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Leseprobe Habermas, Jürgen Ach Europa Kleine politische Schriften XI © Suhrkamp Verlag edition suhrkamp 2551 978-3-518-12551-9 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Habermas, Jürgen

Ach Europa

Kleine politische Schriften XI

© Suhrkamp Verlag

edition suhrkamp 2551

978-3-518-12551-9

Suhrkamp Verlag

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Ach Europa! 1987 konnte Hans Magnus Enzensberger seinen Reisebildernnoch ein optimistisches Ausrufezeichen mit auf den Weg geben, 20 Jahresp�ter ist es mit dem europapolitischen Optimismus vorbei. Ach, Europa,es bleibt allein der seufzende Ton. J�rgen Habermas entwickelt in einer Re-de, die er aus Anlass einer Diskussionmit Bundesaußenminister Frank-Wal-ter Steinmeier hielt, politische Alternativen f�r den Kontinent. Er pl�diertf�r eine Politik der abgestuften Integration und f�r eine »bipolare Gemein-samkeit« des »alten Europa« mit den USA.Neben Habermas’ j�ngsten europapolitischen Interventionen versammeltdieser Band der Kleinen Politischen Schriften philosophische Portraits lang-j�hriger Weggef�hrten wie Jacques Derrida und Richard Rorty sowie zweiTexte zum Fortschreiten des Strukturwandels der �ffentlichkeit: Das in derS�ddeutschen Zeitung erschienene Pl�doyer f�r die çffentliche Unterst�t-zung der Qualit�tspresse sowie die vielbeachtete Rede �ber die »epistemi-sche Dimension der modernen Demokratie« und das Internet.J�rgen Habermas ist Professor em. f�r Philosophie an der Johann WolfgangGoethe-Universit�t Frankfurt am Main. Zuletzt erschienen Zwischen Na-turalismus und Religion (2005) und Der gespaltene Westen (es 2383).

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J�rgen HabermasAch, Europa

Kleine Politische Schriften XI

Suhrkamp

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edition suhrkamp 2551Erste Auflage 2008

� Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasder �bersetzung, des çffentlichen Vortrags sowie der

�bertragung durch Rundfunk und Fernsehen,auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Umschlag gestaltet nach einem Konzeptvon Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

Printed in GermanyISBN 978-3-518-12551-9

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I. Portraits

1. Der Hermann Heller der fr�hen BundesrepublikWolfgang Abendroth zum 100. Geburtstag . . . . . . . 11

2. Richard Rorty und das Entz�cken am Schockder Deflationierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

3. ». . . and to define America, her athletic democracy«Im Andenken an Richard Rorty . . . . . . . . . . . . . 24

4. Wie die ethische Frage zu beantworten ist:Derrida und die Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

5. Derridas kl�rende Wirkung. Ein letzter Gruß . . . . . 636. Ronald Dworkin – Ein Solit�r im Kreise

der Rechtsgelehrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

II. Ach, Europa

7. Ein avantgardistischer Sp�rsinn f�r RelevanzenDie Rolle des Intellektuellen und die Sache Europas 77

8. Europa und seine Immigranten . . . . . . . . . . . . . . 889. Europapolitik in der Sackgasse. Pl�doyer f�r

eine Politik der abgestuften Integration . . . . . . . . . 96

III. Zur Vernunft der �ffentlichkeit

10. Medien, M�rkte und Konsumenten – Die seriçsePresse als R�ckgrat der politischen �ffentlichkeit . . 131

11. Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimen-sion? Empirische Forschung und normative Theorie 138

Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

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Vorwort

Von Enzensbergers Lobgesang auf die europ�ische Vielfalt –Ach Europa! – bleibt heute nur noch der seufzende Ton. EineDiskussionmit Außenminister Frank-Walter Steinmeier gab er-neut Anlass, �ber die Zukunft Europas nachzudenken und derSelbstt�uschung entgegenzutreten, als sei nach dem Gipfel vonLissabon der drohende R�ckfall der Europ�ischen Union in dienur zu bekannten Machtspiele der nationalen Regierungen ge-bannt. Diese haben bisher den Kurs der europ�ischen Einigungbestimmt, scheinen aber nunmit ihremLatein amEnde zu sein.Vielleicht sollten sie das weitere Schicksal Europas in die H�n-de ihrer Bevçlkerungen legen. Im �brigen pl�diere ich f�r eine»bipolare« Gemeinsamkeit des Westens.Das Hauptthema erg�nze ich auf der einen Seite um gelegent-lich entstandene »philosophisch-politische Profile«, auf deranderen Seite um zwei Texte zur Rolle der politischen �ffent-lichkeit. Insbesondere der letzte Beitrag liegt mir am Herzen.Darin geht es um den strukturierenden Einfluss, den eine nor-mative Theorie der �ffentlichkeit auf die Anlage empirischerForschungen haben kann.1 Fachzeitschriften tun sich mit die-sem Thema schwer, weil sich Sozialwissenschaften und Phi-losophie inzwischen weiter voneinander entfernt haben, als essich die V�ter der kritischen Theorie h�tten vorstellen kçnnen.

Starnberg, im November 2007 J�rgen Habermas

1 Dazu auch mein Kommentar in: Acta Politica 40/3, 2005, S.384-392.

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I.

Portraits

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1.

Der Hermann Heller der fr�hen BundesrepublikWolfgang Abendroth zum 100. Geburtstag1

Nach dem IG-Metall-Vorsitzenden der ehemalige Sch�ler undProfessor – das repr�sentiert, denke ich, auf angemesseneWeisedie beiden Pole, die Arbeiterbewegung und die Wissenschaft,umdie sichdiepolitischeLebensgeschichtevonWolfgangAbend-roth bewegt hat. Auch die Reihenfolge hat ihre Richtigkeit, nichtnur weil dem Veranstalter der Vortritt geb�hrt, sondern weilder Nachfolger von Otto Brenner f�r die Organisation steht,auf die Abendroth in der fr�hen Bundesrepublik große politi-sche Hoffnungen gesetzt und in die er viele Anstrengungen in-vestiert hat. In diesemMilieu hat er,wennwir anViktor Agartzund andere denken, Kampfgef�hrten gefunden; nat�rlich konn-te er sie hier auch viel eher finden als in einer Universit�t, diesich im Hinblick auf Personen und Mentalit�ten eine unge-brochene Kontinuit�t bewahrt hatte.In dieser Universit�t hat Abendroth zwar einen zwar ziemlicheinsamen, aber ironischerweise erfolgreicheren Kampf ausge-fochten als auf der politischen und gewerkschaftlichen B�hne.Davon zeugt bereits die Festschrift zuAbendroths 60.Geburts-tag, in der sich unter anderen Adorno, Bloch, Hans Mayer,Lucien Goldmann, Ossip Flechtheim und Helmut Ridder zuWort meldeten;2 den akademischen Erfolg machte erst rechtzehn Jahre sp�ter, beim 70. Geburtstag, der vielstimmige Chorder Sch�ler und Kollegen deutlich;3 und dieses Echo war 2001,mehr als anderthalb Jahrzehnte nach dem Tod, als das von

1 Vortrag anl�sslich einer Konferenz im Haus des IG-Metall-Vorstandes am6. Mai 2006.

2 Gesellschaft, Recht und Politik, herausgegeben von Heinz Maus u. a., Neu-wied: Luchterhand 1968.

3 Abendroth-Forum. Marburger Gespr�che aus Anlaß des 70. Geburtstages von

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Abendroth gegr�ndete Politikwissenschaftliche Seminar sein50-j�hriges Jubil�um feierte, nicht abgeklungen.4 Wiederum einhalbes Jahrzehnt sp�ter, aus Anlass der hundertsten Wieder-kehr des Geburtstages, fragt nun schon eine Generation vonEnkeln nach der Aktualit�t eines Denkens und Handelns, dasja seine Impulse wesentlich aus den Debatten und Konfliktender sp�tenWeimarer Republik, als Abendroth studierte und sichder KP-Opposition zuwandte, empfangen hat.Einige hier im Saal werden sich gut daran erinnern: Wenn sichWolfgang Abendroth am Telefon meldete, intonierte er seinenNamen wie ein Fanfarensignal als eine Art Weckruf – dasAbendrot verwandelte sich akustisch in eineMorgenrçte.Abend-roth kam mit seiner aufmunternden Stimme jedem Anruferohne Arg und Vorbehalt entgegen, setzte sich ihm, bevor ernochwissen konnte,wer es war, schutzlos aus.WolfgangAbend-roth gab der Welt einen Vertrauensvorschuss, den diese oft ent-t�uschte; deshalb war es lebenswichtig f�r ihn, dass er Lisaan seiner Seite hatte.Mir war es immer ein R�tsel, aus welchem Fundus ein so ver-letzbares Gem�t nach so viel Verfolgung, so viel Niederlagenund�ngsten, und anhaltendem Schmerz, immer wieder Lebens-mut regenerieren konnte – f�r sich und andere. Dabei sprecheich nicht einmal von den extremen Erfahrungen im politischenUntergrund, im Zuchthaus, im Strafbataillon, im griechischenWiderstandskampf und inbritischerKriegsgefangenschaft, nichtvon den niemals ganz vernarbtenWunden einer politischen Le-bensgeschichte, die wir Nachgeborene heute kostenlos als eineexemplarische Lebensgeschichte »feiern«. Ich spreche nur vonden ganz gewçhnlichen Beschwernissen des einzigen marxis-tischen Ordinarius in der fr�hen Bundesrepublik, der die R�-ckendeckung seiner Partei, der SPD, verloren hatte.

Wolfgang Abendroth, herausgegeben von Frank Deppe u. a., Marburg: VerlagArbeiterbewegung und Gesellschaftswissenschaft 1977.

4 Wolfgang Abendroth, Wissenschaftlicher Politiker, herausgegeben von Fried-rich-Martin Balzer. Opladen: Leske + Budrich 2001.

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Das war Ende der f�nfziger, Anfang der sechziger Jahre, alsich Wolfgang Abendroth kennenlernte. Sein ehemaliger Assis-tent, R�diger Altmann, hatte in einer Zeitung des RCDS so-eben mit Carl Schmitt’schen Waffen eine Breitseite gegen deneinstigen Lehrer abgeschossen. Ein Leitartikel in der Frank-furter Allgemeinen Zeitung schilderte gen�sslich die Farbe derroten Fahne, die schon in britischer Kriegsgefangenschaft �berdem Zelt des Marburger Professors geflattert haben sollte. DasEcho dieser Denunziationen erlebte ich nach dem Seminar,zum Essen bei Abendroths, wenn die kleine Elisabeth von demUnflat berichtete, dem sie morgens auf dem Schulhof, als Toch-ter ihres Vaters, in dieser stolzen Universit�tsstadt wieder ein-mal ausgesetzt wordenwar. Sp�ter von JoachimPerels nach denFolgen des Ausschlusses aus der SPD gefragt, antwortet Abend-roth im Hinblick auf seine eigene Person wie immer abwie-gelnd, um dann hinzuzuf�gen: »Untersch�tzt habe ich hinge-gen die Nachteile, die daraus f�r meine Frau und meine dreiKinder erwachsen w�rden.«Schon die bloße Existenz diesesMannes w�re als anti-antikom-munistischer Kontrast zum verschwiemelten Klima des Kal-ten Krieges Grund genug, um seiner zu gedenken. Auch wenner nur Vortr�ge zur Mentalit�tsgeschichte akademischer Mit-telschichten zwischen den beiden Weltkriegen gehalten h�tte –wie er es damals 1961, am Beispiel der Korporationen der Wei-marer Republik, vor der Studentenverbindung Clausthaler Win-golf zu Marburg getan hat –, auch dann w�re Abendroth, alsunbequemerZeuge gegen die eilfertigeAmnesie der fr�henBun-desrepublik, ein Gl�cksfall gewesen. Aber der Kreis, der heutezusammenkommt, ehrt in Wolfgang Abendroth einen großenIntellektuellen der Arbeiterbewegung, den Politikwissenschaft-ler und bahnbrechenden Juristen, dem wir den offensiven An-schluss an die bedeutenden Staatsrechtsdebatten der WeimarerZeit verdanken. Ich bin dem Autor Abendroth zum ersten Malin der Bergstr�ßer-Festschrift begegnet und bedauere seitdem,dass dieser Autor sich nicht entschlossen hat, eine Staatslehre

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zu schreiben.Aber f�rGenerationen junger Politikwissenschaft-ler und Juristen ist Abendroth schon durch diese eine, innova-tive, in ihren Folgen gar nicht zu untersch�tzendeAuseinander-setzung mit Ernst Forsthoff zum Hermann Heller der fr�henBundesrepublik geworden. Als Wissenschaftler war WolfgangAbendroth immer zuerst Jurist; als Kritiker des Stalinismushat er niemals vergessen, dass der Kampf der Demokraten im-mer auch ein Kampf ums Recht, um die Durchsetzung einesnormativ richtigen Rechts sein muss.Abendroth hat 1953 die Grundgesetzbestimmung vom demo-kratischen und sozialen Rechtsstaat so �berzeugend interpre-tiert, dass der Sozialstaat heute als Legitimationsbedingungdes demokratischen Rechtsstaates anerkannt ist. Er hatte damitdie Perspektive verbunden, die Republik des Grundgesetzes,innerhalb dieses verfassungsrechtlichen Rahmens, zu einer so-zialistischen Demokratie auszugestalten. Diese Perspektive istheute mindestens aus zwei Gr�nden obsolet geworden. DieKonkurrenz der Gesellschaftssysteme ist inzwischen zuguns-ten eines globalen Kapitalismus entschieden, dessen inklusiveNetzwerke keinen Ausgang mehr offenlassen. Und eine poli-tische wie rechtliche Z�hmung des Kapitalismus von innen,die nach wie vor, und dringlicher denn je, auf der Agenda steht,ist innerhalb des nationalen Rahmens nicht mehrmçglich, nach-dem die kapitalistische Wirtschaft nicht l�nger in ein interna-tionales System eingebettet ist, sondern umgekehrt die Natio-nalstaaten ihren Imperativen unterworfen hat.

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2.

Richard Rorty und das Entz�cken am Schockder Deflationierung5

Es �berrascht nicht, dass eine Jury, die einem neuen Preis Auf-merksamkeit und Anerkennung verschaffen mçchte, als ers-ten Preistr�ger einen Autor mit Weltgeltung w�hlt – und aufdie selbstdefinierende Bedeutung dieser Entscheidung vertraut.Auf den ersten Blick hat freilich die Zusammenf�hrung desamerikanischen Pragmatisten mit einem als deutschem Mysti-ker gefeierten Theologen einen leicht surrealen�berraschungs-effekt.Gewiss lassen sich auch Parallelen finden. Rorty schreibt einliterarisches Englisch.Als brillanter Schriftsteller geht erm�he-los von einer Textsorte zur anderen �ber. Die Prosa der wissen-schaftlichen Abhandlung und der philosophischen Monogra-phie zehrt auch von der gl�nzenden Rhetorik des Redners unddem pr�gnanten Stil des Essayisten. Dieses Talent erinnert andie sprachschçpferische Kraft des gelehrten Dominikaners, dersich in seinen Tischlesungen, Predigten und Unterweisungendes Lateinischen entledigt und ein spirituelles Vokabular in dieVolkssprache einf�hrt – ins »barbarische«Deutsch, das derWeltderTheologen damals nochweithin als »die Sprache desTeufels«galt. �brigens kannman, ganz ohne pejorativenUnterton, auchvon Rorty sagen, dass er das Predigen nicht scheut. Fremd istihm diemissionarischeGabe der inspirierten, dieHçrer begeis-ternden Rede nicht. Im Publikum sind �brigens Frauen bevor-zugte Adressaten – dort die Beginen, hier die Feministinnen.Eine weitere Parallele ist der Makel der H�resie. Im sp�tenzwanzigsten Jahrhundert verf�gt zwar die philosophische Pro-

5 Laudatio aus Anlass der Verleihung des Meister Eckhart-Preises an RichardRorty am 3. Dezember 2001.

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fession nicht mehr – wie seinerzeit der Erzbischof von Kçlnund der Papst in Avignon – �ber die Autorit�t, achtundzwan-zig abweichende Glaubenswahrheiten zu inkriminieren. Aberdie Exkommunikation, die der harte Kern der Analytiker anihrem abtr�nnigen, wenngleich international anerkannten undeinflussreichen frater doctus vollzieht, folgt einem nicht min-der schmerzlichen Ritual. Vor diesem Hintergrund rechtfer-tigt schon der ironischeUmstand, dassRorty heute die Stellungeines Professors f�r vergleichende Literaturwissenschaften ein-nimmt, eine Auszeichnung des Philosophen im Namen vonMeister Eckhart.Die nun auch amtlich angesonnene Besch�ftigung mit Litera-tur betrachtet Rorty freilich nicht – wie andere Kollegen ausden philosophischen Fachbereichen der Elite-Universit�ten –als Umweg oder gar als Abweg. Die Frage, wen Philosophenmehr beneiden, Naturwissenschaftler oder Dichter, dient ihmsogar als Lackmustest. Er selber kann sich nicht vorstellen, einenMathematiker oder Physiker zu beneiden, aber er ist sich nichtsicher, ob Quine sich h�tte vorstellen kçnnen, Blake oder Rilkezu beneiden. Die Liebe zu Blake oder Nietzsche verr�t im Fallevon Rorty den unverbesserlichen Romantiker, der der Genie-�sthetik einen beinahe schw�rmerischen, ins Anthropologischeerweiterten Begriff von Poiesis als Sinnschçpfung, von neue-rungss�chtiger Produktivit�t und sich selbst entwerfender Sub-jektivit�t abgewonnen hat.Aber dieser produktions�sthetische Begriff der schçpferisch-selbstschçpferischen Subjektivit�t bildet keine Br�cke zum»Seelenfunken« des Meister Eckhart. Bei genaueremHinsehenverbindet den Nominalisten und Naturalisten, der dem diskur-siven Ideal vermittelnder Erkenntnis anh�ngt, nicht viel mitder platonisch-neuplatonischen Seelenspekulation, die nur einZiel kennt – »Gott zu schauen unmittelbar in seinem eigenenSein«. Eckharts Worte, die diesen wortlosen Akt augenschlie-ßender Kontemplation umkreisen, sind im �brigen so vieldeu-tig, dass sie denAutor derDeutschen Predigten vor einer fatalen

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Wirkungsgeschichte nicht bewahrt haben. Rorty, dem unmiss-verst�ndlich Linksliberalen, wird dieses Schicksal ideologischerAusdeutung und Ausbeutung erspart bleiben.Was den Inhalt beiderWerke betrifft, kçnnte allenfalls Eckhartsber�hmte Interpretation von Lukas 10, 38 ff. eine gewisse Ver-wandtschaft mit Rortys Vorliebe f�r eine pragmatistische Be-wertung von Theorien imLichte ihrer handlungsrelevanten Fol-gen begr�nden. Denn entgegen dembiblischenWortlaut erhebtEckhartMartha, die t�tige Hausfrau, die sich f�r ihre G�ste ab-rackert, �ber ihre Schwester Maria, die dem Herrn reglos zuF�ßen sitzt, um dessenWorten zu lauschen. Die an Hegel erin-nernde Kritik der »schçnen Seele«, die, wie Eckhart vonMariasagt, »imWohlgef�hl und in der S�ße stecken« bleibt, verweistjedoch auf die »Verrichtung der Werke« nur als den richtigenWeg, der zur intuitiven Vereinigung der Seelemit Gott hinf�hrt:die intendierte Verschmelzung ist am Ende »frei und ledig allesVermittelnden«. Ein pragmatistischer Gehalt ist dieser Inter-pretation nicht abzugewinnen. An Rorty erinnert allein derAkt der k�hnen und schockierenden Umkehrung einer kano-nisierten Rangordnung.Rorty folgt Nietzsche in der �hnlich radikalenUmwertung pla-tonischer Unterscheidungen. Er mçchte die architektonischtragendenOppositionsbegriffe »Wesen« und »Erscheinung« so-wie »wahr« und »unwahr« aus demVerkehr ziehenund dasGe-b�ude einer platonistisch von sich entfremdeten Kultur zumEinsturz bringen. Rorty teilt Wittgensteins Auffassung, dassdas falsche, in sich verhakte Leben auf falsche, verstellende Be-griffe zur�ckgeht. Nur diese metaphysische Pr�misse erkl�rtdie kulturkritische Emphase des Vorhabens einer metaphysik-kritischen Umerziehung der Zeitgenossen. Die erkl�rte antime-taphysische Absicht verschleiert den zugrunde liegendenmeta-physischen Antrieb.Rorty hat den Wunsch, der Philosophie jene lebenspraktischeBedeutung zur�ckzugeben, die sie einmal beansprucht hat. Siesoll, indem sie dem einzelnen Orientierung anbietet und den

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moralischen Fortschritt der Menschheit befçrdert, den ZustandderWelt verbessern helfen. Alles andere als kleinm�tig entwirftRorty seine liberale Utopie: »das Bild von einem Planeten, aufdem alle Angehçrigen unserer Gattung Sorge tragen f�r dasGeschick aller �brigen Angehçrigen«. Freilich soll die Philoso-phie dieses Ziel nur verwirklichen kçnnen, indem sie sich alsPhilosophie aufhebt – diesmal nicht durch die revolution�reUmw�lzung der Verh�ltnisse, sondern durch eine mit und ander Philosophie vollzogene Umw�lzung.Die revolution�re Forderung richtet sich dieses Mal gegen diePhilosophie selber, gegen das vermeintlich desastrçse Selbst-verst�ndnis der Philosophen, mit dem sie ihrer eigentlichenMission imWege stehen. Das verhaltene Pathos gilt der Dekon-struktion des in der Zunft Anerkannten. Rorty l�sst aus hoch-trabendenAllgemeinbegriffen, die �ber das versehrbare Einzel-ne achtlos hinweggehen, gleichsam die Luft heraus.Die brillanteZuspitzungder nominalistischen Provokation verr�t das schrift-stellerisch kalkulierte Entz�cken am Schock der Deflationie-rung. In der �sthetik der Darstellungsform, nicht im Politi-schen, �berl�sst sich Rorty seiner anarchistischen Neigung.Wir sollen die Suche nach absoluten Wahrheiten aufgeben undnicht l�nger danach streben, dasWesen oder die Natur der Din-ge zu ergr�nden. Wir sollen Wahrheitssuche und Erkenntnis-streben durch eine rhetorische Praxis ersetzen, die weniger an�berschießenden Ideen als an den handgreiflichen Folgen vonGedanken orientiert ist. Sind erst einmal die Nutzlosigkeitder ontologischen Unterscheidung zwischen Wesen und Er-scheinung, die Sinnlosigkeit der epistemologischenUnterschei-dung zwischen Sein und Schein, die �berfl�ssigkeit der seman-tischenUnterscheidung zwischenwahr und falsch durchschaut,kann sich die philosophische Arbeit an praktischen Zielen wie»Leistungssteigerung« und »Toleranz« ausrichten.Der wissenschaftliche Fortschritt bemisst sich n�mlich alleinan den prognostischen Erfolgen von Theorien, die �ber tech-nische Neuerungen in eine Verbesserung der Lebensbedingun-

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genumgesetzt werden kçnnen.Der soziomoralische Fortschritt�ußert sich an der immer weitergehenden Einbeziehung vonMarginalisierten und Fremden in jene Art von Loyalit�t, diewir gegen�ber unseren N�chsten empfinden. Er manifestiertsich in der wachsenden Sensibilit�t gegen�ber dem Leiden an-derer und in der Eliminierung von Grausamkeit. Das klingtpopul�r und ist es auch. Aber hinter der Fassade des Volksp�d-agogen verbirgt sich eine differenzierte Theorie, die ein breiten-wirksames Buch wie Kontingenz, Ironie und Solidarit�t (1989)erst mit soliden Gr�nden ausstattet.In Gegensatz zu irrlichternden Philosophy-Entertainern, diesich mit funkelnden Formulierungen beim anspruchsvoll zer-streuten Medienpublikum Ansehen erwerben, arbeitet Rortyprofessionell. Er ist ein eminent scharfsinniger, hoch produkti-ver, hartn�ckig analysierender, neugieriger und kontinuierlichlernender Philosoph auf der Hçhe seiner Profession. Gewisssieht er die Debatten des Faches eingebettet in den Zusammen-hang eines grçßeren kulturellen Wandels. Aber nur weil er andenDebatten der Zunft, oft genug als innovativ treibende Kraft,teilnimmt, f�hlt er sich in seinen exoterischen Auftritten be-rechtigt, aus den vielen detailbesessenenArgumentationen groß-r�umige Schl�sse zu ziehen. Bei allemHohn, den er gelegentlich�ber die Profession aussch�ttet, h�lt er sich an deren Standards,solange er die eigenen Gedanken entwickelt und erprobt: »WirPhilosophieprofessoren kçnnen in einem fort kleinteilige Ar-gumente f�r oder gegen die Korrespondenztheorie der Wahr-heit, f�r oder gegen die Objektivit�t von Werten aufbieten. Wirgingen unserem Beruf nicht nach, wenn wir nicht st�ndig sol-che Argumente hin und her wendeten.«In seinem bahnbrechenden Werk Philosophy and the Mirror ofNature hat Rorty jene mentalistischen Grundannahmen de-montiert, die die Hauptstrçmungen der cognitive science undder zeitgençssischen Semantik immer noch mit der klassischenErkenntnistheorie des 17. und 18. Jahrhunderts verbinden. Seit-dem ziehen sich die Themen Wahrheit und Objektivit�t durch

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die unerm�dlich fortgesponnenen Argumentationsf�den, dieRorty seit Jahrzehnten nicht nur mit Donald Davidson undHilary Putnam, John Searle und Charles Taylor, Hans-GeorgGadamer und JacquesDerridaverbinden. Jugendlich frisch kom-mentiert er jede halbwegs aufregende Neuerscheinung. Undjede Kritik an seinen Thesenw�rdigt er mit einer peniblen Ver-teidigung. Letztlich will er mit einem einzigen Problem fertigwerden – oder besser: mit den Folgeproblemen des Vorschla-ges, den er zur Lçsung dieses Problems entwickelt hat.Das Problem selbst ist schnell skizziert. Einerseits erheben wirmit Behauptungen einen absoluten Anspruch auf die Wahrheitdes Gesagten. Wenn wir etwas f�r wahr halten, meinen wirnicht, dass es nur hier und jetzt gilt, nur »f�r uns« wahr ist. So-fern Aussagen �berhaupt wahr sind, sind sie es unter allen Um-st�nden und f�r jedermann. Daher sagen wir, dass »Wahrheit«eine »unverlierbare« Eigenschaft von Aussagen ist. Anderer-seits verwenden wir das Pr�dikat »wahr« nur im Zusammen-hang der Gr�nde, mit denen Opponenten oder Proponentendie Wahrheit einer Behauptung angreifen oder rechtfertigen.Wahrheitsanspr�che sind von Haus aus auf Kritik und Recht-fertigung bezogen.Diese epistemische Abh�ngigkeit derWahr-heitsfeststellung von einer Rechtfertigungspraxis, die immerauch fehlschlagen kann, hat aber eine fatale Konsequenz f�rden Anspruch auf absolute Geltung. Anders als »Wahrheit« ist»Begr�nden« ein publikumsbezogener und hçrerrelativer Er-folgsbegriff: »Auch unter der Voraussetzung, dass ›wahr‹ einabsoluter Begriff ist, werden die Anwendungsbedingungen im-mer relativ bleiben. Denn so etwas wie eine �berzeugung, dieschlechthin gerechtfertigt oder ein f�r alle Mal begr�ndet w�re,gibt es nicht . . .«Auf dieses Problem kçnnenwir nat�rlich in verschiedener Wei-se reagieren. Rorty, und das ist der Stein des Anstoßes, emp-fiehlt, dass wir uns um den Wahrheitsbegriffs nicht weiterk�mmern sollen. Er mçchte ihn durch den Begriff der gerecht-fertigten Behauptbarkeit ersetzen, weil der ohnehin die ganze

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