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Studienarbeit am Lehrstuhl Kommunikationstechnik Prof.Dr.-Ing.K. Fellbaum Untersuchung der Arbeitsweise verschiedener H ¨ orger ¨ atetypen unterschiedlicher Hersteller Eingereicht von: Betreut von: Stefan Schiemenz Dr. B. H¨ ahle Matrikel: 9702345 Dipl.-Ing. M. Pritsch Studiengang Elektrotechnik Gulben, den 28.09.2002

Studienarbeit · 2012. 3. 28. · Abbildung 1.1: Aufbau des Ohres [Sta02] Das ¨außere Ohr besteht aus der Ohrmuschel und dem ¨außeren Geh ¨organg, der beim Trommelfell endet

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  • Studienarbeit

    am Lehrstuhl Kommunikationstechnik

    Prof.Dr.-Ing.K. Fellbaum

    Untersuchung der Arbeitsweise

    verschiedener Hörgerätetypen

    unterschiedlicher Hersteller

    Eingereicht von: Betreut von:

    Stefan Schiemenz Dr. B. Hähle

    Matrikel: 9702345 Dipl.-Ing. M. Pritsch

    Studiengang Elektrotechnik

    Gulben, den 28.09.2002

  • Inhaltsverzeichnis

    1 Vorbetrachtungen 1

    1.1 Der Aufbau des Ohres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

    1.2 Akustische und audiometrische Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

    1.3 Schwerhörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

    1.3.1 Mittelohrschwerhörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

    1.3.2 Innenohrschwerhörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

    2 Hörgerätetechnik 15

    2.1 Funktionselemente von Hörgeräten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

    2.1.1 Regel- und Begrenzungssysteme in der Hörgerätetechnik . . . . . . . . . . . . . 16

    2.1.2 Tonblenden und Kanaligkeit in der Hörgerätetechnik . . . . . . . . . . . . . . . 19

    2.2 Aufbau von Hörgeräten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

    2.2.1 Analoge Hörgeräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

    2.2.2 Digital programmierbare Hörgeräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

    2.2.3 Digitale Hörgeräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

    3 Arbeitsweise von Hörgeräten 26

    3.1 Hörgeräteschallwandler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

    3.1.1 Mikrofone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

    3.1.2 Hörer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

    3.2 Beispielgeräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

    3.2.1 VIVA 704 VC von SIEMENS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

    3.2.2 Swift100+ von OTICON . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

    3.2.3 Canta7-770D von GN Resound . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

    3.2.4 Claro211dAZ von Phonak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

  • INHALTSVERZEICHNIS III

    4 Messtechnische Untersuchung der Beispielgeräte 45

    4.1 Messsignale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

    4.2 Messanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

    4.3 Messung der Verarbeitungsverzögerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

    4.4 Messung von Verzerrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

    4.5 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

    5 Anpassung von Hörgeräten 56

    5.1 Anpassvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

    5.2 Anpassung von Hörgeräten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

    6 Zusammenfassung 61

    6.1 Diskussion der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

    6.2 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

  • Abkürzungen IV

    Abkürzungen

    AGC automatic gain controlAGCi input automatic gain controlAGCo output automatic gain controlAPHAB abbriviated profile of hearing aid benefitBILL bass increases at low leveldAZ digital Audio ZoomDPP digital perception processingDSL desired sensation levelFFR fixed frequency responseFFT fast fourier transformationFIR finite impuls responseIIR infinite impuls responseFNC fine-scale noise cancelerHL hearing levelHLC high level compressorHV/2 Hörverlust/2IM IntermodulationsverzerrungenKL KnochenleitungLFC low frequency controlLL LuftleitungLPP loudness perception profileMPO maximal power outputNAL national acoustics laboratoriesPC peak clippingPILL program increases at low levelPOGO prescription of gain and outputSE spektrale KontrastverschärfungSPL Sound Presure LevelTILL treble increases at low levelUCL uncomfortable levelVC volume controlWDRC wide dynamic range compression

  • Abbildungsverzeichnis

    1.1 Aufbau des Ohres [Sta02] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

    1.2 Schnittdarstellung des Innenohres und Cortisches Organ . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

    1.3 (a) Kurven gleich empfundener Lautstärke [Roh94] und (b) Sprachfeld nach Fant(Sprachbanane) [Ulr01] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

    1.4 Darstellung der (a) absoluten und der (b) relativen Hörschwelle . . . . . . . . . . . . . 4

    1.5 Audiogrammdarstellung aus der Audiometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

    1.6 physikalisches Modell des Mittelohres [Ulr01] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

    1.7 (a) Versteifung und (b) Dämpfung des Mittelohres [Leh87] . . . . . . . . . . . . . . . . 8

    1.8 (a) Kombination von Versteifung und Dämpfung und (b) Totalausfall der Mittelohr-funktion [Leh87] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

    1.9 Funktionsweise des Innenohres [Fle00] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

    1.10 Anregungspegelmuster unterschiedlicher Mittenfrequenz [Zwi90] . . . . . . . . . . . . . 11

    1.11 Abscherung der Haarzellen im Corti-Organ [Paw02] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

    1.12 Auslenkung der Basilarmembran [Paw02] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

    1.13 (a) Hochtonschwerhörigkeit und (b) Mitteltonschwerhörigkeit [Leh87] . . . . . . . . . . 13

    1.14 (a) Tieftonschwerhörigkeit und (b) Kombination aus Mittelohr- und Innenohrschwerhörig-keit [Leh87] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

    2.1 (a) lineare und (b) nichtlineare Dynamikkennlinie für eine bestimmte Frequenz . . . . 16

    2.2 (a) Wirkungsweise und (b) LE/LA-Diagramm einer PC-Begrenzung . . . . . . . . . . 17

    2.3 Übertragungscharakteristik nach (a) BILL und (b) TILL eines einkanaligen Hörgerätes[Roh97] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

    2.4 Realisierung einer Tieftonblende durch (a) Erhöhung der Flankensteilheit und (b) Ver-schiebung der Grenzfrequenz, (c) Wirkung einer Hochtonblende und (d) Wirkung einerKlangwaage [Roh94] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

    2.5 Blockschaltbild eines analogen Hörgerätes [Vol95] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

    2.6 Mehrkanalgerätetypen [Ulr02] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

    2.7 Prinzipschaltbild eines digital programmierbaren Hörgerätes [Vol95] . . . . . . . . . . 23

    2.8 Möglichkeiten der Parameterisierung eines dreikanaligen Verstärkers [Roh98] . . . . . . 23

  • ABBILDUNGSVERZEICHNIS VI

    2.9 Blockschaltbild eines digitalen Hörgerätes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

    3.1 Prinzipschaltbild eines Elektret-Kondensator-Mikrofons . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

    3.2 Polardiagramm eines (a) omnidirektionalen und eines (b) direktionalen Mikrofons [Hoh01] 27

    3.3 direktionales Mikrofon [Vol95] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

    3.4 Verschaltung zweier omnidirektionaler Mikrofone zu einer direktionalen Anordnung[Cse00] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

    3.5 typische Wiedergabekurve eines ungedämpften Hörgerätehörers [Vol95] . . . . . . . . . 30

    3.6 Übertragungscharakteristika (a) FFR und (b) TILL des VIVA 704 VC . . . . . . . . . 31

    3.7 Wirkung (a) des G/PC-Stellers und (b) der VC auf die Dynamik des VIVA 704 VC . 32

    3.8 Wirkung der LFC (Low Frequency Control) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

    3.9 Blockschaltbild des SWIFT100+ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

    3.10 Ein-/Ausgangscharakteristik (a) bei verschiedenen LL-Werten (mit V C = konst.)(b) bei verschiedenen VC-Stellungen (mit LL = konst.) (Messungen nach DIN IEC 118-7) 34

    3.11 (a) Wiedergabecharakteristik des Swift100+ und (b) Wirkung der A-Gramm-Flanke(Messungen nach IEC 118-7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

    3.12 Prinzip der spektralen Kontrastverschärfung (SE) [Gnr01] . . . . . . . . . . . . . . . . 36

    3.13 Richtcharakteristik in Abhängigkeit der Störlärmeinfallsrichtung [Pho01] . . . . . . . . 37

    3.14 Modulationstiefe (schematisch) als Erkennungskriterium gestörter Sprache [Gnr01] . . 37

    3.15 Dynamikverlauf (schematisch) bei wirksamer HLC und WDRC . . . . . . . . . . . . . 38

    3.16 adaptive Rückkoplungsunterdrückung des CANTA7-770D [Gnr01] . . . . . . . . . . . 38

    3.17 simulierter Verstärkungsverlauf des CANTA7-770D für verschiedene Eingangspegel bei(a) einer Hochtonschwerhörigkeit, (b) einer Tieftonschwerhörigkeit und (c) einer Mit-teltonschwerhörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

    3.18 Effekt der Maskierung in der Cochlea [Zwi90] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

    3.19 Systemkomponenten des Claro211dAZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

    3.20 Störgeräuschunterdrückung in Abhängigkeit der Kanalzahl [Pho01] . . . . . . . . . . . 42

    3.21 max. Verstärkungsreduzierung in Abhängigkeit des Artikulationsindex durch den FNC[Pho01] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

    3.22 simulierte Wiedergabe des Claro211dAZ bei einer (a) Hochtonschwerhörigkeit, (b) Tief-tonschwerhörigkeit und (c) Mitteltonschwerhörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

    4.1 (a) Rauschsignal (b) Burst-Signal (c) Chirp-Signal [Ulr03] . . . . . . . . . . . . . . . . 46

    4.2 schematische Darstellung der Messanordnungen zur Messung von (a) Verarbeitungs-verzögerungen und (b) Verzerrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

    4.3 (a) Messbox und (b) Messanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

    4.4 Verarbeitungsverzögerung über den gesamten Übertragungsbereich aller vier Beispiel-geräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

  • ABBILDUNGSVERZEICHNIS VII

    4.5 Verlauf des Abstandes zwischen Signal- und Verzerrungsspektrum im Übertragungsbe-reich der Hörgeräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

    4.6 Verarbeitungsverzögerung bei f=1,6kHz des (a) Viva 704 VC, (b) Swift100+, (c) Canta7-770D, (d) Claro211dAZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

    4.7 Zusatzspektren des (a) Swift100+, (b) Canta7-770D, (c) Claro211dAZ bei 2-Ton-Messsignalmit 20Hz-Abstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

    4.8 Zusatzspektren des (a) Swift100+, (b) Canta7-770D, (c) Claro211dAZ bei 2-Ton-Messsignalmit 5Hz-Abstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

  • Tabellenverzeichnis

    1.1 Teilfunktion und Lokalisation des Hörvorganges [Ham91] . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

    3.1 Hörertypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

    3.2 Technische Daten VIVA 704 VC (Messungen nach DIN IEC 118-0 (Ohrsimulator)) . . 31

    3.3 Technische Daten Swift100+ (Messung nach DIN IEC 118-0) . . . . . . . . . . . . . . 33

    3.4 Technische Daten Canta7-770D (Messungen nach DIN IEC 118-0) . . . . . . . . . . . 36

    3.5 Technische Daten Claro211dAZ (Messung nach DIN IEC 118-0 (Ohrsimulator)) . . . . 40

    4.1 Totale Harmonische Verzerrungen (Klirrfaktoren) der einzelnen Beispielgeräte (Messungnach DIN IEC 118) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

    5.1 Verfahren zur Ermittlung des Zielfrequenzganges und adaptive Anpassverfahren [Kie99] 57

    6.1 Zusammenfassung der Messergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

  • Kapitel 1

    Vorbetrachtungen

    Einleitung

    Wir leben in einer lauten Welt. Oftmals finden wir uns in Geräuschsituationen wieder, in denen unserGehör, oft unbewusst oder ohne Absicht, extremen Belastungen ausgesetzt wird. Die Umweltbelas-tung durch Lärm wirkt sich nicht nur auf das Gemüt aus, sondern verursacht Schädigungen an demSinnesorgan, mit dem der Lärm erst wahrgenommen werden kann. Das Thema Lärmschwerhörigkeitist längst zu einem Problem unserer Gesellschaft geworden. Und obwohl die Ursachen bekannt sind,wird gerade im privaten Bereich leichtfertig das Hörvermögen und damit die Gesundheit auf’s Spielgesetzt. Experten fordern seit langem auch hier eine Begrenzung der Lärmpegel. Denkt man nur andie extremen Lautstärken, die in heutigen Diskotheken erreicht werden oder an laut dröhnende PKW,die einem im Straßenverkehr oft begegnen.Sicherlich liegen die Ursachen für nichtangeborene Hörminderungen nicht ausschließlich in der Einwir-kung von Lärm auf das Gehör. Besonders Erkrankungen des Mittelohrbereiches beeinträchtigen dasHörvermögen. Diese sind oft operativ oder medikamentös zu beheben. Lärmschwerhörigkeit, die ihreUrsache in der Schädigung des Innenohres hat, kann hingegen nur unter Zuhilfenahme technischerMittel in bestimmten Grenzen ausgeglichen werden.Dieses Kapitel wird einige übliche Begriffe aus der Akustik und der Audiometrie klären. Es soll einlei-tend für nachfolgende Kapitel die Arbeitsweise und den Aufbau des menschlichen Hörorgans beschrei-ben. Eine Zusammenstellung der Ursachen und Wirkungen verschiedener Schwerhörigkeiten wird dieAnforderungen, die an technische Hilfsmittel gestellt sind, verdeutlichen.

    1.1 Der Aufbau des Ohres

    Das Ohr ist ein spezialisiertes Sinnensorgan zur Aufnahme, Verstärkung und Verarbeitung von Schall-wellen. Dabei übernehmen speziell angepasste Bereiche des Ohres verschiedene Aufgaben wie dieSchallleitung, die Umwandlung der Schallenergie in elektrische Energie und die Verarbeitung derSchallinformation. Das Ohr ist in der Lage, Schallwellen mit Frequenzen von 20 Hz im Tieftonbe-reich bis etwa 20 kHz im Hochtonbereich zu verarbeiten. Man bezeichnet dieses Frequenzband alshörbaren Schall. Der Frequenzbereich unter 20 Hz wird als Infraschall bezeichnet. Seine Wahrneh-mung erfolgt in Form von Vibrationen. Im Tieftonbereich kommt es zu einer Überlappung von Hör-und Vibrationsempfindungen. Die Frequenzen der Schallwellen ab etwa 20 kHz bezeichnet man alsUltraschall. Sie sind für den Menschen weder hör- noch fühlbar [Ham91].In Abb.1.1 ist der Aufbau des Ohres dargestellt. Deutlich sind drei funktionell unterscheidbare Be-reiche zu erkennen. Diese Bereiche werden äußeres Ohr, Mittelohr und Innenohr bezeichnet. Direktvom Innenohr abgehend verlaufen die gebündelten Nervenfasern als Nervus cochlearis (Hörnerv) zumGehirn. Sie sind verantwortlich für die Weiterleitung der elektrischen Energie, die zuvor aus der akus-tischen Energie umgewandelt wurde.

  • KAPITEL 1. VORBETRACHTUNGEN 2

    Abbildung 1.1: Aufbau des Ohres [Sta02]

    Das äußere Ohr besteht aus der Ohrmuschel und dem äußeren Gehörgang, der beim Trommelfell endet.Wesentliche Aufgaben des äußeren Ohres sind eine Schalltrichterfunktion zur Bündelung des Schalls so-wie die Leitung des Schalls zum Trommelfell. Das Mittelohr umfasst den Bereich vom Trommelfell zurSteigbügelfußplatte. In diesem luftgefüllten Raum (Paukenhöhle) befinden sich die Gehörknöchelchenund die dazugehörigen Mittelohrmuskeln. Von großer funktioneller Bedeutung für das Mittelohr ist dieOhrtrompete, welche den Verbindungskanal zum Nasen-Rachenraum darstellt, der für die Belüftungzuständig ist. Die Aufgabe des Mittelohres ist es, die Schwingungen des Trommelfells, verursacht durchdie auftreffenden Schallwellen, über die Gehörknöchelchenkette zum Innenohr weiterzuleiten. Dabeikommt es zu einer Schalldrucktransformation, da die wirksame Fläche des Trommelfells größer als diewirksame Fläche der Steigbügelfußplatte ist. Das Verhältnis beträgt etwa 17 : 1. Diese Verstärkungwird noch durch die gelenkige Aufhängung der Gehörknöchelchen untereinander begünstigt, die ähn-lich wie ein Hebel wirkt. Es kommt zu einer zusätzlichen Verstärkung des Schalls von 1, 3 : 1. Insgesamtwird der Schall also mit einem Verhältnis (1, 3 · 17) : 1 = 22 : 1 durch das Mittelohr verstärkt (ver-gleichbar ist die Mittelohrfunktion mit der Funktion der Linse am Auge) [Leh87].Wichtige Bestandteile des Innenohres sind das Gleichgewichtsorgan (Bogengänge) und die Schnecke(Cochlea). Die Schnecke ist ein spiralförmig gewundener, von hartem Knochen umgebener Hohlraum(Felsenbein). Sie ist zum grossen Teil mit einer inkompressiblen Flüssigkeit (Perilymphe) gefüllt. In derCochlea liegt der Schneckengang, der ebenfalls spiralförmig gewunden und mit einer anderen Flüssig-keit (Endolymphe) angefüllt ist (Abb. 1.2). Die zentrale Aufgabe des Innenohres ist die Umwandlungmechanischer Energie in elektrische Energie. Die mechanische Energie wird in Form von Schwin-gungen über das ovale Fenster (Fenestra vestibuli) durch die Steigbügelfußplatte an das Innenohrübertragen. Diese Schwingungen pflanzen sich durch die Perilymphe im Innenohr fort. Ein notwendi-ger Druckausgleich erfolgt dabei durch das runde Fenster (Abb. 1.9). Maßgeblich verantwortlich fürdie Energiewandlung ist das Cortische Organ, welches sich im Schneckengang befindet. Es ist wie dieCochlea selbst, spiralförmig gewunden. Seine Länge beträgt etwa 32mm, seine Breite ca. 0,2mm. Seinewichtigsten Bestandteile sind die Basilarmembran, die Sinneszellen und die Deckmembran (Abb.1.2).Insgesamt enthält das Cortische Organ etwa 20000 Hörzellen, die an der Energieumwandlung vonmechanischer in elektrische Energie beteiligt sind. Die erzeugten elektrischen Impulse werden vomHörnerv zum Gehirn weitergeleitet, wo dann die Auswertung dieser nervalen Informationen stattfin-det [Ham91][Fle00].Ein Überblick über die Funktionsweise der Schallleitung und -verarbeitung der einzelnen Bereiche desHörsystems erfolgt an späterer Stelle (vgl. Kap. 1.3).

  • KAPITEL 1. VORBETRACHTUNGEN 3

    Abbildung 1.2: Schnittdarstellung des Innenohres und Cortisches Organ

    1.2 Akustische und audiometrische Grundbegriffe

    Um die Art und den Grad eines Hörverlustes messtechnisch erfassen zu können, muss das Gehöreiner objektiven Prüfung unterzogen werden. Das wichtigste diagnostische Gerät zur Durchführungsolcher Messungen ist das Audiometer. Audiometer erzeugen elektrische Wechselströme verschiede-ner Frequenz und Intensität (DIN45620). Als Wandler kommen Luftschall- und Knochenschallhörerzum Einsatz, die einen reinen, von Oberwellen möglichst freien Sinuston abstrahlen müssen. DerPrüfbereich erstreckt sich dabei über den Frequenzbereich des Sprachfeldes (Abb. 1.3b) von 125Hz bis10-12kHz. Die Messfrequenzen liegen zueinander im Oktav- bzw. Halboktavabstand. Es ergeben sichsomit die Werte 125Hz, 250Hz, 500Hz, 750Hz, 1kHz, 1,5kHz, 2kHz, 3kHz, 4kHz, 6kHz, 8kHz, 10kHzund 12kHz (abgerundet!). Wird nun der Schalldruck (Intensität) einer Prüffrequenz von kleinen zugroßen Werten und umgekehrt verändert, so kann die Hörschwelle bestimmt werden. Die Hörschwel-le kennzeichnet den Wert der Schallintensität, ab dem der dargebotene Sinuston gerade gehört bzw.nicht mehr gehört wird. Bei sehr hohen Schalldrücken (mehrere hundert Pascal) wird die Hörempfin-dung schmerzhaft. Dieser Punkt kennzeichnet dann die Schmerzschwelle. Der Bereich zwischen Hör-

    Abbildung 1.3: (a) Kurven gleich empfundener Lautstärke [Roh94] und (b) Sprachfeld nach Fant(Sprachbanane) [Ulr01]

  • KAPITEL 1. VORBETRACHTUNGEN 4

    Abbildung 1.4: Darstellung der (a) absoluten und der (b) relativen Hörschwelle

    und Schmerzschwelle wird als Hörfläche bezeichnet [Ham91]. Abb. 1.3a zeigt deutlich die Frequenz-abhängigkeit der Hörschwelle sowie der Kurven (Isophone), die als gleichlaut empfunden werden. Derwahrnehmbare Frequenzbereich vergrößert sich dabei mit zunehmenden Schallpegelwerten. Im Tief-sowie im Hochtonbereich sind höhere Schalldrücke erforderlich, damit die entsprechenden Töne gehörtwerden können. Die kleinsten Schalldrücke sind im Frequenzbereich von ca. 2kHz bis 5kHz erforder-lich, in dem auch die wichtigsten Bestandteile der Sprache liegen. In diesem Bereich ist das Ohr alsoam empfindlichsten.Das Ohr ist in der Lage Schalldrücke von 2 · 10−5Pa bis zu mehreren hundert Pascal (vgl. Abb. 1.3a)wahrzunehmen. Der Höreindruck umfasst von ganz leisen bis zu ganz lauten Tönen also sieben Zehner-potenzen! Um einen solchen Bereich beschreiben zu können, ist eine logarithmische Skaleneinteilungzwingend notwendig, d.h. der Schalldruck wird von Skalenstufe zu Skalenstufe mit 10 multipliziert.Allerdings würde das Regeln der Lautstärke in nur sieben Schritten während einer Hörprüfung beiweitem nicht ausreichen. Durch die Einführung einer dB-Skala erreicht man eine weitere Verfeinerungder Skaleneinteilung. Das dB (Dezibel) ist eine Pseudoeinheit, das keine physikalische Größe angibt,sondern das Verhältnis zweier linearer Größen zueinander.

    L = 20 · log p1p0

    dB(SPL) (1.1)

    Entsprechend dem Formalismus nach Gleichung (1.1) lässt sich der notwendige Schalldruck zum Er-reichen der Hörschwelle p1 in eine dB-Größe umwandeln. Er wird jetzt als Schalldruckpegel L mit demZusatz SPL (Sound Presure Level) angegeben, da die absolute Schwelle des Gehörs mit p0 = 2·10−5Paals Bezugswert verwendet wird. Bei diesem Wert liegt die menschliche Hörschwelle für einen 1kHz-Ton1

    [Leh87]. Abb. 1.4a zeigt den Verlauf der absoluten Hörschwelle, die einen deutlich nichtlinearen Verlaufhat. Für das Erreichen der Hörschwelle im Mitteltonbreich (1 bis 4kHz) genügt ein Schalldruck vonnur 2 · 10−5Pa. Höhere und tiefere Frequenzen benötigen einen vielfachen Schalldruck, um den selbenHöreindruck zu erzeugen. Die absolute Hörschwelle verläuft also stark gekrümmt. Diese Darstellungs-form ist in der Akustik allgemein gebräuchlich, hat sich aber in der Audiometrie nicht durchsetzenkönnen. Hier gestaltet sich der Umgang mit einer Hörschwelle, die die Form einer flach verlaufendenNulllinie hat, einfacher. Einen solchen Verlauf erhält man durch Einsetzen der frequenzabhängigenHörschwelle pf als Bezugswert in Gleichung (1.1).

    1der Wert wurde als Durchschnittswert hörgesunder Jugendlicher ermittelt

  • KAPITEL 1. VORBETRACHTUNGEN 5

    Abbildung 1.5: Audiogrammdarstellung aus der Audiometrie

    Der Hörschwellenverlauf wird so begradigt (Abb. 1.4b) und stellt die Hörschwelle als einfache Nullliniedar2.

    L = 20 · log p1pf

    dB(HL) (1.2)

    Der Schalldruckpegel bekommt nun den Zusatz HL (Hearing Level) als Kennzeichnung der relativenDarstellungsform der Hörschwelle. Der Vorteil liegt hierbei im schnellen Erkennen eines Hörverlustes,sobald die Hörschwelle (HL) eines Probanden von der Nulllinie abweicht. Aus diesem Grund wird inder Audiometrie die Relativdarstellung verwendet, obwohl die Absolutdarstellung grundsätzlich mehrInformationen enthält (z.B. die unterschiedliche Frequenzabhängigkeit des Schalldruckes für hohe undtiefe Töne). Für die tonaudiometrischen Untersuchungen werden Diagrammvorlagen wie in Abb. 1.5verwendet. In diesem Audiogramm liegt die Hörschwelle Normalhörender oben. Ein Hörverlust in dBnimmt nach unten hin zu. Im akustischen Sinne würde ein Absinken der Hörschwelle eine Verbesserungdes Gehörs bedeuten. Der Schalldruck nimmt in der dort üblichen Darstellungsform von unten nachoben zu. Daher ist bei der Auswertung der Diagramme genau auf die Achsenbezeichnung zu achten.Als Ergebnis dieser Tonaudiometrie erhält man die Resthörfläche des Hörbehinderten, welche obendurch die Hörschwelle und unten durch die Unbehaglichkeitsschwelle (UCL) begrenzt wird.

    1.3 Schwerhörigkeit

    Der Hörsinn hat die Aufgabe, Materiewellen bestimmter Intensität und Frequenz aus der Umweltaufzunehmen, zu verarbeiten und dem Gehirn zuzuleiten, wo dann die Wahrnehmung stattfindet. Erbedient sich dafür verschiedener Mechanismen, die die Zuleitung des Schalls, seine Verstärkung unddie Umwandlung von Schallenergie in elektrische Energie übernehmen, um dann diese Informationenfür die Weiterleitung auf den Nervenbahnen zum Gehirn bereitzustellen.Die entsprechenden Teilfunktionen des Hörvorganges können gemäß Tabelle 1.1 lokalisiert werden.Wenn nur ein Element in dieser Funktionskette seine Arbeitsweise ändert oder gar ausfällt, kommt eszu einer veränderten Wahrnehmung im Gehirn. Dieser Hörverlust, oder auch Schwerhörigkeit, kannein- oder beidseitig wirken, je nach Art und Ursache der Schädigung.

    2die verwendeten frequenzabhängigen Bezugswerte sind Durschnittswerte hörgesunder Jugendlicher

  • KAPITEL 1. VORBETRACHTUNGEN 6

    Schalltransport äußeres OhrSchallübertragung Trommelfell und MittelohrSchallumwandlung InnenohrInformationsweiterleitung HörnervInformationsverarbeitung Hörzentren im Gehirn

    Tabelle 1.1: Teilfunktion und Lokalisation des Hörvorganges [Ham91]

    Ursachen solcher Funktionsstörungen sind nicht ausschließlich krankheitsbedingt, sondern haben ih-ren Ursprung nicht selten in einer chronischen oder akuten Lärmeinwirkung auf das Hörorgan. Oftbedeuten sie nur eine vorübergehende Beeinträchtigung des Hörsinnes, es kann aber auch zu irreversi-blen Schädigungen kommen. Diese Schädigungen haben in den meisten Fällen eine frequenzabhängigeEinschränkung des Dynamikbereiches zur Folge, wodurch sich besonders das Sprachverstehen bei denbetroffenen Personen verschlechtert. Weitere Eigenschaften eines gesunden Hörvermögens, wie dasRichtungshören oder das Hören von Sprache bei fast pegelgleichen Störgeräuschen (z.B. Stimmenge-wirr), werden ebenfalls beeinträchtigt oder gehen ganz verloren.Schwerhörigkeit ist aber nicht gleich Schwerhörigkeit. Die Art des Hörverlustes ist abhängig von seinemEntstehungsort. Man unterscheidet Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit, wobei derSchallleitungsschwerhörigkeit Schädigungen der Mechanismen des Schalltransportes und -übertragungzugeordnet sind, und der Schallempfindungsschwerhörigkeit die Mechanismen der weiteren Verarbei-tung des Schalls (vgl. Tabelle 1.1). Im Folgenden bezieht sich die Schallleitungsschwerhörigkeit auf dieMittelohrschwerhörigkeit. Die Schallempfindungsschwerhörigkeit wird eingeschränkt auf die Innenohr-schwerhörigkeit.Das Messen der Hörschwelle über den Frequenzbereich von 125Hz bis 8kHz vermittelt einen optischenEindruck vom Ausmaß des Hörverlustes (vgl. Kap. 1.1). Die Hörschwelle wird dabei für die Kno-chenleitung und für die Luftleitung gemessen. Als Luftleitung wird die Leitung des Schalls durch denGehörgang, über das Trommelfell und die Schallleitungskette des Mittelohres zum Innenohr bezeichnet.Die Knochenleitung hingegen bezeichnet den Weg des Schalls über den Schädel. Dieser Knochenschall3

    (Vibration des Schädels) gelangt direkt ins Innenohr, wo er die Perilymphe in Schwingungen versetzt(direkter Knochenschall). Beim Normalhörenden liegen Luftleitungs- und Knochenleitungsschwelle aufder Nulllinie eines Audiogramms (Abb. 1.5).Eine Unterscheidung der Hörschwelle für die Knochenleitung und für die Luftleitung macht es möglich,den Ort der Störung im Groben zu lokalisieren. Anhand dieser Messungen kann eine Aussage darübergetroffen werden, ob die Schädigung das Mittelohr oder das Innenohr betrifft. Die Schwellenaudio-metrie läßt also eine Diagnose allein aus der Lage der Knochenleitungsschwelle und der Luftleitungs-schwelle zu. Dabei sind folgende Möglichkeiten zu unterscheiden:

    • Mittelohrschwerhörigkeit ; d.h. Knochenleitung annähernd der Nulllinie, Luftleitung verschlech-tert

    • Innenohrschwerhörigkeit ; d.h. Knochenleitung und Luftleitung gleich stark verschlechtert• Kombination aus Mittelohr- und Innenohrschwerhörigkeit ; d.h. Knochenleitung und Luftleitung

    verschlechtert, jedoch Luftleitung stärker als Knochenleitung

    1.3.1 Mittelohrschwerhörigkeit

    Physiologie des Mittelohres

    Eine Schallleitungsschwerhörigkeit ist meist auf eine Erkrankung des Mittelohres zurückzuführen. ZurDiagnose verschiedener Mittelohrschwerhörigkeiten sind deshalb weitere Verfahren, die die Ursache

    3um den gleichen Höreindruck zu verursachen, muss er mit höherer Intensität angeboten werden (etwa +50dB), daer nicht die verstärkende Wirkung des Mittelohres erfährt

  • KAPITEL 1. VORBETRACHTUNGEN 7

    einer solchen Schädigung klären, notwendig. Diese Verfahren sind u.a. Impedanzmessungen und dieTympanometrie (vgl. [Leh87]). Die Auswirkungen dieser Defekte lassen sich grundsätzlich an drei Ty-pen von Mittelohrschwerhörigkeiten erkennen (Versteifung, Dämpfung, Kombination aus Dämpfungund Versteifung).Die Bestandteile des Mittelohres bilden ein schwingungsfähiges System. Physikalisch gesehen bestehtein solches System aus einer schwingungsfähigen Masse, die durch eine entsprechende Federkraft imGleichgewicht gehalten wird. Bringt man diese Masse nun durch Zuführen einer Kraft aus ihrer Ru-helage, so fängt sie auf Grund ihrer Trägheit an, um ihren Ruhepunkt zu schwingen. Bei einem realenSystem wird diese Schwingung gedämpft. Die Dämpfung entsteht durch Reibung der Masse mit derUmgebung. Nur unendlich kleine Massen können theoretisch ungedämpft schwingen. Durch Zuführenvon Energie ist es möglich, das System in seinem Schwingungszustand zu halten. In diesem Fall mussdie zugeführte Energie die Reibungsverluste ersetzen und neue Schwingungen anregen. Der Schwingerreagiert nach seiner Anregung mit Schwingungen in der Eigenfrequenz und dann, nach dem Ein-schwingen, mit der Frequenz der anregenden Kraft. Bei einer Vergrößerung der Masse verkleinert sichdie Frequenz der Schwingung. Die Eigenfrequenz des Schwingers wird also kleiner. Das Schwingungs-verhalten ist neben der Masse auch abhängig von der Größe der Federkraft. Je größer sie ist, umsokleiner sind die maximalen Schwingungsamplituden und umso schneller erreicht das System wiederden Gleichgewichtszustand. Seine Eigenfrequenz wird größer.Es ist sinnvoll, das Mittelohr in ein solches Masse-Feder-System zu modellieren, um seine Physiologieund Störungen verstehen zu können (Abb. 1.6). Die Lymphe (Labyrintwasser) und der Steigbügel

    Abbildung 1.6: physikalisches Modell des Mittelohres [Ulr01]

    bilden dabei zu einem großen Teil die Masse des Systems. Die Gehörknöchelchenkette (Hammer undAmboss) ist im Vergleich dazu fast masselos. Sie liefert nur einen verschwindend kleinen Beitrag zurMasseträgheit. Eher noch wird das System durch ihre Drehträgheit beeinflußt, da sich Hammer undAmboss als gemeinsamer Hebel um eine Achse drehen. Das Luftpolster der Paukenhöhle sowie dieangrenzenden pneumatischen Räume bilden die Feder- und Rückstellkraft. Das Trommelfell wirkt alsstarre, konische Membran [Bek41].Durch Bewegung des Trommelfells nach innen wird die Luft in der Paukenhöhle komprimiert. Es ent-steht eine Rückstellkraft, die maßgeblich dazu beiträgt, dass Trommelfell wieder in seine Ruhelagezu drücken. Umgekehrt betrachtet entsteht diese Rückstellkraft durch eine Verdünnung der Luft inder Paukenhöhle, die wie ein Sog wirkt und das Trommelfell in seine Ausgangslage zurückzieht. DieReibung des Systems entsteht zum größten Teil durch das Labyrinthwasser. Die Luftreibung in derPaukenhöhle selbst ist dagegen vernachlässigbar. Das Mittelohr arbeitet insgesamt als gedämpftesSystem. Dies ist auch notwendig, um ein langes Nachschwingen auf eine kurze Anregung hin zu ver-hindern. Ansonsten wäre das Mittelohr über einen längeren Zeitraum nicht in der Lage, nachfolgendeakustische Reize unbeeinflußt weitergeben zu können. Die Dämpfung darf allerdings auch nicht zugroß sein, da sonst das System gegenüber kleineren Schalldrücken unempfindlich wäre [Leh87].

  • KAPITEL 1. VORBETRACHTUNGEN 8

    Arten von Mittelohrschwerhörigkeiten

    Durch eine Zunahme der Federkraft verkleinert sich die Schwingungsfähigkeit des Mittelohrsystemsim Tief- und Mitteltonbereich. Vorausgesetzt, Reibung und Masse bleiben unverändert. Vergleichbarwäre das mit der Erhöhung der Schwingungsfrequenz bei der Vergrößerung der Federkraft eines me-chanischen Schwingers. Eine krankheitsbedingte Verminderung der Elastizität der Schallleitungskette(z.B. durch eine Verknöcherung des Steigbügelbandes oder einer Ventilationsstörung der Tube, beider es zum Druckverlust in der Paukenhöhle kommt) bewirkt genau solch eine Erhöhung der Feder-kraft des Schwingungssystem im Mittelohr. Aus dieser Versteifung resultiert eine Verschiebung derResonanzfrequenz zu höheren Frequenzen hin. Das bedeutet also: hohe Töne werden fast unverändertwahrgenommen, Töne im Mittelton- und vor allem im Tieftonbereich können hingegen nur noch ein-geschränkt gehört werden. Typisch für diese Schädigung sind Verluste der Luftleitung von ca. 40dB inden tiefen bis mittleren Frequenzen, die sich ab etwa 2kHz wieder vermindern, so dass sich bei 8kHzder Hörverlust auf nur noch 10-15dB beläuft (Abb. 1.7a). Die Knochenleitungskurve bleibt im Bereichder Norm [Leh87].

    Abbildung 1.7: (a) Versteifung und (b) Dämpfung des Mittelohres [Leh87]

    Die Vergrößerung von Masse und Reibung im Mittelohr bewirkt hingegen eine Abnahme des Schwin-gungsverhaltens im Mittel- und Hochtonbereich. Der Vergleich mit einem mechanischen Schwingerzeigt, dass eine größere Masse die Empfindlichkeit des Systems für hohe Anregungsfrequenzen erheb-lich vermindert. Die Eigenfrequenz verschiebt sich dabei in Richtung niedrigerer Frequenzen, was dieabnehmende Schwingungsempfindlichkeit des Systems bei höher werdender Anregungsfrequenz erklärt.Das Mittelohr erfährt aus diesem Grund eine Dämpfung für mittlere und besonders für hohe Töne.Durch die Zunahme von Masse verschiebt sich das Höroptimum in den Tieftonbereich (meist noch

  • KAPITEL 1. VORBETRACHTUNGEN 9

    auf, wenn etwa die Schallleitungskette und das Trommelfell, statt in Luft, in einer viskosen Flüssig-keit schwingen müssen. Das krankheitsbedingte Auftreten von Schleim oder Sekret (z.B. durch einenPaukenhöhlenerguss) im Kontakt mit der Schallleitungskette führt zu einer solchen Erhöhung der Rei-bung. Der Kontakt mit dem Trommelfell führt dabei eher zu einer Vergrößerung der in Bewegungzu setzenden Masse. Insgesamt resultiert der Dämpfungstyp des Mittelohres sowohl auf der Zunahmevon Masse als auch auf der Zunahme von Reibung. Das typische Übertragungsverhalten zeigt Abb.1.7b. Die Verschiebung des Höroptimums stellt sich als Hochtonverlust bei der Luftleitung dar, wel-cher beginnend ab etwa 2kHz eine Luftleitungs-Knochenleitungsdifferenz bis zu 30-40dB ausmacht.Die Knochenleitung bleibt um 0dB unverändert. Durch die vermehrte Reibung kommt es zu einerLuftleitungs-Knochenleitungsdifferenz über den gesamten Frequenzbereich, die selbst im Höroptimumetwa 10dB beträgt [Leh87].Eine frequenzunabhängige Mittelohrschwerhörigkeit kann aus der Summierung der pathologischen Ur-sachen des Versteifungs- und des Dämpfungstyps entstehen. Es kommt dabei zu einer Überlagerungvon Versteifung und Dämpfung. Bei dieser Form der Erkrankung (z.B. fortgeschrittene Otosklero-se ohne Innenohrbeteiligung) tritt weder eine Versteifung der Schallleitungskette noch eine größereMassebelastung vorrangig in Erscheinung. Der Hörverlust erstreckt sich etwa gleichmäßig über dengesamten Frequenzbereich. Die Luftleitungs-Knochenleitungsdifferenz beträgt ungefähr 40-50dB. Abb.1.8a zeigt den typischen Verlauf der Hörschwelle bei diesem Krankheitsbild [Ulr01].Ein ähnlicher frequenzunabhängiger Verlauf der Luftleitungs-Knochenleitungsdifferenz entsteht bei ei-ner Unterbrechung der Gehörknöchelchenkette hinter dem unbeschädigten Trommelfell. Die Differenznimmt hierbei mit etwa 60dB sogar noch größere Werte an, was auf den Totalausfall der Funktiondes Mittelohres zurückzuführen ist. In diesem Fall behindert zusätzlich das intakte Trommelfell einedirekte Schallzuleitung zum ovalen Fenster. Der Hörverlust ergibt den entsprechenden audiologischenBefund aus Abb. 1.8b. Kein anderer Mittelohrschaden kann eine gleichgroße Absenkung der Luftlei-tung bewirken [Leh87].

    Abbildung 1.8: (a) Kombination von Versteifung und Dämpfung und (b) Totalausfall der Mittelohr-funktion [Leh87]

    Durch das Auftreten von Defekten am Trommelfell (z.B. Risse), kommt es neben der dadurch entste-henden Verkleinerung der wirksamen Trommelfellfläche zur Vermehrung der Reibung. Je größer derDefekt ist, umso mehr wird außerdem die Federwirkung des Luftpolsters in der Paukenhöhle beein-trächtigt. Schließlich können eventuelle Vernarbungen zur Versteifung der Schallleitungskette beitragen[Lan58][Meh62]. Das Zusammenspiel dieser Auswirkungen eines Trommelfelldefektes führt dazu, dasssich verschiedene Effekte überlagern oder gar auslöschen. Der resultierende Hörverlust hat demnach

  • KAPITEL 1. VORBETRACHTUNGEN 10

    einen nahezu frequenzunabhängigen Verlauf, eventuell leicht abnehmend zu den hohen Tönen hin.Der totale Verlust des Trommelfells bedeutet den vollständigen Verlust der Schalldrucktransformationund -protektion. Der Schall trifft nun auf beide Fenster (rundes und ovales) unmittelbar und pha-sengleich. Die Funktion des Mittelohres wird dadurch weitgehend aufgehoben. Das Resultat ist eineHörminderung von ca. 30dB [Leh87].

    1.3.2 Innenohrschwerhörigkeit

    Physiologie des Innenohres

    Der Begriff Innenohrschwerhörigkeit ist als Oberbegriff für alle diejenigen Hörstörungen zu sehen,die jenseits der Steigbügelfußplatte wirksam sind. Ohne weitere Untersuchungen kann jedoch nichtentschieden werden, ob die Schädigung das Innenohr selbst betrifft, oder im neuralen Bereich wirkt.Man spricht deshalb vorerst, ohne eine Festlegung des Entstehungsortes zu treffen, von einer Tiefton-,Mittelton-, oder Hochtonschwerhörigkeit [Leh87].Es gibt die verschiedensten Modelle, die die Physiologie des Innenohres erklären sollen. V. Helmholtzversuchte beispielsweise die Tonhöhenerkennung dadurch zu erklären, dass die Basilarmembran auseiner großen Anzahl Resonatoren zusammengesetzt sei. Beim Anliegen eines bestimmten Tones würdeder jeweilige Resonator dann ansprechen. Allerdings stimmt dieses Modell nicht mit der tatsächlichenDämpfung des Innenohrs überein, die größer sein muss als es solche Resonatoren sein können.Nach derzeitigen Vorstellungen der Hörphysiologie erfolgt eine Frequenz-Orts-Transformation der an-gebotenen Reize innerhalb der zweieinhalb Schneckenwindungen durch die Wellenbewegung der Pe-rilymphe. Diese Wellenbewegung geht vom ovalen Fenster aus und gleicht sich unter Ausbauchungder Basilarmembran zum runden Fenster hin aus. Man spricht von einer Wanderwelle, die durch dasInnenohr hindurchläuft (Abb. 1.9). Sie lenkt die Basilarmembran an der Stelle maximal aus, die der

    Abbildung 1.9: Funktionsweise des Innenohres [Fle00]

    jeweiligen Tonfrequenz zugeordnet ist. Untersuchungen [Paw02] haben ergeben, dass jedem Abschnittder Membran eine feste Tonhöhe zugewiesen ist. Die örtliche Abbildung der Schallwellen erfolgt dabeiso, dass Töne tiefer Frequenzen am Ende der Cochlea (im Helicotrema) die maximalsten Auslenkungs-amplituden der Membran verursachen, Töne hoher Frequenzen dagegen in der Schneckenbasis. Wirddem Ohr ein einzelner Sinuston dargeboten, erfolgt die Anregung nicht für einen einzelnen Punkt derBasilarmembran, sondern es entsteht ein Schwingungsbereich mit einem Maximum und abnehmendenAuslenkungen zu den Seiten hin. Neben der entsprechenden Stelle für die Sinusfrequenz (maximalsteAuslenkung) werden also in der Nähe liegende Frequenzbereiche mit beeinflusst. Entscheidend für dieTransformation ist allerdings nur der Ort der maximalsten Auslenkung. Dieses Verhalten kann durchBandpässe mit verschiedenen Mittenfrequenzen und variabler Flankensteilheit beschrieben werden, dieden gesamten Bereich der Cochlea abdecken. Psychoakustische Messungen belegen auch, dass sich zu

  • KAPITEL 1. VORBETRACHTUNGEN 11

    jeder beliebigen Grundfrequenz eine umliegende Frequenzgruppe zuordnen lässt, in der sämtliche Sig-nale einheitlich verarbeitet werden, d.h. sie werden zu einem Erregungspegel zusammengefasst. DieseFrequenzgruppe nennt man kritische Bandbreite. Durch weitere Messungen konnten entlang der Coch-lea 24 dieser kritischen Bänder im hörbaren Frequenzspektrum (0kHz bis 16kHz) unterteilt werden.Die Breite dieser Bänder beträgt unabhängig der jeweiligen Mittenfrequenz ∆z = 1Bark (nach [Zwi90]mit Tonheit z [Bark]). Ihr räumlicher Abstand ist konstant und beträgt etwa 1,3 Millimeter auf derBasilarmembran. Diese Abbildung im Innenohr entspricht einer Filterbank aus aneinandergereihten,sich stark überlappenden Bandpässen, die den Schall spektral in die einzelnen Frequenzgruppen zer-legt. Auf Grund der nichtlinearen Frequenz-Orts-Transformation beträgt die Bandbreite der einzelnenFrequenzgruppen auf der Frequenzsakala unterhalb 500Hz etwa 100Hz, mit höher werdender Frequenzunterteilen sie sich in Terzen [Zwi90]. Durch das Modell dieser Bark-Skala lassen sich viele Effekteder Wahrnehmung, wie z.B. Maskierung, Lautheit oder Frequenzselektivität besser beschreiben. Abb.1.10 stellt Anregungspegelmuster bei unterschiedlichen Mittenfrequenzen (fm) dar. Diese Abbildung

    Abbildung 1.10: Anregungspegelmuster unterschiedlicher Mittenfrequenz [Zwi90]

    verdeutlicht, dass ein einzelner Sinuston, der durch eine Spektrallinie darstellbar ist, trotzdem ein brei-tes Anregungsmuster auf der Basilarmembran erzeugt, welches mehrere kritische Bänder bestreicht[Vol95]. Viele Innenohrschwerhörigkeiten werden von einer Verbreiterung der kritischen Bänder be-gleitet.Die Ausbauchung der Basilarmembran führt zu einer relativen Abscherung der auf ihr gelegenenSinneshärchen der Sinneszellen (Haarzellen). Bei genügender Stärke dieser Abscherung (Abb. 1.11)

    Abbildung 1.11: Abscherung der Haarzellen im Corti-Organ [Paw02]

    kommmt es zu einer Weiterleitung der Erregung auf die angeschlossene Nervenfaser, von wo ausder Reiz schließlich zum Hörzentrum des Gehirns gelangt. Dort findet die Verarbeitung der nervalenInformationen statt. Im Innenohr existieren zwei Typen von Hörzellen, die jeweils unterschiedliche

  • KAPITEL 1. VORBETRACHTUNGEN 12

    Eigenschaften aufweisen. Die äußeren Hörzellen sind in drei Schichten angeordnet, wobei mehrereHörzellen gebündelt an einer Nervenfaser angekoppelt sind. Dabei wird die Erregung mehrerer dieserZellen benutzt, um den Reiz auf die eine Nervenfaser zu übertragen. Die inneren Hörzellen liegenhingegen nur in einer Reihe und besitzen jede für sich eine eigene Nervenfaser. Sie müssen demnachdie volle Energie aufbringen, um die Reizleitung der Nervenfaser in Gang zu setzen [Leh87].Neben diesem unterschiedlichen Verhalten bei der Erregungsweiterleitung haben die Hörzellen auchunterschiedliche Funktionen, was die eigentliche Informationsübertragung betrifft. Maßgeblich verant-wortlich für die Informationübertragung sind die inneren Hörzellen. Beim gesunden Innenohr wirken

    Abbildung 1.12: Auslenkung der Basilarmembran [Paw02]

    die äußeren Hörzellen mechanisch verstärkend auf die Wanderwelle ein (aktive Wanderwelle)(Abb.1.12). Dieser Effekt lässt bei höheren Eingangspegeln nach, und kehrt sogar sein Wirkprinzip bei sehrhohen Pegeln um, wodurch die Wanderwelle aktiv abgeschwächt wird. Dieses nichtlineare Übertra-gungsverhalten erklärt den hohen Dynamikbereich, den das menschliche Ohr hat.Die Innenohrschwerhörigkeit ist gekennzeichnet durch eine Funktionsstörung der Hörzellen. Infolgeihrer Schädigung verliert der Betroffene Sensitivität (Schädigung der inneren Hörzellen) und Dyna-mikanpassung (Schädigung der äußeren Hörzellen). Zusätzlich vermindert sich auch die Frequenzse-lektivität durch die Verbreiterung der kritischen Bänder. Wichtige Eigenschaften des Gehörs, z.B. dasRichtungshören, werden dadurch beeinträchtigt oder gehen ganz verloren [Fle00].Die irreparable Schädigung von Hörzellen ist häufig auf die Einwirkung zu hoher Lautstärkepegelzurückzuführen. Forschungen ergaben dabei, dass die äußeren Hörzellen deutlich empfindlicher aufchronische und akute Lärmbelästigung reagieren als die inneren [Ulr01]. So läßt sich eine irreparableSchädigung von Sinneshärchen der äußeren Hörzellen bei akuter Lärmeinwirkung nachweisen, währendsich die inneren Hörzellen dagegen auf längere Zeit als resistent erweisen. Das bedeutet eine vorerst ein-geschränkt erhaltene Hörfunktion durch die inneren Hörzellen beim funktionellen Ausfall der Äußeren.Die Hörfunktion beschränkt sich dabei auf den Bereich sehr lauter Eingangspegel. Eine Dynamikanpas-sung für Eingangspegel mit niedriger Intensität kann für die betroffenen Frequenzbereiche nicht mehrerfolgen. Der einseitig Innenohrschwerhörige hört also nur im hohen Lautstärkebereich genauso lautwie auf dem gesunden Ohr. Dieses Phänomen, dass trotz einer Schwerhörigkeit die Lautstärkeemp-findung für große Lautstärken gleich bleibt, wird als Rekruitment (= Lautheitsausgleich4) bezeichnet.Die meisten Innenohrschwerhörigkeiten weisen dieses Phänomen auf.

    4Lautheit N: subjektiv empfundene Lautstärke; N = 1Sone bei L = 40dB, f = 1kHz, t = 1s

  • KAPITEL 1. VORBETRACHTUNGEN 13

    Arten von Innenohrschwerhörigkeiten

    Beim Auftreten einer Hochtonschwerhörigkeit (Lärmschwerhörigkeit) nimmt der Hörverlust ab einerbestimmten Grenzfrequenz unterschiedlich steil zu. Typisch ist die anfängliche Herausbildung einerHochtonsenke5 im Bereich um 4kHz. Mit fortschreitender Schädigung flacht die Kurve oberhalb 4kHzzunehmend ab und verliert so ihren Senkencharakter. Je größer die mechanischen Schädigungen desInnenohres durch Lärmeinwirkung sind, umso weniger tritt der Senkencharakter der Hörkurve aufund umso mehr reicht der Hochtonabfall bis in den Mittelton und sogar Tieftonbereich hinab. Abb.1.13a zeigt den typischen Verlauf eines Hochtonschrägabfalls, wie er bei fortgeschrittener Schädigung(typisch durch akute oder chronische Lärmeinwirkung) des Innenohres diagnostiziert wird.Der Hörverlust betrifft diejenigen Frequenzen, die dem Bereich der Schneckenbasis zugeordnet sind.Warum es vornehmlich in diesem Bereich zur Schädigung der äußeren Haarzellen durch Lärm kommt,dafür fehlt bislang eine plausible Erklärung [Leh87].Bei einer Mitteltonschwerhörigkeit sind Hoch- und Tieftonbereich weniger stark beeinträchtigt als derMitteltonbereich. Für diese Mitteltonmulden ist ein konkaver Kurvenverlauf charakteristisch (Abb.1.13b). Die Ursache dieses Verlaufes sind Schädigungen, die hauptsächlich den Bereich der mittle-ren Schneckenwindung betreffen. Diese Art der Innenohrschwerhörigkeit ist familiär anlagebedingt.Untersuchungen bei älteren Familienmitgliedern können Auskunft über den möglichen Verlauf dieserSchädigung geben, denn wahrscheinlich handelt es sich um eine Schwerhörigkeitsform, die sich beiallen betroffenen Familienmitgliedern in ähnlichem Außmaß ausbildet [Leh87].

    Abbildung 1.13: (a) Hochtonschwerhörigkeit und (b) Mitteltonschwerhörigkeit [Leh87]

    Der Hörverlust einer Tieftonschwerhörigkeit tritt im Tieftonbereich auf, wo er etwa 40-50dB aus-macht. Vom Mittelton- zum Hochtonbereich hin verkleinert er sich (Abb. 1.14a). Die Schädigungenbetreffen den hinteren Bereich der Cochlea. Oftmals kommt es vor, dass aus einer anfänglichen Tief-tonschwerhörigkeit eine pantonale Schwerhörigkeit entsteht. Für die Hörschwelle bedeutet dies eineHerabsetzung auch für den Mittel- und Hochtonbereich, so dass die Schwellenkurve dann annäherndhorizontal verläuft. Die Tieftonschwerhörigkeit ist relativ oft rückbildungsfähig [Lan53]. Sie tritt beiverschiedenen Krankheiten (z.B. im Anfangsstadium der Meniere- Krankheit) auf. Je länger aber dasLeiden wirkt, umso größer ist die Gefahr einer pantonalen Schwerhörigkeit.

    5der Teifpunkt der Senke variiert zwischen 3kHz und 6kHz und kann unterschiedlich tief sein

  • KAPITEL 1. VORBETRACHTUNGEN 14

    Abbildung 1.14: (a) Tieftonschwerhörigkeit und (b) Kombination aus Mittelohr- und Innenohr-schwerhörigkeit [Leh87]

    Kombination aus Mittelohr- und Innenohrschwerhörigkeit

    Diese Bezeichnung steht für alle die Schwerhörigkeitsformen, die im gleichen Maße oder zu unter-schiedlichen Anteilen aus einer Störung der Schallleitung und der Schallempfindung zusammengesetztsind. Die Kurve der Knochenleitung liegt also genau zwischen der Luftleitungsschwelle des Patientenund der Nulllinie (Abb. 1.14b).Der Anteil der Schädigung, der auf das Mittelohr zurückzuführen ist, kann aus der Differenz vonLuftleitung und Knochenleitung abgelesen werden. Der Innenohranteil wird durch den Abstand derKnochenleitung zur Nulllinie sichtbar. Bei dieser Form der kombinierten Schwerhörigkeit betrifft ermeist den Hochtonbereich.

    Schlussfolgerung

    Die Schädigung des Hörorgans, gleichwelcher Art, führt immer zu Einschränkungen im Frequenz- undDynamikverlauf bei der Schallübertragung. Um nun eine Kompensation dieser Beeinträchtigungen zuerreichen, müssen Hörgeräte mit entsprechender Verstärkung und Kompression eingesetzt werden, umBetroffenen zumindest das Verstehen von Sprache zu erleichtern. Der frequenzmäßige Arbeitsbereichvon Hörgeräten muss sich demzufolge mindestens mit dem Hauptfrequenzbereich der Sprache decken.Allerdings kann durch elektronische Hörhilfen die Verbreiterung der cochleären Filter besonders beiInnenohrschwerhörigkeiten nicht direkt ausgeglichen werden. Das Sprachverstehen bei Störlärm wirdsich in diesem Fall, also trotz einer ausreichenden Verstärkung der erforderlichen Frequenzbereiche,nicht verbessern. Moderne Hörsysteme bieten jedoch die Möglichkeit der Aufbereitung der Eingangs-signale so, dass relevante akustische Informationen dennoch wahrgenommen werden können.

  • Kapitel 2

    Hörgerätetechnik

    Einleitung

    Hörgeräte sind Schallverstärker. Ihre Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, den Schalldruckpegelvon Sprache oder anderen Informationen akustisch zu verstärken. Oberflächlich betrachtet gleicht dieseAufgabe der eines echten HIFI-Verstärkers. Nämlich eine gleichmäßige Verstärkung der Eingangssig-nale unabhängig von ihrem Eingangspegel über einen möglichst großen Frequenzbereich. Doch dieseAnforderungen gelten für Hörgeräte nur in den allerseltensten Fällen. Bei näherer Betrachtung derphysikalischen Eigenschaften des menschlichen Hörorgans fällt der stark frequenzabhängige Verlaufder Isophonen (Abb. 1.3a) auf. Naturgemäß werden also verschiedene Töne gleicher Lautstärke un-terschiedlich laut wahrgenommen. Dieses Verhalten und die Tatsache, dass Hörminderungen nur sehrselten gleichmäßig über den gesamten Hörbereich wirken (vgl. Kap. 1.2), spezifizieren die Anfor-derungen an Hörgeräte. Sie müssen zumindest in der Lage sein, Eingangssignale frequenzabhängigunterschiedlich zu verstärken. Der so zu bearbeitende Freuqenzbereich wird dabei zum einen durchdie technischen Möglichkeiten und zum anderen durch das Ohr selbst begrenzt.Eine gleichmäßige Verstärkung aller Eingangspegel, um auf den Vergleich mit dem HiFi- Verstärkerzurückzukommen, gilt für Hörgeräte nur in einem gewissen Eingangspegelbereich. In diesem Bereicharbeiten die Geräte dann linear. Aber die Hörfläche wird durch eine Schwelle maximal akzeptierbarerSchalldruckpegel (UCL (Unbehaglichkeitsschwelle)) begrenzt. Treten Eingangspegel in diesem Bereichauf, so werden sie als unangenehm laut empfunden. Noch höhere Pegel erreichen und überschreitendann die Schmerzschwelle, wodurch das Ohr geschädigt wird. Offensichtlich darf der Ausgangspegelund damit die Verstärkung von Hörgeräten die UCL der betroffenen Personen nicht überschreiten,und muss entsprechend begrenzt werden. Eine Anpassung der Dynamik des Schalls wird beim Auf-treten des Rekruitment-Phänomens (vgl. Kap. 1.3.2), oder um die überschwellige1 Nichtlinearität desGehörs zu erreichen, notwendig. Dabei wird der große Schallpegelbereich der akustischen Umgebungauf den wahrnehmbaren Bereich des Hörgeschädigten individuell zusammengedrückt. Man sprichtdeshalb auch von einer Dynamikkompression. Diese Betrachtungen zeigen, dass Hörgeräte von denGrundzügen her Schallverstärker sind, deren Verstärkung allerdings abhängig von einer Kombinati-on aus Schalldruckpegel und Frequenz des eintreffenden Schalls ist. Diese Anforderungen führen zueiner notwendigen Aufspaltung des Frequenzspektrums in Kanäle und zu Regelschaltungen, die pe-gelabhängig arbeiten müssen. Detaillierte Modelle des Hörprozesses, die genaue Aussagen über nicht-lineare Effekte bei der Lautstärkewahrnehmung zulassen, sind deshalb für die komplexe Regelung derVerstärkung unablässig [Ulr01].Dieses Kapitel befasst sich mit der Arbeitsweise und dem Aufbau von Hörgeräten. Wesentlich für dieQualität eines Hörgerätes sind seine Möglichkeiten zur Anpassung, um die entprechende Kompensa-tion eines Hörverlustes zu erreichen. Die Anpassung erfolgt über technologieunabhängige, einstellba-re Funktionselemente, deren optimale Einstellung zu den erwünschten Hörerfolgen führen kann. ImFolgenden wird eine allgemeine Zusammenstellung dieser Elemente und ihrer Auswirkungen auf das

    1gemeint ist der Bereich der Hörfläche

  • KAPITEL 2. HÖRGERÄTETECHNIK 16

    Übertragungsverhalten von Hörgeräten gegeben.Wie komfortabel und in welchem Bereich die Parametereinstellung erfolgen kann, ist technologie-abhängig. Die Entwicklungen der letzten Jahre führten auch in der Hörgerätetechnik zu bahnbrechen-den Verbesserungen. Der Einsatz der Digitaltechnik, ob nun zur Steuerung analoger Systeme oderdirekt in der Signalverarbeitung, führte zu einer Fülle von Möglichkeiten, die bei weitem noch nichtausgeschöpft sind. In Abschnitt 2.2 werden die Technologien vorgestellt, die in der Hörgerätetechnikzum Einsatz kommen. Dabei sollen wichtige Vor- und Nachteile dargestellt werden.

    2.1 Funktionselemente von Hörgeräten

    Das Übertragungsverhalten eines Hörgerätes kann durch die Parameterisierung verschiedener Funkti-onselemente verändert werden, die durch eine geeignete Anpassung das Eingangssignal so verändern,dass das Ausgangssignal pathologisch bedingte Einschränkungen des Gehörs im Frequenz- und Dy-namikbereich ausgleichen kann. Unter Funktionselementen sollen im Folgenden Schaltungen und Pro-gramme verstanden werden, die Regel- und Begrenzungssysteme, verschiedene Tonblenden, die Kana-ligkeit und den Verstärker realisieren.

    2.1.1 Regel- und Begrenzungssysteme in der Hörgerätetechnik

    Ausgangspunkt dieser Betrachtungen soll ein einkanaliges Hörgerät sein. Alle Eingangspegel (LE)erfahren die gleiche Verstärkung. Die Ausgangspegel (LA) erreichen ein Maximum an der Sättigungs-grenze, die durch die Qualität des Hörers bestimmt wird. Trägt man den Ausgangspegel in Abhängig-

    Abbildung 2.1: (a) lineare und (b) nichtlineare Dynamikkennlinie für eine bestimmte Frequenz

    keit des Eingangspegels mit der Frequenz als Parameter in einem Diagramm auf, so ergibt sich dietypische Dynamikkennlinie eines linearen Hörgerätes (Abb. 2.1a).Dabei lassen sich drei typische Bereiche voneinander unterscheiden. Der erste Bereich ist der Be-reich des Eigenrauschens. An diesen schließt sich der lineare Übertragungsbereich an, der durch denSättigungsbereich begrenzt wird. Das Eigenrauschen ist bauartbedingt. Ursache dafür sind Molekular-bewegungen auf Grund thermischer Einflüsse in den Bauelementen, die einen Ausgangspegel bewirken,ohne dass ein Eingangssignal anliegt. Im linearen Bereich verursacht die Änderung des Eingangssignalseine gleichgroße Änderung des Ausgangssignals. Der Anstieg der Kennlinie in diesem Bereich ist alsoimmer eins. Beim Erreichen der Sättigungsgrenze verflacht der Anstieg bis er den Wert Null erreicht.Ein Hauptmerkmal linearer Geräte ist, dass sie über keinerlei Begrenzungssysteme verfügen. Der Aus-gangsschalldruck wird bei entsprechenden Eingangspegeln immer sein technisch maximal möglichen

  • KAPITEL 2. HÖRGERÄTETECHNIK 17

    Wert erreichen. Es gibt aber nur sehr wenig Versorgungsfälle, in denen ein solches Verstärkungsver-halten notwendig ist. Häufiger muß eine Begrenzung des Ausgangsschallpegels ab einem individuellenSchwellenwert (UCL) erfolgen, um das Ohr vor weiteren Schädigungen zu schützen. Schaltungstech-nisch wird zwischen Begrenzungssystemen unterschieden, die entweder zeitlos oder zeitlich arbeiten.Zeitlos arbeitende Systeme begrenzen unverzögert die Amplitudenwerte ab einem bestimmten Wert(Abb. 2.2).

    Abbildung 2.2: (a) Wirkungsweise und (b) LE/LA-Diagramm einer PC-Begrenzung

    Dieses Abschneiden der Signalspitzen im Begrenzungsfall führt zu spektralen Veränderungen des Aus-gangssignals, die sich negativ auf den Klang auswirken (der Klirrfaktor vergrößert sich und der SNR(Signal to Noise Ratio) verringert seinen Wert). Solche PC (peak clipping)-Systeme sind allerdingsdie einzige Art, möglichst hohe Verstärkungen im Begrenzungsfall zu erreichen [Vol95].Zeitlich arbeitende Begrenzungssysteme beeinflussen die Verstärkung der Eingangssignale in Abhängig-keit bestimmter Pegelwerte des Ausgangssignals oder des Eingangssignals. Diese Regelung der Verstär-kung bewirkt ab einem bestimmten Schwellenpegel (LRS) eine Kompression, d.h. eine große Pegelände-rung am Eingang verursacht eine kleinere Pegeländerung am Ausgang. Je größer dabei das Kompres-sionsverhältnis (Cv) ist, umso kleiner wird die Pegeländerung am Ausgang. Um auf diese Weise einesichere Begrenzung der Ausgangspegel zu gewährleisten, sollte Cv also mindestens 10:1 betragen. EineErhöhung des Eingangspegels um 50dB(!) lässt damit den Ausgangpegel nur noch um 5dB steigen. DerEinsatzpunkt der Kompression würde in diesem Fall durch die UCL des Hörgeschädigten bestimmt.Das Zeitverhalten der Ausgabesignale geht dabei allerdings verloren. Grund dafür ist die Arbeitsweiseder Regelung. Eine Beeinflussung der Verstärkung durch die Regelung erfolgt erst nach einem Soll-/Istwert-Vergleich des Momentanwertes der Regelgröße. Dieser Vorgang benötigt aber eine gewisseZeit. Demzufolge sind alle Regelsysteme zeitlich arbeitende Systeme.Der Vorteil des Einsatzes solcher AGC (Automatic Gain Control)-Systeme liegt in der unverfälschtenSignalwiedergabe im Begrenzungsfall. Die spektralen Muster, die wesentlich für den Klang verantwort-lich sind, bleiben unverändert. Außerdem wird durch die Regelung der Verstärkung gleichermaßen derNutz- sowie der Störschall beeinflusst. Somit bleibt offensichtlich der SNR auch im Begrenzungsfallkonstant.Wird der Einsatzpunkt der AGC heruntergesetzt und das Kompressionsverhältnis klein gehalten (z.B.2:1), so ändert sich das Dynamikverhalten im Übertragungsbereich. Die Verstärkung lässt sich so demüberschwellig nichtlinearen Bereich des Gehörs anpassen. Abb. 2.1b zeigt den Verlauf der Dynamik-kennlinie eines Hörgerätes mit AGC. Der Kurvenverlauf unterscheidet sich jetzt in vier charakteristi-schen Bereichen. Hinzugekommen ist der Kompressionsbereich zwischen dem linearen und dem Sätti-gungsbereich. Dieser Bereich ist abhängig vom Einsatzpunkt der AGC. Wird er zu kleineren Pegelwer-ten hin verschoben, verkleinert sich der lineare Übertragungsbereich des Hörgerätes. Das Verstärkungs-verhalten im Kompressionsbereich wird durch das Kompressionsverhältnis bestimmt. Eine Vergröße-rung bewirkt die Verflachung des Kurvenanstiegs. Das Übertragungsverhalten eines Hörgerätes mitAGC lässt sich also durch die Einstellung der beiden Parameter Cv und LRS entscheidend verändern.

  • KAPITEL 2. HÖRGERÄTETECHNIK 18

    Das theoretisch kleinste einstellbare Kompressionsverhältnis ist 1:1 (lineare Verstärkung). Eine wei-tere Verkleinerung bedeutet ein expandierendes Dynamikverhalten, was für das pathologische Gehörkeinen Sinn ergibt.AGC-Systeme werden in zwei Gruppen unterteilt, die sich durch die Art ihrer Anwendung unterschei-den. Eine AGCi (Input Automatic Gain Control) regelt in Abhängigkeit vom Eingangspegel. DerEinsatzpunkt wird dabei mit LRSi bezeichnet. Eine AGCo (Output Automatic Gain Control) regeltin Abhängigkeit vom Ausgangspegel. Überschreitet dieser den voreingestellten Wert (LRSo), erfolgtdie Kompression des Eingangssignals (Abb. 2.1b).Typischerweise erfordern Regelungen gewisse Ein- und Ausschwingzeiten bis der Sollwert erreicht wird.Diese Verzögerungszeiten sind abhängig vom verwendeten Regler [Föl94] und geben der AGC eine be-stimmte Klangcharakteristik. So verursacht z.B. eine kurze Einschwingzeit in Verbindung mit einemgroßen Kompressionverhältnis im Regelfall eine schnelle Lautstärkeänderung, die oft als unangenehmempfunden wird. Moderne Hörgeräte verfügen deshalb über die Möglichkeit der Einstellung dieserZeitkonstanten. AGC-Systeme können somit in Abhängigkeit ihrer Parameterisierung sehr verschie-dene Aufgaben übernehmen:

    • Ein HLC (High Level Compressor) ist eine AGCi, die sehr hohe Eingangspegel begrenzt. Sieerfüllt zwei Aufgaben. Erstens soll die nachfolgende Schaltung vor Übersteuerungen geschütztwerden, die zu nichtlinearen Verzerrungen führen, und zweitens begrenzt sie den Ausgangspegel.Der Einsatzpunkt eines HLC liegt entsprechend hoch (etwa 80-90dB), das Kompressionsverhält-nis beträgt mindestens 10:1 [Roh99].

    • Eine WDRC (Wide Dynamic Range Compression) ist eine AGCi mit sehr niedrigem Schwel-lenpegel und kleinem Kompressionverhältnis (max. 3:1). Sie bewirkt somit eine Kompressionder Eingangspegel über einen großen Pegelbereich. In Verbindung mit kleinen Zeitkonstanten(Einschwingzeit < 5ms, Ausschwingzeit 5-50ms) kann die WDRC zur sog. Silbenkompressioneingesetzt werden, mit dem Ziel der Dynamikanpassung der Sprache an die Restdynamik desHörgeschädigten. Die kurzen Regelzeiten werden zur Erhaltung der Modulation der Sprachebenötigt [Ulr01].

    • Die AGCo wird als Ausgangspegelbegrenzung (Edel-PC) eingesetzt. Der Einsatzpunkt dieserBegrenzung ist bestimmt durch die UCL des Hörgeschädigten. Für eine sichere Begrenzung istein hohes Kompressionsverhältnis (min. 10:1) notwendig.

    Die bisherigen Betrachtungen gingen von einem einheitlichen Einsatzpunkt der AGC über den ge-samten Frequenzbereich aus. Überschreitet das Eingangssignal in nur einer bestimmten Frequenz dieRegelschwelle, wird es über den gesamten Frequenzbereich einheitlich komprimiert. Die Wiederga-bekurven eines solchen Gerätes verlaufen alle äquidistant zueinander, d.h. zwei Wiedergabekurvenhaben unabhängig vom Eingangspegel in jeder Frequenz den gleichen Abstand zueinander. Bei einerfreuqenzselektiven Änderung des Einsatzpunktes der AGC muss es folglich zu einer unterschiedlichenÜbertragungscharakteristik in Abhängigkeit vom Eingangspegel kommen. In der Hörgerätetechnikwerden drei Übertragungscharakteristika unterschieden. Hat die Regelschwelle einen steigenden Ver-lauf über den Frequenzbereich, werden tiefe Frequenzen des Eingangssignals eher komprimiert als diehochtönigen Anteile. Je kleiner also der Eingangspegel ist, umso breitbandiger wird das Eingangssig-nal verstärkt. Eine Erhöhung des Eingangspegels bewirkt die Ausblendung tiefer Frequenzanteile, dieoft von Störschall überlagert sind. Dieses Übertragungsverhalten wird mit BILL (Bass Increases atLow Level) bezeichnet (Abb. 2.3a). Die breitbandige Übertragung bei kleinen Eingangspegeln verleihtbesonders Sprache einen angenehmen Klang [Ulr01]. Im Gegensatz dazu werden hohe Frequenzanteiledes Eingangssignals bei einem fallendem Verlauf der Regelschwelle eher komprimiert als die tiefenFrequenzanteile. Bei größer werdendem Pegel wird demzufolge die Übertragung des Eingangssignalsimmer breitbandiger. Ein solches Übertragungsverhalten wird mit TILL (Treble Increases at LowLevel) bezeichnet (Abb. 2.3b). Hochtonschwerhörigkeiten lassen sich damit besonders gut versorgen.Diese Charakteristika ermöglichen eine Dynamikanpassung an die Restdynamik des Hörgeschädigten

  • KAPITEL 2. HÖRGERÄTETECHNIK 19

    Abbildung 2.3: Übertragungscharakteristik nach (a) BILL und (b) TILL eines einkanaligen Hörgerätes[Roh97]

    entweder für den tieffrequenten Bereich (BILL) oder für den hochfrequenten Bereich (TILL). Eine fre-quenzselektive Dynamikanpassung oder nur eine Anpassung im Mittenbereich kann so nicht realisiertwerden. Eine Variation der Parameter zur Bestimmung der Grundverstärkung im linearen Bereichund des Kompressionsverhältnisses ändern nicht die Übertragungscharakteristik, die durch den Regel-schwellenverlauf der AGC eines einkanaligen Gerätes vorgegeben ist, sondern prägen sie ggf. lediglichaus.

    2.1.2 Tonblenden und Kanaligkeit in der Hörgerätetechnik

    Um den Frequenzgang eines bestimmten Bereiches zu beeinflussen, müssen Tonblenden eingesetztwerden. Ihre Aufgabe besteht darin, Frequenzbereiche von der Verstärkung auszuschließen, die keinenBeitrag zur Übertragung der erforderlichen Informationen liefern. Einmal kann das Resthörvermögenim fraglichen Bereich noch gut genug sein, dass hier keine Schallverstärkung notwendig ist, und zumanderen bedarf ein Frequenzbereich, der von Störschall überlagert ist, auch keiner Verstärkung. DieParameter, über die man auf die verschiedenen Tonblenden einwirken kann, sind die Grenzfrequenzund die Flankensteilheit. Ob nun jeweils beide Parameter einstellbar sind, hängt von der Qualität desHörgerätes und von der verwendeten Technologie ab.Tiefenabsenkungen reduzieren die Verstärkung im unteren Frequenzbereich. Diese Wirkung wird durchden Einsatz von Hochpässen erreicht. Abb. 2.4a und 2.4b zeigen den Frequenzverlauf durch Erhöhungder Flankensteilheit bei gleichbleibender Grenzfrequenz (2.4a), und als die zweite Möglichkeit die Ver-schiebung der Grenzfrequenz zu höheren Frequenzen hin bei unveränderter Flankensteilheit (2.4b)des Hochpasses. Das Äquivalent dazu ist die Höhenanhebung, mit dem Unterschied, dass hierbei einTiefpassfilter zur Realisierung eingesetzt wird. Veränderungen von Flankensteilheit und Grenzfrequenzführen dabei wieder zu entsprechenden Beeinflussungen des Frequenzganges (Abb. 2.4c). Eine gleichzei-tige Beeinflussung des unteren und des oberen Frequenzbereiches wird durch sogenannte Klangwaagenerzielt. Die Wirkung der Klangwaage ist in den veränderbaren Frequenzbereichen gegenläufig, d.h. dieVerringerung im unteren Frequenzbereich bewirkt eine gleichwertige Erhöhung im oberen Frequenz-bereich (Abb. 2.4d)[Roh94].Mit PILL (Program Increases at Low Level) werden Geräte bezeichnet, bei denen jedes beliebige Ver-halten von Ausgangsschalldruck, Verstärkung und Dynamik eingestellt werden kann. Vornehmlich fälltmehrkanaligen Geräten diese Bezeichnung zu [Roh97]. Theoretisch gilt: je höher die Kanalzahl, umsobesser kann eine Anpassung der akustischen Parameter erfolgen. Doch es gibt technologische Grenzen.Analoge Hörgeräte sind mit einer hohen Kanalzahl technisch kaum zu realisieren. Grund dafür sinddie endlichen Flankensteilheiten analoger Filterschaltungen. Im Übergangsbereich zwischen zwei Fil-tern treten auf Grund der unterschiedlichen Phasenverläufe Übergangsprobleme auf. Je höher aber die

  • KAPITEL 2. HÖRGERÄTETECHNIK 20

    Abbildung 2.4: Realisierung einer Tieftonblende durch (a) Erhöhung der Flankensteilheit und (b)Verschiebung der Grenzfrequenz, (c) Wirkung einer Hochtonblende und (d) Wirkung einer Klangwaage[Roh94]

    Trennschärfe der einzelnen Filter ist, umso kleiner werden die Übergangsbereiche, wodurch sich auchdie Übertragungsprobleme in diesen Bereichen vermindern. Ein weiteres Problem ist die gegenseitigeBeeinflussung der Kanäle bei zu kleiner Trennschärfe und zu schmalem Durchlassbereich der Filter.Die Grenze bei analogen Geräten sind Filter 4.Ordnung mit einer Flankensteilheit von 24dB/Oktave.Ihre Kanalzahl wird deshalb auf maximal vier begrenzt, um die Beeinflussung der Kanäle untereinan-der möglichst gering zu halten [Roh99]. Ein frequenzselektives Verhalten trotz hoher Kanalzahl ist nurmit digitalen Filtern realisierbar, da sie theoretisch keinen Einschränkungen in der Flankensteilheitunterliegen.

    2.2 Aufbau von Hörgeräten

    Der prinzpielle Aufbau von Hörgeräten ist immer gleich. Im Wesentlichen bestehen sie aus einem odermehreren (meistens 2, neuerdings 3) Mikrofonen, einem Verstärker (inklusive Filter, Regel- und Be-grenzungssysteme, Endstufe) und dem Hörer. Die Einstellung der Funktionselemente des Verstärkerswird durch Bedienungselemente vorgenommen, die von außen zugänglich sein müssen. Die elektrischeVersorgung erfolgt durch Batterien (1,3V-Knopfzellen). Zusätzlich sind viele Hörgeräte mit verschie-denem Zubehör ausgestattet, z.B. einer Telefonspule, einem Audioeingang oder einer Fernsteuerung.Die Telefonspule dient der induktiven Einkopplung von Signalen in das System (z.B. durch den Te-

  • KAPITEL 2. HÖRGERÄTETECHNIK 21

    lefonhörer), während durch den Audioeingang elektrische Signale direkt in das Hörgerät eingespeistwerden können (z.B. um zusätzliche Signalübertragungsstrecken anzuschließen). Unterscheidungskri-terien für Hörgeräte sind:

    • die Bauform (Taschengeräte, HdO (Hinter dem Ohr)-Hörgeräte, IdO (In dem Ohr)-Hörgeräte,Hörbrillen, Sonderversorgungen)

    • die verwendete Technologie (analog, digital programmierbar, digital)• das Verstärkungsverhalten (max. Verstärkung, Anzahl der Kanäle, max. Ausgangspegel, obere

    Grenzfrequenz etc.)

    Eine Einteilung von Hörgeräten kann somit nach verschiedenen Gesichtspunkten vorgenommen wer-den. Im Folgenden werden die verwendeten Technologien genauer betrachtet, da daran der aktuelleStand in der Hörgerätetechnik sehr gut darstellbar ist.

    2.2.1 Analoge Hörgeräte

    Analoge Hörgeräte machten seit Erfindung der Telefonie alle Entwicklungsstufen der Elektrotechnikmit. Es gab Geräte, deren Verstärker nach dem Prinzip der ersten Telefone arbeiteten. Die Röhren-technik, später dann die Halbleitertechnik mit diskreten Bauelementen und schließlich integrierteHalbleiterschaltungen bildeten die technologische Grundlage für die Entwicklung immer leitungsfähi-gerer Hörgeräte. Dennoch sind die Möglichkeiten der analogen Technologie ausgeschöpft. Um denständig wachsenden Anforderungen an die Signalverarbeitung gerecht zu werden, sind immer kom-plexere Schaltungen zur Realisierung notwendig. Stabilitätsprobleme und höheres Eigenrauschen durchthermische Einflüsse sind die Folge der aufwendigen analogen Verstärkerschaltungen. Den grundsätz-lichen Aufbau eines analogen Hörgerätes stellt Abb. 2.5 dar.

    Abbildung 2.5: Blockschaltbild eines analogen Hörgerätes [Vol95]

    Die Signalverarbeitung dieser Geräte erfolgt zeit- und wertkontinuierlich und ausschließlich im Zeitbe-reich. Das Hauptmerkmal analoger Hörgeräte sind die eingesetzten Steller (Trimmer). Sie dienen derParametereinstellung der Funktionselemente in der Verstärkerschaltung. Aus Platzgründen ist die An-zahl der Steller auf 2-6 (je nach Bauform) beschränkt. Die dadurch stark begrenzten Einstellmöglich-keiten führen letztendlich zu einem eingeschränkten Einsatzbereich des jeweiligen Gerätes. Um einegroße Bandbreite von Hörschädigungen optimal versorgen zu können, sind somit viele spezielle Geräteerforderlich. Hohe Bauteiltoleranzen sind verantwortlich für die geringe Reproduzierbarkeit der Geräte.Abweichungen im Übertragungsverhalten von Geräten einer Baureihe lassen sich also nicht vermeiden.Die Parameterisierung durch die mechanischen Steller erfolgt per Schraubendreher (Schraubendreher-geräte). Demnach ist auch hier eine Reproduzierbarkeit der genauen Einstellungen (zum Beispielnach einem Gerätewechsel) recht schwierig. Die vorangegangenen Betrachtungen in Kap. 2.1 zeigtendeutlich, wie zweckdienlich eine Aufspaltung des Signalflusses in einzelne Kanäle mit getrennter Sig-nalverarbeitung ist, und welche Grenzen dabei der analogen Technologie gesetzt sind. Der Einsatzvon Filterschaltungen höherer Ordnung, um die Kanaligkeit zu vergrößern, würde schaltungstechnischeinen enormen Aufwand bedeuten. Prinzipiell werden deshalb vier verschiedene Typen von analogen

  • KAPITEL 2. HÖRGERÄTETECHNIK 22

    Abbildung 2.6: Mehrkanalgerätetypen [Ulr02]

    Mehrkanalgeräten verwirklicht. Die sinnvolle Aufspaltung des Frequenzspektrums analoger Hörgeräteerfolgt durch einen Hoch- und einen Tiefpass in zwei Kanäle. Ein Kanal wird durch eine AGCi geregelt,der andere nicht (Abb. 2.6a). Die Regelung des Tieftonkanals bewirkt eine Verstärkungsminderung beihöheren Eingangspegeln in diesem Bereich. Tieffrequenter Störlärm kann so wirkungsvoll ausgeblendetwerden. Das Übertragungsverhalten im Störschall verbessert sich somit über den gesamten Frequenz-bereich (BILL). Regelt die AGCi den Hochtonkanal, werden hohe Pegel in diesem Frequenzbereichweniger verstärkt. Ein ausgeprägtes TILL-Verhalten kann so realisiert werden. Die zweite Möglichkeitist die Regelung beider Kanäle durch je eine AGCi (Abb. 2.6b). Tief- und Hochtonkanal können so pro-grammiert werden, dass ein Übertragungsverhalten nach BILL oder TILL möglich ist. Das Vorschalteneines HLC vor die geregelten Kanäle zeigt Abb. 2.6c. Regelschwelle und Kompressionsverhältnis desHLC sind hoch eingestellt. Wird auf ein Potentiometer vor dem Endverstärker verzichtet, dient dieKombination von HLC und AGCi als frequenzselektive Ausgangspegelbegrenzung. Beim Einsatz einesPotentiometers wird die sichere frequenzunabhängige Begrenzung des Ausgangsschalldruckes durcheine nachgeschaltene AGCo (oder PC) notwendig (Abb. 2.6d). Variationen dieser Grundtypen sindnatürlich vorstellbar und werden auch realisiert. Allerdings können die dadurch eventuell vielfachenEinstellmöglichkeiten durch analoge Hörgeräte nicht voll unterstützt werden [Ulr02].

    2.2.2 Digital programmierbare Hörgeräte

    Die nächste Generation der Hörgerätetechnik vereint die Vorteile der Analog- und der Digitaltech-nik. Digital programmierbare Hörgeräte verbessern die Anpassmöglichkeiten um ein Vielfaches. Siesind aber keine digitalen Hörgeräte. Sie nutzen die Vorteile digitaler Speicher zur Verwaltung derEinstellwerte. Somit kann eine umfangreichere Parameterisierung der Funktionselemente analogerVerstärkerschaltungen erfolgen. Abb. 2.7 zeigt schematisch den Aufbau eines digital programmier-baren Hörgerätes. Deutlich ist die Trennung der Aufgaben des Analog- und des Digitalteils zu er-kennen. Während die gesamte Signalverarbeitung mit allen Einschränkungen auf rein analogem Wegedurchgeführt wird, übernimmt der digitale Teil dieser Geräte ausschließlich Kontroller-Aufgaben. Die-se umfassen die Speicherung von Parametern und damit die Steuerung der Funktionselemente desanalogen Verstärkers. Besonders mehrkanalige Geräte lassen sich so sinnvoll parameterisieren.

  • KAPITEL 2. HÖRGERÄTETECHNIK 23

    Abbildung 2.7: Prinzipschaltbild eines digital programmierbaren Hörgerätes [Vol95]

    Abb. 2.8 zeigt mögliche Einstellparameter eines dreikanaligen Verstärkers. Es können die Grund-verstärkung (V1, V2, V3) im linearen Bereich, die Regelschwellenpegel (LRSi1, LRSi2, LRSi3) und dieTrennfrequenzen (f1, f2) eingestellt werden. Das sind acht Parameter, durch die das Übertragungsver-halten des Gerätes verändert wird. Ein analoges Hörgerät mit diesem Verstärker bräuchte also achtSteller, um eine ähnliche Variabilität zu erreichen. Damit sind digital programmierbare Hörgeräte vielflexibler einsetzbar.

    Abbildung 2.8: Möglichkeiten der Parameterisierung eines dreikanaligen Verstärkers [Roh98]

    Neben den Grundeinstellungen können zusätzliche Parametereinstellungen als sog. Zusatzprogrammeabgespeichert werden. Der Hörgerätebenutzer ist damit in der Lage, das Übertragungsverhalten sei-nes Hörgerätes unterschiedlichen akustischen Umgebungsverhältnissen durch Abruf der verschiedenenProgramme selbständig anzupassen. Das Umschalten kann beispielsweise über eine Fernbedienung er-folgen.Ein weiterer Vorteil digital programmierbarer Hörgeräte ist die hohe Reproduzierbarkeit aller Einstel-lungen. Während der Anpassung können Änderungen restlos rückgängig gemacht werden. OptimaleParameter für das beste Sprachverständnis lassen sich so schnell finden. Die Programmierung wirdonline über einen PC mit der entsprechenden Software (Fitting Modul) oder über spezielle Program-miergeräte durchgeführt, d.h. der Hörgeräteträger hat während der Anpassung das Hörgerät im Ohrund kann vorgenommene Einstellungen sofort beurteilen.

  • KAPITEL 2. HÖRGERÄTETECHNIK 24

    2.2.3 Digitale Hörgeräte

    Trotz der verbesserten Anpassmöglichkeiten digital programmierbarer Hörgeräte kann oft das erfor-derliche Übertragungsverhalten nur begrenzt eingestellt werden. Ein wichtiger Grund dafür sind Be-schränkungen gerade in der Kanaligkeit analoger Verstärker. Weitaus mehr Möglichkeiten bietet diedigitale Technologie. Im Unterschied zur analogen Signalverarbeitung werden hier die Signale zeit-und wertdiskret weiterverarbeitet, im Zeit- oder im Frequenzbereich. Digitale Hörgeräte haben in denletzten Jahren ein technisches Niveau erreicht, was sogar noch 1996 bei deren Markteinführung un-denkbar schien. Ohne Zweifel gibt es in wenigen Jahren ausschließlich digitale Hörgeräte. Die rasanteEntwicklung und Miniaturisierung digitaler IC’s ermöglichen immer komplexere Signalverarbeitungs-strategien, die sich der Komplexität des Gehörs anpassen und damit Hörverluste gezielter ausgleichenkönnen. Voraussetzung dafür sind Modelle, die die Funktionsweise der schallverarbeitenden Bereichedes Gehörs allgemeingültig beschreiben können. Mit den digitalen Hörgeräten sind erstmalig Geräteverfügbar, deren Verarbeitungskonzepte an keine technologischen Grenzen stoßen, denn die gesamteSignalverarbeitung kann auf Programmebene durchgeführt werden (offenes System). Die Komplexitätder Algorithmen (Verarbeitungsverfahren) ist dabei einzig von der Kreativität der Programmiererabhängig. Die Rechenleistung dieser Systeme ist nach dem heutigen Stand mit der eines Pentium-Prozessors vergleichbar und entwickelt sich genauso schnell wie diejenige der Heim-PC’s [Hol01]. DieStromversorgung dieser Prozessoren erfolgt durch eine 1,3V-Zelle, womit das Hörgerät mehrere Tagelang betrieben werden kann! Zur Verdeutlichung des funktionellen Aufbaues ist in Abb. 2.9 das typi-sche Blockschaltbild eines digitalen Hörgerätes dargestellt.

    Abbildung 2.9: Blockschaltbild eines digitalen Hörgerätes

    Dieses Blockschaltbild zeigt keine Elemente einer physischen Schaltung, sondern stellt vielmehr dieeinzelnen Funktionselemente in Form von programmierten Algorithmen dar (offenes System). Die di-gitale Signalverarbeitung lässt dabei die Entwicklung von Algorithmen zu, die weit über die Möglich-keiten der analogen Technik hinausgehen. D.h. es werden Signalverarbeitungsprozesse eingesetzt, diekeine analoge Entsprechung haben. Dazu zählen u.a. die aktive Störgeräuschreduktion und die a-daptive Rückkopplungsunterdrückung. Daneben werden immernoch Algorithmen eingesetzt, die imwesentlichen Kopien analoger Schaltungen sind, doch immerhin bieten diese eine sehr viel höhereFlexibilität der Einstellungen (z.B. bei der Dynamikkompression). Im Blockschaltbild sind Algorith-men dargestellt, die standartmäßig in einem Großteil der verschiedenen digitalen Hörgeräte eingesetztwerden. Die Vielfalt und die Komplexität der einzelnen Verarbeitungsprozesse ist natürlich beliebigerweiterbar. Neueste Geräte enthalten Algorithmen zur Signalklassifikation, die automatisch je nachvorhandener Hörsituation das Zu- und Abschalten verschiedener anderer Algorithmen übernehmen.D.h. diese Hörgeräte wählen nach einer Analyse der Hörumgebung das optimale Hörprogramm aus,ähnlich der Adaption der Verarbeitungsstrategie je nach Hörsituation durch das Gehör. Voraussetzungdieser komplexen digitalen Signalverarbeitungskonzepte ist die Kenntnis statistischer Signaleigenschaf-ten, die nach vorliegenden Modellvorstellungen auch vom Gehör zur Klassifikation genutzt werden.An diesem Beispiel wird deutlich, wie wichtig genaue Modelle von Schallverarbeitungsprozessen desGehörs sind. Die Psychoakustische Forschung nimmt also neben der Entwicklung neuer Algorithmeneinen sehr hohen Stellenwert ein [Hoh01].

  • KAPITEL 2. HÖRGERÄTETECHNIK 25

    Eine besondere Bedeutung bei digitalen Hörgeräten kommt den Filterprogrammen zu. Es werdentransversale digitale Filter (Finite Impuls Response (FIR)-Filter) oder rekursive digitale Filter (InfiniteImpuls Response (IIR)-Filter) zur Aufteilung des Signalflusses in einzelne Frequenzbänder eingesetzt.FIR-Filter haben ein stabiles Verhalten und können fast alle Impulsantworten erzeugen. Allerdingsverursachen sie jedoch erhebliche Zeitverzögerungen. Eine schnellere Signalverarbeitung erfolgt imGegensatz dazu durch IIR-Filter, aber deren Filterstruktur muss sehr sorgfältig bestimmt werden,da sie sich leicht instabil verhalten. In digitalen Geräten werden mehrere digitale Filter mit einemBandpassverhalten zu einer Filterbank zusammengesetzt. Theoretisch können ihre Flankensteilheitenso groß gewählt werden, dass sie die einzelnen Frequenzbereiche sauber voneinander trennen. Doch inder Praxis sind diese steilen Flanken eher von Nachteil, da sie lange Einschwingzeiten verursachen.Ausserdem tritt bei sehr steilen Filtern das Gibbssche Phänomen (Schwingungen) immer stärker auf,was zu Halleffekten führt, die sich sehr störend auf das Übertragungsverhalten auswirken. Weiterhinkönnen Fehler in Form von Verzerrungen auftreten, wenn in einer Filterbank Filter mit unterschied-lichen Einschwingzeiten eingesetzt werden [Ulr03][Bon03].Die Anzahl der Bänder, in die das Spektrum aufgeteilt wird, ist abhängig von der Verarbeitungsstrate-gie, die durch das Hörgerät realisiert wird. So werden Filterbänke eingesetzt, die einzig aus einem Hoch-und aus einem Tiefpass bestehen. Diese Geräte arbeiten dann mit einer ausgeprägten TILL- oder BILL-Charakteristik. Andere unterteilen den Signalfluss in zwanzig einzelne Kanäle, in denen eine indivi-duelle frequenzselektive Verstärkungs- und Dynamikanpassung erfolgen kann (PILL-Charakteristik).Digitale Hörgeräte sind demnach extrem flexibel einsetzbar. Um allerdings die Möglichkeiten dieserGeräte voll ausschöpfen zu können, müssen komplexere Anpassverfahren als zur Einstellung analo-ger Geräte verwendet werden (vgl. Kap. 5). Die individuelle Programmierung wird, wie bei digitalprogrammierbaren Hörgeräten, durch einen PC mit Hilfe spezieller Anpasssoftware (Fitting Modul)durchgeführt.

  • Kapitel 3

    Arbeitsweise von Hörgeräten

    Einleitung

    In diesem Kapitel soll die Arbeitsweise von Hörgeräten an einigen Beispielgeräten untersucht wer-den. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Signalverarbeitung in Abhängigkeit der verwendetenTechnologie. Besonders digitale Hörgeräte verwirklichen sehr unterschiedliche Verarbeitungskonzepte.Entsprechend den audiologischen Forderungen können sie so neben der Kompensation des Hörver-lustes, eine zusätzliche Aufbereitung akustischer Informationen erreichen. Dafür sind verschiedeneStrategien entwickelt worden, die auf unterschiedlichen Modellen basierend, die Signalverarbeitungdurchführen. Die Verwirklichung zweier Signalverarbeitungskonzepte soll beispielhaft an zwei digita-len Hörsystemen gezeigt werden.Als Vorbild für die Signalverarbeitung des Claro211dAZ der Firma Phonak dienen Wahrnehmungs-modelle der gesunden und der geschädigten menschlichen Chochlea. Die Verarbeitung der Eingangs-signale durch dieses Gerät erzeugt für den Hörgeschädigten ein wahrnehmungsgemäßes Äquivalentder Lautheitsempfindung. Einen anderen Ansatz verfolgt das Canta7-770D mit einer spektralen Kon-trastverschärfung, durch die dem Hörgeschädigten die Unterscheidung verschiedener Vokale und Kon-sonanten erleichtert wird, was letztendlich zur Verdeutlichung von Sprachmerkmalen führt und damitzu einer besseren Sprachverständlichkeit bei sensitiven Hörverlusten. Neben diesen verschiedenen Ver-arbeitungskonzepten sind in beiden Geräten Algorithmen zur Störschallreduzierung integriert, die eineErhöhung des SNR vom Eingangssignal bewirken, um das Verstehen von Sprache in gestörter Umge-bung zu verbessern.Im Vergleich dazu sind analog arbeitende Hörgeräte in ihrem Funktionsumfang relativ eingeschränkt.Dennoch bieten sie durch die Kombination ausgewählter Funktionselemente umfangreiche Möglichkei-ten zum Ausgleich von Schwerhörigkeiten. Als Beispielgeräte mit analoger Signalverarbeitung werdendas VIVA 704 VC von Siemens und das Swift100+ von Oticon herangezogen. Diese Geräte ähnelnsich in ihrer Funktionalität. Das Swift100+ bietet aber als digital programmierbares Hörgerät diekomfortablere Umgebung zur Parameterisierung.Sehr wichtig für den Einsatz der einzelnen Hörgeräte ist die Fähigkeit der Anpassung an die indivi-duellen audiologischen Vorgaben. Im Folgenden werden die Einstellmöglichkeiten der zur Verfügungstehenden Parameter und die daraus resultierenden Auswirkungen auf das Übertragungsverhalten desjeweiligen Beispielgerätes untersucht.Vorerst erfolgt jedoch im Abschnitt 3.1 eine Übersicht eingesetzter Schallwandler in der Hörgeräte-technik. Diese unterscheiden sich in Frequenzgang, Empfindlichkeit und Ausgangsschalldruck, dahersind sie maßgeblich für den Klang eines Hörgerätes mitverantwortlich. Ihr Einsatz erfolgt unabhängigder Technologie des verwendeten Verstärkers, je nach erforderlichem Übertragungsverhalten. Da ihreQualität das Übertragungsverhalten des Hörgerätes als Gesamtsystem entscheidend mitbestimmt, ha-ben sich für Mikrofone und Hörer bestimmte Wandlerprinzipien durchgesetzt.

  • KAPITEL 3. ARBEITSWEISE VON HÖRGERÄTEN 27

    3.1 Hörgeräteschallwandler

    3.1.1 Mikrofone

    In der Hörgerätetechnik haben sich Elektret-Kondensator-Mikrofone durchgesetzt. Dieses Wandler-prinzip ermöglicht je nach Einsatzfall einen weitgehend linearen Frequenzgang von 100Hz bis 15kHz.Es werden aber auch Mikrofone eingesetzt, die eine Resonanz bei etwa 4kHz aufweisen, um die offeneOhrresonanz, die beim Einsatz des Hörgerätes ins Ohr verlorengeht, auszugleichen [Vol95]. Ande-re Anwendungen erfordern Mikrofone mit Frequenzgängen, die im hochfrequenten Bereich deutlichempfindlicher sind als im tieffrequenten Bereich. Diese Hochtonmikrofon