren sein. Doch sowohl für die Psyche als auch für die Kommunikation istdies möglich. Die Voraussetzung hierfür ist, dass die Sequenzialität des Sinngeschehens in

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ihrem Prozedere vom Unbestimmten zum Bestimmten protokolliert wird, um dann die klas-sisch physikalische Weltzeit mit der jeweiligen Systemzeit in Beziehung setzen zu können.

Für das Bewusstsein lässt sich dies realisieren durch Experimente, in denen der Zeitver-lauf von Wahrnehmung, Bewusstsein und Handlungsimpuls untersucht wird,16 beispielswei-se in Versuchen, in denen die Einheit von Erleben und Handeln unterbrochen wird, um dannvom Bewusstsein wieder hergestellt zu werden,17 oder mittels eines Forschungsdesigns, dasgestattet, die phänomenologische Erste-Person-Perspektive mit einer Hirndynamik zu korre-lieren, die auf Basis dynamizistischer, systemtheoretischer Modelle rekonstruiert wird.18 Alldiese Experimente deuten darauf hin, dass »der anhaltende Fluß von Reflexionen, den wirBewußtsein nennen und mit unserer Identität assoziieren«, vor allem eine »deskriptive Re-kursion« darstellt, welche die Funktion hat, eine »sprachlich operationale Kohärenz« zu er-zeugen. Bewusstsein kann und braucht dann nicht mehr Wirklichkeit abzubilden, also das,»was aus dem Blickwinkel eines unabhängigen Beobachters geschieht« (Maturana/Varela1987, 249f.), sondern leistet genau im Sinne der Luhmannschen Argumentation die ›Bestim-mung des Unbestimmten, aber Bestimmbaren, um Bestimmtes verstehen zu können‹.

Im gleichen Sinne lassen sich die Zeitverhältnisse von Kommunikation hinsichtlich der Dy-namik von Unbestimmtheit und Bestimmung untersuchen. Auf einer basalen Ebene eröffnethier die Ethnomethodologie einen empirischen Zugang, da hier die Frage der Sinninterpretationzugunsten der Diskursstrukturen systematisch ausgeblendet wird. Das Problem der Indexikalität– also der in der Regel unbeantwortbaren Frage, worauf denn nun Ausdrucksgestalten wirklichverweisen – wird eingeklammert, denn »indexikalische Ausdrücke« können grundsätzlich nichtund brauchen deshalb auch nicht aufgeklärt bzw. »repariert« zu werden (Garfinkel/Sacks 2004).Im Sinne einer empirischen Perspektive rückt das, was mit einer Aussage gemeint sein könnte,in den Hintergrund und die Analyse lenkt nun stattdessen ihr Augenmerk darauf, wie sich einSystem von Aussagen entfaltet, richtet sich auf die Prozesse und Strukturen, die in diesen Pro-zessen aufscheinen, darauf, wo und wann unterbrochen und metakommunikativ kommentiertwird (formulating) und an welchen Stellen Zurechnungen (accounts) eingebracht werden.

Als Befund dieser Studien lässt sich dann in generalisierter Form zunächst als Ausgangs-punkt festhalten, dass Sprache »wesensmäßig vage« ist (Bohnsack 1998, 109), also Themenund ihre Rahmungen zunächst diffus bleiben, dann aber im Verlauf der Kommunikation ei-ner Bestimmung zugeführt werden. »Der Sinn des Sachverhalts, auf den man sich bezieht,wird vom Hörer nicht dadurch entschieden, dass er nur das bereits Gesagte in Betracht zieht,sondern dass er auch dasjenige einbezieht, was im künftigen Gesprächsverlauf gesagt seinwird. Derartige zeitlich geordnete Mengen von Feststellungen machen es erforderlich, dassder Hörer an jedem gegenwärtig erreichten Punkt in der Interaktion voraussetzt, durch dasWarten auf das, was die andere Person noch zu einem späteren Zeitpunkt sage, werde die ge-genwärtige Deutung dessen, was schon gesagt oder getan worden ist, später einer endgülti-gen Klärung zugeführt sein« (Garfinkel 1973, 208).

In diesem Sinne lässt sich die Ethnomethodologie als ein methodologischer Zugang be-greifen, um den Systemcharakter von Interaktionssystemen auf formaler Ebene empirisch zurekonstruieren. Gespräche erscheinen nun als selbstreferenzielle Systeme, die ihre Bestim-mung nicht aus den intendierten Ausdrucksgestalten ihrer Akteure, sondern aus der Dynamikder wechselseitig erfolgenden Anschlüsse erhalten (vgl. Hausendorf 1992).

16) Klassisch hierzu Libet 1979, aber mittlerweile in sehr viel ausgefeilterer Form vgl. Obhi/Haggard2006.

17) Siehe hierzu die Experimente der Arbeitsgruppe um den Nobelpreisträger Roger W. Sperry (sieheGazzaniga 1989).

18) Vgl. hier Varela 1999 und Gelder 1999.

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Die soziologische Systemtheorie wird empirisch operationalisierbar, indem sie die Bearbei-tung von Kontingenz, die Figur der ›Bestimmung des Unbestimmten‹ in den Mittelpunkt ihrerAnalysen rückt. All jene problematischen Leerstellen der interpretativen Sozialforschung (›Bi-ografien‹, ›Subjekte‹, Bedeutungen von Metaphern und Ritualen etc.) brauchen nun nicht mehressentialistisch konzeptionalisiert zu werden. Stattdessen liegt das Augenmerk nun auf derfunktionalen Perspektive. Es ist nun beispielsweise darauf zu schauen, welche Bezugsproble-me durch eine biografische Antwort oder durch die Zurechnung auf einen freien Willen gelöstwerden können, oder welche Antwortklassen funktional äquivalent zu bestimmten Formen vonBiografiekonstruktionen und Subjektivierungen liegen (vgl. Nassehi/Saake 2002). Der Blickrichtet sich nun darauf, wie Metaphern, Verfahren, Rituale etc. ein soziales Systeme selbstdann konfigurieren können, wenn seitens der Akteuren die Bedeutung bzw. der indexikalischeGehalt eben dieser semantischen Komplexe längst vergessen worden ist (vgl. Lee 2004).

V. Semantische Systeme

Wenngleich sich mit den benannten Wegen sehr wohl eine begründete, systemtheoretisch in-spirierte Sozialforschung etablieren ließe, würde die eigentliche Leistung der LuhmannschenSystemtheorie damit in methodologischer Hinsicht noch unberührt bleiben.

Ihre gesellschaftstheoretische Bedeutung liegt bekanntlich in der Konzeption der funktio-nalen Differenzierung, die darauf beruht, dass es innerhalb der Sinnsysteme nochmals zuroperativen Schließung kommt, dass sich also die Auswahlbereiche, das Spektrum potentiellaktualisierbarer Themen, selber konditionieren und zu Formen und Formschemata führen,welche die Kommunikation auf einer höheren Ordnungsebene strukturieren. Im Falle der ge-sellschaftlich ausdifferenzierten Funktionssysteme geschieht dies dann entlang eines binä-ren Codes und eines Mediums, was die Kommunikation vermittelt und eng führt (z.B. findetdie Wirtschaft ihre Anschlüsse nur unter der Perspektive der Zahlung), im Falle der Organi-sationen auf Basis der ›Inklusionsregel Mitgliedschaft‹ und der intern bindenden ›Reproduk-tion von Entscheidungskommunikation‹.

Wir finden hier also eine Differenzierungstheorie vor, die mit verschiedenen semantischenKontexturen rechnet, welche jeweils ihre eigenen Anschlussmöglichkeiten eröffnen, und –dies ist die eigentliche empirische Herausforderung – welche von polykontexturalen Verhält-nissen ausgeht, in der sich die verschiedenen Kontexturen der unterschiedlichen gesellschaftli-chen Funktionssysteme nicht nur überlagern, sondern durch die quer zu den gesellschaftlichenFunktionssystemen (Medizin, Recht, Wirtschaft etc.) liegenden Systemtypen Organisationund Interaktion gebrochen oder unterlaufen werden können.

So ergeben sich beispielsweise im Krankenhaus mit der Verschreibung eines bestimmtenMedikaments sowohl medizinische als auch wirtschaftliche und rechtliche Anschlüsse. Al-lerdings können dann innerhalb einer Organisation beispielsweise Anlässe für die Verschrei-bung nahe liegen, die weder medizinisch, noch rechtlich oder wirtschaftlich motiviert sind.Ein starkes Beruhigungsmittel zu verschreiben, trägt auch dazu bei, dass das überlastetePflegepersonal weniger Zeit mit einem unruhigen Patienten zu verbringen hat, hilft also beider Routinisierung der organisationalen Vollzüge.

Zudem kann sich die Interaktion quer zu den Logiken von Organisation und gesellschaftli-chen Funktionssystemen stellen. So darf beispielsweise im Akutkrankenhaus offiziell nurTherapie und Diagnose betrieben werden. Aktive wie passive Sterbehilfe sind aus verschie-denen, auch rechtlichen Gründen nicht erwünscht. Dennoch wird ein Beobachter im Kran-kenhaus Aushandlungsprozesse feststellen können, in denen sich Angehörige, Patienten undÄrzte auf die diffuse Grauzone der Sterbebegleitung einigen, um dann vielleicht die Dosisder Opiate zu erhöhen, was den Sterbevorgang ein wenig beschleunigen wird. Doch durchsolch ein Arrangement werden keineswegs die anderen gesellschaftlichen Kontexturen sus-

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pendiert. Man wird medizinische Gründe nennen können, warum die hohe Morphiumgabenotwendig war, wird weiterhin Therapiebemühungen zeigen, um den Fall gegenüber denKrankenkassen gut abrechnen zu können, wird wie immer die ärztliche Hierarchie bemühen,um zu einer legitimierten Entscheidung zu kommen, und nicht zuletzt den Behandlungspro-zess in einer Form dokumentieren, die im Zweifelsfall vor dem Recht Bestand hat (vgl.Vogd 2004b, 339ff.). In einer hoch verdichteten Organisation wie dem Krankenhaus er-scheint jede Kommunikation multivalent; sie eröffnet gleichzeitig verschiedenen SemantikenAnschlussmöglichkeiten. Die meisten dieser Semantiken liegen in der Regel im Latenzbe-reich – finden also nicht unmittelbar in expliziter Form ihren Anschluss, strukturieren aberdennoch die Kommunikation und lenken sie in bestimmte Bahnen.

Die Luhmannsche Fassung der Differenzierungstheorie geht keineswegs – wie oftmals miss-verstanden (so etwa Knorr-Cetina 1992) – von einem mechanischen Konzept aus, demzufolgeeine bestimmte Organisation eine bestimmte Funktion zu erfüllen habe. So ist ein Labor genausowenig Wissenschaft, wie ein Krankenhaus das Medizinsystem oder eine politische Partei Politikdarstellt. Vielmehr kann auch im Labor Politik und Wirtschaft geschehen, wie denn auch in poli-tischen Parteien persönliche Bindungen über Zahlungen auf Dauer gestellt werden können.19

Als semantische Systeme verstanden sind Politik (Macht), Recht, Wirtschaft, Wissenschaft(Wahrheit), Liebe, Krankenbehandlung, Familie, Erziehung, Religion etc. keine Strukturen,sondern hochabstrakte, rekursive, sich über die Zeit stabilisierende Relationen. Sie erscheinennun als gesellschaftlich ausdifferenzierte Protoformen, als Keime bewährter Semantiken, andie bei Bedarf angekoppelt werden kann. Sie erscheinen als Rahmen – hier im Anklang anGoffman (1996) – der aufgrund eines spezifischen Codes jeweils einen Möglichkeitsraum dazueröffnet, was der Fall sein könnte und über dessen Realisierung erst die weitere Kommunikati-on entscheidet. »Codes sind Sofern-Abstraktionen. Sie gelten nur, sofern die Kommunikationihren Anwendungsbereich wählt (was sie nicht muß). Es kommt nicht in jeder Situation, nichtimmer und überall, auf Wahrheit oder auf Recht oder auf Eigentum an« (Luhmann 1986, 79).20

Die jederzeit aktualisierbaren systemischen Kontexturen stellen aus dieser Perspektive so-wohl Ursache wie auch Lösung, Ausgangspunkt wie auch Problem kommunikativer Prozes-se dar. Sie erscheinen als selbstreferentieller Eigenwert kommunikativer Prozesse, gleichzei-tig als ihr Einsatz wie auch als ihr Gewinn. Die Gesellschaft stellt hier gleichsam dasMedium dar, welches bewährte Sinnkontexturen zur Verfügung stellt, auf die dann in derKommunikation bei Bedarf, insbesondere unter Bedingung erhöhter Unsicherheit, zurückge-griffen werden kann und muss. Eine der wesentlichen Leistungen von Luhmanns Systemthe-orie besteht jedoch darin, dass die Kontingenz nun nicht – wie im ›postmodernen‹ interpreta-tiven Paradigma in die Beliebigkeit beliebiger Interpretationen mündet,21 sondern in die›Wahrscheinlichkeitsfelder‹ der gesellschaftlichen Kontexturen gelenkt wird, in denen be-stimmte Sinnselektionen Eigenwerte erzeugen, welche mit einer gewissen Wahrscheinlich-keit eine solche Selektion erwarten lassen. Die gesellschaftstheoretische Pointe dieser Pers-pektive lautet, dass die inkludierten Akteure als personalisierte Adressen gelernt haben, mitdiesen polyzentrischen und polykontexturalen Verhältnissen umzugehen. Interaktion und Or-ganisation können nun – insbesondere André Kieserling (1999) hat darauf hingewiesen –

19) Vgl. hierzu Dirk Baecker 2000 in seinem TAZ-Beitrag »Korruption empirisch«. 20) Um es mit Günther Ortmann nochmals zu pointieren: »Handlungen, Operationen, Zahlungen, Trans-

aktionen, Entscheidungen, Kommunikationen haben es an sich, mehrdeutig zu sein [...], und dasscheint mir zu bedeuten, dass es keine distinkten Wirtschafts-, Rechts- und politischen Handlungengibt und geben kann, es sei denn in dem Sinne, dass der wirtschaftliche, rechtliche oder politische As-pekt in diesem oder jenem Kontext dominiert, und vielleicht so deutlich, dass wir nicht zögern, vonwirtschaftlichem, rechtlichem oder politischem Handeln zu sprechen« (vgl. Ortmann 2003, 242).

21) Vgl. Nelson Goodman 1990 und als methodologisches Primat Norman K. Denzin 1994.

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auch in Kontrast zur ›Gesellschaft‹ gehen.22 Sie können sich aufgrund ihrer jeweils eigenenGeschichte gegenüber den gesellschaftlichen Semantiken absetzen, um sie zugleich zu inte-grieren.

So können Ärzte bezüglich administrativer, rechtlicher und auch ökonomischer Anforde-rungen im ›Modus des als ob‹ agieren, also hinsichtlich der Aktenführung formell den ent-sprechenden Anforderungen genügen, um dann, etwa bei sozialen und medizinischen Frageninformell das zu tun, was ihrem ärztlichen Habitus entspricht oder situativ durch die Interak-tion nahe gelegt wird (vgl. Vogd 2002, 2004b). Die jeweiligen Semantiken bzw. »Formender Kommunikation« (Baecker 2005) dürfen hier nicht mehr im Sinne eines Regulismus alsnormative Strukturen der Gesellschaft verstanden werden, sondern sind selbst in die sozialePraxis der Kommunikation eingewoben. In der Koproduktion von Psyche und Sozialem er-scheinen sie als vertraute Formen, die schon längst in vergangenen sozialen Praxen Plausibi-litäten gewonnen haben. Sie bieten sich dann auf diesem Wege für die beteiligten psychi-schen Systeme als Organisationsprinzipien der Erfahrung an bzw. für die Kommunikationals sicherer Hafen einer Weichenstellung, die klärt, welche möglichen Züge als nächstes zuerwarten sind.

VI. Polykontexturale Verhältnisse und empirische Forschung

Es stellt sich nun die Frage, was die Systemtheorie mit Blick auf ihre gesellschaftstheoreti-schen Implikationen zum empirischen Geschäft der Soziologie beitragen kann. Nehmen wiruns für mögliche Antworten ein wenig Raum und beleuchten zunächst die prognostische Re-levanz der Luhmannschen Konzeption und suchen dann nach Anschlüssen in den hypothe-sentestenden und in den rekonstruktiven Verfahren.23

1) Prognostische Relevanz:

Die Luhmannsche Konzeption beschreibt die Entwicklung der gesellschaftlichen Semantikenauf Basis des evolutionären Schemas Selektion/Variation/Restabilisierung und eignet sich des-halb nicht für lineare Zukunftsvorhersagen. Da die drei Selektionsprozesse des Formschemaskausal voneinander entkoppelt sind, die Variation also keinen Einfluss darauf hat, ob sie ausge-wählt wird bzw. da Selektion nicht wissen kann, ob sie mittelfristig restabilisiert wird, gestattetdie Systemtheorie nicht, beobachtbare Trends einfach in die Zukunft hinein zu verlängern.

Als Beobachtung zweiter Ordnung wird sie jedoch Bedingungen von Möglichkeitsräumenbeschreiben können, die Evolution und Selbstorganisation möglich werden lassen. Sie wird,um beispielsweise für das Erziehungssystem zu sprechen, damit umzugehen lernen, dass esnicht mehr (nur) um Wissen gehen kann, sondern vor allem um Intelligenz als Fähigkeit,Nichtwissen und Wissen in ein konstruktives Verhältnis zueinander zu bringen.24 Sie wirdeine Ahnung entwickeln, dass das Erfüllen gesellschaftlicher Funktionen ab einem gewissenKomplexitätsgrad der Ausdifferenzierung nicht mehr (nur) durch hierarchische Organisati-onsformen bewältigt werden kann, sondern einer heterarchischen Entscheidungsstruktur be-darf. Sie wird damit rechnen können, dass diese Prozesse auf der Ebene der politischen undinnerbetrieblichen Steuerung zwar einen Verlust an Kontrolle bedeuten, der jedoch mit einerhöheren Leistungsfähigkeit einhergehen kann.

22) Was natürlich nur als Kommunikation, also in Form von Gesellschaft geschehen kann.23) In sozialwissenschaftlichen Diskursen wird hier üblicherweise zwischen den quantitativen und den

qualitativen Methoden unterschieden, eine theoriepolitisch verständliche, metatheoretisch jedocheher unglückliche Unterscheidung.

24) Gregory Bateson 1992 hat diese reflexive Ebene als Deutero-Lernen bezeichnet.

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Vieles spricht dafür, dass die Systemtheorie sehr wohl begründete Zeitdiagnosen wagenkann, die dann vor allem in der »Therapie des Common Sense« liegen (Vogd 2005a). Es wirdihr dabei weniger um das Erstellen von Vorhersagen gehen, sondern um das Einholen einersozialen Wirklichkeit, in der Gesellschaftsstruktur und Semantik notwendigerweise ausein-ander klaffen. Diese Analysen wären dann im besten Sinne soziologischer Tradition auch alseine Ideologiekritik zu verstehen, nämlich in dem Sinne, dass die gesellschaftlichen Theori-en über die Praxis mit der rekonstruierten Logik der Praxis miteinander in Beziehung zu set-zen sind.25 Aus der metatheoretischen Anlage der Systemtheorie ergibt sich dabei jedocheine besondere Lagerung. Sie beschreibt ihre Gegenstände aus einer inkongruenten Perspek-tive und weiß dabei, dass die Differenz von Selbst- und Fremdbeschreibung für den unter-suchten Gegenstand selbst konstitutiv ist. Entsprechend kann sie nicht davon ausgehen, dassihre Beschreibung in den semantischen Haushalt des von ihr untersuchten Gegenstandes ein-gehen wird, bzw. für diesen überhaupt Relevanz hat. Auf der anderen Seite ist sie jedoch ausgenau diesem Grunde in der Lage, mit Kommunikationssperren zu rechnen und kann die Er-kenntnis, dass ›die eine Hand nicht wissen darf, was die andere tut‹ (Bateson/Bateson 1993),als Irritation ins Design gesellschaftlicher Prozesse wieder mit einfließen lassen.26

Ob die soziologische Systemtheorie damit jedoch in the long run eher in eine erfolgreicheErkenntnispraxis mündet als weniger komplexe Theorieentwürfe, die aus diesem Grundeleichter und voraussetzungsloser mit Zukunft rechnen können, ist eine Frage die allein schonmit dem selbstreferenziellen Bezug auf das Evolutionsschema unbeantwortet bleiben muss.Dies gilt allerdings genauso für ihren großen Konkurrenten, die Rational choice-Theorie.

2) Hypothesentestende Verfahren

Die Systemtheorie mündet durchaus in eine Reihe von gesellschaftstheoretischen Implikatio-nen, die – empirisch operationalisiert – ihren Anschluss in hypothesentestenden Verfahrenfinden können. Zu denken wäre hier beispielsweise an die These von der Entkopplung derFunktionssysteme von Moral. So ließe sich beispielsweise durchaus ein hypothesentestendesDesign entwickeln, um etwa die gesellschaftliche Bedeutung von Ethik und Moral zu unter-suchen. Hier könnte dann auf der einen Seite die Habermassche Vorstellung von ethischerReflexion als herrschaftsfreiem Diskurs operationalisiert werden, demgegenüber dann aufder anderen Seite die Luhmannschen Position, dass der ethische Diskurs vor allem die Funk-tion erfüllt, die Moral von den Funktionssystemen fern zu halten. Irmhild Saake und Domi-nik Kunz kommen in ihrer empirischen Untersuchung zu Ethikkomitees im Krankenhausentsprechend zu dem Ergebnis, dass im ethischen Diskurs gerade nicht mehr moralisch ent-schieden werden muss, sondern stattdessen performativ eine Symmetrisierung von Sprecher-perspektiven hergestellt wird (Saake und Kunz 2006), die im operativen Vollzug der organi-sationalen Entscheidungspraxis allerdings weiterhin keine Rolle spielt.

Oder man könnte Luhmanns religionssoziologische These überprüfen, dass die Religionmit der funktionalen Differenzierung aus gesellschaftlichen Gründen weiter ihr Bezugsprob-lem behält, also weder mit der Säkularisierung verschwindet noch als ›unsichtbare Religion‹in der symbolischen Bindung eines Menschen – von dem dann Thomas Luckmann anneh-men musste, dass Religiosität zu seiner anthropologischen Grundausstattung gehört – an die

25) Aus der Perspektive einer diesbezüglichen Rekonstruktion kann die Systemtheorie dann beispiels-weise sehr wohl die fundierte These entwickeln, dass moderne Organisationen mit den Möglichkeitender neuen Medien in ein Komplexitätsstadium kommen werden, welches die Umstellung von einerOrganisations- zu einer Netzwerkgesellschaft wahrscheinlich werden lässt (Baecker 2005, 254ff.).

26) Auch die Neoinstitutionalisten haben mittlerweile erkannt, dass Prozesse in Organisationen nur losegekoppelt zu sein haben (siehe etwa Meyer 1992).

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Gesellschaft aufgeht.27 Zudem weisen Diskussionen an der Front systemtheoretischer For-schung auf einige interessante Folgeprobleme der funktionalen Differenzierung hin,28 diehinsichtlich ihres empirischen Gehaltes durchaus in entsprechende Untersuchungsdesignshypothesentestender Forschungsprojekte münden könnten.

Eine solche Empirisierung des systemtheoretischen Gedankenguts hätte jedoch die eigent-liche Arbeit der Systemtheorie – das Theoretisieren – als block box zu begreifen, denn dieArt und Weise, wie der gute Systemtheoretiker in seinem alltäglichen Geschäft vorgeht,bleibt hier verborgen. Die Beherrschung der Komplexitäten dieser Theorie beruht dann wei-terhin nur auf der stillen Kunst und Intuition jener ›Meister‹, welche jedoch letztlich nichtbegründen können, wie und warum sie zu ihren Hypothesen kommen.

3) Rekonstruktive Verfahren

Anders stellt sich das Verhältnis zwischen Systemtheorie und Empirie in den so genanntenrekonstruktiven Verfahren dar. Rekonstruktive Methoden setzen im Anschluss an Gadamer,Schütz und Garfinkel an dem Problem an, dass man in der Erforschung sozialwissenschaftli-cher Gegenstände allein schon deswegen mit einer externen »Logik der Forschung« nichtsehr weit kommt, weil die untersuchten Gegenstände ihre jeweils eigene Epistemologie besit-zen. Sie folgen nicht, wie die Objekte der klassischen Physik, den Trajektorien mathematischbeschreibbarer Bahnen, sondern erzeugen ihre jeweils eigenen Unterscheidungen, ihr eigenesWissen, auf Basis dessen sie sich an der Wirklichkeit orientieren. Schon bei einfachen kyber-netischen Maschinen, die ihre Input-output-Relation als interne Zustandsfunktion verändernkönnen (vgl. Foerster 1994, 248ff.), ist es wenig sinnvoll, die Modellbildung an die statisti-sche Überprüfung von Verhaltensvorhersagen zu binden. Ein solches System zu verstehen,würde dann vielmehr bedeuten, seine Funktion zu rekonstruieren. Fremdverstehen heißtdann vor allem die Selbstorganisation der Einheit von »Erkennen und Handeln« aus der Ei-genlogik des untersuchten Gegenstandes heraus zu beschreiben (Maturana/Varela 1987).

In genau diesem Sinne ist die Luhmannsche Theorie aus sich heraus schon immer als re-konstruktives Verfahren zu verstehen, nämlich als ein Programm, die Eigendynamik sozialerSysteme zu beschreiben – auf welchem Wege auch immer.

Eine Rekonstruktion ist eine besondere Form der Datenanalyse, in der der Forscher, ummit Loet Leydesdorf (2001, 12f.) zu sprechen, eine Linie durch die Daten zieht, welche ihrerEntwicklung durch die Zeit gerecht zu werden versucht. Die Rekonstruktion beruht auf einerRückschau und stellt in sich eine spezifische theoretische Selektion dar, die jedoch durchdas, was empirisch beobachtet wurde, gerechtfertigt ist. Die Abstraktionen, welche die Sys-temtheorie interessiert, sind Sinnsysteme, welche nun als ›sich über die Zeit stabilisierendeSelektionen‹ zu verstehen sind. Für die wissenschaftliche Rekonstruktion stellt sich jedochdas Problem, wie eine bestimmte Figur der Rekonstruktion gerechtfertigt werden kann ge-genüber möglichen anderen Mustern, die ebenfalls als Interpretation dem Material unterlegtwerden können. Wir benötigen hier eine Methodologie, die eine reflexive Theorie darstellt,um ihrem Gegenstand, der sich im selbstreferenziellen Bezug konstituiert, gerecht zu wer-den. Wie brauchen ein Verfahren, das zugleich ein Instrument darstellt, um Hypothesen über

27) So vermutet André Kieserling mit Blick auf Luhmanns kommunikationstheoretische Fassung des Re-ligionsbegriffs: »Diese Umkehrthese, wonach die Religion nur für die Gesellschaft, aber nicht für je-des Individuum notwenig ist, kann sehr viel besser abgesichert werden, da es zwar Individuen, aberkeine Gesellschaft ohne Religion gibt« (Kieserling 2004, 165).

28) ›Import von Umweltkomplexität durch Beratung‹, ›Netzwerkgesellschaft‹, ›Reflexion auf das Evolu-tionsschema‹, ›Probleme der Kompossibilität und Einheitsemantiken, die hieran parasitieren können‹und ›Designprobleme der Gesellschaft‹ sind hier einige der Themen, die aktuell verhandelt werden.

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die Beziehung zwischen Struktur und Funktion testen und falsifizieren zu können. Wir brau-chen also eine Methode, welche die Kontingenzen des Interpretationsvorgangs reflektiertund zugleich systematisch (eben: methodisch) kontrolliert.

Innerhalb der üblichen Fassung der Systemtheorie finden wir zwar einige Heuristiken,welche darauf hinweisen, dass wir es mit semantischen Systemen zu tun haben könnten (Co-des, Re-Entry-Figuren, Kontingenzformeln, Bezugsprobleme und Funktionen, Routinen inForm von Programmen und Schemata etc.). In Hinsicht auf eine Methodologie, die be-schreibt, wie forschungspraktisch theoretische Sätze und Beobachtungen zueinander in Be-ziehung gesetzt werden können, hat sie jedoch wenig zu bieten.

Es lohnt sich deshalb zunächst zu schauen, was die so genannten qualitativen Forschungs-methoden hier entwickeln können:

Da es sich bei Sinnsystemen um Funktionen handelt, die sich in der Zeit restabilisieren, hatdie Rekonstruktion das Datenmaterial sequenzanalytisch zu bearbeiten, bzw. die chronologi-sche Linie der Beobachtungen zu beachten. Interpretationsverfahren, welche die Zeitstrukturder Datenbeziehung zerhacken – etwa die Inhaltsanalyse nach Mayring oder die Codierver-fahren wie sie von Glaser und Strauß vorgeschlagen werden (vgl. Flick et al. 2000), zerstörenden systemischen Zusammenhang des Materials und sind deshalb für unsere Zwecke unge-eignet, denn wir haben davon auszugehen, dass Propositionen nur im Kontext ihrer Anschlüs-se Sinn machen, Ausdrucksgestalten also nicht essentialistisch begriffen werden können.

Die Ethnomethodologie erfüllt diese Anforderungen. Da hier jedoch (vor allem in der Fas-sung der Konversationsanalyse) auf die formalen Aspekte der Kommunikation fokussiert wird(metakommunikative Einschübe, Zurechnungen, Wechsel der Sprecherpositionen) rückt das,was uns eigentlich interessiert, aus dem Blickfeld, nämlich die Semantik der semantischen Sys-teme. Mit der Ethnomethodologie lässt sich zwar gut zeigen, wie Machtverhältnisse in der Inter-aktionspraxis als Struktur reproduziert werden (vgl. Garfinkel 1984), doch ob sich darüber hin-aus andere gesellschaftliche Sinnselektionen reproduzieren, kommt hiermit nicht in den Blick.

Ein Verfahren, welches das Sinnprozedere im Hinblick auf potentielle Anschlüsse zu re-konstruieren beansprucht, ist die Objektive Hermeneutik, wie sie von Ulrich Oevermann ent-wickelt wurde. Innerhalb einer Sequenzanalyse werden hier Hypothesen zur Sinnstruktur er-zeugt und verdichtet. In Bezug auf ein Sinnverständnis, welches sich vom subjektivgemeinten Sinn gelöst hat und mit Blick auf die latenten Strukturen, die sich dann als kon-densierte Selektionsleistungen zeigen, könnte man Oevermanns Methodologie durchaus alsForschungsmethodologie der Systemtheorie begreifen – insbesondere Wolfgang LudwigSchneider schlägt dies vor (vgl. Schneider 1995, 1998). Methodologisch beachtenswert isthier vor allem der Dreischritt von Abduktion (als ein Weg, Hypothesen über den sinngeneti-schen Zusammenhang zu bilden, indem Selektionsschemata aus anderen Kontexten abstra-hiert werden, und versuchsweise als Modell für den zu untersuchenden Zusammenhang zutesten), von Induktion (als Weg, Schlüsse über die Angemessenheit einer Hypothese zu zie-hen, indem diese iterativ mit dem sequenziellen Verlauf des Datenmaterials in Beziehunggesetzt werden) und Deduktion (hier verstanden als die systematische Suche nach Ver-gleichshorizonten, an denen die verdichtete Hypothese scheitern könnte bzw. modifiziertwerden müsste). Auf diesem Wege wird Oevermann der methodologischen Forderung ge-recht, dass qualitatives Forschen als Rekonstruktion zwar weiterhin auch einen induktivenProzess darstellt, indem im Material nach Linien und Mustern gesucht wird, indem Linienund Muster in das Material hineingetragen werden.29 Er negiert dabei jedoch nicht PoppersEinsicht, dass induktive Schlüsse keinen Beweis darstellen können.

29) Auch die Systemtheorie verfolgt in diesem Sinne zunächst vor allem eine induktive Verfahrenweise,indem sie nämlich in die Regelmäßigkeiten empirischer Beobachtungen Systeme hineinsieht.

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Während die Ethnomethodologie beispielsweise in der Arzt-Patient-Interaktion nur densystemischen Zusammenhang entdecken kann, wie z.B. durch bestimmte kommunikativePraktiken Asymmetrie auf Dauer gestellt werden kann (vgl. Strong 2001), erlaubt die objek-tive Hermeneutik demgegenüber – beispielsweise in den Interaktionsprozessen zwischenArzt und Patient – bestimmte Muster der Sinnselektion zu entdecken. Diese zeigen dann er-hebliche Parallelen zu der Parsonsschen Beschreibung des medizinischen Handlungssys-tems, in der der Arzt treuhänderisch das Anliegen Gesundheit für den Patienten verwaltet,um ihm sobald wie möglich die geschädigte Autonomie zurückzugeben (vgl. Oevermann1990). Eine solche Analyse der Mikrostruktur interaktiver Praxen scheint hier auf den erstenBlick durchaus ein Komplement zu den Handlungssystemen im Parsonsschen Sinne und zuden Eigenarten des medizinischen Codes zu liefern (Luhmann 1990).

Allerdings zeigt sich in epistemischer Sicht ein tiefer Bruch zwischen Systemtheorie undObjektiver Hermeneutik. Oevermann geht im Rekurs auf Herbert Mead und Noam Chomskivon einem objektivistischen Regelbegriff aus. Der individuelle Akteur wird hier im Sinne ei-ner generalisierten Ich-Wir-Beziehung einem exterioren sozialen Normengebilde gegenübergesehen. Entsprechend dieser metatheoretischen Konzeption kann die Objektive Hermeneu-tik die Auffassung vertreten, dass die Bedeutung eines Textes aus den Struktureigenschaftendieser objektiven Interaktionsordnung erschlossen werden könne. Die Oevermannsche Re-konstruktion unterscheidet zwischen Norm und Abweichung und bekommt hierdurch einenlatent normativen Charakter, durch den sie Akteuren – beispielsweise Ärzten, die den rekon-struierten Patterns nicht folgen – Pathologie bzw. fehlgeleitete Sozialisation zuschreiben(vgl. Oevermann 2000).30 Die Luhmannsche Systemtheorie verwirft aus guten Gründen eine»Hierarchisierung des Besserwissens«, also die Möglichkeit eines solchen privilegierten In-terpretationsstandortes des Sozialforschers (Luhmann 1998, 510).

Während die Ethnomethodologie noch mit Polyvalenz und den hiermit verbundenen Un-schärfen umgehen kann, bekommt die Oevermannsche Interpretation die Rigidität des Sich-entscheiden-Müssens und kann deshalb nicht mit polykontexturalen Verhältnissen rechnen.Anders als Parsons (1958), der die Interaktion einer jungen Patientin mit einem Arzt noch inihrer Mehrdeutigkeit beschreiben kann, etwa in dem dann die den Rücken abtastenden Hand-bewegungen zugleich medizinisch und erotisch deutbar sind und sie gerade aus diesemGrunde den Arzt mit der Unschärfe spielen lassen, zwingt die objektive Hermeneutik den In-terpreten, die Interaktionsstruktur zu einer eindeutigen Lösung aufzulösen, in diesem Bei-spiel entweder zur professionellen Beziehung oder zur missbrauchenden Abweichung.

Insbesondere in der Rekonstruktion der Verhältnisse in den modernen Institutionen unse-rer Gesellschaft kommen wir jedoch nicht umhin, mit den Komplexitäten polykontexturalerVerhältnisse zu rechnen. So sind die meisten Handlungen im Krankenhaus in rechtlichen,medizinischen und ökonomischen Kontexturen anschlussfähig. Doch diese Multivalenzendürfen keineswegs so verstanden werden, dass immer rechtlich korrekt, medizinisch ange-messen und ökonomisch profitabel gehandelt werden wird. Vielmehr wird der Sinn der Pra-xis es notwendig werden lassen, Unschärfen zu konstruieren, ›Täuschungen‹ im Modus des›als ob‹ zu erzeugen und rituelle Schließungen zu kommunizieren, um die jeweiligen Ebenen

30) Oevermann folgt hier der Frankfurter Schule in dem Sinne, dass die Bedeutung von Sprechakten zwarweiterhin im Sinne einer Handlungstheorie erklärt werden müsse, allerdings sei nun die Bedeutungeiner sprachlichen Ausdrucksgestalt nicht nur durch die Sprecherabsicht festgelegt, sondern beruheauf einem gemeinsamen Regelwissen von Sprecher und Hörer. Im »Standardfall wörtlicher Bedeu-tung gibt ein Sprechakt die Intention eines Sprechers zu erkennen; ein Hörer kann dem semantischenGehalt der Äußerung entnehmen, wie der geäußerte Satz verwendet, d.h. welche Handlung mit ihmvollzogen wird« (Habermas 1992, 65).

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auch dann in eine Beziehung zu bringen, wenn dies logisch nicht möglich scheint.31 Wirbrauchen also eine rekonstruktive Methodologie, die mit dynamischen Rahmungen und Rah-menwechseln umgehen kann, und im Unterschied zur Oevermannschen Argumentation»über die Ebene der Codes und über das Verständnis von Kompetenz als ›Ausbuchstabieren‹hinaus« geht (Willems 1997, 274).

Unter gewissen Voraussetzungen (vgl. Vogd 2005b) lässt sich an Erving Goffmans Rahmen-analyse anschließen. Goffman entwickelte seinen Rahmenbegriff in Anlehnung an Gregory Ba-tesons Untersuchungen zum Spielverhalten von Tieren, in denen dasselbe Verhalten je nachKontext Spiel oder die Ernsthaftigkeit eines Kampfes bedeutet. Das für unseren Zusammen-hang Spannende ist nun zum einen, dass Rahmen moduliert werden können, dass im Modusdes ›als ob‹ Simulationen gefahren, andere primäre Rahmen vorgetäuscht und etwa in der ›Auf-führung‹ verschiedene Realitätsebenen ineinander verschachtelt werden können. Zum anderenschiebt Goffman der postmodernen Auffassung, dass Äußerungen je nach Interpret Beliebigesbedeuten können, einen Riegel vor, denn die Rahmen erscheinen nun als Metastrukturierungs-prinzip, das zwar dynamisch und polyvalent operiert, jedoch dabei auf einer begrenzten Zahlvon Orientierungen beruht. »Wenn wir dann von einem einzigen Ereignis aus unserem eigenenKulturkreis, in diesem Fall von einer Äußerung ausgehen, so müßten wir nachweisen können,daß eine Vielzahl von Bedeutungen möglich ist, daß diese zahlenmäßig begrenzten, unter-schiedlichen Kategorien zuzuordnen sind und daß sich diese Kategorien grundlegend vonein-ander unterscheiden; auf diese Weise würden wir nicht lediglich einen endlosen Katalog erhal-ten, sondern vielmehr einen Zugang zur Strukturierung der Erfahrung finden. [...] Nach einemsolchen System von Systemen müssen wir Ausschau halten; mit einem solchen Meta-Schemawerden wir in der Lage sein, systematische Erkenntnisse über Kontexte zu sammeln, statt unsauf Warnungen beschränken zu müssen, daß eine bestimmte Äußerung in einem anderen Kon-text etwas anderes bedeuten könnte« (Goffman 1978, zitiert nach Willems 1997, 305).

Methodologisch ergeben sich hier die Chancen einer Kybernetik zweiter Ordnung, dienicht nur von Selbstorganisation, sondern auch von Selbstorganisation der Selbstorganisati-on ausgeht. Nur auf diesem Wege gelangen wir zu einer Organisation von Organisations-prinzipien, in der mit Unbestimmtem, jedoch nicht Beliebigem zu rechnen ist. Hierzubenötigen wir eine reflexive Methodologie, die dynamisch mit Konstruktions- und Dekonst-ruktionsprozessen umzugehen lernt.32

Zurzeit bestehen nur wenige methodologisch entwickelte Zugänge, welche die hier zu for-dernde Komplexität bewältigen können, die Diskursanalyse im Anschluss an Michel Fou-cault (vgl. Diaz-Bone 2005), die dokumentarische Methode, wie sie insbesondere von Ralf

31) Um hier weiter mit dem Parsonsschen Beispiel zu argumentieren: Es ist damit zu rechnen, dass gera-de der offensichtliche medizinische Rahmen die eine oder andere Intimüberschreitung weitgehend ri-sikolos möglich werden lässt, da dies eben durch das strikte organisationale Setting üblicherweisenicht in die prekären Anschlüsse einer weiterführenden Intimkommunikation mündet.

32) Hierzu Leydesdorf: »The reconstruction is always based on a deconstruction, and this process has tobe carried out by an analyst. The crucial lesson from constructivism, discourse analysis, and post-mo-dern sociology has been that there is never a single pattern in the complexity of the data, but that anyreconstruction by one analyst can be deconstructed from a wealth of other perspectives. In my opini-on, this does not imply that there can be no structure in the multitude of possible reconstructions, butit supports the above thesis that higher-order structure cannot be taken for granted. If it exists, it islatent; it requires a second-order reconstruction of reconstructions, and has to remain a hypothesis.[…] Hypotheses, however, remain ad hoc if they are not stabilized in a theoretical system. […] Thequestion of significance, however, brings the methodological issues that were so heavily criticized bypostmodernists back on stage, yet at the reflexive the reflexive level. Methodology is then not a text-book recipe, but a reflexive theory about the quality of inferences concerning the phenomena understudy« (Leydesdorff 2001, 13f.).

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Bohnsack und seinen Mitarbeitern weiterentwickelt wurde (vgl. u.a. Bohnsack 2003a; Bohn-sack 2003b) und möglicherweise einige Varianten der qualitativen Netzwerkanalyse (vgl.Hollstein/Strauss 2006).

Die Diskursanalyse lehnt – ganz im Luhmannschen Sinne – das »Referenzdenken« ab. Wör-ter verweisen nicht auf Dinge oder Sachverhalte (keine ›Indexikalität‹), sondern semantischeGehalte entstehen erst im Netzwerk der Diskurspraxis. Sie erscheinen als ein »strukturierterund strukturierender Aussagenzusammenhang (Strukturalität), so dass eine Analyse, die beieinzelnen Aussagen ansetzt, sinnlos ist«. Sie operiert vergleichend im Sinne einer »kontinuier-liche[n] ›Depositionalisierung‹«, die in dem »Selbstverdacht« gründet, dass die »eigene Sicht-weise in der Analyse ›untergeschoben‹ werden könnte«. Sie versucht also, »immer wieder eineAußenposition zu erlangen, die sich gegen die Evidenzen des zu analysierenden Diskurses im-munisiert«. Sie »nimmt die Rekonstruktion der Grundlogik im Material auf und vergewissertdie Zwischenstände am selben Material« und ist auf diese Weise ein »fitting-Prozess, der im-mer wieder die Zwischenresultate zu korrigieren bereit ist«. Die Diskursanalyse unterscheidet»zwischen einer Wissensoberfläche, an der konzeptionelle Sachverhalte und ›Begreifbares‹wahrnehmbar auftreten, einer semantischen Grundstruktur (operativen Grundlogik)«, welche»die tieferliegende Organisation des Diskurses ist, und einer diskursiven Praxis, die letztere inersteres in der Tiefe-Oberfläche-Richtung« transformiert (Diaz-Bone 2004).33

Einen ähnlichen, doch noch stärker aus der Forschungspraxis heraus entwickelten Weggeht die Dokumentarische Methode. Wie in der Diskursanalyse unterscheiden wir hier zwi-schen dem Common sense-Verstehen, in dem die thematischen Inhalte der Aussage im Vor-dergrund stehen (»formulierende Interpretation«), und der tiefer liegenden Formation, in dersich ausdrückt, wie thematische Gehalte entfaltetet werden, auf Basis welcher Orientierun-gen sich das Gespräch, der Monolog, der Diskurs bzw. der Text entfaltet (»reflektierende In-terpretation«). Auf dieser wissenssoziologischen Analyseebene wird der Gegenstand als sei-ne eigene Epistemologie enthaltend betrachtet.34 Die Rekonstruktion arbeitet sich dann wiein der Diskursanalyse an der inhärenten Strukturiertheit des Materials ab, schaut darauf, wel-che Rahmen – hier mehr im Batesonschen als im Goffmanschen Sinne verstanden35 – dengewählten Anschlüssen zugrunde liegen könnten (vgl. Bohnsack 1998). Die »Logik dieserTypenbildung ist eine abduktive, die in Analogien oder besser: Homologien bzw. auch funk-tionalen Äquivalenten und nach Art der komparativen Methode denkt« (Bohnsack 2001,229f.). Das »generative (Sinn-)Muster« dieser spezifischen sozialen Wirklichkeit kann durchInterpretation aus den Beobachtungen einer Handlungspraxis erschlossen werden.

Die Rekonstruktion dieses »handlungspraktischen Herstellungsprozesses«, dieser spezifi-schen Habitusformation bezeichnet Bohnsack anlehnend an Karl Mannheim auch als »sinnge-netische Interpretation« (Bohnsack 2001, 231). Als Ergebnis dieser Interpretation erscheinenspezifische, die untersuchten Praxen auszeichnende Orientierungsrahmen. Bohnsack über-nimmt hier analog zu Luhmann den Perspektivenwechsel von der Beobachtung erster zur Beo-

33) In der deutschen Konzeption der Diskursforschung wird leider vielfach das eigentliche Potential derfranzösischen Diskursanalyse verschenkt, indem vorschnell und unkritisch an den subjektphilosophi-schen Annahmen der hermeneutischen Wissenssoziologie angeschlossen wird (siehe insbesondereKeller 1993).

34) Die phänomenologische Wissenssoziologie in der Tradition von Schütz und Luckmann hat ihren wis-senssoziologischen Anspruch methodologisch leider nicht eingelöst, da ihre Rekonstruktion im Be-reich der Common sense-Typologien verbleibt. Der eigentliche Zugang zur Epistemologie desuntersuchten Gegenstandes ist durch die vorschnelle Annahme der Lösung des Intersubjektivitätspro-blems versperrt.

35) Bateson betont gegenüber Goffman mehr den kollektiven Charakter der Rahmungsprozesse – obSpiel ist oder Ernst gemacht wird, ist hier nicht die Entscheidung eines einzelnen Individuums.

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bachtung zweiter Ordnung. Denn die Sinngenese erscheint hier als die spezifische Form deswie, des modus operandi der Sinnselektionen, der Selektivität eines beobachtbaren Sinngesche-hens, also einer bestimmten Art und Weise, die Welt so und nicht anders in den Blick zu neh-men bzw. zu unterscheiden. Die Soziogenese erweitert diese Perspektive um eine funktionaleAnalyse. Indem nämlich verschiedene Fälle dahingehend verglichen werden, wie homologe Be-zugsprobleme behandelt werden, werden auf der einen Seite die Kontingenzen des Sinngesche-hens aus der Varianz der gefundenen Sinnselektionen deutlich. Auf der anderen Seite geben dieGemeinsamkeiten in den Selektionsmustern Hinweise auf die funktionalen Notwendigkeiten.

Die komparative Analyse liefert in der dokumentarischen Methode den eigentlichenSchlüssel, um das Untersuchungsmaterial interpretativ aufschließen zu können. Über densystematischen Wechsel zwischen unterschiedlichen Vergleichshorizonten wird es möglich,die Standortgebundenheit des Forschers methodologisch zu kontrollieren – denn ohne empi-risch zu vergleichen, würde der inhärente Orientierungsrahmen des Forschers den einzigenHorizont darstellen, auf dessen Basis der untersuchte Fall interpretiert werden könnte. Erstdie Hinzuziehung weiterer Vergleichshorizonte erlaubt zu überprüfen, ob wir in unserer Re-konstruktion der Verhältnisse unseren eigenen Modellen aufsitzen. Die Hinzuziehung einesneuen Falls, der sich den bereits rekonstruierten Fällen in bestimmten Merkmalen ähnelt, dersich in anderen dann aber unterscheiden sollte, gestattet die Überprüfung unserer Hypothe-sen, denn das, was sich dann in den neuen Daten gegenüber dem früheren Fall als variantbzw. invariant zeigt, kann im Widerspruch zum Modell stehen, und so zu einer Revisionbzw. Erweitung der Rekonstruktion anregen.

Die Soziogenese eines konkreten Phänomens kann auf diesem Wege als Schnittmengemehrerer gleichzeitig wirkender genetischer Prinzipien begriffen werden, die dann durchsystematisches Hinzuziehen weiterer Fälle beleuchtet werden. Ein Diskurs oder auch die Äu-ßerungen eines Individuums erschließen sich in ihrem Sinngehalt erst dann, wenn es gelingt,die unterschiedlichen ›Erfahrungsräume‹ als Überlagerung unterschiedlicher Aspekte zu re-konstruieren, beispielsweise als milieu- und institutionsspezifische Erfahrungsräume mit ih-ren unterschiedlichen Orientierungsrahmen. ›Unabhängige‹, ›kooperierende‹ oder gar ›konf-ligierende‹ Orientierungsrahmen erklären dann das vielfältige und in seinem Detailreichtumunerschöpfliche Spektrum sozialer Handlungsweisen durch eine an sich begrenzte und be-schreibbare Anzahl von Prinzipien. In dem Prozess der Ausbildung einer solchen Typikmuss das tertium comparationis ständig verändert werden, da sich nur hierdurch die ver-schiedenen Erfahrungsdimensionen offenbaren können.

Erst die soziogenetische Typenbildung erlaubt ein erklärendes Verstehen, denn die Orien-tierungsrahmen der jeweiligen Akteure – in der sinngenetischen Interpretation abstrahiertund spezifiziert – erscheinen nun als eine »Orientierung« innerhalb einer spezifischen »funk-tionalen Beziehung«, die im Blick auf die spezifische »Erfahrungsdimension«, die »Soziali-sationsgeschichte« und den »existentiellen ›Hintergrund‹ der jeweiligen Praxis herausgear-beitet« wird (Bohnsack 2001, 245).36 Der Habitus, als Verkörperung kollektiver Praxen undSysteme im Luhmannschen Sinne, erscheint hier mit den zwei Seiten einer Medaille: als ver-körpertes Gedächtnis eines spezifischen Orientierungsrahmens und als lokale Schnittmengespezifischer systemischer Kontexturen (vgl. Vogd 2004a).

36) »Diese tiefergreifenden oder impliziten semantischen Gehalte sind an die Wissensbestände gebun-den, welche in die Handlungspraxis eingelassen sind. Das die Handlungspraxis orientierende Wissenist ein vorreflexives. Auf diesen vorreflexiven Charakter nimmt Mannheim mit dem Begriff des athe-oretischen Wissens und Bourdieu mit demjenigen des inkorporierten Wissens Bezug. Die Prozess-strukturen oder generativen Muster dieser Handlungspraxis sind Gegenstand praxeologischerTypenbildung« (Bohnsack 2001, 229).

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Erst auf der Analyseebene der soziogenetischen Interpretation sind Generalisierungen desTypus im Sinne einer mehrdimensional konstruierten Typologie möglich.37 Der Begriff Typusdarf hier jedoch keineswegs psychologisch im Sinne einer Einheit der Person begriffen wer-den, sondern ist eher als eine Schnittmenge genetischer Prinzipien zu verstehen, von denen in-nerhalb einer konkreten Handlungskonstellation jeweils nur ein Teil aktiv zur Geltung kommt.Empirische Daten kommunikativer Sprechakte, etwa als Beobachtungsprotokolle oder Inter-viewtranskripte gegeben, sind in diesem Sinne mit guten Gründen sozialperspektivisch zu in-terpretieren, nämlich als eine textuale Realität, in der verschiedene Orientierungsrahmen, d.h.spezifische Weisen der Sinnselektion, in einer wohl definierten Beziehung zu einander stehenund jeweils als Potentialitäten erscheinen, die situativ evoziert werden können.

Erst in diesem Verständnis lässt sich die Beziehung zwischen sprachlichem Datenmaterialund den Luhmannschen Kontexturen fassen, denn sowohl das Sprechen als auch das Verste-hen erscheint nun immer schon als ein sozialperspektivisches Geschehen, ein In-Beziehung-Setzen verschiedener Kontexturen. Die Luhmannsche Konzeption der polykontexturalenVerhältnisse beschreibt die Durchdringung systemischer Zusammenhänge, schreibt abernicht vor, ob und wie dies im Einzelnen geschieht, und ist in diesem Sinne weiter gefasst alsder Begriff des Orientierungsrahmens. Inwieweit und in welcher Form sich konkrete Akteu-re als psychische Systeme an Interaktionssystemen, hier beispielsweise in der Arzt-Patient-Beziehung, in Bezug auf die Organisation Krankenhaus, im Hinblick auf Medizin und Wis-senschaft, an wirtschaftliche, juristische oder andere Systemzusammenhänge ankoppeln, istnicht von vornherein determiniert, sondern lässt sich nur als eine spezifische Interaktionsge-schichte verstehen, die eine besondere, unter Umständen einzigartige strukturelle Koppelungrealisiert. Die gesellschaftlichen Kontexturen gestalten gewissermaßen den Möglichkeits-raum, hier im Sinne von Latenzen zu verstehen, in dem dann weitere Ausdifferenzierungen –eben Geschichte – möglich wird. Das zu interpretierende Textmaterial würde dabei als inhä-rente Interpretation von multiperspektivischen Verhältnissen zugleich immer auch auf ande-re beteiligte Kontexturen verweisen, wie auch seinen eigenen Standort dokumentieren.

Um mit der Einschließung der jeweiligen Ebenen rechnen zu können, erscheint es mögli-cherweise hilfreich, die jeweils eingeschlossenen Kontexturen im Sinne einer »›qualitativen‹Mathematik« mit Hilfe von Spencer Browns Formkalkül zu beschreiben (Baecker 2005, 12).38

37) Bohnsacks Konzeption beantwortet gewissermaßen die Frage von Lüders (2000, 640f.), wie man aufeiner mittleren Abstraktionsebene vor dem Hintergrund heterogener Kontexte gewonnene Daten ers-tens validiert und zweitens begründet generalisiert.

38) Mit Dirk Baeckers (2007) Skizze stellt sich die Form der Krankenbehandlung dann in Bezug auf dieineinander verwobenen Kontexturen folgendermaßen dar:

Diese Funktion »›arbeitet‹ mit fünf Variablen (›Körperzustand‹, ›Körperveränderung‹, ›Interaktion‹,›Organisation‹, ›Gesellschaft‹) im Kontext von fünf Konstanten (den Unterscheidungen der fünf Va-riablen zuzüglich der Unterscheidung der Innenseiten der Form von ihrer Außenseite) und einemWiedereintritt (re-entry) der Form in die Form, der Transformation vom Krankenhaus zum Netzwerkdes Gesundheitssystem, in dem das Krankenhaus eine neuartige Rolle erhält, die jedoch nach wie vorabhängig ist von der einmal gewählten Form. Wir wählen diese Notation, weil sie es uns ermöglicht,Abhängigkeiten zwischen den Variablen zu beschreiben, ohne diese Variablen auf kausale Beziehun-gen festlegen zu müssen. Sie stehen stattdessen in »kommunikativen« Beziehungen zueinander [...]Sie konstituieren im Kontext ihrer Unterscheidungen ein eigenes Netzwerk, das aus Unentscheidbar-keiten und Unbestimmtheiten besteht, die von Beobachtern, nämlich von denjenigen Personen, Kon-ventionen, Praktiken, Skripts und Institutionen, die die genannten Unterscheidungen treffen, in jedemeinzelnen Fall erst in Bestimmtheit überführt werden (Kauffman 1978). Die ›Form‹ der Krankenbe-handlung bildet auf diese Art und Weise den ›Eigenwert‹ (von Foerster 1993) einer medizinischenPraxis, der rekursiv und iterativ immer wieder neu bestätigt wird, so sehr auch die Anlässe und Um-stände, die Sicherheiten und Unsicherheiten dieser Praxis variieren« (Baecker 2007).

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VII. Beispiel eines rekonstruktiven Forschungsprogramms

In meinen Untersuchungen zu den ärztlichen Entscheidungsprozessen im Krankenhaus habeich ein Forschungsdesign angestrebt, das den polykontexturalen Verhältnissen des modernenMedizinbetriebs gerecht zu werden versucht. Da die Ergebnisse an verschiedener Stelle pu-bliziert sind (unter anderem Vogd 2004b, Vogd 2006), werde ich an dieser Stelle nur die gro-ben Linien des Forschungsprozesses als methodologisches Beispiel für eine systematischekomparative Analyse vorstellen.

Im interorganisatorischen Vergleich habe ich zunächst Abteilungen verschiedener medizi-nischer Disziplinen (Chirurgie, Internistische Medizin, Psychosomatik) und unterschiedli-cher Organisationsformen (Universitätsklinika vs. städtisches Krankenhaus) miteinander inBeziehung gesetzt (vgl. Vogd 2004b).

In der Untersuchung verschiedener Fallprozedere begegnen wir dann der organisationsin-ternen Differenzierung zwischen Routinefällen und ›problematischen‹ Fällen. Erstere wer-den im Sinne vorformatierter Abläufe und Entscheidungsprogramme prozessiert. Letztere er-scheinen jedoch als Entscheidungsproblem, als ein Fall, in dem Alternativen undKontingenzen innerhalb der jeweiligen Organisation verhandelt werden. Der Vergleich ver-schiedener solcher ›echter‹ Entscheidungsprozesse39 führt zu einer Typik von drei Themen-komplexen, die jeweils unterschiedliche Klassen von Entscheidungsproblemen erzeugen:

Komplexe Fallproblematiken, die aufgrund ihrer medizinischen Dynamik Entscheidungs-bedarf wecken.

Fälle, in denen Sterbebegleitung bzw. passive Formen der Sterbehilfe opportun erschei-nen, wenngleich das Akutkrankenhaus hierfür keinen formellen Auftrag erhält.

›Schwierige‹ Patienten, deren ›Willensakte‹ zu Konflikten mit den Routineabläufen derAbteilung führen.

Als gemeinsames Bezugsproblem erscheint in all diesen Fällen die Ausgangslage, dass an-gesichts existenzieller Lagen prekäre Entscheidungen zu treffen sind. Auf verschiedenenEbenen zeigen sich Kontingenzen, die nach Schließung verlangen. Um dies innerhalb desBehandlungsprozesses leisten zu können, wird unterschiedlich auf Organisation zurückge-griffen, etwa indem bestimmte Eigenarten der Hierarchie oder die Zufälligkeiten formellerEntscheidungsgremien dazu genutzt werden, eine legitimierte Entscheidung herzustellen.

Im Sinne der dokumentarischen Methode stellen diese ersten Rekonstruktionen zunächstnoch Hypothesen dar, die sich in ihrer Erklärungskraft und ihrem Geltungsbereich in kompa-rativen Analysen zu bewähren haben. Als Vergleichshorizonte wurde nun zunächst auf dereinen Seite eine Klinik gewählt, welche auf erfahrenes fachärztliches Potential zurückgreifenkann, auf der anderen Seite eine Abteilung eines Universitätsklinikums, deren Station über-wiegend von ›Ärzten im Praktikum‹ unter Aufsicht eines Oberarztes geführt wurde. Unterdem Horizont dieser ›Kompetenztypik‹ wurde im Einklang mit Luhmann und im Wider-spruch zum Common sense deutlich, dass die gängigen Entscheidungsprozeduren vor allemUnsicherheiten absorbieren, sie dabei jedoch nicht unbedingt zu medizinisch elaboriertenEntscheidungen führen müssen. Vielmehr gewinnt das Krankenhaus erst als Organisationüber seine internen Entscheidungsstrukturen die Möglichkeit, auch unter ungünstigen Bedin-gungen (Personalmangel, Kunstfehler durch schlecht betreute Anfänger etc.) seine Behand-lungsprozesse fortzuführen.

39) Hier im Sinne Heinz von Foersters Maxime verstanden, dass wir nur die Dinge entscheiden können,die prinzipiell unentscheidbar sind (Foerster 1994, 334ff.).

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Gerade weil die medizinische Praxis, die rechtlich wirksame Dokumentation dieser Praxis,die Abrechnungen der Leistungen sowie die einzelnen Ebenen der ärztlichen Hierarchie nurlose miteinander gekoppelt sind, kann die Entscheidungsfähigkeit unter wechselnden Kon-stellationen aufrechterhalten werden. So kann behandelt werden, ohne zu behandeln, Recht-mäßigkeit hergesellt werden, indem Unrechtmäßiges nicht dokumentiert wird, wirtschaft-lich gearbeitet werden, indem Medizin vorgetäuscht wird, wo anderes stattfindet, um ananderer Stelle umso mehr (ansonsten nicht bezahlbare) Medizin stattfinden zu lassen. Aufdiesem Level der Untersuchung zeigen die komparativen Analysen auf, dass die Organisatio-nen gerade dann gut funktionieren, wenn sie ein Arrangement entwickeln können, bei demzugleich hingeschaut und nicht hingeschaut wird, also bei dem gegebenenfalls die Dinge imDiffusen gelassen werden, um weiter prozessieren zu können.

In weiteren komparativen Analysen, die dann unterschiedliche medizinische Kulturen be-trachten – etwa den aktionistischen Modus der Chirurgen gegenüber dem reflexiv-diskursi-ven Modus der Internisten – verdichten sich die Befunde schließlich zu einer Basistypik,nach der dann Krankenbehandlung immer heißen muss, Medizin auf der einen Seite und dieorganisatorisch administrativen Aspekte der Krankenbehandlung auf der anderen Seite in ei-ner Praxis zu verbinden.

Als Basistypik zeigt sich in allen untersuchten Einrichtungen ein gemeinsames Bezugspro-blem, das darin besteht, die differierenden Logiken der medizinischen Orientierungen mitanderen Kontexturen, insbesondere mit den ökonomischen und administrativen Orientierun-gen in einer Praxis zu verbinden. Im Tanz zwischen diesen Logiken gewinnt das Kranken-haus eine Reihe von Freiheitsgraden, die – dies zeigt in einem weiteren Schritt die kompara-tive Analyse mit den Universitätskliniken – die es erlaubt, eine wissenschaftliche Praxis mitdem Arbeitsalltag zu verweben. Im Unterschied zu den städtischen Krankenhäusern ist in deruniversitären Variante medizinischer Exzellenz ein besonderer Spagat zu leisten, der darinbesteht, zwischen einer Ausbildungseinrichtung, welche die Stationsarbeit von Berufsanfän-gern und Weiterbildungsassistenten führen lässt, und einer Spitzenmedizin, die beansprucht,auch mit höchster Fallkomplexität umzugehen, balancieren zu können.

Im intraorganisatorischen Vergleich kann man schließlich am paradigmatischen Beispieleiner psychosomatischen Abteilung aufzeigen, wie bestimmte soziale Strukturen, die mit derparadoxen Figur der ›Kommunikationsvermeidungskommunikation‹ umschrieben werden,auf den unterschiedlichen hierarchischen Ebenen zugleich im Bereich der Ärzte und derPflege und nicht zuletzt über die Sozialisation von Novizen in einer Weise reproduziert wer-den, dass hier durchaus von einem Organisationshabitus gesprochen werden könnte (vgl.Vogd 2004a).

In der jüngst abgeschlossenen Längsschnittstudie wurde es schließlich möglich, die chir-urgische und die internistische Abteilung der städtischen Krankenhäuser erneut aufzusuchen,um die Bearbeitung der mit dem ›Gesetz zur Einführung des diagnoseorientierten Fallpau-schalensystems für Krankenhäuser‹ verbundenen Strukturveränderungen in den Blick zu be-kommen. Mit dieser Studie wurde es möglich, die veränderten gesetzlichen Rahmenbedin-gungen mit den strukturellen Anpassungen innerhalb der Organisationen systematisch inBeziehung zueinander zu setzen (vgl. Vogd 2006). Hierbei zeigte sich eine veränderte Orga-nisation der Arbeit – hin zu Behandlungsnetzwerken – bei bleibenden medizinalen Orientie-rungen (vgl. Vogd 2007).

Der zeitliche Vergleich ist für die Untersuchungsfragestellung insofern von besonderemAufschluss, als erst über diesen Weg rekonstruiert werden kann, ob und wie die jeweiligenOrganisationen eine gewisse Autonomie gegenüber ihren gesellschaftlichen Umwelten (derPolitik, aber auch den Patienten und Angehörigen gegenüber) aufrecht erhalten können. Erstdie Längsschnittanalyse lässt deutlich werden, welche medizinischen Orientierungen invari-

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ant bleiben, also auch unter Bedingungen erheblicher Personalkürzungen und veränderterAbrechnungsmodalitäten aufrechterhalten werden. Zudem wird es nun möglich, die bisheri-gen Überlegungen zur Eigenkonditionierung von Strukturen und Prozessen in Organisatio-nen, die oberhalb interaktiver Aushandlungsprozesse und unterhalb der gesellschaftlichenKontexturen angesiedelt sind, einer empirischen Überprüfung zu unterziehen.

Mit der Hinzuziehung weiterer Vergleichshorizonte gewinnen wir also ein zunehmend dif-ferenzierteres Bild, wie in der Organisation Krankenhaus, im Kontext der hier getroffenenUnterscheidungen, »ein eigenes Netzwerk« entsteht, »das aus Unentscheidbarkeiten und Un-bestimmtheiten besteht, die von Beobachtern, nämlich von denjenigen Personen, Konventio-nen, Praktiken, Skripts und Institutionen, die die genannten Unterscheidungen treffen, in je-dem einzelnen Fall erst in Bestimmtheit überführt werden« (Baecker 2007).

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Soziale Welt 58 (2007), S. 323 – 344

Rationalität und Plausibilität in klinischen Ethikkomitees.

Die Echtzeitlichkeit von Kommunikation als Empirie der Systemtheorie.

Von Katharina W. Mayr

Zusammenfassung: Anstatt nur eine argumentative Lanze für die Empiriefähigkeit der System-theorie zu brechen, soll hier anhand von Beobachtungsprotokollen von Sitzungen klinischerEthikkomitees konkret gezeigt werden, wie die zu interpretierenden Daten selbst eine Welt erzeu-gen, also selbst nichts anderes sind als Beobachtungen, die sich auf ihren Unterscheidungsge-brauch hin beobachten lassen. Am empirischen Material selbst soll die echtzeitlicheStrukturbildung von Kommunikation nachvollziehbar gemacht werden, als ein Prozess der Kon-tingenzeinschränkung, der immer nur als Ergebnis auftritt. So bekommt man in klinischen Ethik-komitees eine Form der Kommunikation in den Blick, die Befindlichkeiten, welche sich alsauthentisch darstellen lassen, gegenüber organisatorischer oder medizinischer Rationalität favori-siert. Es etabliert sich eine neue Form der Argumentation und die Teilnehmer eines Ethikkomiteeslernen, dass in diesem Kontext der Verweis auf organisatorische Hierarchien oder das selbstbe-wusste medizinische Handeln nicht als Problemlösung fungiert, sondern vielmehr problematisiertund kritisiert werden kann. Was im Krankenhausalltag von Reflexion entlastet, wird hier zur ne-gativen Kontrastfolie für das richtige Verhalten im Umgang mit Patienten und Kollegen.

1. Eine Frage zur Einleitung

Wie empirisch ist die Systemtheorie? Schon die Frage langweilt, macht sie doch eine Argu-mentation erwartbar, deren Ergebnis letztlich nur darin bestehen kann, sich entweder füroder gegen die Empiriefähigkeit dieser Theorieform auszusprechen. Dass sich die Fragenach der Eignung, soziale Wirklichkeit zu beschreiben, aber unwillkürlich stellt, sobald dasTerrain der Begriffsarbeit mit der Absicht verlassen wird, Daten systemtheoretisch zu lesen,schließt an die mittlerweile klassische Kritik an, die Systemtheorie immunisiere sich gegenempirische Einsichten und lasse sich von der sozialen Realität nicht irritieren (vgl. Amann/Hirschauer 1997; Bergmann/Hirschauer 2002). Dies sagt jedoch vielleicht weniger über dieSystemtheorie aus als über die Kontexturen einer Wissenschaft, welche sich selbst als Erfah-rungswissenschaft beschreibt und Theorie sowie Empirie als asymmetrische Gegenbegriffebezüglich ihrer Wirklichkeitsnähe stilisiert. Und dennoch, ob explizit formuliert oder impli-zit mitlaufend, stellt sich die Frage: Wie empirisch ist die Systemtheorie?

Schon die eigenen Sätze scheinen manchmal auf Zweifel bezüglich des Wirklichkeitssta-tus' der eigenen Beobachtungen hinzuweisen, etwa wenn Niklas Luhmann formuliert: »Diefolgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es Systeme gibt« (Luhmann 1988, S.30).Hier geht es aber nicht um die Frage einer Existenz oder Nicht-Existenz von Systemen als ir-gendwie geartete, abgrenzbare Entitäten. Was Luhmann hier zum Ausdruck bringen möchte,ist die Kontingenz des Beginnens schlechthin, die nur überwunden werden kann, indem ir-gendwie begonnen wird (vgl. Nassehi 2003), wodurch Beobachtung erst ermöglicht wird. Indiesem Sinne fundiert jede Theorie – ob sie dies mitreflektiert oder nicht – einen Anfang,hinter den sie nicht zurücktreten kann. Und tatsächlich ist es nicht eine sich aufdrängende,beobachtungsunabhängige Realität, sondern vielmehr die kreative Kraft des eigenen Blickes,welche hervorbringt, was man sieht bzw. was man nicht nicht sehen kann. Es ist also nichtdamit zu rechnen, dass die systemtheoretische Forschung »unterwegs im Forschungsfeld«entdeckt, dass die Annahme von Systemen ein bedauernswerter Irrtum war. Ebenso wenigwerden einer handlungstheoretischen Perspektive die Akteure ausgehen.

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Aber findet sich nicht schon in der Behauptung eben dieser Sätze die Bestätigung für denVorwurf, die Systemtheorie immunisiere sich gegen Empirie durch den Rückgriff auf einenmehr oder minder radikalen Konstruktivismus und die Negation einer beobachtungsunab-hängigen Realität? Ist die Konsequenz einer solchen Position nicht die Einsicht in die Un-möglichkeit von Beobachtung schlechthin? In der Tat präsentiert sich die Systemtheorie mit-unter selbst im Bewusstsein der Unmöglichkeit, empirische Erkenntnisse durch Beobachtungzu gewinnen, beispielsweise wenn Dirk Baecker die Idee der »Black Box« einsetzt, »mit derSystemtheorie formuliert, dass sie zwar davon ausgeht, dass die Reproduktion gelingt, abernicht weiß, wie sie gelingt« (Baecker 2002, S. 95). Diese Differenz wird durch wissenschaft-liche Beobachtung zu überwinden versucht. »Man muss dann jedoch erkennen, dass mannicht die Box, sondern das eigene Verhältnis zur Box ›aufgeklärt‹ hat, und dass man, rechtbesehen, keine Möglichkeit hat zu beschreiben, wie das gelungen ist, sondern nur, dass diesgelungen ist. Man befindet sich somit wieder in der Ausgangssituation der Differenz zwi-schen Faktum und Nichtwissen, hat es jedoch jetzt mit einer zusätzlichen Black Box zu tun,nämlich dem eigenen Erkenntnisvorgang« (Ebd.). Die Unmöglichkeit, sich einer sozialenRealität zu nähern, scheint darin begründet, dass jede Erkenntnis über den Gegenstand sicheinem selbsttragenden Blick verdankt und letztlich mehr über den Beobachter als über denGegenstand verrät. Und während erkenntnistheoretische Reflexionen dieser Paradoxie derBeobachtung eine realitätsadäquate Beschreibung der Welt undenkbar machen, wird gleich-zeitig die Welt unentwegt beobachtet und beschrieben. Noch während der soziologische Be-obachter sich sträubt, in die »Falle« der Ontologie zu tappen, ontologisiert die Welt fortlau-fend sich selbst, indem die Paradoxie praktisch entfaltet wird. Armin Nassehi setzt hierfürden Begriff der »Autoontologie« ein (Nassehi 1992, S.63; 1993, S.227ff.), bei Peter Fuchsist in diesem Zusammenhang von »fungierenden Ontologien« die Rede (Fuchs 2004, S.11).In Abrede soll nicht die Existenz einer sozialen Realität gestellt werden, vielmehr wird –ganz im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung – auf deren Faktizität hingewiesen alseine soziale Realität, die gemacht wird, die operativ hergestellt wird, die dadurch aber nichtsan ihrem Realitätscharakter einbüßt. Damit findet sich der soziologische Beobachter in einerWelt vor, die sich fortlaufend selbst beschreibt und deren Beschreibungen dann zum Gegen-stand soziologischer Beobachtung gemacht werden können hinsichtlich dessen, wie sie sichselbst ermöglichen.

Wie empirisch ist also die Systemtheorie? Angesichts eines praxistheoretischen Zugangs,in dem die Unterscheidung von Empirie und Theorie, Subjekt und Objekt an Eindeutigkeitverliert und verwischt, scheint eigentlich schon die Frage falsch gestellt, findet doch auchTheorie immer schon in einer Praxis statt und wird so selbst zur Empirie, sobald der soziolo-gische Blick darauf gerichtet wird (vgl. Nassehi 2006). Dass vor diesem Hintergrund dieFrage danach, wie empirisch die Systemtheorie sei, dennoch sinnvoll gestellt werden kann,wird deutlich, wenn man sie nicht im Hinblick auf eine Antwort versteht, die sich auf demKontinuum zwischen »sehr empirisch« und »gar nicht empirisch« bewegt, sondern vielmehrals Frage nach der Art und Weise, in welcher die Empirie zu verstehen ist, die systemtheore-tisch zugänglich gemacht werden soll. Was kann man mit einem systemtheoretischen Instru-mentarium sichtbar machen? Kommunikation wird daraufhin beobachtet, wie sie Kontingenzunter den Bedingungen der eigenen Möglichkeit einschränkt, und zwar jeweils in Echtzeit.

2. Der empirische Gehalt des theoretischen Instrumentariums

Was haben diese Sätze noch mit einem systemtheoretischen Programm zu tun? Systemtheo-retische Texte werden üblicherweise über die Verwendung eines systemtheoretischen Be-griffsinstrumentariums identifiziert. Man rechnet mit den üblichen Verdächtigen wie »struk-turelle Kopplung«, »funktionale Differenzierung«, »binäre Codierung« und schließlich demSystembegriff. Solche Begrifflichkeiten wirken vor allem auf den nicht systemtheoretisch

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Rationalität und Plausibilität in klinischen Ethikkomitees 325

geschulten Leser befremdlich, strahlen aber zugleich eine Magie aus, der man sich nurschwer entziehen kann. Aus ihnen spricht weniger die Bescheidenheit eines Instruments alsvielmehr der Gestus der Gewissheit darum, wie sich dem Offensichtlichen noch Geheimnis-se entlocken lassen. Fast erinnert die systemtheoretische Sprache an das, was Michel Fou-cault im Zuge der »Geburt der Klinik« als »medizinische Esoterik« in ihrer Entstehung nach-zeichnet: »Die Beschreibung soll in der klinischen Medizin nicht das Verborgene oder dasUnsichtbare denen nahe bringen, die keinen Zugang dazu haben; sie soll vielmehr das zumSprechen bringen, was jedermann sieht, ohne es zu sehen, und zwar soll es sie nur für diezum Sprechen bringen, die in die wahre Rede eingeweiht sind« (Foucault 2005, S.129).

Das Begriffsinstrumentarium scheint auf eigentümliche Weise selbstgenügsam zu sein, sodass die empirischen Ideen, die darin auf den Begriff gebracht werden sollen, allzu leicht ausdem Blick geraten.

Der Begriff des Systems etwa basiert auf der zunächst ganz schlichten empirischen (undgenuin soziologischen) Beobachtung einer Moderne, in der prinzipiell so viel möglich er-scheint, von allen denkbaren (und nicht denkbaren) Möglichkeiten aber nur ein Bruchteilletztlich realisiert wird. In seinen früheren Werken bringt Luhmann das in der Formel der»Reduktion von Komplexität« auf den Begriff, welche in der Rezeption der Systemtheorieauch heute noch gerne als generelle Lösungsformel von Sozialität verstanden wird. NachLuhmann weisen soziale Systeme gegenüber der Systemumwelt immer einen geringerenKomplexitätsgrad auf: »Die Differenz von Umwelt und System stabilisiert mit anderen Wor-ten ein Komplexitätsgefälle. Deshalb ist die Beziehung von Umwelt und System notwendigasymmetrisch. Das Gefälle geht in eine Richtung, es lässt sich nicht revidieren« (Luhmann1988, S. 250). Allerdings sollte die Formel der Komplexitätsreduktion nicht dahingehendmissverstanden werden, dass es sich dabei um einen Akt handelt, der etwa Systemen als»Akteuren zuzurechnen wäre. Vielmehr ist es die operative Reduktion von Komplexität, dieEinschränkung von Möglichkeiten selbst, die Systeme erst emergieren lässt und sie für denBeobachter als Systeme, als sinnhafte Verweisungszusammenhänge, identifizierbar macht.Die Beobachtung von Systemen ist schlicht die Beobachtung einer asymmetrischen Vertei-lung von Wahrscheinlichkeiten bzw. Unwahrscheinlichkeiten: Zunächst hoch unwahrschein-liche Ereignisse werden in bestimmten sozialen Zusammenhängen weniger unwahrschein-lich, und damit etablieren sich Erwartbarkeiten und nichts anderes ist gemeint mit der Redevon sozialen Strukturen.

Besondere Prominenz genießt in der Systemtheorie auch das Postulat eines Primats funkti-onaler Differenzierung in der modernen Gesellschaft. Eben diese Gesellschaft wird als in un-terschiedliche Funktionssysteme ausdifferenziert beschrieben, die alle eine spezifische Auf-gabe innehaben, die nur sie bearbeiten können. Üblicherweise werden hier politischesSystem, Wirtschaftssystem, Rechtssystem, Wissenschaftssystem, Kunstsystem etc. in eineReihe gestellt. Die Behauptung einer funktionalen Differenzierung darf allerdings nicht alsein theoretisches a priori gelesen werden, sondern verkörpert schon einen empirischen Be-fund, den man freilich nur in den Blick bekommen kann, wenn man von sich selbst stabili-sierenden, sinnhaften Verweisungszusammenhängen ausgeht, die dann als Differenz von In-nen und Außen sichtbar werden. »Es gilt eine Art umgekehrte Relevanzvermutung: Währendinterne Ereignisse/Prozesse für das System vermutlich relevant sind, also Anschlusshandelnauslösen, sind Ereignisse/Prozesse der Umwelt für das System vermutlich irrelevant; siekönnen unbeobachtet bleiben. Das System gewinnt seine Freiheit und Autonomie der Selbst-regulierung durch Indifferenz gegenüber seiner Umwelt. Deshalb kann man die Ausdifferen-zierung eines Systems auch beschreiben als Steigerung der Sensibilität für Bestimmtes (in-tern Anschlussfähiges) und Steigerung der Insensibilität für alles Übrige – also Steigerungvon Abhängigkeit und von Unabhängigkeit zugleich« (Luhmann 1988, S. 250; Hervorhe-bungen durch die Verfasserin). Was hier deutlich wird, ist, dass Systeme nicht als gesell-

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schaftliche Problemlösungsinstanzen zu verstehen sind. Freilich operieren sie an einem Be-zugsproblem, für das es jedoch keinen gesamtgesellschaftlichen Ort gibt, sondern welchesdas Ergebnis der eigenen Perspektive ist, welche die Welt erst hervorbringt, in der sie sichbewegt (vgl. Nassehi 2003). Operative Geschlossenheit meint nichts anderes, als dass eineUnterscheidung eingeführt wird, die den Raum eines Kontextes aufspannt, aus dem dannauch nicht ausgebrochen werden kann. Wissenschaftliche Sätze etwa prozessieren entlangder Unterscheidung wahr/unwahr, und natürlich lässt sich abwägen, ob man für eine Fachpu-blikation, die solche wissenschaftlichen Sätze enthält, Geld ausgeben möchte. Diese Überle-gung findet dann aber im Horizont der Unterscheidung zahlen/nicht zahlen statt.

Funktionale Differenzierung verweist damit auf Logiken, die sich in ihrer Legitimation ineinem historischen Prozess zunehmend unabhängig1 voneinander machen konnten und dienicht auf eine Realität außer ihrer selbst verweisen, sondern eigene Welten erzeugen, die sienicht verlassen können. Und die Rede von einer funktional differenzierten Gesellschaft be-deutet dann nicht, dass die Gesellschaft in verschiedene Problembereiche zerfällt, die vonunterschiedlichen Funktionssystemen bearbeitet werden. Vielmehr fallen gleichzeitig ganzunterschiedliche Probleme an, die je in einer Gegenwart bearbeitet werden müssen. ArminNassehi spricht in diesem Zusammenhang von einer »Gesellschaft der Gegenwarten« (vgl.Nassehi 2003, S.159ff; 2006, S.375ff), in der in Echtzeit Probleme gelöst werden, die imMoment des nächsten Anschlusses schon unproblematisch sind. Es ist die Entdeckung derOperativität ihres Gegenstandes, die die Systemtheorie zu einer operativen Theorie machtund damit dem Gedanken der Autopoiesis eine prominente Stellung einräumt – nicht als eintheoretisches Problem, sondern als ein praktisches.

Von Interesse ist dann, wie sich solche Sinnzusammenhänge ohne externe Anker stabili-sieren können, wie sie sich durch eine selbstorganisierte Selektivität mit Anschlussmöglich-keiten ausstatten und so soziale Ordnung erst generieren. Dass permanent und unaufhörlichangeschlossen wird, ist nicht zu übersehen, denn selbst wenn man sich gegen den Kauf desBuches entschließt, ist das ein möglicher Anschluss. Und auch wenn man die Wahrheit eineswissenschaftlichen Satzes bezweifelt, kann man das nur in Hinblick auf Wahrheitsfähigkeittun.

3. Die echtzeitliche Einschränkung von Kontingenz als Forschungsprogramm

Von dem epistemologischen a priori ausgehend, dass soziale Systeme aufgrund ihrer opera-tiven Geschlossenheit keinen direkten Zugang zu der Welt haben und deshalb darauf ange-wiesen sind, Erkenntnis, Eindeutigkeiten und Bedeutungen etc. selbst zu generieren, wird dieSystemtheorie zu einer postontologischen Theorieform, die nicht mehr nach dem Sein derWelt fragen kann. Stattdessen macht sie es sich zur Aufgabe, »Schöpfungsgeschichten« derWelt in ihrer empirischen Konkretion nachzuzeichnen, um so beobachten zu können, wiesich soziale Ordnungen ohne externen Halt selektiv entfalten. Sie richtet ihren Blick damitauf konkrete Formen der Kontingenzeinschränkung, die durch den Ausschluss von Sinn unddie Kondensierung von Anschlüssen stabile Erwartungsstrukturen emergieren lassen.

Solche Kommunikationsprozesse sichtbar zu machen, darum geht es Armin Nassehi undIrmhild Saake in ihrer systemtheoretischen Reformulierung einer Methodologie der qualita-tiven Sozialforschung. In »Kontingenz: Methodisch verhindert oder beobachtet?« (Saake/Nassehi 2002a) stellen sie ein ausgearbeitetes Programm zur Beobachtung von Geschlossen-heitsdynamiken vor. »Ähnlich wie der Ethnomethodologie geht es auch der Systemtheorie

1) Damit soll nicht gesagt werden, die verschiedenen Perspektiven stünden unverbunden nebeneinan-der. Gerade in Organisationen treffen unterschiedliche Logiken gleichzeitig aufeinander und müssenpraktisch aufeinander bezogen werden (vgl. Nassehi 2002).

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um Ereignisse, jedoch nicht um den konkreten Nachvollzug der ›wirklichen‹ und nicht mani-pulierten Ereignisse, sondern um die notwendige, aller Sinnproduktion vorausgehenden Se-lektion von Ereignissen« (Nassehi/Saake 2002b, S. 338). Gegenstand der Forschung wirddamit die Kontingenz des Gegenstandes und die Strategien, die sie invisibilisieren. Mansieht, dass Kontexte durch Kommunikation erst hergestellt werden, wodurch Handlung über-haupt erst interpretierbar gemacht werden. Nur über die Anschlüsse der Kommunikation las-sen sich die Kontexte rekonstruieren, die verwendet werden, und nur über die Unterschied-lichkeit von Kontexten lassen sich Bedeutungen generieren. Es geht also darum, wie sichKommunikationen selektiv entfalten, wie sie den Möglichkeitshorizont von Anschlusskom-munikationen und dadurch Kontingenz einschränken.

Einer systemtheoretisch informierten Methodologie kann es nicht daran gelegen sein,durch einen Regelkanon mehr »Nähe zur Wirklichkeit« zu gewinnen. Vielmehr geht es ihrum operative Wirklichkeiten, um »Vollzugswirklichkeiten«, und zwar die ihres Gegenstan-des und ihrer Selbst (also ihres Gegenstandes). »Uns interessieren vielmehr die Daten selbst,die nichts anderes als Beobachter sind – Beobachter, die das, was sie sehen, selbst erzeugen.Exakt dieser kontingente Prozess der Erzeugung von Realität ist unser Thema« (Nassehi/Saake 2002a, S. 68). So bekommt der forschende Blick Kontingenz zu Gesicht, er erhält Da-ten, die im Horizont anderer, ausgeschlossener Möglichkeiten gelesen werden müssen, umdas Spezifische daran verstehen zu können. Dann kann man nach denjenigen Strategien su-chen, die es erlauben, die »Dinge« so darzustellen, wie sie dargestellt werden, denn so kön-nen soziale Erwartungs- und Darstellungsformen rekonstruiert werden.

Wie kann Kontingenzeinschränkung nun beobachtbar gemacht werden, wie kann ein Vor-gehen aussehen, welches die Kontingenz seines Gegenstandes in den Blick bekommt? Dasanalytische Vorgehen entspricht der von Luhmann vorgeschlagenen funktionalen Analyse,wobei soziale Phänomene im Horizont anderer Möglichkeiten betrachtet werden sollen, umso deren spezifischen Problemlösungsgehalt in den Blick zu bekommen. Soziale Phänome-ne, wie auch die Etablierung bestimmter Kommunikationsmuster, werden als bereits reali-sierte Lösungen betrachtet, deren Funktionalität erst hinsichtlich eines Bezugsproblemssichtbar wird. Nach Luhmanns Vorstellung von gesellschaftlicher Evolution, werden dieseLösungen nicht im Sinne einer lamarkschen Logik »gesucht«, sondern entsprechend einerdarwinistischen2 Logik »gefunden«. Diese Lösungen erhalten ihren spezifischen Problemlö-sungsgehalt erst dadurch, dass sie sich in der sozialen Praxis immer wieder bewähren – odereben nicht bewähren. Anders als bei Talcott Parsons erscheint dann nicht mehr sozialerWandel erklärungsbedürftig, sondern wie es gelingt, bestimmte Kommunikationsmuster her-vorzubringen und Reproduzierbarkeit zu erlauben angesichts eines radikalen Zwangs3 zurEchtzeitlichkeit.

2) Nur um Missverständnissen vorzubeugen: Hier soll kein Sozialdarwinismus postuliert werden, deraus der Durchsetzungskraft sozialer Lösungen eine Legitimierung ablesen will. Der Vergleich mit derEvolutionslogik Darwins soll lediglich deutlich machen, dass gesellschaftlichen Entwicklungen kei-ne Zielrichtung unterstellt werden kann, wobei auch keine beliebigen Lösungen durchgesetzt werdenkönnen.

3) Luhmann formuliert es als »Zwang zum Verschwinden«, der Elemente zu Ereignissen werden lässt.So prozessiert Sinn immer im Horizont von Aktualität und Potentialität, wobei sich die Ereignisse im-mer rekursiv aufeinander beziehen. Systeme darf man sich also nicht als wahlloses, beziehungslosesNacheinander von Beobachtungen vorstellen, sondern als Strukturen, die sich im Sinne einer Opera-tionsgeschichte verdichten, durch Anschluss einer im Horizont der jeweiligen aktuellen Beobachtungmöglichen, kontingenten Beobachtung. »Die Idee des Systems besteht darin, dass sich in der Zeit Un-terscheidungsgebrauch wiederholt, verändert, bewährt oder nicht bewährt, dass aber all das in Ope-rationen des Systems selbst geschieht« (Nassehi 2003, S. 66).

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4. Der ethische Fall in klinischen Ethikkomitees als echtzeitlich produzierte Ord-nung

Wie können nun empirische Ergebnisse eines systemtheoretisch forschenden Blickes kon-kret aussehen? Durchaus prominent sind Versuche, »neue« Funktionssysteme der Gesell-schaft zu identifizieren; leitend ist dann die Frage, ob bestimmte Kommunikationszusam-menhänge wesentliche Merkmale eines Funktionssystems aufweisen. Beispielhaftbeobachten kann man das bei Baecker, der »helfen/nicht helfen« als binären Code und »sozi-ale Hilfe« als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium des Funktionssystems»soziale Hilfe« identifiziert (vgl. Baecker 1998). Die These, soziale Hilfe bearbeite die Fol-gen funktionaler Differenzierung, ist durchaus plausibel, simuliert allerdings wiederum ei-nen gesamtgesellschaftlichen Problemhorizont. Es ist die Frage, ob es sonderlich gewinn-bringend ist, ein Funktionssystem als ein solches identifizieren zu können, stattdessen könnteder Blick stärker darauf gelenkt werden, wie in einem bestimmten gesellschaftlichen Kon-text im Gegensatz zu anderen Bereichen der Gesellschaft durch die Einschränkung von Kon-tingenz Erwartungen etabliert werden. Schon allein die Asymmetrie von Helfendem undHilfsbedürftigem stellt ja eine Ordnungsbildung dar, die weitere Anschlüsse erleichtert. Einesolche Asymmetrie kann in der Reflexion der Operationen in diesem Kontext kritisiert wer-den, aus funktionalistischer Sicht ist sie zunächst schlicht strukturbildend. Kommunikationermöglicht sich selbst, indem sie in konkreten Praxen Plausibilitäten erzeugt und sich selbstmit Anschlussmöglichkeiten versorgt. Alle diese Praxisformen sind zur operativen Echtzeitgezwungen, was bedeutet, dass sich Strukturen immer nur in der gegenwärtigen Kommuni-kation manifestieren können. Es gibt keine Form, in der Strukturen quasi als Blaupause kon-serviert werden können. Selbst schriftliche Kommunikation ist dazu nicht in der Lage, dadurch die Schriftlichkeit nur Mitteilung/Information und Verstehen zeitlich auseinander ge-zogen werden (vgl. Luhmann 1997, S. 257ff.). So »bestehen« soziale Systeme aus nichts an-derem als aus Anschlusszusammenhängen von Kommunikationen und ihrer Anschlusslogik,die nicht als vorgängige Struktur abgerufen wird, sondern in einer Praxis, also gegenwärtigsich entfalten muss.

Die Verknappung und Kondensierung von Sinnangeboten lässt Plausibilitäten entstehen,die weitere Anschlussmöglichkeiten vorstrukturieren. Nach Luhmann wird Plausibilitätdurch die Verwendung von »Schemata oder Skripts« gewonnen (vgl. Luhmann 1997, S.547). »Plausibel sind Ideen, wenn sie unmittelbar einleuchten und im Kommunikationspro-zess nicht weiter begründet werden müssen« (Ebd., S. 548). Das bedeutet nicht, dass solchenplausiblen Beschreibungen von etwas als etwas nicht widersprochen werden könnte, sie kön-nen aber nicht abgelehnt werden. Sie vermitteln – wie Luhmann es nennt – eine Art »Reali-tätsindex«, der dann nur noch »auf gleicher Augenhöhe« kritisiert werden kann, und wersich dem nicht fügt, hat im weiteren Kommunikationsverlauf schlechte Karten. Natürlichmüssen sich auch Plausibilitäten in den jeweiligen kommunikativen Kontexten immer wie-der bewähren, oder es bewähren sich eben andere. Solche kognitiven Schemata oder Skriptssind also nicht für alle Zeiten feststehende Muster, sondern sie sind immer historische Se-mantiken, sie haben eine Geschichte, nämlich eine Selektionsgeschichte4.

Das Nachzeichnen dieser Selektivität der Kommunikation in der jeweiligen Situation istErgebnis eines spezifisch soziologischen Blicks auf soziales Geschehen, der Ordnungsbil-dung in actu beobachtbar und beschreibbar machen soll. Gelingen kann das, indem das, wassich beobachten lässt, daraufhin beobachtet wird, dass es auch anders passieren könnte, also

4) Luhmann betont, dass aber auch Neuerungen immer nur mit und nicht gegen bestehende Plausibili-täten induziert werden können (vgl. Luhmann 1997, S. 549).

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im Hinblick darauf, was nicht passiert5. Sichtbar wird das für einen Blick, der schon mit derVerschiedenheit von Kontexten rechnet und so Erkenntnisgewinn aus einer vergleichendenMethode erzielen kann.

Wie also eine solche systemtheoretische Analyse aussehen kann, soll im Folgenden an-hand der Kommunikation in klinischen Ethikkomitees gezeigt werden. Klinische Ethikkomi-tees sind als ethische Beratungsgremien auf lokaler Ebene in Krankenhäusern institutionali-siert. Die Teilnehmer solcher Komitees sind vorrangig Angestellte des jeweiligenKrankenhauses unterschiedlicher Fachbereiche, also »ethische Laien«, die zu den zu verhan-delnden Problematiken über ihren Alltag Zugang haben. Zu den Fragen, die in diesem Gre-mium debattiert werden sollen, zählen prekäre Behandlungsentscheidungen wie Behand-lungsabbruch, später Schwangerschaftsabbruch, aber auch das generelle Verhalten desPersonals gegenüber Patienten oder Kollegen. Die getroffenen Entscheidungen sind für diebehandelnden Ärzte nicht bindend, vielmehr wird ein Votum6 abgegeben. In diesem Rah-men werden nicht nur Fälle besprochen, in denen noch Entscheidungen ausstehen, sondernauch Fälle, in denen das Vorgehen retrospektiv diskutiert wird.

In der folgenden Analyse wird als empirisches Material auf Beobachtungsprotokolle zu-rückgegriffen, die in teilnehmender Beobachtung von Sitzungen klinischer Ethikkomiteesentstanden sind7. Die Wahl eben dieser Methode beruht nicht auf ›forschungsökonomischen‹Überlegungen, die ›Informationsverlust‹ zugunsten von ›Praktikabilität‹ in Kauf nehmen,sondern auf einer Theorie, deren Methodik darauf abzielt, Kommunikation als Kommunikati-on beobachtbar zu machen. Gegenüber der Aufzeichnung und wörtlichen Transkription wei-sen diese Beobachtungsprotokolle eine Selektivität auf, die allerdings eben jene spezifischeSelektivität abbildet, die den beobachtungsformenden und relevanzzuweisenden Kontextu-ren der beobachteten Situation folgt. Die Daten geben damit eine Teilnehmerperspektivewieder, an der beobachtet werden kann, wie sich kommunikative Kontexte entfalten und sta-bilisieren. Wie sehr sich die Perspektive der Beobachtungsprotokolle an die kommunikativeRealität des Settings anschmiegt, zeigt sich an mehreren Textstellen besonders deutlich. An-gesichts eines Beratungsfalles, in welchem von dem Ethikkomitee ein Votum erwartet wird,kann sich der Beobachter der vorherrschenden Betroffenheit nicht entziehen:

Jetzt spüre auch ich den aufsteigenden Kloß im Hals. Die Stimmung ist sehr gedrückt. Die Last drücktauf alle Schultern, auch auf meine. (T-HB-27, Z. 420-421)

5) Was nicht passiert, kann freilich nur im Rückgriff auf Wissen beobachtet werden, das der Forscherschon »mitbringt«. Das muss aber gar kein Fehler sein, ist vielmehr sogar unvermeidlich, bestehtdoch die Alternative darin, Vorwissen ausschalten zu wollen und sich dann nicht mehr weiter mit derReflexion zu belasten, welche Art von Wissen leitend für die eigene Beobachtung war. StefanHirschauers ethnographische Beschreibung eines Operationssettings, in dem er das Operationsteamals einen »Chirurgenkörper« identifiziert, basiert zunächst auf dem Wissen um einzelne, abgrenzbareKörper, wodurch die »Verletzung« dieser Grenzen erst augenfällig wird (vgl. Hirschauer 1996). The-oretisches oder praktisches Vorwissen des Forschers soll also nicht ausgeschaltet werden, sondernkann in Form von Erwartungen reflektiert und so für die Interpretation des empirischen Materialsfruchtbar gemacht werden.

6) In der Literatur zu klinischen Ethikkomitees gibt es unterschiedliche Angaben zu den notwendigenMehrheitsverhältnissen, falls kein Konsens hergestellt werden sollte. Praktisch hat eine solche Ab-stimmung in den von uns beobachteten Sitzungen aber nie stattgefunden.

7) Die teilnehmenden Beobachtungen sind im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts »Klinische Ethikko-mitees: Weltanschaulich-konfessionelle Bedingungen und kommunikative Strukturen ethischer Ent-scheidungen in Organisationen« (Na 307/3-1) unter der Leitung von Armin Nassehi (München), ReinerAnselm (Göttingen) und Michael Schibilsky († München) entstanden. Gegenstand der Untersuchungwaren dabei vier klinische Ethikkomitees in der Bundesrepublik: ein Universitätsklinikum, zwei kon-fessionell geführte Häuser und ein städtisches Krankenhaus. Alle verwendeten Daten wurden anonymi-siert. In der vorliegenden Analyse werden Protokolle aus jedem der untersuchten Komitees verwendet.

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Dieses »going native« ist durchaus gewollt. Die so festgehaltenen Eindrücke aus der Pers-pektive eines Teilnehmers stellen vielmehr einen Informationsgewinn dar. Für eine distan-zierte Beobachtung geben sie unter anderem Aufschluss über die Anschlussfähigkeit vonKommunikationsofferten. Im folgenden Textabschnitt wird deutlich, dass Herrn Düwels Zu-mutung der Akzeptanz von Organisationshierarchie als unhinterfragbare Legitimation vonEntscheidungen in diesem Kontext als Störung wirkt.

Herr Düwel: Eine Entscheidung der Klinikleitung wird prinzipiell nicht hinterfragt. Wenn in derDiskussion um die Alternative Rot oder Blau einmal auf Rot entschieden worden sei, könne nicht stän-dig wieder jemand daherkommen und über rot diskutieren wollen, weil er mit Blau nicht einverstandensei. Als auf diese Äußerung hin etwas (nonverbale) Unruhe unter den Komiteemitgliedern aufkommt,fügt er hinzu: über geeignete Alternativen könne man sich ja verständigen, aber Diskussionen ein unddesselben Falles, zu dem bereits eine Entscheidung des Direktoriums vorliegt, könne nicht ständig vonNeuem debattiert werden (T-HT-9, Z. 431-439).

Die Protokolltexte geben also eine Wirklichkeit wieder, wie sie aus der Perspektive einesTeilnehmers erscheint. In eben dieser Weise ist die Empirie zu verstehen, mit der im Folgen-den gearbeitet werden soll. Was dabei sichtbar wird, sind Vollzugwirklichkeiten ganz im Sin-ne der Ethnomethodologie (vgl. Bergmann 1981): Wirklichkeit, die als vorgegeben erfahrenwird, aber allein im kommunikativen Vollzug hervorgebracht und reproduziert wird.

4.1. Die Fehlbarkeit der Vernunft und die Authentizität der Gefühle

Die Aufzeichnungen von Fallbesprechungen in klinischen Ethikkomitees lassen sich nundaraufhin untersuchen, welcher internen »Logik« in Form einer selektiven Relevanzzuwei-sung die Kommunikation im Kontext einer ethischen Fallbesprechung gehorcht, welche ord-nungsgenerierenden Sinnverknappungen in der Kommunikation produziert werden. Ausge-hend von der Annahme, dass in diesen Fallbesprechungen ja zunächst prinzipiell Vielesvorkommen könnte, fällt auf, dass die Kommunikation dennoch spezifische Aspekte fokus-siert. In der Situation erscheinen dann bestimmte Argumente und Lösungen plausibel undsetzen sich gegenüber anderen durch.

Den zweiten Fall schildert Gisela Kant (Ärztin) auf Wunsch von Peter Löwe (Pfarrer): Bei dieser Frauhandelte es sich um eine 63 Jahre alte Zahnärztin, die aus einem guten sozialen Umfeld kam. Nach ei-nem Ärzte-Marathon wurde sie in die Station eingewiesen. Es wurde zunächst eine Behandlung auf eineakute Erkrankung eingeleitet. Da sich keine Besserung einstellte, wurden weitere Untersuchungen vor-genommen. Es stellte sich heraus, dass sie Lymphdrüsenkrebs im Endstadion hatte. Da sie selbst Ärztinwar, waren für sie die Folgen der Diagnose klar. Nach der Therapiebesprechung äußerte sie die Bitte,sterben zu dürfen. Gisela Kant stellte in ihrem Bericht heraus, dass sie sich überfordert fühlte. Sie be-endete das Gespräch mit dem Hinweis darauf, dass es in Deutschland keine aktive Sterbehilfe gebendarf, aber dass die Patientin die Möglichkeit hat zu sterben. Die therapeutischen Maßnahmen werden indiesem Fall abgesetzt und zur Schmerztherapie wird Morphium verabreicht. Resümierend betontGisela Kant die Klarheit, mit welcher die Patientin sich verhalten hat. Sie war entlastend.(…)

Der Grund, warum der Fall im KEK geschildert wurde, kam jetzt zur Sprache: Die Pflegekräfte rea-gierten unterschiedlich auf die oben beschriebene Vorgehensweise. Eine Schwester zeigt sich da-mit völlig einverstanden, die andere machte Peter Löwe Vorwürfe, weil man die Frau hatte einfachsterben lassen. Man hätte sie doch noch therapieren können, man hätte die Patientin manipuliert.

Willi Winkel (Arzt) sagt, dass es sich bei diesem Fall um das Gegenteil des normalen Ablaufs handelte:Die Patientin hat die Mitarbeiter an die Hand genommen. Und er stellt klar, dass die Ärzte die lebens-verlängernden Maßnahmen einleiten und nicht das Pflegepersonal. Zusammenfassend bewertet erden Sterbeprozess als gelungen und eigentlich ideal.

Allerdings beschreibt Peter Löwe, dass die Angehörigen ebenso wie die letztbeschriebene Kranken-schwester reagierten. Besonders eine Nichte, die aus einer charismatisch religiösen Bewegung kam.Seine Lösung war, sich Zeit für die Verwandten zu nehmen, er gab dem Frust und dem Ärgervon ihnen Raum (T-EH-2, Z.109-147).

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Zunächst erinnert die Fallbeschreibung an eine medizinische. In chronologischer Abfolgewerden Ereignisse zu einer Krankengeschichte gereiht und mit einem abschließenden Be-fund versehen. Nicht die medizinischen Plausibilitäten werden jedoch zum Angelpunkt derArgumentation, sondern subjektive Befindlichkeiten. Die Entscheidung der Patientin, ster-ben zu wollen und auf weitere Therapie zu verzichten, stellt die Ärztin Gisela Kant als pro-blematisch dar. Problematisch nicht aufgrund medizinischer Bedenken, sondern als für sieselbst problematisch. Sie spricht von »Überforderung«, nicht als körperlichem Symptom,sondern als Gefühl. Auch die Gefühle der Angehörigen werden thematisiert. Hier deutet sichschon ein Lösungsweg an, man muss die Gefühle ernst nehmen, den »Frust« und »Ärger«zulassen. Es handelt sich offenbar um Probleme, die sich kommunikativ lösen lassen, indemman darüber redet. Auch die Ärztin Gisela Kant spricht von der »Offenheit« der Kommuni-kation als Entlastung in der Situation.

Die Verbalisierung von Gefühlen erzeugt hier legitime Sprecherpositionen. Das gilt nichtnur für im Ethikkomitee anwesende Personen, die mit Hinweis auf ihr »Erleben« ein Pro-blem plausibilisieren können, ebenso werden nicht anwesende Personen, wie die Angehöri-gen, als legitime »Sprecher« etabliert. Auch die Reaktionen der Schwestern auf den Thera-pieabbruch werden geschildert, allerdings ohne Bezug auf deren Emotionen zu nehmen. Dasmacht es dem Arzt Willi Winkel leicht, mit Hinweis auf organisationsinterne Befugnisse de-ren Sprecherposition als illegitim bzw. irrelevant darzustellen.

Wenn hier in der Kommunikation Bezug auf Gefühle von Personen genommen wird, dannkann eine funktionalistische Betrachtung sich nicht damit begnügen, darüber die beteiligten»Akteure« mit Motivlagen auszustatten. Vielmehr muss es um die Funktion gehen, die in derThematisierung von Gefühlen liegt. Es soll hier weder »psychologisiert« werden, noch wirdbestritten, dass psychische Systeme sich in Zuständen befinden können, die sich so beschrei-ben lassen. Entscheidend ist aber die Beobachtung, dass auf innere Zustände rekurriert wirdund damit plausibel die Problemhaftigkeit, das »ethische Problem«, transportiert werdenkann, was entparadoxierend für Anschlussfähigkeit sorgt.

Angesichts hoher Kontingenzzumutungen in der modernen Gesellschaft traut man amehesten noch der Ethik zu, »gute Gründe für gute Gründe« (vgl. Nassehi 2003, S. 258ff.) be-reitstellen zu können. Natürlich nimmt Kommunikation, die man im klinischen Ethikkomiteebeobachten kann, selten die Form ethischer Reflexion im wissenschaftlichen Sinne an. Siebedient sich aber einer Entparadoxierungsstrategie, die eine Nähe zur Operationsweise derEthik, Moral und auch der Religion aufweist. »Obwohl sich ethische Moralbegründungenund Religion weitgehend voneinander entkoppelt haben, sind beide darauf angewiesen, sichauf Unbedingtheiten zu beziehen. (…) Beide müssen eine letztlich unbeobachtbare, kommu-nikativ verknappbare Selbstbegründung ihrer Unbedingtheit finden. Wie Religion muss alsoauch Ethik auf Unbeobachtbares, auf Unsichtbares verweisen« (Nassehi 2003, S. 276). Aufähnliche Weise schränkt die Kommunikation im Ethikkomitee Kontingenz ein. Sie nimmtRückgriff auf »Gefühle«, die innerhalb von Personen verortet werden und »von außen« nichtsichtbar sind. Anders als Ethik und Religion geht es aber gerade nicht darum, diese Unsicht-barkeiten unbeobachtbar zu halten, sondern explizit darum, sie sichtbar zu machen. Geradedas macht auch die Berechtigung von Kommunikation als Lösung aus, über Gefühle mussman sprechen, um sie beobachtbar zu machen. Ihre Plausibilität in der Kommunikation liegtnicht unwesentlich darin, dass Unsichtbares sichtbar gemacht wird. Einer solchen Sichtbar-keit ausgesetzt zu sein, kann die Kommunikation von Gefühlen nur aushalten, weil sie alsauthentisch gelten kann. Den Gefühlen einer Person wird eine eigene Dynamik zugestanden,die durch die »Vernunft« nicht steuerbar ist. Deshalb sind die Empfindungen einer Person»echt« und das, was diese Person dann fühlt, ist für sie damit real. Die Realitätsdefinitionwird hier in ein erlebendes Subjekt verlagert, was die Gründe der Gefühle wieder mit einer»Unsichtbarkeit« ausstattet, die entparadoxierend wirkt.

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Luhmann beschreibt, dass in der Kommunikation vor allem dann Bezug auf Rationalitätgenommen wird, wenn man eine Position als nicht verhandelbar ausweisen will (vgl. Luh-mann 1997). Ob eine Position durch Rekurs auf Rationalität tatsächlich auch unverhandelbarwird, ist eine empirische Frage. In einem klassisch wissenschaftlichen oder medizinischenKontext mag sich das noch bewähren; im Diskurs des klinischen Ethikkomitees erweist sicheine Position, die auf Rationalität pocht, als wenig plausibel. Hier etablieren sich in derKommunikation Gefühle8 als nicht verhandelbar. So werden Sprecher sichtbar, deren Au-thentizität durch ihre erlebten Gefühle verbürgt ist.

Im Fall einer 36-jährigen Krebspatientin im Krankenhaus Horntal geht es um einen Konf-likt zwischen Pflegepersonal und Krankenhausverwaltung, der daraus entstanden ist, dassaus Kostengründen abgelehnt wurde, im Zimmer der Patientin, deren offene Metastasen vie-le Fliegen anlocken, ein Fliegengitter anzubringen. Herr Düwel, Mitglied der Geschäftslei-tung und Gast im Ethikkomitee, schildert die Reaktion des Pflegepersonals auf die Ableh-nung gegenüber einem Mitarbeiter vom Technischen Dienst, der die Nachricht überbringt.

Überhaupt habe sich der Mann auf der Station einiges anhören müssen. Über »unmenschlich« bis »un-verschämt« und weiterem mehr, das Herr Düwel (Mitglied der Geschäftsleitung) hier lieber nicht na-mentlich anführen will, sei es zu einer emotional sehr angespannten Situation gekommen, in derenVerlauf Dinge gesagt worden seien, die er für gänzlich deplaziert erachte. An das Gremium gerichtetfügt Herr Düwel, diese Fallkonkretisierung beschließend, hinzu: »Es ist meines Erachtens nicht dieAufgabe des Ethik-Komitees, Entscheidungen der Geschäftsleitung, die auf Unverständnis stoßen, zuthematisieren!« Grauwald (Leiter des Komitees), bereits selbst zu einer Entgegnung anhebend, erteiltFrau Gärtner (Juristin) das Wort, die durch ihre Meldung auf sich aufmerksam gemacht hatte. Dieseäußert den Eindruck, bei Herrn Düwel sei der Gesprächsfaden nach der ursprünglichen Entscheidungbereits abgerissen gewesen. Er möge das bitte nicht missverstehen, sie selbst sei als Juristin in derStaatsanwaltschaft auch Teil einer Organisation, eines bürokratischen Systems und sähe sichselbst ähnlichen Schwierigkeiten ausgesetzt. Aber es gebe eben nicht nur Schwarz und Weiß. Esgelte daher Mittelwege zu finden. Die Grundsätzlichkeit dieser Problemstellung qualifiziert dengeschilderten Fall in ihren Augen dann doch als einen ethischen. Es geht ihres Erachtens um dasgrundsätzliche Miteinander im Krankenhaus. Wenn dabei die Pflegenden den Eindruck haben,dass sie oftmals auf der Strecke bleiben, sei das schon mal eine Reflexion wert. Grauwald zeigt Zu-stimmung für die Analyse Frau Gärtners. Auch er diagnostiziert ein Kommunikationsproblem. Vor al-lem auch hierarchische Konstellationen haben seiner Ansicht nach zu dem Konflikt geführt. Er selbsthätte »es sinnvoll gefunden«, wenn man zu einer Kompromiss- oder Ausnahmeregelung gelangt wäre.

Herr Düwel äußert sich erneut. Er sieht sehr deutlich, dass er inzwischen immer mehr in eine Verteidi-gungsposition zu geraten droht und will das, so gut es geht, in seinen Redebeiträgen vermeiden. Er be-müht sich, »objektiv« zu bleiben, will nur anführen, dass die Schwarzweiß-Malerei ebenso durchdas Pflegepersonal betrieben worden sei. Das sei auch verständlich, schließlich handelte es sichum »eine sehr emotionale Sache«. Damit sei es nun aber auch gut für ihn, wenn möglich will er sichaus dem weiteren Verlauf der Diskussion raushalten. Grauwald geht auf die Rede Herrn Düwels ein,indem er versichert, es ginge weder ihm persönlich, noch dem Ethik-Komitee darum, sich in Angele-genheiten der Geschäftsleitung einzumischen (T-HT-9, Z.218-250).

Herr Düwel kritisiert das »irrationale«, unvernünftige Verhalten der Pflegenden. Er siehtdas Problem in der Emotionalität an sich, die er hier als »deplaziert« erachtet. Mit dem Ver-

8) Van den Daele beobachtet in seiner diskursanalytischen Untersuchung von biotechnischen Debatten,dass das Argument des Respekts vor den Mitkreaturen für den Tierschutz vollkommen plausibel ist.Für den Schutz von Pflanzen vor gentechnischen Eingriffen gilt dies aber keineswegs (vgl. van denDaele 2001). Scheinbar funktioniert dieses Argument nicht über die zu respektierende Natur von Kre-aturen, sondern eben über eine Art »Empathiegebot«, das allerdings nur greifen kann, wenn einemanderen Wesen ein »Erleben von Gefühlen« unterstellt werden kann. Bisher hat sich das offensicht-lich für Tiere, aber nicht für Pflanzen erfolgreich etabliert. Dass es dabei nicht nur um eine Art Fä-higkeit zum »Schmerzempfinden« geht, sondern um so genannte Bewusstseinszustände, wie Traueroder Zuneigung, dafür spricht, dass auch verschiedene Tierarten unterschiedlich betrachtet werden.Das »Schutzgebot« ist für Laborkaninchen wesentlich plausibler als für Ameisen.

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weis auf Organisationshierarchien und Zuständigkeiten will er Entscheidungen der Ge-schäftsleitung als nicht problematisierbar ausweisen und fordert Einsicht in die Notwendig-keit der Akzeptanz hierarchisch legitimierter Entscheidungen. Das ist eine Forderung, die inden meisten Organisationskontexten nicht einmal ausgesprochen werden müsste, da sie sichvon selbst versteht. Dass sich aber im Ethikkomitee, das ja durchaus in einem organisationa-len Rahmen stattfindet, organisationsbedingte Notwendigkeiten nicht mehr ohne Weiteresals Notwendigkeiten darstellen lassen, kann man daran sehen, dass die Juristin Frau Gärtneran dieser Haltung die mangelnde Verständigungsorientierung kritisiert. Dass Gesprächsbe-reitschaft gerade nicht zu den Dingen gehört, die innerhalb von Organisationen plausibeleingefordert werden können, sieht man daran, dass Frau Gärtner hinzufügt, man möge sienicht »missverstehen«, sie sei selbst Mitglied in einer Organisation und mit den Notwendig-keiten und Zwängen eines »bürokratischen Systems« vertraut. Ihr gehe es aber um die»Grundsätzlichkeit« der Problemstellung, die es dann doch zu einem »ethischen« Problemmache. Der Eindruck des Pflegepersonals, dessen subjektives Erleben, muss als dessen Rea-lität im Krankenhausalltag wahrgenommen und auch so behandelt werden. Damit ist es»schon mal eine Reflexion wert«, man muss also darüber sprechen. Die Realität der Gefühlekann Herr Düwel im Folgenden nicht ablehnen. Zwar attestiert er dem Pflegepersonal eben-falls, wie ihm vorgeworfen, ein »Schwarz-Weiß-Denken«, er stellt deren Verhalten abernicht mehr als irrational dar, sondern er kommuniziert Verständnis angesichts der »sehremotionale(n) Sache«.

Der Diskurs im klinischen Ethikkomitee stellt sich also als ein kommunikativer Kontextdar, in dem Gefühle eine Berechtigung haben und ernst genommen werden müssen. Nichtvernünftiges Reden setzt sich durch, sondern verständnisvolles Reden, es muss auf eine Per-son und deren Erleben, deren eigene Realität Rücksicht genommen werden. Deren Gefühlesind nicht weiter hinterfragbar und müssen nicht weiter begründet werden. Der Fehlbarkeitdes Verstandes steht dann die Unfehlbarkeit der Emotion gegenüber: Man kann falsch ge-dacht, aber nicht falsch gefühlt haben.

Im Kontext der beschriebenen ethischen Diskussion werden übliche Rationalitäten ent-wertet zugunsten authentischer Sprecherpositionen. Was als Realität der Argumentation zu-grunde gelegt werden kann, wird in die innere Unendlichkeit eines Subjektes verlagert.Sichtbar wird die Kontingenz dieser Lösung, die sich in der Situation erst im Vergleich mitanderen Kontexten selbst als plausibel durchsetzt. So ist im Kontext der Wissenschaft geradeder Rekurs auf Objektivität ein Hinweis für – ja eben für Wissenschaftlichkeit. Auch diePlausibilität von Kommunikation als Problemlösungsinstrument, dem eine realitätsformen-de Kraft innewohnt, ist in anderen Kontexten nicht denkbar. Die Herstellung wissenschaftli-cher Wahrheit mag bei soziologischer Betrachtung natürlich als kommunikatives Geschehenerscheinen, in welchem Ergebnisse hergestellt werden, indem darüber geredet wird (vgl.Knorr Cetina 1989), aber so eine Studie hat ihr soziologisches »Überraschungsmoment« ge-rade darin, dass von wissenschaftlichen Evidenzen erwartet wird, dass sie für sich selbstsprechen.

So lassen unterschiedliche Perspektiven unterschiedliche Welten entstehen und derenPlausibilitäten erweisen sich immer nur so lange als wirksam, wie der zugehörige Kontextexistiert. In einem Fall eines versuchten Suizids setzt sich kurzzeitig eine medizinische Pers-pektive als ein anderer Realitätsindex durch. Gerade der Unterschied in der Form der Kom-munikation lässt das Spezifische an der Form der Diskussion aller übrigen Fälle deutlichwerden.

Der eine Fall steckt den Anwesenden noch in den Knochen, dennoch hat Peter Löwe (Pastor und Leiterdes KEK) zunächst sachlich beschrieben, worum es ging: Das Pflegepersonal hat sehr gut reagiert, alsim Krankenzimmer eine Patientin versucht hatte, sich umzubringen. Peter Löwe hat, nachdem er geholtwurde, versucht, wieder Ruhe in die Situation zu bringen. Dies geschah durch ein Gespräch und durch

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Informationsvermittlung. Danach hat er der Patientin eine Patientenverfügung mitgegeben und die Lis-te, die bei einem Patientengespräch durchgegangen wird. »Es war schon seltsam«.

Willi Winkel (Arzt) fragt nach dem Grund der Einweisung. Peter Löwe antwortet, dass dieserVorfall nicht vorauszusehen war. Es wurde erst deutlich, als sie versuchte, sich im Krankenzimmerdas Leben zu nehmen. Willi Winkel fragt weiter nach: »Gab es Anzeichen von Verwirrtheit?« Pe-ter Löwe antwortet: »Nein, aber ich bin Laie, ich hatte den Eindruck, dass sie einsam ist, le-bensalt, lebensmüde. Willi Winkel antwortet: »In Holland hätte sie in Ruhe sterben können, ichhabe neulich einen Bericht gelesen, in dem dargestellt wurde, dass die Holländer den niedrigsten Mor-phinverbrauch haben.« (…)

Nina Haff (Oberärztin) weist nochmals darauf hin, dass Suizidgefahr eine Krankheit ist, und dassein Arzt in diesem Fall hinzugezogen werden muss. Sie meint, dass es zwei Arten von Suizid gibt,den echten und den demonstrativen. Dass der Seelsorger in diesem Krankenhaus zu diesen Fällen ge-rufen wird, hält sie für selbstverständlich, dennoch könnte sich die schnelle Entlassung der Patientinals fahrlässig erweisen.

Ulf Grün (Krankenhausseelsorger) stellt nochmals eindeutig klar, dass ein Arzt bei der Entlassungdabei war. Die Oberärztin erwähnt nochmals die Möglichkeit des psychiatrischen AmbulantenDienstes. (T-EH-2, Z.70-107)

An die Beschreibung des verhinderten Suizidversuches schließt der Arzt Willi Winkel mitder Frage nach dem Grund für die Einweisung an, und stellt das Problem des Suizids damitin Zusammenhang mit der medizinischen Situation der Patientin. Mit der Antwort des Pas-tors Löwe, der Vorfall sei nicht vorauszusehen gewesen, gibt er sich nicht zufrieden, undfragt weiter nach, ob es »Anzeichen von Verwirrtheit« gegeben habe. Hier sieht man einenmedizinischen Blick, der sich in erster Linie auf die Zeichen eines Körpers richtet, um dieseim Hinblick auf dessen Zukunft zu lesen9. Solche Kommunikationsformen entfalten ihre ei-gene Plausibilität und lassen sich nicht schlicht ablehnen, weshalb Pastor Löwe, der als Lei-ter des Ethikkomitees das Ethische an diesem Fall herausarbeiten möchte, antwortet, dass eskeine Anzeichen gegeben habe, und er gibt sich dabei aber als medizinischer »Laie« zu er-kennen. #Wäre hier nicht passender bzw. die Logik der Argumentation betonender: »..undsich dabei aber gleichzeitig als medizinischer »Laie« zu erkennen gibt.« ?Dementsprechendschildert er seine Beobachtungen nicht als medizinischen Befund, sondern als persönlichenEindruck. Um die Problematik des Falles herauszustellen, beschreibt er die Verfassung derPatientin nicht in Form von medizinisch deutbaren Symptomen, sondern mit Hinweis aufihre Gefühlswelt. Auf diese Innenschau nimmt der Fall eine kurze Wendung, und der ArztWilli Winkel reagiert verständnisvoll auf den Wunsch der Patientin zu sterben mit dem Hin-weis, dass sie in Holland »in Ruhe« hätte sterben können. Die Anmerkung der OberärztinNina Haff, dass Suizidgefährdung eine Krankheit sei, und damit in den Zuständigkeitsbe-reich eines Arztes falle, stellt den Fall wieder in einen medizinischen Kontext. Der Wunschzu sterben wird pathologisiert und zugleich als behandelbar ausgewiesen, indem die Ober-ärztin auf die Möglichkeit einer Intervention des psychiatrischen Ambulanten Notdiensteshinweist. Mit dem Verweis auf diese therapeutische Option erscheint der Fall als unproble-matisch und die Falldiskussion wird abgeschlossen. Im Horizont einer solchen Argumentati-on erscheint der Mensch als ein »körperlich-immanentes« System (Labisch 1992, S. 304).Hier soll keineswegs behauptet werden, Mediziner seien unfähig, Personen als Person ernstzu nehmen, allerdings gilt es empirische Hinweise ernst zu nehmen auf die Tendenz hin,Handeln über einen möglicherweise kranken Körper zu erklären. Sichtbar wird das auch ander aktuellen medialen Aufregung um das Thema des assistierten Suizids, der unter anderemin der Schweiz straffrei ist. An der Praxis des Schweizer Vereines »DIGNITAS – Menschen-

9) Das bedeutet keineswegs, dass in der medizinischen Behandlung nur Körper eine Rolle spielen. Viel-mehr sieht sich der behandelnde Arzt in der Regel mit »Körper(n) mit Köpfen« konfrontiert und musszunächst das Commitment des Patienten erarbeiten, um den Körper überhaupt behandelbar zu ma-chen (vgl. Saake 2003).

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würdig leben – Menschenwürdig sterben« empören sich medizinische Experten nicht wegender Beihilfe zur Selbsttötung an sich, sondern problematisch erscheint vor allem, dass keineausreichende medizinische Überprüfung auf eine mögliche psychische Erkrankung hin erfol-ge und man den Betroffenen durch geeignete Therapie helfen könne. Wie auch im vorliegen-den Protokoll der Diskussion im klinischen Ethikkomitee erscheint ein Patient mit Sterbe-wunsch eher als Hilfsbedürftiger denn als Subjekt eines authentischen Willens.

4.2. Die Pluralisierung von Realität und authentisches Erleben

Im Vergleich mit anderen kommunikativen Kontexten wird deutlich, was das Spezifische ander Form der Kommunikation im klinischen Ethikkomitee ausmacht: Sie ist geprägt von derSubjektivität von Personen, die authentisch und damit unantastbar erscheint. Als subjektiveRealität kann sie für sich Geltung beanspruchen, zugleich scheint sie nicht mit der Rationali-tät einer objektiven Realität10, wie den Sachzwängen eines Krankenhausalltags, vereinbar.Dennoch muss man Verständnis für das subjektive Empfinden aufbringen, dem das Verhal-ten dieser Person als Folge zugerechnet wird.

Im Fall eines 63-jährigen Krebspatienten, der eine Therapie ablehnt und dessen behan-delnde Ärzte kein Verständnis für diese Haltung aufbringen, werden die Beweggründe desPatienten reflektiert.

Horn (Krankenhausseelsorger) gibt bedächtig zu bedenken: »Es kann auch sein, dass der Patient alsLaie etwas als Bedrängung empfindet, was nicht als Bedrängung gemeint war.«

Frau Mann (Patientenvertreterin):«…und weil er Angst hat!«

Dr. Berger (Arzt): «Naja, es kann viele Gründe für das Verhalten geben, aber man weiß halt nicht, wa-rum er das nicht machen will…«

Frau Mann: » Also wenn ich drei Krebse hätt, dann würd ich auch denken: Ende!«

(T-WG-6, Z.382-387)

Der Krankenhausseelsorger Pfarrer Horn antwortet auf die vorangegangene Darstellung,der Patient sei von den Ärzten bedrängt worden, doch eine Therapie zu machen, mit derÜberlegung, dass der Laienstatus des Patienten dessen Wahrnehmung beeinflusst, und weistso auf die Perspektive des Patienten hin. Dem fügt die Patientenvertreterin Frau Mann nocheine emotionale Dimension hinzu und nennt Angst als Beweggrund für das ablehnende Ver-halten des Krebspatienten. Dr. Berger, ein Arzt, geht nicht auf diese verständnisvolle Herme-neutik ein und stellt die Beweggründe des Patienten als intransparent dar. Darauf plausibili-siert Frau Mann ihre Interpretation durch ein – wie ich es hier nennen möchte –»intersubjektiv authentisches« Statement: »Also wenn ich drei Krebse hätt, dann würd ichauch denken: Ende!«. Dieses Statement kann für sich alleine stehen und bedarf keiner weite-ren Begründung oder Erklärung. Statt beispielsweise auf geringe statistische Heilungschan-cen zu verweisen und so einen kalkulativen (vgl. Foucault 1988, S. 102ff.), medizinischenBlick einzunehmen, wird der Nachvollzug des Erlebens eines Betroffenen dargestellt. Ange-sichts der Authentizität, derer sich diese Äußerung bedient, ist nicht mit einer weiteren Fragenach Gründen zu rechnen. Frau Mann beschränkt sich in ihrem Statement nicht darauf, ver-ständnisvoll zu reden, sie versetzt sich in die Lage des Patienten, und wird dadurch selbstzum authentischen Sprecher, dessen Empfinden und Wollen angesichts einer tödlichenKrankheit akzeptiert werden muss bzw. müsste. Indem sie die Sprecherposition des Patientenzur ihrer eigenen macht, verleiht sie der authentischen Subjektivität des Patienten so etwaswie intersubjektive Geltung.

10) Die Unterscheidung von »subjektiv« und »objektiv« wird als Beobachtung der beobachteten Kom-munikation behandelt und nicht der eigenen soziologischen Beobachtung zugrunde gelegt.

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An der »Risikogesellschaft« beobachtet Beck ein zunehmendes Auseinanderklaffen von»wissenschaftlicher und sozialer Rationalität«: »Man redet aneinander vorbei« (Beck 1986,S. 39). Deshalb plädiert er für ein »gesellschaftliches11 Denken«. Dieses »Aneinander Vor-beireden« lässt sich – wenn man nicht in kritischer Absicht an das Thema herangeht – auchals strukturelle Perspektivendifferenz beobachten, wie Luhmann anhand seiner Rekonstruk-tion des Risikodiskurses vorführt (vgl. Luhmann 1991). Mit Hilfe der Unterscheidung vonRisiko und Gefahr argumentiert Luhmann, dass die Risikowahrnehmung von sozialen Attri-butionsvorgängen abhängig ist. Je nachdem, ob man sich in der Position des Entscheidersoder des Betroffenen sieht, wird ein anderer »Realitätsindex« wirksam. Das Auseinander-klaffen von »Rationalitäten«, wie es Beck beobachtet, lässt sich dann als Inkommensurabili-tät verschiedener sozialer Kontexte, als unüberbrückbare Perspektivendifferenz darstellen. Jenachdem, ob man sich in einem Kontext bewegt, in dem Entscheidungen im Vordergrundstehen oder die Betroffenheit, setzt es sich als plausibel durch, auf »sicheres Wissen«, alsowissenschaftliche Evidenzen, zurückzugreifen, oder eben auf Authentizität12. Expertise wirdalso weniger entwertet, als an bestimmte kommunikative Bedingungen gebunden.

Was in Luhmanns Analyse aber noch nicht so klar zum Tragen kommt, ist die Plausibili-tät von »Betroffenheit« als einer eigenen Realität. Es erscheint intuitiv einleuchtend undnicht weiter begründungsbedürftig, dass es eben einen Unterschied macht, ob man etwas nurtheoretisch reflektiert, oder ob man tatsächlich betroffen ist. Anschlussfähigkeit der Kom-munikation wird im Horizont von Betroffenheit offensichtlich eher durch »intersubjektiveAuthentizität« hergestellt als durch »gute Gründe«.

Die Kommunikation im klinischen Ethikkomitee etabliert sich – wie wir gesehen haben –nicht nur angesichts der Betroffenheit als authentisch akzeptierter Sprecher, sondern durch»Nachempfinden« und »sich in die Situation des Betroffenen Hineinversetzen« können wei-tere Sprecherpositionen entstehen, die die Authentizität der Betroffenheit nutzen können, umsich selbst zu plausibilisieren und zudem die Geltung der Sprecherposition des Betroffenenzu stärken, indem das Empfinden als »intersubjektiv« plausibel hergestellt wird. Es wird mitverschiedenen Gegenwarten gerechnet, die prinzipiell intransparent sind, weil man nicht inder Haut des anderen steckt, und die nur verstehbar werden, wenn es gelingt› sich in die Si-tuation des anderen zu versetzen. Verständnisvolle, nachvollziehende Sätze erzeugen einekommunikative Textur, in der es besonders wirkungsvoll wird, aus der Position eines Ande-ren zu sprechen und dann immer mehr Positionen als legitime Realität und damit als relevanterscheinen zu lassen.

Es gehört zu den besonderen Eigenarten solcher Kommunikation, die mit Authentizitätrechnet, sich für unterschiedliche Gegenwarten zu interessieren. Damit kennt sie verschiede-ne Realitäten, während zum Beispiel rechtliche oder wissenschaftliche Kommunikation je-weils nur eine Realität kennt. Natürlich kann ein Unschuldiger zu Unrecht verurteilt werden,dann geschieht das aber eben zu Unrecht. Wissenschaftliche Erkenntnisse können sich alsunwahr erweisen, was aber als Aufdecken eines Irrtums markiert wird. Der Diskurs imEthikkomitee jedoch macht verschiedene Sichtweisen sichtbar, die je für sich Geltung als

11) Gesellschaft ist hier wohl als eine Formel für das Ganze zu verstehen, und sein Plädoyer als Auffor-derung, das Ganze doch als Ganzes zu sehen.

12) Dass Betroffenheit andere Plausibilitäten erzeugt, das wird besonders plastisch deutlich an den fastschon zynisch anmutenden Sätzen, mit denen Beck deutlich machen möchte, wie wissenschaftlicheEvidenzen die Realität der betroffenen Menschen vollkommen verfehlen. Als Beispiel, das Beck be-wusst überspitzt formuliert, um die Problematik deutlich zu machen: »Zwei Männer haben zwei Äp-fel. Einer isst beide. Also haben sie im Durchschnitt jeder einen gegessen. Übertragen auf dieVerteilung von Nahrungsmitteln im Weltmaßstab würde diese Aussage heißen: »Im Durchschnitt«sind alle Menschen auf dieser Erde satt.« (Beck 1986, S.32f.)

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Realität beanspruchen können. Entscheidungsleitend können dann nicht mehr zeitstabile,konsistente Gründe sein, sondern eine »Sensibilität« für die Realität der Betroffenen.

Im Fall eines späten Schwangerschaftsabbruchs im Krankenhaus Hochburg beschreibt einChefarzt, auf welcher »Grundlage« er in solchen Fällen Entscheidungen treffen kann.

Frau Degen (Pflegerin): »Ist das denn für Sie ein hoher Maßstab, die Ethikberatung?«

Prof. Jung (Chefarzt): »Wenn die Ethikberatung nein sagt, dann mach ich das nicht, nein.« Ihm genügeda auch eine einfache Mehrheit.

Frau Stern (Ärztin) sagt dazwischen, dass das mit der Mehrheit bei der Ethikberatung gar nicht so genaugeregelt sei.

Jung: »Und wenn ich dahinter steh. – Ich meine, es gibt da nicht schwarz und weiß.« (…)

Prof. Koch (Medizinethiker): »Wie legen Sie sich das zurecht?« Er macht deutlich, dass es ihm um dieArgumentation zum Schutz des ungeborenen Lebens geht.

Jung meint, dass man »keine Patente« habe, und das Ganze »von der Paarseite« her betrachtenmüsse: »Man muss die Paare da erleben, was das für eine Stresssituation ist.« Die Entscheidungstehe immer unter der vorliegenden Belastungssituation für das Paar. »Jeder Fall ist anders.« (T-HB-22, Z.142-157)

Er betont die Wichtigkeit seiner persönlichen Überzeugung neben dem Votum der Ethik-beratung. Die Bedeutung seiner persönlichen Meinung liegt in der konstitutiven Uneindeu-tigkeit, die dem Kontext zugeschrieben wird, in welchem man sich hier bewegt; »es gibt danicht schwarz und weiß«. Der Medizinethiker Prof. Koch interessiert sich dafür, welcheethisch-wissenschaftliche Argumentation hinter Jungs Entscheidungsfindung steht. Aller-dings wird die Diskussion im Weiteren keinesfalls als eine wissenschaftliche geführt. JungsHinweis, dass man »keine Patente« habe, entwertet übliche Rationalitäten13 als machtlos.Um zu der richtigen Entscheidung zu kommen, müsse man sich in das Paar hineinversetzen,die Paare »erleben«, deren »Belastungssituation« als authentische Realität erfahren. Hierkann man sehen, dass Authentizität angesichts von Betroffenheit nicht nur zu einer Plurali-sierung von Realität in der Kommunikation führt, was dann die Herstellung von Universalis-mus unmöglich erscheinen lässt, denn »jeder Fall ist anders«. Es wird zudem deutlich, dassman diesem authentischen Erleben offenbar auch nur authentisch beikommen kann. Realitätbzw. Realitäten erscheinen als nicht kommunizierbar14, weshalb Argumente bzw. wissen-schaftliche Reflexionen nicht als geeignet scheinen, um diese Realitäten zu erschließen.

Für einen Beobachter, der eine solche Form der Kommunikation an Maßgaben wissen-schaftlicher Kommunikation misst, welche nur eine Wirklichkeit kennt und sich diese mitguten Argumenten erschließt, kann solche Kommunikation dann unentschlossen wirken, diedeshalb Zuflucht in uneindeutigen Allgemeinplätzen sucht (vgl. Reamer 1987) und auf man-gelndes Engagement oder mangelnde Qualifikation der Teilnehmer schließen lässt. Nimmtman diese Verweigerung einer wissenschaftlichen Form von Argumentation als eine eigeneRationalität ernst, kann man zeigen, dass die mitunter banal anmutenden Sätze nicht nur»leere« Phrasen sind, sondern als Teil eines Sinnzusammenhangs zu begreifen sind, welcherdie Paradoxie der eigenen Beobachtung entfalten kann und dann »Sinn ergibt«.

Wo eine Realität außerhalb dessen zu liegen scheint, was mitteilbar ist, wird direktes Erle-ben zum Garanten für die Richtigkeit der Wahrnehmung. Nur indem man den Weg des au-

13) Als übliche Rationalitäten erscheinen hier wissenschaftliche Perspektiven, die auf medizinische Not-wendigkeiten oder philosophische Gründe für gute Gründe verweisen können. Den Gründen selbstwird misstraut.

14) Das bedeutet nicht, dass diese Realitäten nicht kommunikativ hergestellt würden, sie werden in derKommunikation aber so behandelt, als wäre das nicht möglich.

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thentischen Erlebens geht, indem man dem anderen von Angesicht zu Angesicht gegenübertritt, kann man einen Eindruck von dessen Wirklichkeit gewinnen. An diesem Beispiel lässtsich besonders schön die ordnungsgenerierende Kraft von Kommunikation zeigen. Trotz derUneindeutigkeit, der sie sich im Horizont verschiedener Realitäten ausgesetzt sieht, kommtsie dennoch zu Eindeutigkeiten, nämlich zu Eindeutigkeiten im Umgang mit den Uneindeu-tigkeiten. Wo Plausibilitäten nur unzureichend kommunizierbar erscheinen, da bleibt – ausdieser Perspektive – nur eines: Das muss man erlebt haben.

Im weiteren Verlauf der Diskussion wird immer wieder sichtbar, wie Gegenwarten er-zeugt werden, die authentisch wirken und so nur über die Dimension des Erlebens zugäng-lich scheinen. Das zeigt sich in der Diskussion über das Vorgehen in Beratungsfällen, beidem der Arzt Dr. Hübner vorschlägt, auf die direkte Befragung der Eltern durch das klini-sche Ethikkomitee zu verzichten, um die Situation »emotional« zu entschärfen.

Hübner (Arzt) fällt in die Diskussion mit einer umfassenden Überlegung ein: Angesichts der Fülle vonEmotionen, die die Begegnung mit den Eltern auslöse, und angesichts des Eindrucks eines Tribu-nals auf die Eltern stellt er die Überlegung in den Raum, ganz auf die Paarbefragung zu verzichten.Man müsse sogar überlegen, ob man insgesamt auf ein Votum verzichten könne und durch die Bera-tung nur die Situation klarstellen könne.

Turm (Medizinethiker) entgegnet ruhig: »Man darf sich da, glaube ich, nichts vormachen: Auch ohnedas Paar zu befragen, haben wir es mit Befindlichkeiten zu tun, nämlich den Befindlichkeiten derbehandelnden Ärzte, denen ist man ja immer ausgesetzt. Und dann möchte ich lieber schon beideSeiten hören, weil die Ärzteseite, die ist ja auch geladen, zwar nicht so wie die der Eltern, abertrotzdem.« Er erinnert an eine Beratung, die der medizinischen Sachlage nach nicht anders war als einvorangegangener Fall, bei dem man dem Abbruch zugestimmt hatte. »Aber bei dem Paar, da haben wirnein gesagt, weil da war so die Meinung da, die sind so komisch verschlossen. Das war irgendwie nichtso eindeutig. Und da fand ich’s schon wichtig, beide Seiten zu erleben. Also ich würde kein Votumabgeben wollen, ohne beide Seiten gehört zu haben.« (T-HB-27, Z.169-183)

Dr. Hübner verweist auf die Gefühlswelt der Eltern und deren »Eindruck« in der Befra-gungssituation, um seinen Vorschlag plausibel zu machen. Auch der Medizinethiker Dr.Turm nimmt Bezug auf »Befindlichkeiten«, stellt aber neben der Gegenwart der Eltern auchdie der behandelnden Ärzte als authentische Position her. Er spricht davon, dass die Ärzte-seite ja auch »geladen« sei, zwar nicht so wie die der Eltern, »aber trotzdem«. Auch wenndie emotionale Betroffenheit der Eltern schneller einzuleuchten scheint, als die des Kranken-hauspersonals erscheinen beide Perspektiven als unterschiedliche Betroffenheits-Realitäten,die nicht bruchlos ineinander überführt oder einander über- oder untergeordnet werden kön-nen. Daher die Bedeutung, beide Seiten zu kennen. Und da der Zugang zu diesen Gegenwar-ten nur im persönlichen Erleben erfolgen kann, kann auch auf die Paarbefragung nicht ver-zichtet werden.

Zudem fällt auf, in welchem Gestus Argumente im Umgang mit Betroffenheit vorgetragenwerden. Dr. Turm nimmt in seiner Rede keinen Bezug auf seinen Expertenrang als Medizi-nethiker. Er untermauert seinen Standpunkt nicht mit wissenschaftlich akzeptablen »Tatsa-chen«, er formuliert ihn auch nicht als wissenschaftliche These, sondern weist ihn deutlichals seine persönliche Überzeugung aus. Darin gleichen sich alle Teilnehmer im Ethikkomi-tee. Egal, ob Medizinethiker, Arzt, Patientenfürsprecher oder Sozialarbeiter: In der Art zuprechen weisen sie zunächst überraschende Parallelen auf. Nun könnte man meinen, einStatement als persönliche Meinung kenntlich zu machen, entwerte das Gesagte im Kommu-nikationsprozess. Auch die Art, wie die Sprecher mitunter betonen, dass es sich nur um ihrenpersönlichen, subjektiven Eindruck handle, scheint darauf hinzuweisen. Eine solche Inter-pretation zeigt sich aber zu vertraut mit den Kontexturen wissenschaftlicher oder auch medi-zinischer Kommunikation. In einem wissenschaftlichen Kontext wird Subjektivität zu Guns-ten von Objektivität entwertet. Anderes gilt aber in anderen Kontexten. Sobald Betroffenheitals authentische Realität verhandelt wird, nicht als Recht oder Wahrheit, wird »symbolisches

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Kapital«15 wie akademische Titel und Reputation scheinbar wertlos; vielmehr benötigt maneine andere Währung. Hier kann nur authentisches Erleben und Spüren in die Waagschaleder Kommunikation geworfen werden. So entstehen hier Sprecher als Nicht-Experten, unddas gilt für Experten und Nicht-Experten gleichermaßen. Es handelt sich hier weniger umeine intendierte Demokratisierung der Kommunikation, die eine Art »machtfreien Diskurs«ermöglichen soll, sondern um eine Folge der Kommunikation, die sich aus dem Realitätsin-dex ergibt, den die Kommunikation in diesem Moment entfaltet. Das Markieren als persönli-che Meinung entwertet also nicht das Gesagte, sondern eine solche Art von Kommunikationentwertet Kommunikation an sich. Ebenso wie die authentische Realität persönlicher Betrof-fenheit nicht kommuniziert werden kann und man das erlebt haben muss, um mitreden zukönnen, kann eine persönliche Überzeugung nicht als solche angezweifelt werden. »Also ichwürde kein Votum abgeben wollen, ohne beide Seiten gehört zu haben.« Mit diesem Resü-mee seiner persönlichen Überzeugung beendet Dr. Turm seine Argumentation zur Bedeu-tung der Paarbefragung, die im weiteren Verlauf der Diskussion als plausibel behandeltwird.

4.3. Typisch Arzt!

Sensibles Nachempfinden, statt auf Vernunft zu pochen, sich nicht als Experte zu präsentie-ren, der schon weiß, was zu tun ist, sondern zu wissen, dass jeder Fall anders ist und es keinschwarz und weiß gibt: Worüber im klinischen Ethikkomitee Anschlussfähigkeit hergestelltwird, lässt sich auch auf der Ebene der Selbstbeschreibung von Teilnehmern klinischerEthikkomitees beobachten und wird von Irmhild Saake und Dominik Kunz als »EthischeSensibilisierung« beschrieben (vgl. Saake/Kunz 2006). Als negative Kontrastfolie für das ei-gene Programm dient dabei der Habitus des klassischen paternalistischen Arztes. So lässtsich auch in den Fallbesprechungen die Dominanz der Ärzte16 bzw. einer medizinischen Ra-tionalität problematisieren, etwa bei einem »prekären« Fall, den Dr. Hof, ein Arzt, zur Be-sprechung im Ethikkomitee von einer Tagung »mitgebracht« hat. Es handelt sich um denFall eines 63-jährigen Krebspatienten, der seit der Diagnose jegliche Therapiemaßnahmenabgelehnt hat. Dr. Hof (Arzt) empört sich über das Verhalten der Ärzte gegenüber dem Pati-enten:

»Der Mann ist ja an und für sich noch gut auf den Beinen, und jetzt kommen da, das geht vor allem vonden Röntgenologen aus, der Oberschenkel, wo ja Metastasenverdacht war, der ist frakturgefährdet. Be-rufen ein Konzil ein und dann: Mach ma! Hüftprothese! Dann haben se den Patienten wieder be-drängt, der lehnt wieder ab. Seine Frau, die ist dafür.«

Dr. Linger (Arzt): »Oiso i find da die Wortwahl komisch.« Er macht dann den Unterschied zwischen»den Patienten bedrängen«, welches er negativ bewertet, und »ihm einen Vorschlag machen«, was ergut findet.

Linger: »Man muss eine Partnerschaft, sag ich jetzt mal, zu dem Patienten aufbauen. Und desfängt schon da an, zum Beispiel wenn er liegt und ich stehe, dann ist er schon wieder unter Druck ge-setzt. Oiso, da, gibt’s überhaupt kein Muss für einen Schenkel-OP, erst wenn da massive Schmer-zen auftreten, oder ein Bruch oder was, dann kann man… Wir ham ja auch keine endgültigeDiagnose, vielleicht ist ja eine internistische Therapie oder was, kann sein.« (…)

Hof (Arzt): »Also die bezeichnen das, der Patient ist nicht kooperativ. Ich weiß nicht, das ist immer sonegativ besetzt! In der Diskussion war sogar, [spielt Empörung nach] den muss man psychiatrischuntersuchen! Man kann doch so was nicht einfach ablehnen!« (T-WG-6, Z.363-381)

15) Der Begriff wird im Sinne Bourdieus verwendet, als jeweils passende Währung in der entsprechen-den Ökonomie, also in dem jeweiligen sozialen Feld.

16) Wie schon erwähnt dient das Bild des dominanten »allwissenden« Arztes als Kontrastfolie zur Gene-rierung von Plausibilitäten und muss keineswegs als realistisches Bild eines modernen Medizinersverstanden werden.

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Hof beschreibt das Verhalten der Ärzte als übereiltes, aktionistisches, dominantes Geba-ren. Sie treffen Entscheidungen, ohne die Perspektive des Patienten zu berücksichtigen, siezeigen sich alles andere als sensibel und setzen ihn sogar unter Druck. Dr. Linger, ebenfallsArzt, möchte diese Darstellung eher relativieren. Während Hof sich in distanzierender, mo-ralischer Entrüstung ergeht, versucht er zu formulieren, wie die Beziehung zwischen Arztund Patient idealer Weise gestaltet werden sollte. Er spricht von »Partnerschaft« und einemnicht »unter Druck setzen«, eine Forderung nach Symmetrie, die allgemein als wünschens-wert17 gilt und deshalb wenig ablehnungsgefährdet ist. Es fällt ihm aber sichtlich schwerauszudrücken, was das Problem an der Entscheidung der Ärzte ist. Er spricht dann davon,was medizinisch notwendig oder nicht notwendig ist, begibt sich aber damit auf eine Ebene,auf der er medizinische Entscheidungen nur als medizinische Entscheidungen kritisierenkann, und bricht seine Argumentation ab. Hof hingegen schließt an seine moralische Kritikan und demonstriert sein Unverständnis für Ärzte, die nicht die Perspektive des Patientenübernehmen können. »Man kann doch so was nicht einfach ablehnen!« Was in der Situationder Krankenbehandlung noch als Einforderung von Einsicht funktionieren mag, ist in diesemKontext nur noch im Gestus der Ironie sagbar.

Wie schon oben angedeutet, wird in dem Vergleich von Kommunikation, die eine medizi-nische Perspektive entfaltet, mit einer solchen, die mit authentischen Gegenwarten rechnet,sehr schön beobachtbar, dass man sich unter Plausibilitäten Lösungen vorzustellen hat, dienur so lange Bestand haben, also auch Lösungen sind, wie der zugehörige Kontext Bestandhat. In einem anderen Kontext, können diese Lösungen dann als Problem erscheinen. Im Ho-rizont einer medizinischen Perspektive erscheint es möglicherweise noch plausibel, die Ab-lehnung einer Therapie als Zeichen einer körperlichen Abnormalität des Patienten zu lesen;für eine Perspektive, die mit authentischen Empfindungen rechnet, stellt sich das als ethischproblematisch dar. Dass für die behandelnden Ärzte des verweigernden Patienten die Ver-weigerung problematisch erscheint, während Dr. Hof im Ethikkomitee das Problem in ebendieser Problematisierung sieht, kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass sich Sprecher-positionen nicht an Personen oder Rollen wie die des Arztes binden lassen, da sie über ver-schiedene Kontexte hinweg keineswegs stabil bleiben müssen. In der Behandlungssituationwerden für den Arzt andere Relevanzen und Zuschreibungen wirksam als für den Arzt alsdistanziertem Beobachter im Ethikkomitee.

Die Kommunikation im Ethikkomitee stellt eine Realität her, in der immer damit gerechnetwerden muss, dass derselbe Sachverhalt von anderen anders gesehen wird. Multiperspektivi-tät wird in diesem Rahmen nicht nur explizit thematisiert, sondern produziert die Aufforde-rung, die Standortabhängigkeit der eigenen Sichtweise in die eigene Perspektive mit aufzu-nehmen, wodurch eine Perspektive eben als Perspektive sichtbar wird. Beobachten kann maneine Kulturalisierungspraxis, wie sie auch Saake und Nassehi (vgl. Saake/Nassehi 2004) be-schreiben, mit der Konsequenz der Multiplikation von Sprechern mit Rückgriff auf derenAuthentizität. Das Label Ethik wird als Unterbrechung wirksam in einem organisierten Kon-text, in dem sich medizinische Routinen und organisatorische Abläufe als Selbstverständlich-keiten darstellen lassen. Ärzte lernen, dass es neben der eigenen professionellen Perspektiveauch noch andere gibt. Vor allem die Perspektive des Patienten lässt sich – versehen mit demIndex der Betroffenheit – als authentische Realität darstellen, was der Sichtweise des Patien-ten gegenüber medizinischen Gründen immer schon einen Plausibilitätsvorsprung verschafftund damit eine neue ordnungsbildende Asymmetrie in die Kommunikation einführt.

17) Symmetrische Beziehungen stellen in der Moderne einen Wert dar, der als solcher in der Kommuni-kation eingesetzt werden kann. Luhmann sieht die Funktion von Werten in der Kommunikation vorallem darin, die Last der Komplexität dem zuzuschieben, der Einwände hat, was Ablehnung unwahr-scheinlich macht.

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5. Resümee

Es sollte gezeigt werden, dass es einer systemtheoretischen Perspektive darum geht, dem Lö-sungspotential von Kommunikation Rechnung zu tragen und zu beobachten, wie sich kom-munikative Kontexte echtzeitlich entfalten und so eine Welt erzeugen, aus der die Perspekti-ve nicht ausbrechen kann. Eine solche Beobachtungsabsicht erfordert das, was imEthikkomitee gesagt wird, als Kommunikation ernst zu nehmen, ohne sich von dessen Plau-sibilitäten absorbieren zu lassen. Gegenüber einer Betrachtungsweise, die immer schon weiß,wie Kommunikation strukturiert werden muss, und die dann fast zwangsweise Mangeldiag-nosen produziert (vgl. Blake 1992; Reamer 1987; Kettner 1999) wird voraussetzungsloserbegonnen, indem man sich schlicht dafür interessiert, wie kommunikativ angeschlossenwird, wie soziale Ordnung in der Situation selbst entsteht. Akteure werden nicht einfach vor-ausgesetzt, sondern es soll nachgezeichnet werden, wie Sprecher im foucaultschen Sinne imDiskurs selbst emergieren. Was als »Deutungsmuster« (vgl. Oevermann 2001; Lüders/Meu-ser 1997) in der Diskussion sichtbar gemacht werden kann, ist stets daran gebunden, wassich in konkreten Situationen als »sagbar« bewährt. Der Verweis auf die Kontextgebunden-heit aller Kommunikation findet sich auch in Goffmans Konzept der »Rahmenanalyse« (vgl.Goffman 1996). Goffmans Analyse konstruiert aber im Unterschied zu der hier praktiziertensystemtheoretischen Herangehensweise eine Sozialität, in der soziale Ordnung jeglicherHandlung vorgeordnet erscheint. Das erinnert an eine strukturalistische Top-down-Logik,die den Blick darauf verdeckt, dass es eines operativen Ortes bedarf, in dem etwa der Patientals Sprecher hergestellt wird. Insofern besteht aus soziologischer Sicht die Bedeutsamkeit ei-nes klinischen Ethikkomitees darin, dass es kommunikative Bedingungen produziert, unterdenen das möglich wird. Perspektiven werden nur noch als Perspektiven kommunizierbar,worauf sich die Teilnehmer der Diskussion einstellen müssen, um nicht ins kommunikativeAbseits zu geraten. So gesehen stellt das Ethikkomitee durchaus einen Ort ethischen Lernensdar, ohne gängigen normativen Erwartungen an bessere Begründungen gerecht zu werden.

Letztlich muss sich Theorie als Ausgangspunkt für soziologische empirische Forschungbewähren, indem es ihr gelingt, Informationswert zu erzeugen, – wenn man so will – »Über-raschung« (vgl. Amann/Hirschauer 1999; Hitzler 1999) zu produzieren. Dass die Perspektivedes Laien eine Aufwertung erfährt, bzw. die Position der Experten geschwächt wird oder aneinem Legitimitätsproblem krankt, ist an verschieden Stellen bereits ausgeführt worden (vgl.Beck 1986; Sassower 1993; Sureau 1995; Feuerstein/Kuhlmann 1999; Weingart 2001). DieSchlussfolgerung einer generellen Entwertung von Expertentum wäre sicherlich vorschnell,geht doch der Vertrauensschwund und ein gesteigerter Bedarf an Expertise offenbar Hand inHand (vgl. Weingart 2001). Es findet auch keine Demokratisierung von Expertise oder eineVermischung der Positionen statt, vielmehr treten unterschiedliche Logiken stärker ausein-ander und werden als solche behandelbar, wie Peter Weingart (vgl. ebd.) und Irmhild Saake(vgl. Saake 2003) argumentieren. Was sich jenseits dieser Diagnosen an dem vorliegendenMaterial aus den Ethikkomitees zeigen lässt, ist, welches enormes Plausibilitätspotential Ra-tionalitäten wie eine klassische medizinische Logik oder Organisationen entwickeln. Damitsolche Rationalitäten in der Besprechung der Fälle im Ethikkomitee nicht dominieren, bedarfes eines großen Aufwandes an Kommunikation. Dass die Realität eines Betroffenen als Rea-lität ernst genommen werden muss, versteht sich nicht von selbst, sonst müsste dass nicht»mühsam« hergestellt werden. Wie schwierig das ist, zeigt sich beispielsweise an Pastor Lö-wes (hier erfolglosem) Versuch, angesichts des Suizidversuchs eine nachvollziehende Deu-tung gegenüber einer medizinischen durchzusetzen, oder auch an Frau Gärtners Kritik anHerrn Düwels Organisationsperspektive, die sie zunächst als legitime Perspektive würdigenmuss, bevor sie durch Hinweis auf die Emotionen des betroffenen Pflegepersonals Ge-sprächsbereitschaft fordern kann.

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Nicht nur die Diagnose einer Veränderung einer Argumentationskultur ist der entschei-dende Gewinn dieser Analyse, sondern dass sich zeigen lässt, wie das in der konkreten Situa-tion hergestellt werden kann, durch Rückgriff auf die Authentizität der Empfindungen derBetroffen, die dann als legitime Realität berücksichtigt werden muss. Man kann so Struktur-bildung beobachten, Unterscheidungen, denen es gelingt, sich selbst auf Dauer zu stellen,was bestimmte Kommunikationen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher macht.

Betrachtet man kommunikative Kontexte als Sinnverweisungszusammenhänge, muss manberücksichtigen, dass deren Grenzen keine analytischen sind, sondern empirische. Oder mitBourdieu gesprochen: Die Grenzen sind dort, wo die Effekte des Feldes aufhören. Innerhalbwelcher Kontexturen sich Kommunikation bewegt, entscheidet sich von Moment zu Mo-ment, im nächsten Anschluss.

Hier lässt sich wieder an die anfangs gestellte Frage anknüpfen, wie empirisch die System-theorie sei. Es sollte gezeigt werden, wie der empirische Zugang zu verstehen ist, den einesystemtheoretische Beobachtung eröffnet, zudem sollte aber auch deutlich werden, wie sehrTheorie Irritationen durch die Empirie benötigt, um überhaupt zu konkreten Aussagen gelan-gen zu können. Die systemtheoretische Einsicht in die Perspektivität aller Kommunikationist nicht das Ergebnis, sondern die Basis, auf der man anfangen kann, zu beobachten, wieKommunikation Welten hervorbringt, in denen wir uns schon immer vorzufinden meinen.Mit Sicherheit wäre es zu kurz gegriffen, würde man die Systemtheorie allein als eine de-konstruktive Theorie verstehen, die mit dem Finger auf die soziale Konstruiertheit von Of-fensichtlichkeiten und Selbstverständlichkeiten deutet. Es besteht auch kein Interesse an ei-ner vor-sozialen, präoperativen Realität, die ohnehin außerhalb der Reichweite vonKommunikation liegen muss. Die große Stärke der Systemtheorie kann man vielmehr darinsehen, dass sie als eine konstruktive Theorie nachzeichnen kann, wie sich soziale Praxenselbst ermöglichen und wie Probleme durch Strukturbildung bearbeitet werden. Dazu wirdnicht eine vorhandene Ordnung vorausgesetzt; vielmehr setzt man sie kontingent und ver-sucht, sie aus dem empirischen Material heraus zu erklären.

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344 Katharina W. Mayr

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Dipl.-Soz. Katharina W. MayrInstitut für Soziologie

LMU MünchenKonradstr. 6

80801 Münchene-mail: [email protected]

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Soziale Welt 58 (2007), S. 345 – 349

Kommentare zu den Beiträgen

Von Hubert Knoblauch

Wer beobachtet? Zum Subjekt der Beobachtung in der Ethnographie

Der Bitte, einige Gedanken zum Aufsatz von Daniel B. Lee und Achim Brosziewski zu for-mulieren, komme ich gerne nach. Wie aufgefordert, möchte ich keine Zusammenfassungoder Bewertung des Beitrags vornehmen, sondern Gedanken formulieren, die die Lektüredes Textes auslöste und die ich hier recht frei wiedergebe.

Teilnehmende Beobachtung und Systemtheorie sind ein äußerst reizvolles Thema. Auchwenn die Systemtheorie sich ja immer wieder gegen die Empirie wehrt und sperrt, so behan-delt sie die Frage der Beobachtung doch auf eine so grundlegende Weise, dass auch die Eth-nographen einen Gewinn davon haben können. Dies gilt insbesondere für die sogenannte ›re-flexive Ethnographie‹, die sich des Umstands bewusst ist, dass ihre Beobachtung ebensosehr davon abhängt, wer beobachtet, als davon, was beobachtet wird. Die postmoderne Kri-tik der Ethnographie hat das ja vor Jahren schon so deutlich gemacht, dass sich viele Auto-rinnen und Autoren noch heute in dieser nunmehr etwas angestaubten Kritik erschöpfen: Ja,die Beschreibung der Anderen ist eine Beschreibung aus der Perspektive diesseits des Ande-ren – ich wage es kaum, noch vom Subjekt zu sprechen, nachdem die Rede vom Subjekt javon Luhmann schon 1984 abgeschafft wurde. Ich werde dennoch und mit Verlaub auf dieseRede von der subjektiven Perspektive zurückkommen müssen, da ohne sie Ethnographienicht möglich ist. Und ja, diese Perspektive ist eine auktoriale Perspektive, die, wenn manFoucault Glauben darf, Macht ausübt. Und ja, sie nutzt dazu bestimmte kommunikative For-men bzw. Gattungen.

Diese Kritik ist sicherlich rechtens, wurde jedoch in der reflexiven Ethnographie auchschon aufgenommen. In der Tat musste sich der redliche Ethnograph schon zuvor, wollte erhandwerklich sauber arbeiten, über sein Vorwissen und seine Vorkenntnisse Klarheit ver-schaffen. (Das betreibt auch die derzeit modische, wenn auch methodologisch dann dochsehr unreflektierte Autoethnographie, deren Behandlung man sich in einem solchen Beitragdoch sehr gewünscht hätte.) Man kann diese introspektive Sicht als hermeneutische oderphänomenologische Einstellung bezeichnen; sie scheint sich, wie ich meine, mit der kon-struktivistischen Grundhaltung der Systemtheorie zu überschneiden, die das Beobachtete alsetwas ansieht, was eben in den Termini des Beobachtenden (Subjekts?) gefasst wird. DieSystemtheorie spricht hier – klassisch konstruktivistisch, möchte man sagen – nur von Un-terscheidungen; auch die Ähnlichkeiten, Vertrautheiten und Gemeinsamkeiten – also Typi-sierungen – sollten dabei jedoch nicht übergangen werden. Dies gilt vor allen Dingen dann,wenn man wirklich eine soziologische Ethnographie betreibt, also Ethnographie in moder-nen Gesellschaften. Ob der ausschließliche Bezug auf den auch schon nicht mehr ganz fri-schen Ethnologen Geertz hier alle entscheidenden Positionen zur Ethnographie abdeckt,wage ich durchaus zu bezweifeln.

Die weitere Unterscheidung in Beobachtungen mehrerer Stufen erscheinen mir sehrfurchtbar, wenn ich auch nicht so recht sehe, wie originell sie im Vergleich zu Schütz’ Un-terscheidung von Konstrukten Erster und Zweiter Ordnung ist, der sie in den »Notizbü-chern« immer auch auf die soziologische Beobachtung bezog. Wie aber eine solche Beob-achtung der Perspektive der Anderen theoretisch anders erfassbar sein soll als mit einemModell der Intersubjektivität, bleibt mir auch nach der Lektüre dieses Beitrags schleierhaft.Dass die Untersuchungsfelder als »schweigsam« erscheinen, wenn man sie nur »beobach-tet«, scheint zwar logisch fast zwingend. Allerdings übergeht man damit den meiner Erfah-

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346 Hubert Knoblauch

rung – selbst bei den schweigsamen Feldern einer quietistischen Religiosität – durchgängi-gen Umstand, dass die Felder nicht nur kommunizieren, sondern dass sie mit demFeldforscher kommunizieren – und dass dieser mit dem Feld kommuniziert. Gerade das ist jader Zauber der Ethnographie, dass sich das System des Beobachtens nicht abtrennen lässtvom Beobachteten – und das ist auch ihre Eigenart. Wenn der Kern der – wenigstens sozio-logischen – Ethnographie nicht das Befremden ist (die Befremdung ist vielmehr ja eine derklassischen Gattungen der Repräsentation von Ethnographie), sondern die Rekonstruktionder typischen Binnenperspektive von Akteuren, dann hat die systemtheoretische Analyseeine Aufarbeitung der ethnographischen Vorgehensweise und der darin implizierten Beob-achterrolle vor sich.

Der lange Weg der Theorie zur Empirie

Werner Vogd stellt die meines Erachtens für die soziologische Systemtheorie zentrale Frage,wie sie ihren Bezug zur Empirie herstellen kann. Wenn wir die Soziologie nicht als eine kog-nitivische Modellwissenschaft ansehen, sondern als Wirklichkeitswissenschaft: Wo ist danndas Empirische; kann sie einen Begriff formulieren, der dem der Erfahrung entspricht, undwie kann sie einen Bezug zum Gegenstand herstellen? Die Frage nach dem Empirischenwird ja im Aufsatz von Lee und Brosziewski mit Blick auf die Ethnographie angegangen.Sie verorten das, was Leute wie ich als Erfahrung bezeichnen würden, im LuhmannschenBegriff der Beobachtung. Das ist zweifellos ein vielversprechender, wenn auch, wie ich dorterläutere, kein bislang befriedigender Versuch. Wie nun lautet die Antwort von WernerVogd? Liest man seinen Aufsatz vor dem Hintergrund dieser Frage – die er ja immerhin alsTitel formuliert –, dann liefert er zwei Antworten, von denen er meint, sie ergänzten sich.Zunächst bezieht er sich auf die Wissenschaftstheorie von Varela und Maturana und stelltsich auf den Boden des radikalen Konstruktivismus, dem ja auch Luhmann zuneigt. An die-ser Stelle sind die Argumente von Seiten des Sozialkonstruktivismus – des, wie Luhmanndespektierlich, aber treffend sagte, »halben Konstruktivismus« (einige neuere Philosophenreden auch von einem realistischen Konstruktivismus) – schon ausformuliert.1 Ich möchtesie an dieser Stelle nicht wiederholen, sondern einmal so tun, als akzeptierte ich den Aus-gangspunkt. Der radikale Konstruktivismus hat sich ja in den Naturwissenschaften einen ge-wissen Ruf erworben (den er allerdings in der gegenwärtigen Hirnforschungsdebatte wiederzu verlieren scheint). Deswegen ist auch der Bezug auf Popper oder die Quantentheoriedurchaus plausibel. Allerdings sollte man doch zuweilen wieder deutlich machen, dass dieSozialwissenschaften eben keine Naturwissenschaften sind. Außerhalb der positivistischenWissenschaftslehre scheint dies ja durchaus akzeptiert – wenn man einräumt, dass die Sozi-alwissenschaften natürlich qua Wissenschaften größte Gemeinsamkeiten mit den Naturwis-senschaften haben. Nicht in der Vorgehensweise unterscheiden sie sich, sondern im Gegen-stand: Weber hat die Soziologie schon so eingeführt, es wurde von Schütz geschärft, undauch Luhmann trägt dem ja damit Rechnung, dass er die sozialen Systeme als besondereSysteme heraushebt, die sich durch Kommunikation auszeichnen. Diese Besonderheit wirdbei Vogd jedoch im Wesentlichen auf ein Element reduziert, das wiederum keineswegs be-sonders spezifisch ist für die Sozialwissenschaften: Die Bestimmung des Unbestimmten.

Dass dies nicht genügt, scheint der Autor zu bemerken, ebnet er sich doch einen zweitenWeg zur Empirie: Er beruft sich auf eine Reihe unterschiedlicher empirischer Ansätze. Einebesondere Prominenz nimmt dabei (natürlich) Bohnsacks Rekonstruktive Sozialforschung

1) Hubert Knoblauch (1999): Zwischen System und Subjekt? Methodologische Unterschiede und Über-schneidungen zwischen Systemtheorie und Sozialkonstruktivismus, in: Ronald Hitzler, Jo Reichertzund Norbert Schröer (Hg.), Hermeneutische Wissenssoziologie. Eine methodologisch-theoretischePositionsbestimmung. Konstanz: Universitätsverlag: 213-235.

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Kommentare zu den Beiträgen 347

ein (deren Nähe zur Systemtheorie mir erneut nicht deutlich wurde). Auch die ObjektiveHermeneutik erhält die Ehre, an die Systemtheorie angekoppelt zu werden, und schließlichauch die Ethnomethodologie. Dass solche Vereinnahmungen auf Kosten der Details gehen(die konversationsanalytische Sequenzanalyse unterscheidet sich wesentlich von der objek-tiv-hermeneutischen), ist hinnehmbar. Weniger schlüssig ist, dass der Bezug zur Empiriehier über die theoretischen Aspekte empirischer Forschungsansätze geht – und nicht über de-ren Empirie. (Den verzweifelten Versuch, die Hermeneutik aus der ethnomethodologischenKonversationsanalyse auszutreiben, haben ja schon einige unternommen – ohne dass es ih-nen jedoch jemals gelungen wäre, auf eine unhermeneutische Weise Empirie wirklich analy-sieren zu können.) Nehmen wie etwa die Ethnomethodologie: Wer Garfinkel je gelesen hat –etwa seinen in dieser Hinsicht notwendigen Vergleich zwischen Parsons und Schütz –, wirdnur unter völliger Verkehrung der Inhalte Garfinkel und seine Ethnomethodologie zu einerSystemtheorie machen, die Schütz’ Theorie der Intersubjektivität zu einer Sackgasse erklärt(wie Vogd in seiner Fussnote (!) 10). Mit Garfinkel befindet man sich unmittelbar eben indem, was man für eine Sackgasse hält. Und, was weit mehr wiegt, man befindet sich in einerTheoriediskussion, die zwar viel mit Methodologie zu tun hat – noch wenig allerdings mit(sozialwissenschaftlicher) Empirie, um die es dem Beitrag ja hauptsächlich gehen sollte. Esist dann auch nur konsequent, dass die empirische Untersuchung, für die Vogd sich ja aus-zeichnet, nurmehr im Appendix erscheint, dass sie die Theorie illustriert anstatt ihre Bezie-hung zur Empirie aufzuzeigen.

Zum Problem der Hermetik der Systemtheorie

Ganz anders als mit dem Beitrag von Vogd steht es mit dem von Stefan Kühl, zu dem ichhier – wiederum anstatt einer Zusammenfassung und Bewertung – einige Bemerkungen ma-chen möchte. Dieser Beitrag tritt mit einem vergleichsweise bescheidenen theoretischen An-spruch auf, will er doch nur einen Aspekt der Luhmannschen Organisationssoziologie an-sprechen. Diese Bescheidenheit wird mit einer empirischen Ausführlichkeit ausgeglichen,die das Thema sehr anschaulich und wenig verdeckt von allgemeinen Begriffen beschreibt:Die weithin bekannte Widerständigkeit der Menschen in Organisationen gegen diese Organi-sationen wird aber am Ende darauf zurückgeführt, dass Menschen zugleich immer an mehre-ren Systemen beteiligt sind, dass also die Logiken unterschiedlicher Kommunikationssyste-me empirisch durcheinander schießen. Ob dadurch die hübsche Beschreibung derUnterlaufung einer Managementmode wie dem Kaizen tatsächlich erklärt wird, kann auf-grund der Kürze des theoretischen Schlusses nicht wirklich entschieden werden. Auffälligaber ist, dass einige Beobachtungen und Beschreibungen davon keineswegs abgedeckt sind.So wird etwa der Begriff der »Beratungsideologie« an zentraler Stelle gebraucht, die offen-bar zu eigenständigen ironischen Spielformen gewendet wird, wie dem »Bullshit-Bingo«.Weil es sich hier um eine Oberflächenrhetorik handelt, die praktisch unterlaufen wird, fragtman sich, wie wohl die pragmatisch ja doch etwas eindimensionale Systemtheorie mit sol-chen »Semantiken« umgeht. Liegt hier nicht die Wissenssoziologie mit ihren Begriffen derIdeologie und Legitimation näher – und die mit ihr verbundene Institutionenlehre (etwa imNeo-Institutionalismus)?

Eine solche Frage erscheint in diesem Kontext fast ketzerisch. Denn der Autor stellt zwarin der Exposition des Themas fest, dass das von ihm behandelte Phänomen zwar untersuchtwurde, allerdings handele es sich um »ethnographische« und »mikropolitische« Studien.(Die doch gerade an Luhmann anschließbaren Analysen von Schützeichel vermisst man andieser Stelle gänzlich.) Ohne dies an diesem anschaulichen Aufsatz kritisieren zu wollen,scheint es mir jedoch ein durchgängiges Merkmal der systemtheoretischen Beiträge, dass derVerweis auf »andere Ansätze« und Untersuchungen sogleich dazu führt, dass man deren Er-träge überhaupt nicht berücksichtigen muss. Das kann damit zu tun haben, dass im Zeitalter

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der allzugänglichen Information und der »transdisziplinären« Entgrenzung die redliche Re-konstruktion des Forschungsstandes offenbar etwas aus der Mode kommt – nicht nur in derSystemtheorie. Allerdings scheint mir, dass es hier auch etwas zu beobachten gibt, das dieSystemtheorie auszeichnet (und vielleicht typischerweise wissenschaftliche Richtungen, diean theoretische Charismatiker anschließen): Der Ausschluss anderer, als nicht kompensati-onsfähig oder nicht anschlussfähig etikettierter Ansätze führt zum Übergehen ihrer Untersu-chungen. Das bedeutet, dass die Untersuchungen entweder nicht erwähnt werden oder, fallsgenannt, ohne weitere Begründung und Kritik (was ja den Stand der Forschung auszeichnensollte) übergangen werden. Als ein gutes Beispiel dafür möchte ich an das ansonsten dochvorzügliche Buch von André Kieserling über Interaktion erinnern, der bei aller Luhmann-schen Kongenialität die empirische Interaktionsforschung der letzten Jahrzehnte fast voll-ständig ausklammern konnte. An die Stelle des Bezugs auf die nun ausgeschlossenen Ande-ren tritt dann die Berufung auf die Begriffe der eigenen Theorie, die sozusagen den Ersatzfür den Forschungsstand bieten.

Eine solche Haltung könnte man wohl durchaus als hermetisch bezeichnen. (Eine Herme-tik, die, wie wir wissen, in anderen, durchaus auch empirisch ausgerichteten charismatischenWissenschaftsrichtungen durchaus noch stärker ausgeprägt sein kann.) Freilich stellen gera-de diese Beiträge – und zwar sowohl die der Autoren, wie auch die der »von außen« kom-menden Kommentatoren – den löblichen Versuch dar, diese Hermetik zu sprengen. Solltediese Sprengung bis in die Texte eingehen, müsste man vielleicht mit einer Schwächung dercharismatischen Bindung rechnen – könnte aber durch die Öffnung auch auf eine Auswei-tung der Wirkung rechnen.

Akteursdeutungen und Theorie: Die geschwätzige Subjektivität des sozialwissen-schaftlichen Objekts

Der Kommentar zu dem Beitrag von Katharina Mayr wird seiner Gliederung und seinemAufbau nicht gerecht. Es handelt sich nicht um eine Zusammenfassung, sondern, wie auch inden anderen Fällen, um lockere Bemerkungen und Kommentare.

Ausführungen zum Text wären hier indessen sehr angebracht, denn der Beitrag nimmt dieEmpirie, die im Titel steht, auch wirklich ernst. Es handelt sich um Beobachtungsnotizen ausEthik-Kommissionen, also einem Thema von allergrößtem Interesse: Neue Formen einer In-stitutionalisierung der Moral, von denen wir bislang empirisch wenig wissen; vor allem, unddas scheint aus systemtheoretischer Sicht auch bedeutend, Formen der moralischen Kommu-nikation. Es ist äußerst misslich, dass diese Kommunikation nicht aufgezeichnet, sondern le-diglich mitprotokolliert werden konnte. Angesichts der Sensibilität des Themenfeldes ist dassicherlich auch sehr verständlich, und die Ethnographin ist schon dafür zu loben, dass siediese Daten erheben konnte. Allerdings könnte man sich fragen, ob es denn überhaupt dieKommunikation ist, die hier untersucht wird – zumal man ja den jeweils untersuchten Ge-genstand immer als eine Funktion der Datensorte ansehen sollte. Zwar wird wieder einmalsehr deutlich, dass die ethnographischen Felder viel schweigsamer sind als manche meinen.Allerdings muss man sich fragen, ob die Systemtheorie überhaupt einen Blick für die empiri-schen Ausprägungen der Kommunikation hat, wie wir sie etwa unter dem Titel der kommu-nikativen Gattungen behandeln. Zu diesem Zwecke hatte ich mir vor einiger Zeit das beein-druckend komplizierte Buch von Dirk Baecker über »Form und Formen derKommunikation« zu Gemüte geführt – durchaus im Wunsche, der Systemtheorie etwas ab-zugewinnen. Allerdings musste ich feststellen, dass das, was empirische Kommunikations-forscher (z.B. Gattungsanalytiker, Konversationsanalytiker, Soziolinguisten) als Form derKommunikation bezeichnen, mit dem, was hier als »Form der Kommunikation« bezeichnetwird, nur noch über die Verwendung einer gemeinsamen Sprache zusammenhängt (obwohlmir auch das nicht sicher schien).

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Kommentare zu den Beiträgen 349

In diesem Beitrag stellt sich das Problem zum Glück nicht, zumal eine sehr empirisch ge-sättigte Vorstellung dessen vertreten wird, was in den Ethik-Komitees geschieht. Und wasgeschieht dort nun? Wie gesagt, erfahren wir wenig über die einzelnen Prozesse, wohl aberüber bestimmte Strategien. Von besonderer Bedeutung ist, durchaus überraschend, die Rolleder Gefühle, der Authentizität, ja, wenn man das hier sagen darf, der Subjektivität. Für einender Systemtheorie Außenstehenden ist es beinahe ein wenig rührend, wie sehr die Autorin,wenn man so sagen darf, »herumeiern« muss, um deutlich zu machen, dass es Subjektivitätnatürlich nicht gibt, sondern dass es sich nur um etwas handelt, was in der Kommunikationauftritt. Ich bin mir nicht sicher, ob es überhaupt noch jemanden gibt, der behauptet, dass esSubjektivität »eigentlich« bzw. ontologisch gibt; dagegen fühle ich mich wieder bestätigt da-rin, dass die Subjektivität ein bedeutendes Thema auch in den Formen und Bereichen derKommunikation ist, wo man sie gar nicht erwartet. Deswegen verwundert die schroffe Ab-lehnung von Vorstellungen der Subjektivität umso mehr: Müssen denn auch die Leute, diebeobachtet werden, radikale Konstruktivisten sein, damit sie angemessen beobachtet werdenkönnen? Sollte die Soziologie nicht Konzepte schaffen, die auch die Semantik der Leute er-fasst, ohne wesentliche Aspekte wegzudefinieren? Und, um das Thema Systemtheorie undEmpirie insgesamt anzugehen, müsste die Systemtheorie nicht Begriffe suchen oder neueBegriffe schaffen, die außerhalb ihres bestehenden und von Luhmann überlieferten Instru-mentariums »sensibel« sind für die Vielfalt der empirischen Wirklichkeit? Sollte also nicht,wie schon Schütz forderte, die Begrifflichkeit der Soziologie die Perspektive der Handeln-den systematisch mit einbeziehen?

Prof. Dr. Hubert KnoblauchInstitut für Soziologie

Technische Universität BerlinFranklinstr. 28/29

10587 Berline-mail: [email protected]

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Soziale Welt 58 (2007), S. 351 – 358

Soll das denn alles (gewesen) sein?

Anmerkungen zur Umsetzung der soziologischen Systemtheorie in empirische Forschung

Von Hartmut Esser

Der alte Streit um die Theorien- und Methodenvielfalt in den Sozialwissenschaften wieder-holt sich seit einiger Zeit auch in der Diskussion um den eigenständigen Status der soziologi-schen Systemtheorie, wie sie Niklas Luhmann hinterlassen hat. Letztlich geht es dabei, heutewie früher, um die Frage, ob die Regeln der Analytischen Wissenschaftstheorie auch für dieErfassung der typischen Besonderheiten des Gegenstandes der Sozialwissenschaften (wie In-tentionen, Sinn und Kultur, Geschichtlichkeit, Reflexivität und Polykontexturalität) geeignet(oder gar unverzichtbar) sind oder ob man mit einer Sondermethode auskommen kann odergar muss, die auf die ansonsten üblichen Regeln der wissenschaftlichen Erklärung verzichtenzu können glaubt. Die wichtigsten drei (Minimal-)Anforderungen an eine »Theorie« sind da-nach: erstens der logische Gehalt einer Theorie, wonach vor allem bestimmte Dinge ausge-schlossen sind und die Theorie überhaupt etwas sagt, was widerlegbar ist; zweitens diesystematische empirische Interpretation der theoretischen Terme durch überprüfbare Ver-bindungen zu »realen« Sachverhalten; und drittens der gezielte Test der empirischen Impli-kationen der Theorie und die daran anschließende »Bewährung« bzw. Widerlegung (vonzumindest Teilen) der Theorie. Das stieß zumal in der Soziologie lange Zeit (und tut es weit-gehend heute noch) auf große Verständnislosigkeit – nicht nur bei der soziologischen Sys-temtheorie. Und die Gründe dafür kann man schon in der langen Liste der»antinaturalistischen Doktrinen« nachlesen, wie sie dereinst Karl R. Popper im »Elend desHistorizismus« zusammen gestellt hatte und die sich darin resümieren lässt, dass es der»Sinn« und die stetige Neuheit und Vielschichtigkeit des sozialen Geschehens verbiete, sichden gleichen Regeln zu stellen, wie sie ansonsten in den (erklärenden) Wissenschaften üb-lich sind. Und gänzlich unbegreiflich waren die Einreden auch nicht: Wie könnte man dennüberhaupt daran denken, das so hochkomplexe soziale Geschehen über einfache Kausalmo-delle der Beziehung von Variablen oder über die »Trivialmaschinen« der Modelle etwa derder sog. RC-Theorie erfassen zu können (wobei manche naive Überheblichkeit damit zusam-men hing, dass man schon nicht wusste oder verstand, was denn da jeweils an komplexenAnalysen mit solchen »Trivialmaschinen« alles schon möglich war)?

Inzwischen sind die lange erstarrten Fronten jedoch – unverkennbar – in Bewegung gera-ten. Auf der einen Seite mehren sich die Ansätze, die statt nach (einfachen) Kausalerklärun-gen (über »Variablen«) oder »nur« ökonomischen Modellierungen nach den auch kulturellenund auf die subjektiven Vorstelllungen der Akteure bezogenen (Mikro-)Mechanismen derGenese und der Folgen des sozialen Geschehens suchen, und so gut wie alle neueren Ansätzekonvergieren darin, gerade auch den »Sinn«, den die Akteure mit ihrem Tun verbinden undfür andere durch ihr Tun erzeugen, zu erfassen – und sei das nur der »subjektive Sinn«, denMax Weber meinte und der aus nichts anderem als aus den »Zielen« und den »Mitteln« be-steht, die den Akteuren bei ihrem Tun vorschweben. Das »Modell der soziologischen Erklä-rung«, das fälschlicherweise oft immer noch mit der einfachen RC-Theorie in eins gesetztwird, ist so ein Ansatz, und die grundsätzlichen Argumente gegen eine Integration von erklä-renden, verstehenden und systemisch-»konstruktiven« Aspekten in ein übergreifendes Kon-zept, das es (endlich) erlaubt, auch die Ansprüche eines analytischen Theorieverständnisseszu erfüllen, werden zusehends blasser: Die neuerdings zu beobachtende Flucht in die Diskus-sion angeblicher ontologischer Grenzen des Modells der soziologischen Erklärung, wenn esdenn schon kaum noch erkennbare theoretische und praktische gibt, ist ein untrügliches An-

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zeichen dafür. Aber auch die andere Seite bewegt sich, sieht man einmal von der nostalgi-schen Pflege der systemtheoretischen Orthodoxie an der Peripherie der soziologischen Welt-gesellschaft ab. In theoretischer Sicht gibt es inzwischen sogar die Auffassung, dass diesoziologische Systemtheorie – horribile dictu! – eine Variante des Methodologischen Indivi-dualismus sei, freilich immer noch wenigstens mit dem Vorzug, sich nicht genau in ihrenAussagen festzulegen, nichts erklären zu wollen und, vor allem, um die Teufeleien der RC-Theorie einen weiten Bogen zu machen. Dazu hätte man freilich gerne Niklas Luhmann nochgehört – wenn der sich denn überhaupt zu derlei Auslegungen herabgelassen hätte. Aber im-merhin: Eine solche Sicht ist ja keineswegs abwegig, wenn man nur einmal erkennt, dass»Kommunikation« nichts anderes als eine als Kette rekonstruierbare Sequenzen von aggre-gierten Effekten des Handelns bzw. der (symbolisch bedeutsamen) Äußerungen von Akteu-ren ist – und damit eben keineswegs das unauflösbare und eigenständige »Letztelement« dessozialen Geschehens. Und dass die kausalen Vorgänge, die das Verhalten der Akteure be-stimmen, wie die Wirkung von Opportunitäten und Restriktionen, Präferenzen und Erwartun-gen, Frames und Skripten, sich eben nicht dadurch ändern, dass ein »Beobachter« bestimmte»Zuschreibungen« vornimmt und es als »Handeln« ausflaggt oder nicht. Und dass damit die»Wirklichkeit« eben nicht komplett von Beobachtern erst hergestellt wird, sondern eine eige-ne Widerständigkeit besitzt, die sich in entsprechenden empirischen Forschungen auch zei-gen würde, wenn das denn vorgesehen und möglich wäre. Insofern war die Einordnung dersoziologischen Systemtheorie in alle jene Versuche einer Verbindung von Mikro- und Ma-kroebene bzw. von der »Konstitution von oben« mit der »Emergenz von unten« und damiteiner Einordnung in die Tradition des Methodologischen Individualismus nur naheliegend.

Praktische Konsequenzen hatte das innerhalb des systemtheoretischen Diskurses bisherfreilich kaum. Warum auch? Wenn man eine »Theorie« hat, die weder erklären kann oderwill, noch weiß, was Informationsgehalt, empirische Interpretation und Test und Bewährungbzw. Widerlegung sind (oder, wenn solche Kriterien denn angeführt werden, sie nur den je-weils anderen vorhält, besonders gerne den Vertretern einer kritisch-rationalen erklärendenSoziologie im übrigen), dann stellt sich die Frage nach »systemtheoretischer Forschung«nicht. Die Garnierung der vom Meister angeregten Spekulationen mit punktuellen Beispielenist ja eigentlich schon mehr als genug, was man will und kann. Aber auch das scheint sichnun zu ändern, und der hier vorgelegte Beitrag ist ausdrücklich erbeten worden, um eine of-fenbar ungeheuerliche Novität gebührend zu kommentieren. Vier Texte wurden zur Kom-mentierung vorgelegt: je einer von Katharina Mayr, von Stefan Kühl, von Daniel Lee undAchim Brosziewski und von Werner Vogd. Wir konzentrieren uns auf den Beitrag von Wer-ner Vogd, weil der, jenseits der Vorzüge und Beachtlichkeiten der anderen drei Papiere,noch am ehesten auf begrenztem Raum eine einigermaßen geordnete und gezielte Reaktionerlaubt und eine Reihe besonders kennzeichnender, wichtiger und interessanter Einschätzun-gen enthält. Das sollte nicht irritieren, die nicht weiter behandelten Verfasserinnen und Ver-fasser nicht und den so bevorzugt behandelten Autor schon gar nicht: Kritik ist bekanntlicheine schon höhere Form der Anerkennung im Rahmen des Funktionssystems der Wissen-schaft und nicht jedem wird sie zuteil. Aber auch in der Konzentration auf den einen Textkann nicht alles zur Sprache kommen, was erwähnenswert ist und angesprochen wird. Lei-der. Drei Aspekte greifen wir heraus: Die Bemerkungen zur »Systemtheorie als Metatheorieempirischer Sozialforschung« (298-300) und die zum »Sinnbegriff« (302-304) sowie daskonkrete empirische »Beispiel eines rekonstruktiven Forschungsprogramms« am Schlussdes Beitrags (316-318).

1. Sonderliche Zurückhaltung war die Sache der soziologischen Systemtheorie nie, und sogeht eine eher zur Vorsicht veranlassende Annäherung an die empirische Füllung der Sys-temtheorie auch nicht gleich ohne den Anspruch ab, der gesamten »empirischen Sozialfor-schung« den richtigen Rahmen liefern zu können, bevor man sagt, wie man es denn selbst zu

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machen gedenkt. Der Rahmen besteht aus zwei Teilen. Erstens auf Maturana und Varela zu-rück gehende Liste an »Anforderungen an das Verhältnis von Theorie und Empirie« mit vier,hier etwas zusammen gefassten und in die Sprache des analytischen Verständnisses übersetz-ten Punkten (Vogd 2007: 298): 1. Beschreibung eines Explanandums, 2. Angabe eines überden Fall hinausweisenden generierenden Mechanismus, 3. Ableitung beobachtbarer und so-mit empirisch überprüfbarer Implikationen des theoretischen Modells, 4. Beobachtung derabgeleiteten Phänomene (oder auch nicht!). Dass das nichts weiter ist als der übliche Regel-kanon der Popperschen Wissenschaftstheorie, ist freilich schon früher aufgefallen (ohne dasses Konsequenzen gehabt hätte), und auf diese Affinität verweist der Autor auch dann selbst.Der Unterschied liegt also, Gott sei Dank und hoffentlich wirklich!, nicht mehr in der grund-sätzlichen Forschungslogik von sozialwissenschaftlichen Erklärungen – was bisher stets alsganz selbstverständlich galt – sondern in einem anderen Punkt: Die »Gegenstände« (»JedeLebensform und jedes System«) haben und formen ihre jeweils eigene »Epistemologie«(Vogd 2007: 299). Das ist der zweite Punkt. Er kann zwei Bedeutungen haben (die im Textnicht sonderlich unterschieden werden): die beteiligten Akteure folgen ihren eigenen subjek-tiven Vorstellungen (etwa ihren Alltagstheorien« und »lay epistemics«, also: ihrem »subjek-tiven Sinn«), die jeweils immer durch vorherige Prozesse strukturiert sind und selbst wiederStrukturen und Anschlussselektionen erzeugen. Oder aber die so erzeugten Prozesse gewin-nen eine Art von »Situationslogik«, die sich zwar über die sinnhaften Selektionen der Akteu-re entfalten, aber einer darauf nicht reduzierbaren eigenen Logik folgen. Und so kommt, es,dass weder die Sicht auf die subjektiven Vorstellungen alleine, noch die auf die bloß äußer-lich beobachtbaren Systemprozesse ausreichen, um die Vorgänge zu erfassen. Das alleinschafft die Systemtheorie, die damit – das ist doch klar – alles an Einseitigkeiten und Eng-führungen überwindet, was die restliche Sozialwissenschaft zu bieten hat: Popper und Bour-dieu, Mikro- und Makro, Subjekt und Objekt, Bewusstseinsphilosophie und Anthropologie,Berger und Luckmann, Alfred Schütz und Max Weber und erst recht die RC-Theorie werdendamit überwunden und übertroffen. Und als Ergebnis haben wir die »Hypothese der Selbst-organisation«, sowie einen »mathematischen Formalismus« dafür, der offenbar alles in denSchatten stellt, was es bisher gegeben hat: S = f(S,U) – das System erklärt sich als Funktionseiner selbst und der von ihm jeweils mit geschaffenen Umwelt. Ganz plausibel eigentlich.Nur: Wie diese Funktionen (und die daran anknüpfenden Unterfälle) nur ein wenig genaueraussehen sollen als der kleine Buchstabe f – das muss man schon erraten. Die inzwischenverfügbaren und in Teilen wenigstens ganz gut ausgebauten Ansätze des Modells der sozio-logischen Erklärung enthalten freilich immer schon exakt jene beiden Bestandteile sozialer(System-)Prozesse, und das aber auch explizit und unter Angabe der genauen Funktionen fürdas kleine f: die systematische Berücksichtigung des »sozialen Sinns«, etwa über Intentionenoder mentale Modelle, und von über das (sinnhafte) Handeln von Akteuren und deren kausa-le Verkettungen entstehenden Situationslogiken. Damit wird die Überwindung der genann-ten Dualismen und Einseitigkeiten in der Tat möglich – das aber unter systematischer undexpliziter (und entsprechend riskanter) Angabe der nötigen Funktionen. Diese Ansätze sindaber offenbar entweder nicht bekannt oder werden, was wahrscheinlicher ist, kurzerhand undim üblichen Abwehrreflex und gegen alles, was leicht festzustellen ist, zur RC-Theorie ume-tikettiert, was ja dann sowieso schon die endgültige Disqualifikation bedeutet. Dass es mitderartigen – nun wirklich: nichts sagenden – »Formeln« einer (wie anders?) »Welttheorie«nun wirklich nicht getan ist, fällt jedenfalls nicht einmal auf. Die System-»Theorie« endetschon da, wo die Arbeit erst wirklich beginnen müsste (und anderswo schon lange im Gangeist): beim ersten Schritt der Formulierung einer gehaltvollen Theorie der generierenden Me-chanismen, die über das kleine f in der Formel hinausgeht. Von der empirischen Interpretati-on und der systematischen empirischen Prüfung ist dann freilich immer noch keine Rede.

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2. Das Zentralkonzept der soziologischen Systemtheorie ist bekanntlich der »Sinn« undder stellt die »größte empirische Herausforderung« für die soziologische Systemtheorie dar.Das kann man gut verstehen, wenn man sich die, wie üblich, recht undeutlichen und apokry-phen Formulierungen dafür ansieht, etwa: »Sinn lässt sich nun abstrahierend als eine fort-schreitende, sich selbst prozessierende Sukzession der Aktualisierung der›modaltheoretischen Unterscheidung von Wirklichkeit (Aktualität) und Möglichkeit (Poten-tialität) bestimmen‹ (Luhmann 2000, 18f.)« (Vogd 2007: 302). Oder: »Dabei erscheint derSinn selbst als ein selbstreferentieller Reproduktionszusammenhang, als ›ein Prozessierennach Maßgabe von Differenzen, und zwar von Differenzen, die als solche nicht vorgegebensind, sondern ihre operative Verwendbarkeit (und erst recht natürlich: ihre begriffliche For-mulierbarkeit) allein aus der Sinnhaftigkeit selbst gewinnen.‹«. Und weiter: »›Die Selbstbe-weglichkeit des Sinngeschehens ist Autopoiesis par excellence‹ (Luhmann 1993, 101)«(Vogd 2007, 302; Hervorhebung im Original). Also: Sinn erzeugt sich (irgendwie) selberund das ist das Besondere am Sinn. Kein Wunder, dass, wie man meint, mit »der Fluidität ei-nes solchen Sinngeschehens« eine »quantifizierende mathematische Modellbildung« nichtzurecht kommen kann, und sogar die ebenfalls bei Gott nicht inflexible »sinnverstehende So-ziologie« kapitulieren muss (Vogd 2007: 303). Den richtigen Umgang mit dieser »Heraus-forderung der Unbestimmtheit« schafft allein die soziologische Systemtheorie. Eine indiesem Zusammenhang, nicht nur von der Systemtheorie, besonders gerne angeführte Kom-plikation findet sich, wie man meint, beim Grundvorgang der »Kommunikation« und ist da-mit allen sozialen Prozessen inhärent. Die Kommunikation findet eben nicht als (einfache)Entfaltung eines vorgegebenen Programms, etwa eines festen Ablaufschemas, statt, »son-dern als eine Kette sukzessiver Bestimmungen, in denen jeweils das jüngste Glied den ver-gangenen Elementen Sinn zuschreibt … . … Homolog bekommt die Kommunikation ihreBestimmung erst durch die Anschlusskommunikation.« Also: Mit jedem neuen Schritt derfortlaufenden Sequenz einer Kommunikation verändert sich der Sinn gerade dadurch, dassnun die bereits voraus laufenden Prozesse in einem anderen Lichte erscheinen. Das wider-spricht dem Alltagsverstand wie dem einfachen Denken der kausal-erklärenden Ansätze:»Man findet nicht etwas vor, das dann Anlass für Kommunikation ist. Sondern man kommu-niziert bereits und findet deswegen und darin Anlässe, die es erlauben, weiterzukommunizie-ren oder die Kommunikation abzubrechen« (Baecker 2005, 29)«. Wie kann man sich dasvorstellen? Vielleicht so (das Beispiel ist einer Rekonstruktion der Objektiven Hermeneutikbei Wolfgang Ludwig Schneider entnommen, mit dem er auch die Kompatibilität der Objek-tiven Hermeneutik mit der soziologischen Systemtheorie zeigen will; vgl. Schneider 2004:180ff.): Ein Ehemann (Akteur B) kommt des Nachts nach Hause und bekommt von seinerEhefrau (Akteur A) zu hören: »Wo warst Du?«. Was war der Sinn? Das ist die Frage danach,welches Deutungsmuster bzw. welche Intention im Hintergrund der Äußerung steht und sie»verständlich« macht. Unzählige Möglichkeiten wären denkbar, etwa die besorgte Fragenach dem unerwarteten Wegbleiben bei einem ansonsten stets pünktlichen und untadeligenGatten oder die als Vorwurf gemeinte Aufforderung zur Rechtfertigung bei dem Verdachtauf einen (neuerlichen) Weiberabend des Mannes. Das ist genau jener (erste) Schritt der»Abduktion« bei der Objektiven Hermeneutik: die Benennung möglichst aller denkbarer Op-tionen für Deutungsmuster, auch der abwegigsten, aus denen dann eine besonderen »Sinn«macht und (deshalb) vom Akteur ausgewählt wurde. Was immer dann der Hintergrund ist:Auf jeden Fall war die Äußerung eine Selektion aus Optionen mit der Verweisung auf ande-re Möglichkeiten für die nächste Selektion. Alles am weiteren Prozessieren der Kommunika-tion hängt jetzt also am »Anschluss«, also daran, ob und welche Selektion jetzt nun (beiAkteur B) erfolgt, etwa: »Das geht Dich nichts an. Du bist eine Frau.« Erneut stellt sich dieFrage nach dem Sinn. Hier ist es wohl der einer Verteidigung nach vorne, womöglich abge-stützt durch den Appell an ein kulturell etabliertes und die Präferenzen des Mannes unter-stützendes Muster männlichen (Macho-)Verhaltens. Ohne Zweifel ist diese Äußerung auch

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mit Blick auf die vorher gehende der Ehefrau gefallen und sie wäre sicher anders ausgefal-len, wenn die Frau gefragt hätte: »War’s denn wieder nett bei deiner Geliebten?«. Und dienächste Selektion, die der Ehefrau, wird auch wieder beachten, was bisher geschah und wassich vor diesem – stets neuen – Hintergrund sinnvoll sagen lässt: Nachgeben? Mehr Streit?Gespielter Nervenzusammenbruch? - was immer. Also noch einmal: »Man findet nicht et-was vor, das dann Anlass für Kommunikation ist. Sondern man kommuniziert bereits undfindet deswegen und darin Anlässe, die es erlauben, weiterzukommunizieren oder die Kom-munikation abzubrechen.« Aber stellt das den Alltagsverstand oder eine kausale Analyse aufden Kopf? Und ist alles das so »unbestimmt«, reflexiv und autopoetisch, dass nur die sozio-logische Systemtheorie damit zurecht kommt? Leicht sieht man in der (kausal-)analytischenRekonstruktion, dass das keineswegs der Fall ist: Jede Selektion erfolgt auf einer jeweils be-stehenden, wenngleich natürlich jeweils auch neu entstandenen, »Logik der Situation«: dievorwurfsvolle Frage der Ehefrau ebenso wie die offensive Abwehr des Ehemannes. Beidehätten freilich auch etwas anderes machen können: Die Selektionen »verweisen« immer aufandere Möglichkeiten, das ist bekannt. Aber warum erfolgten die Äußerungen so, wie sie ge-schahen, und eben nicht anders? Offensichtlich braucht man nun eine Selektionsregel. Dieaber findet man nicht, weder in der soziologischen Systemtheorie, noch in den diskursanaly-tischen Verfahren, die hier gelegentlich ganz ähnlich zur Anwendung kommen (und ein klei-nes f ist auch bei weitem nicht genug). Jedenfalls sind diese übergreifenden (Kausal-)Regelnfür die Erklärung der Selektionen aus den Verweisungen der Optionen nicht explizit. Impli-zit dagegen durchaus. Meist sind es einfache Plausibilitätsannahmen, die gewissen Normali-tätserwartungen in dem jeweils als vorliegend angenommenen Typ der Situationentsprechen: Wenn es wirklich ein Weiberabend war, dann wäre eine besorgte Frage ebensowenig angemessen gewesen wie das reumütige Nachgeben eines Ehemannes, der im Kultur-muster des Machismo lebt und sich von seiner Frau offensichtlich schon lange entfremdethat. Und das wäre nichts anders als eine wirklich simple Kausalerklärung über ein Hand-lungsgesetz, das etwa so aussieht: »Für alle Akteure gilt: wenn eine Situation S aufgrund ei-ner vorliegenden Äußerung und anderer Umstände als gegeben angenommen wird und wenndarin das Verhalten H als angemessen gilt, dann handelt der Akteur nach H«. Und das wirdimmer wieder neu und auf sich im Prozess selbst wieder ändernde Randbedingungen ange-wandt mit der Ergebnis einer kausalen Rekonstruktion des kommunikativen Geschehens alswechselseitig erzeugtes und (so) nicht intendiertes aggregiertes Ergebnis des stets sinnhaftenHandelns von Akteuren, die nicht dumm sind und nicht als Automaten oder »Trivialmaschi-nen« handeln müssen, um ihr Tun kausal verursacht ansehen zu können. Das oben genannteGesetz muss natürlich nicht unbedingt stimmen (und tut es wahrscheinlich so auch nicht).Das ist hier aber auch unwichtig. Es kommt nur darauf an: Derartige Sequenzen kommunika-tiver Anschlussakte mit immer neu fortgeschriebenen Situationsdefinitionen sind mühelosals Kausalketten von Situationsdefinitionen, Äußerungsakten, Wahrnehmung dieser Äuße-rungen, neuen Situationsdefinitionen usw. rekonstruierbar. Und dafür gibt es, nicht erst seitgestern, weit mehr und bessere (kausal-)analytische Möglichkeiten als sich das die Vertreterder soziologischen Systemtheorie offenbar vorstellen können (wie übrigens die meisten Ver-treter auch des sog. interpretativen Paradigmas). Dass die Akteure in den späteren Schrittenu.U. eine andere Sicht der Dinge gewinnen als vorher und dann ihr weiteres Verhalten daraufeinstellen, ändert auch nichts daran, dass es eine einfache Kausalkette mit einer stabil blei-benden Vorgeschichte der Sequenz bleibt: keine der vorherigen Intentionen und Situations-deutungen (der Akteure!) ändert sich real im Nachhinein dadurch, dass die Akteure spätereine neue Situation vorfinden und die alte Einschätzung ändern und sich darauf einstellenbzw. ihre vorherigen Deutungen jetzt anders sehen. Wie sollte das auch möglich sein? DieEhefrau fragte nach dem Verbleiben vor dem Hintergrund einer jeweils gegebenen Einschät-zung und diese Einschätzung vorher ändert sich nicht nachträglich, wenn sie sieht, dass allesganz anders war. Höchstens können die soziologischen Beobachter ihre anfänglichen Deu-

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tungen im Lichte des weiteren Geschehens revidieren, wie das bei den diskursanalytischenVerfahren bzw. der sog. Objektiven Hermeneutik auch geschieht, allein weil ein Beobachternie ganz sicher sein kann, ob er die »Konstruktionen 1. Ordnung« der Akteure in seinen»Konstruktionen 2. Ordnung« bei seiner Sequenzanalyse richtig »verstanden« hat. Wundernwürde einen freilich nicht, wenn die soziologische Systemtheorie aber auch das für möglichhalten würde: dass sich die einmal real wirksame Vergangenheit der Akteure durch die»Konstruktionen« der Beobachter im Nachhinein für sie wirklich ändert. Man muss bei einerTheorie der größtmöglichen Unbestimmtheit auf alles gefasst sein. Das gilt – weiß Gott –nicht nur für die soziologische Systemtheorie.

3. Jenseits aller (meta-)theoretischen Reflexionen über die Möglichkeiten einer besonde-ren (und unverzichtbaren) systemtheoretischen Empirie sind schließlich vor allem das kon-krete Vorgehen und die vorweisbaren Ergebnisse von Interesse: (Meta-)TheoretischeVorhaltungen und Beteuerungen etwa der Polykontexturalität aller sozialen Wirklichkeitsind eben nicht alles, denn »wichtig ist auf’m Platz« sowie »das, was hinten raus kommt«.Am Ende des Beitrags von Werner Vogd wird schließlich auch ein konkretes Beispiel sys-temtheoretischer empirischer Forschung berichtet (Vogd 2007: 316–318): die Untersuchungvon ärztlichen Entscheidungsprozessen im Krankenhaus. Das ist sehr anerkennenswert, dennbisher erfuhr man meistens nur, wie es nicht gehen (kann), und die »Empirie« bestand beiLuhmann und (seinen Jüngern) so gut wie immer aus punktuell eingestreuten Eindrücken,verpackt in grandiose Formulierungen, oft listige und verführerische Wortspiele und waghal-sige Schlussfolgerungen für die Überlegenheit der (System-)Theorie. Wir wollen ausdrück-lich anerkennen, dass die empirischen Ergebnisse bei Vogd wirklich nennenswert underhellend sind, und die Kritik daran ist nur vor dem Hintergrund der zuvor zu lesenden (me-ta-)theoretischen Behauptungen der Bedeutung einer systemtheoretischen Grundlage für der-lei Analysen zu sehen. Das wichtigste Ergebnis bestätigt in der Tat eine alte Einsicht der vonLuhmann inspirierten Organisationssoziologie: Ein Krankenhaus ist, wie alle Organi-sationen, ein hochkomplexes soziales Gebilde mit allen möglichen, auch widersprüchlichenAufgaben, Vorgaben, wechselseitigen Abhängigkeiten und »Logiken«, und simple »Ent-scheidungen«, die nur auf einem Aspekt maximieren, oder eine frohgemute und eindimensi-onale »Rationalität« der Organisation, sind so gut wie unmöglich. Was also passiert in denKrankenhäusern? Es lässt sich, wie es dann wieder so hübsch heißt, ein »Tanz zwischen die-sen Logiken« beobachten, der – für die Gesamtabläufe als sozusagen funktionales, so wohlnicht intendiertes, aber als hilfreich erlebtes und deshalb auch wohl toleriertes Abfallprodukt– dem »Krankenhaus eine Reihe von Freiheitsgraden« lässt, innerhalb derer die auseinanderdriftenden, aber auch auf einander angewiesenen Vorgaben, Orientierungen und (Routine-)Abläufe leichter nebeneinander bestehen können: »So kann behandelt werden, ohne zu be-handeln, Rechtmäßigkeit hergestellt werden, indem Unrechtmäßiges nicht dokumentiert,wirtschaftlich gearbeitet werden, indem Medizin vorgetäuscht wird, wo anderes stattfindet,um an anderer Stelle umso mehr (ansonsten nicht bezahlbare) Medizin stattfinden zu las-sen.« (Vogd 2007: 317). Es ist die »Basistypik« aller untersuchten Einrichtungen. Viele an-dere Ausdrücke gibt es anderswo in den Sozialwissenschaften dafür: Interdependenzen,Figurationen, N-Personen-Spiele, Situationslogik – zum Beispiel. Oder aber eben: »polykon-texturales« soziales System, in dem alle »Logiken« (irgendwie) in komplexer Weise zusam-men spielen und am Ende herauskommt, dass Krankenhäuser nicht nach einer primären(Entscheidungs-)Logik und nicht den (deklarierten oder verborgenen) Absichten der betei-ligten Akteure folgen, sondern einer verwobenen und durch das Handeln der Akteure immerwieder neu konstituierten, aber nur ausnahmsweise auch so intendierten Prozesslogik, die ihrGleichgewicht schließlich in zahllosen Kompromissen zwischen den Teillogiken gefundenhat. Gut. Das ist sicher schon was! Aber ist das dann wirklich alles (so viel es vielleicht auchschon ist!)? Fängt denn nicht hier – bei der (typisierenden) Beschreibung – eigentlich erst die

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theoretische und, weil es über die Beschreibung hinausgeht, auch erst riskante Aufgabe an:Wie kann man denn erklären, dass die Abläufe so sind wie sie sind und eben nicht anders?Kurz: Das Ergebnis ist die Benennung eines (interessanten und wichtigen) soziologischenExplanandums – und wir stehen erst am Anfang dessen, was man in der Wissenschaft ei-gentlich anstrebt und was jetzt nötig wäre: die Suche nach dem Explanans, dem generieren-den kausalen Mechanismus also. Und sei es nur, endlich mal zu sagen, wie denn das kleine fgenau aussehen soll! Es ist ganz ähnlich zu den typischen Ergebnissen der allermeisten»qualitativen« Studien, auf deren Methodologie und Methoden sich die systemtheoretischeEmpirie inzwischen wohl nicht aus Zufall ganz besonders stützt (vgl. Vogd 2007: 307–315;vgl. dazu auch wieder Schneider 2004: Kapitel 2): Übrig bleiben üblicherweise gewisse »Ty-pen« von Akteuren oder Abläufen – und das war es dann auch schon: Typen von Ehepaaren,zum Beispiel, oder von Verbindungsstudenten, von Migranten aus Rumänien oder von türki-schen Abiturienten, die es trotz aller Widrigkeiten trotzdem geschafft haben, und so weiter,jeweils gewonnen aus dem – wenn es denn gut gemacht ist – sorgfältigen und mit einem inder Tat speziell bei Systemtheoretikern oft geschulten Blick auf die unintendierten und para-doxen Effekte und kontraintuitiven Abläufe. Der Punkt dabei sind hier ausdrücklich nicht die(üblichen und oft auch nur zu gerechtfertigten) Vorhaltungen an derlei ethnographisch-quali-tative Forschungen, etwa die nach den Fallzahlen und der Verallgemeinerbarkeit oder einesnahezu theoriefreien, weil nichts ausschließenden, »positivistischen« Empirismus. DieseProbleme gibt es auch anderswo und sie ließen sich ja lösen. Das Problem ist vielmehr dieoffenkundige Auffassung, als seien die Beschreibung der Fälle und Abläufe und die darausgewonnenen »Typen« schon das Ziel, und als ob sich die Genese, die Stabilisierung und derWandel der Typen und Abläufe schon durch den besonderen (systemtheoretischen bzw.»qualitativen«) Blick allein erfassen ließen. Und als ob wieder gewisse Zauberformeln, wiedie vom »re-entry« und einem Gleichgewicht, genannt »Eigenwert«, die Frage nach der Er-klärung auch nur annähernd beantworten könnten. Wir wollen damit in keiner Weise be-haupten, dass es für die beschriebenen Konstellationen (in Krankenhäusern und anderenkomplexen sozialen Gebilden) in den analytisch orientierten Ansätzen der Sozialwissen-schaften schon die befriedigenden Lösungen gibt. Das weiß Gott nicht! Aber man weiß dortwenigstens, was nicht ausreicht. Zum Beispiel eine derart hilflose wie geradezu peinliche»Formel« über die »Form der Krankenbehandlung … in Bezug auf die ineinander verwobe-nen Kontexturen« nach Baecker in der Fußnote 38 bei Vogd (2007: 315) zur Benennung von»Abhängigkeiten zwischen Variablen …, ohne diese Variablen auf kausale Beziehungenfestlegen zu müssen.« Das müssen sie nicht, wird dann noch gesagt, weil sie »stattdessen in›kommunikativen‹ Beziehungen zu einander« stehen. Also wieder: Als ob dieses Belassenim Ungefähren und Potentiellen ein Vorteil sei! Und als ob man dazu irgendeine Systemthe-orie brauchte. Eine »Theorie«, die nicht mehr sagen kann als das, sagt nicht viel mehr alsdas, wozu man eine Theorie gerade braucht: die explizite Angabe eines (kausalen) generie-renden Mechanismus, der möglichst vieles ausschließt – und gerade daher seinen »Informa-tionsgehalt« hat. Und als ob sich »kommunikative Beziehungen« nicht (mühelos) als kausaleBeziehungen rekonstruieren ließen, bei denen sowohl die Generierung von Äußerungen wiederen Effekte und die weiteren »Anschlüsse« über kausale Mechanismen erklärt werden (s.oben)! Und dieser wie eine Monstranz vor sich her getragene Begriff des »re-entry« ist, je-denfalls so wie er am Beispiel beschrieben wird, nämlich als gleichgewichtiger »›Eigenwert‹… einer medizinischen Praxis, der rekursiv und iterativ immer wieder neu bestätigt wird…«, auch nichts anderes als jene Spezialform einer solchen genetischen Rekonstruktion ei-ner Situationslogik nach dem Modell der soziologischen Erklärung, bei der die Ergebnisseeines Prozesses immer wieder genau die Randbedingungen konstituieren, die für exakt dieseErgebnisse wiederum kausal relevant sind. Kurz gesagt: Solche Andeutungen sind alles an-dere als schon genug und es ist offenbar noch ein weiter Weg, den die empirische Anreiche-rung der soziologischen Systemtheorie zu gehen hat, wenn sie aus dem Stadium der

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methodologischen Deklarationen, der theoretischen Unterbestimmtheit und (daraus schonfast logisch folgend) der Beschränkung auf typisierende Beschreibungen verlassen will.

Wir wollen es dabei erst einmal belassen. Eine Anmerkung hat aber noch ein letzter Punktverdient: Warum will die soziologische Systemtheorie denn nun plötzlich etwas, was vorherundenkbar und unnötig erschien und an mancherlei Stelle sogar zur herablassenden Hochnä-sigkeit eines »antiempirischen Habitus« geführt hat: sich die Finger an einer nicht immerwillfährigen »Wirklichkeit« schmutzig machen? Ein Grund scheint auch zu sein: Mit bloßerTheorie allein lässt sich die Polykontexturalität des Geschehens um die Neubesetzung dersoziologischen Lehrstühle in diesen Umbruchszeiten nicht im Sinne der Erhaltung des eige-nen Paradigmenkapitals bewältigen. Man muss auch etwas anbieten können auf dem viel-schichtigen Markt der Stellenverschiebungen und Mittelverteilungen, was andere interessie-ren könnte, weil es ihnen bei der Lösung ihrer Probleme hilft. Und die empirischeBewährung einer (gehaltvollen) Theorie ist womöglich schon ein stärkeres Argument auchfür andere funktionale Imperative als alle immer weniger beeindruckenden Versuche, die ei-gene Unverzichtbarkeit durch dunkle Andeutungen und hochtrabende Worte und die eigent-lich recht wohlfeile Feststellung begründen zu wollen, dass alles so schrecklich komplex,polykontextural und unbestimmt sei. Jetzt fehlt nur noch der nächste Schritt: die Formulie-rung einer tatsächlich gehaltvollen Theorie, die systematische empirische Interpretation dertheoretischen Konstrukte und der gezielte empirische Test mit dem Ziel festzustellen, ob dasdenn sich alles auch so bewährt, was man theoretisch angenommen hat. Man kann gespanntsein, wie lange das dann noch dauert.

LiteraturSchneider, Wolfgang Ludwig, Grundlagen der soziologischen Theorie. Band 3: Sinnverstehen und Inter-

subjektivität – Hermeneutik, funktionale Analyse, Konversationsanalyse und Systemtheorie, Wiesba-den 2004 (VS Verlag für Sozialwissenschaften)

Vogd, Werner, »Empirie oder Theorie? Systemtheoretische Forschung jenseits einer vermeintlichen Al-ternative«, in: Soziale Welt, Heft 3, 2007, S. 295–321

Prof. Dr. Hartmut EsserUniversität Mannheim

LS Soziologie undWissenschaftslehre

68131 Mannheime-mail: [email protected]

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Soziale Welt 58 (2007), S. 359 – 359

Nachwort kurz vor RedaktionsschlussKommentar zur Einleitung von Saake und Nassehi

Von Hartmut Esser

Natürlich habe ich mir den Text dann auch mit Interesse angesehen und bemerke schon, dasssich – langsam, langsam – vielleicht doch was bewegt. Ich will der Versuchung widerstehen,jetzt wieder dazu was zu schreiben. Aber zwei Bemerkungen dann kurz doch.

Erstens (und zum letzten Mal, zum Donnerwetter! hätte ich fast geschrieben, aber ich willdie beginnenden Annäherungen nicht schon wieder über meine Ungeduld kappen): ich gehe(schon seit langem) nicht davon aus, dass der reflektierende Akteur der Normalfall ist (wasimmer das heißt: empirisch, konzeptionell, normativ?) oder dass jedes Handeln von einerGründe bedenkenden Subjektivität »verursacht« ist. Das war der offenbar schwer zu verste-hende Clou des Framingkonzepts. Zweitens: Manche mögen mit gewissen »mathematischenFormeln« Schwierigkeiten haben, ich habe aber (weitgehend) keine mit den inhaltlichen Be-schreibungen der »systemtheoretischen Forschung« (wie denen der »qualitativen«), denn dasist doch alles, gerade bei dem Beitrag von Herrn Vogd, extrem klar geschrieben (und wennman sich in diese Sondersprachen etwas eingelesen hat, gibt auch nicht mehr viel misszuver-stehen).

Der Punkt mit den »Formeln« ist dagegen ein ganz anderer: wenn man eine Funktion »f«angibt, dann MUSS man die auch festlegen, etwa als Kausalrelation (oder was anderes) nachder Struktur: je mehr X, desto weniger Y. Aber solche Sachen findet man in allen diesen Be-schreibungen nicht vorab (was ja nötig wäre, wenn man die Funktion als Bestandteil der Er-klärung benutzen möchte), sondern allenfalls hinterher. Damit aber kann auch nichts schiefgehen – was z.B. der RC-Theorie genau deshalb passiert ist, weil sie die Hosen herunter ge-lassen hat und sich festgelegt hat (in abstrakter und deutlich vereinfachter Formulierung):Handeln/Verhalten = p*U (maximal) mit p als »Erwartungen« und U als »Bewertungen«von Konsequenzen; also: es ist ein Produkt aus Erwartungen und Bewertungen und nicht ir-gendeine »Funktion«, die alles offen lässt und somit unwiderlegbar ist. Es ist schlicht dasProblem des fehlenden »Informationsgehaltes«, das, so fürchte ich, in weiten Teilen nichtnur der Systemtheorie unbekannt ist. Und hierin sehe ich – nach wie vor – eine der grundle-genden Asymmetrien in der Reichweite und Brauchbarkeit der verschiedenen Ansätze, zuErklärungen auch der Phänomene zu kommen, die ansonsten so schön und eingängig be-schrieben werden.

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Soziale Welt 58 (2007), S. 361 – 362

Abstracts

Daniel B. Lee and Achim Brosziewski

Participant Observation and Systems Theory: Theorizing the Ground

Ethnographers appear to be fascinated by what they immediately experience as fieldworkers.However, although they represent themselves as participant observers, they have neglectedto develop a theory of observation. Systems theorists have a theory of second order observa-tion, but they tend to avoid conducting fieldwork. In this paper, we argue that systems theoryand ethnography can effectively supplement each other. Drawing on the concept of self-refe-rence, we examine the relationship between perception, observation, and understanding. Eth-nographers have not adequately explained how these fundamental concepts fit together, aswe show in a discussion of Clifford Geertz’ call for »thick description.« A special form ofobserving, understanding reaches beyond perception. Meaning and culture appear only in thelight of self-reference. As participants, ethnographers must not only observe what happens inthe field; but they must also observe connections between empirical events. They must ob-serve the process of selectivity that uses meaning to differentiate what actually happens fromalternative possibilities. Guided in the field by this theory of observation, ethnography canmove beyond collecting »stories« and effectively open itself to the established questions, fa-miliar problems, and epistemological resources of the discipline of sociology. For its part, atheoretically informed ethnography would help extend the scope of systems theoretical re-search beyond functional and historical analyses. Making their observations in the form ofethnography, systems theorists might focus on explaining how social practices unfold them-selves with reference to the social dimension of meaning.

Stefan Kühl

Formality, Informality and Illegality in Organizational Consulting. A System Theoretical Analysis of a Consulting Process

If organizations are confronted with contradicting purposes they handle this contradictoryneeds in an informal, very often illegal way. Using system theory this article examines a con-sulting process in an enterprise that on the one side is promoting a market approach and onthe other side has to fulfil a public mandate. The goal of the consulting process was to trans-fer informal solutions being developed inside the decentralized units into formal solutions.This goal could not be reached because this would have confronted the organization withcontradicting needs. During the consulting process the consultants have become less and lesspromoters of the formalization and have been drawn into the illegality of the organization.

Werner Vogd

Systems Theory: Empirical research or theoretical conceptualisation – an illu-sionary contradiction?

Luhmann’s systems theory is neither a glass bead game nor a walk across the borderline bet-ween philosophy and sociology. Its abstractions only make sense if systems are conceptuali-zed as empirical facts. As relations these facts are neither visible nor tangible, but in princip-le it is possible to reconstruct them as patterns. There are only few studies that focus on the

Page 127: SozW Soziale Welt 3/2007 · Soziale Welt 58 (2007), S. 231 – 231 Editorial Wie bereits angekündigt, legen wir hier ein spezielles Themenheft über „Systemtheorie und empirische

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relationship between theory development and empirical approaches. The present paper con-siders the question how the system concept might be operationalized. It draws connections toqualitative and reconstructive methods, maintaining the particularity of Luhmann’s conceptof communication. Exemplified by the design of a research project on decision making inhospitals it will be demonstrated how empirical research might lead to a complex reconstruc-tion that fits with Luhmann’s categories as well as with polycontextural descriptions.

Katharina W. Mayr

Rationality and Plausibility within HealthCare Ethics CommitteesReal-Time Communication as Empirical Data.

Instead of taking up the cudgels for the Theory of Social Systems’ capacity for empirical ob-servation theoretically, this text shows with protocols of HealthCare Ethics Committees, howthe analyzed data generates a world of observation that can be observed in terms of the useddistinctions. The real time emergence of communicating structures will be demonstrated as aprocess that reduces contingency. In HealthCare Ethics Committees a new mode of commu-nication gets visible that favours authentic subjectivity instead of organisational or medicalrationality. As a new mode of reasoning emerges the participants of the HealthCare EthicsCommittee are learning, that in this context the reference to organisational hierarchies or theself-confident medical action do not serve as a solution, but gets criticisable as a problem.What normally relieves of the need for reflection in everyday life of the hospital, turns into anegative pattern for the right relationship with patients and colleagues.