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32 room55.de EDITION 16 F rühsommer 1971 – Villefranche-sur-Mer, Côte d’Azur. In der Villa von Gitarrist Keith Richards herrscht der ganz normale Wahnsinn: Übervolle Aschenbecher, leere Flaschen und Reste von Joints auf dem Esssch. Ständig kommen neue Leute ins Haus, Kinder laufen umher. Der Hausherr sitzt im Kel- ler, um gemeinsam mit seinen Bandkollegen das neue Stones-Album Exile on Main Street einzuspielen. 19. Mai 2010 – Filmfestspiele Cannes, Palais Stéphanie. Draußen halten Polizisten Heer- scharen von Fans in Schach. Gleich wird Stones in Exile präsenert, der Dokumentarfilm läuſt außerhalb des Webewerbs. Drinnen vibriert der Saal vor freudiger Erregung. Die Journa- listen auf den vorderen Plätzen können sich kaum halten, als Mick Jagger, leichüßig und agil wie ein Tänzer, die Bühne betri. Viele springen auf, klatschen und jubeln ihm zu. Kei- ne Spur von journalisscher Distanz, zu groß scheint der Magnesmus – immer noch. Der 66-jährige Stones-Boss begrüßt seine Gäste höflich auf Französisch und Englisch. Er trägt Sneakers zum Anzug, zeigt gute Laune und bes- te Manieren: „Ich hoffe euch geht es gut. Habt einen schönen Abend bei Stones in Exile.“ Der Dokumentarfilm ergründet die Entstehung des legendären Stones-Albums Exile on Main Street. Die Band war gerade nach Frankreich ausgewandert, ihr gewähltes Exil, um in der Heimat den immensen Forderungen des Fiskus zu entgehen. Der Abschied aus England fiel ihnen schwer, neben finanziellen Problemen belasteten Rechtsstreigkeiten ihr Leben. An strukturiertes und effizientes Arbeit war kaum zu denken: Das Aufnahmestudio war ein Truck, der auf Richards Anwesen stand. Die Stones spielten im Keller, ohne Sichtver- bindung zu den Tontechnikern im LKW. Strom wurde illegal von einem Mast abgezapſt. Hitze und Feuchgkeit versmmten die Gitarren. Die Bandmitglieder, in Frankreich verstreut, konn- ten sich während der Sessions nicht immer alle zur gleichen Zeit treffen. Hausherr Richards arbeitete sowieso nach eigenem Rhythmus, in dem der Drogenrausch nicht selten den Takt vorgab. Trotz aller Widrigkeiten trieb die Band ihre Kreavität in ungeahnte Höhen. Der schwül-warme Keller von Richards Haus wur- de zur Keimzelle von bis heute hochgelobten Stücken wie „Tumbling Dice“, „Rocks Off“ oder „Shine a Light“. Exile on Main Street gilt bis heute als ein Meisterwerk. Stones in Exile und Exile on Main Street sind gleichzeig Kaleidoskop einer bewegten Zeit. Die Siebziger starteten mit gnadenloser Wucht ins neue Jahrzehnt. Drogen- und Alkoholexzes- se forderten ihren Tribut. Ikonen der Sechziger wie Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison mussten sterben oder waren bereits tot. Die Illusion einer glücklicheren und heileren Welt, die die Blumenkinder sich herbeigeträumt haen, wich einer harten Realität. In Vietnam tobte immer noch ein grausamer Krieg und US- Präsident Nixon ließ seine polischen Gegner abhören. Mit den Stones verband damals eine ganze Generaon einen Aufschrei gegen Unterdrü- ckung, Heuchelei, Bürgerlichkeit und Lange- weile. Cooler Lifestyle bedeutete mehr als ein STONES IN EXILE, EIN DOKUMENTARFILM ERZÄHLT DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE EINES MYTHISCHEN STONES-ALBUMS. SIE BEGINNT IM FRÜHJAHR 1971 – UND FINDET IM SOMMER 2010 EINE ÜBERRASCHENDE FORTSETZUNG …

Stones im Exil

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Article about the documentary Stones in Exile which was shown at the festival in Cannes in the presence of Mick Jagger

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Frühsommer 1971 – Villefranche-sur-Mer, Côte d’Azur. In der Villa von Gitarrist Keith Richards herrscht der ganz normale Wahnsinn: Übervolle Aschenbecher,

leere Flaschen und Reste von Joints auf dem Esstisch. Ständig kommen neue Leute ins Haus, Kinder laufen umher. Der Hausherr sitzt im Kel-ler, um gemeinsam mit seinen Bandkollegen das neue Stones-Album Exile on Main Street einzuspielen.19. Mai 2010 – Filmfestspiele Cannes, Palais Stéphanie. Draußen halten Polizisten Heer-scharen von Fans in Schach. Gleich wird Stones in Exile präsentiert, der Dokumentarfilm läuft außerhalb des Wettbewerbs. Drinnen vibriert der Saal vor freudiger Erregung. Die Journa-listen auf den vorderen Plätzen können sich kaum halten, als Mick Jagger, leichtfüßig und agil wie ein Tänzer, die Bühne betritt. Viele springen auf, klatschen und jubeln ihm zu. Kei-ne Spur von journalistischer Distanz, zu groß scheint der Magnetismus – immer noch. Der 66-jährige Stones-Boss begrüßt seine Gäste höflich auf Französisch und Englisch. Er trägt Sneakers zum Anzug, zeigt gute Laune und bes-te Manieren: „Ich hoffe euch geht es gut. Habt

einen schönen Abend bei Stones in Exile.“Der Dokumentarfilm ergründet die Entstehung des legendären Stones-Albums Exile on Main Street. Die Band war gerade nach Frankreich ausgewandert, ihr gewähltes Exil, um in der Heimat den immensen Forderungen des Fiskus zu entgehen. Der Abschied aus England fiel ihnen schwer, neben finanziellen Problemen belasteten Rechtsstreitigkeiten ihr Leben. An strukturiertes und effizientes Arbeit war kaum zu denken: Das Aufnahmestudio war ein Truck, der auf Richards Anwesen stand. Die Stones spielten im Keller, ohne Sichtver-bindung zu den Tontechnikern im LKW. Strom wurde illegal von einem Mast abgezapft. Hitze und Feuchtigkeit verstimmten die Gitarren. Die Bandmitglieder, in Frankreich verstreut, konn-ten sich während der Sessions nicht immer alle zur gleichen Zeit treffen. Hausherr Richards arbeitete sowieso nach eigenem Rhythmus, in dem der Drogenrausch nicht selten den Takt vorgab. Trotz aller Widrigkeiten trieb die Band ihre Kreativität in ungeahnte Höhen. Der schwül-warme Keller von Richards Haus wur-de zur Keimzelle von bis heute hochgelobten Stücken wie „Tumbling Dice“, „Rocks Off“ oder

„Shine a Light“. Exile on Main Street gilt bis heute als ein Meisterwerk. Stones in Exile und Exile on Main Street sind gleichzeitig Kaleidoskop einer bewegten Zeit. Die Siebziger starteten mit gnadenloser Wucht ins neue Jahrzehnt. Drogen- und Alkoholexzes-se forderten ihren Tribut. Ikonen der Sechziger wie Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison mussten sterben oder waren bereits tot. Die Illusion einer glücklicheren und heileren Welt, die die Blumenkinder sich herbeigeträumt hatten, wich einer harten Realität. In Vietnam tobte immer noch ein grausamer Krieg und US-Präsident Nixon ließ seine politischen Gegner abhören. Mit den Stones verband damals eine ganze Generation einen Aufschrei gegen Unterdrü-ckung, Heuchelei, Bürgerlichkeit und Lange-weile. Cooler Lifestyle bedeutete mehr als ein

StoneS in exile, ein Dokumentarfilm erzählt Die entStehungSgeSchichte eineS mythiSchen StoneS-albumS. Sie beginnt im frühjahr 1971 – unD finDet im Sommer 2010 eine überraSchenDe fortSetzung …

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Leben nach Gesetzen von Marketingstrategen – die private Lebensart der Bohème war zu-gleich öffentliche Provokation. Kaum jemand personifizierte diese so gnadenlos und sym-bolkräftig wie die Stones, die Sex and Drugs and Rock’n’Roll voll auskosteten – und das vor allem seit Ende der Sechziger teuer bezahlten. Richards spritzte Heroin. Bandmitbegründer Brian Jones, dem Rausch nicht minder zugetan, trieb 1969 unter ungeklärten Umständen tot im Pool. Auch Jaggers langjährige Lebensge-fährtin Marianne Faithfull verfiel immer weiter den Drogen, 1969 unternahm sie ihren ersten Selbstmordversuch. Die Geschichten erklären vielleicht auch die bleibende Faszination am Phänomen Jagger/Richards. Wie war das da-mals so? Und wie schafft man es, solche Zeiten zu überleben? Die Dokumentation greift auf bislang unver-öffentlichtes Film- und Fotomaterial zurück. Zeitzeugen kommentieren die Bilder, etwa Richards Freundin Anita Pallenberg, die den nicht abreißenden Besucherstrom in ihrem damaligen Zuhause irgendwann kaum noch er-trug. „Wer waren alle diese Leute? Wir konnten

uns teilweise gar nicht mehr erinnern“, berich-tet Jagger. Ein Achtjähriger, der gemeinsam mit seinen Eltern eine Weile in der Richards‘schen Villa wohnte, hatte seine feste Aufgabe im Haushalt: Joints rollen.Sex wird in der Doku züchtig ausgespart. Nur Konzertausschnitte belegen den animalischen Charakter der Ära. Wie eine Naturgewalt feg-ten die Stones über die Bühne. Jagger, stark geschminkt und in hautengen Anzügen, ver-körperte die sexuelle Experimentierfreudigkeit einer Generation, die sich gerade erst aus ge-sellschaftlichen Zwängen befreit hatte.Stones in Exile zeigt die Entstehung eines ein-flussreichen Albums und ist zugleich eindringli-ches Dokument einer Epoche, in der die Men-schen noch glaubten, Musik könne die Welt verändern. „Das war mehr als Musik damals, das war ein Mysterium.“, sagt Stephen Kijak, der Regisseur des Films. Monatelang hörte er Exile on Main Street, um sich auf die Arbeit einzustimmen. „Heute fehlt uns das Geheim-nisvolle.“ Mai 2010 – Exile on Main Street steigt auf Platz 1 der britischen Album-Charts. Erstmalig seit 1994, als die Band mit Vodoo Lounge an die Spitze gelangte, ist sie wieder Number One. Bezeichnenderweise mit einer Neuauflage des glorreichen Exil-Albums. Die neue Version veröffentlicht erstmalig, teilweise nachprodu-ziertes, Bonusmaterial, das während der Auf-nahmen entstand, aber dann in Vergessenheit geriet.

Juli 2010 – Stones in Exile, seit Mitte Juni als DVD erhältlich, steigt in die Top 5 der deut-schen, englischen und US-amerikanischen Musik-DVD-Charts. Für den Herbst ist die Neuveröffentlichung des Konzertfilms zur 72er US-Tour zu Exile on Main Street geplant. Der Mythos lebt weiter. Und wird gnadenlos ver-marktet.