21
Suhrkamp Verlag Leseprobe Beckert, Jens Imaginierte Zukunft Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus Aus dem Englischen von Stephan Gebauer © Suhrkamp Verlag 978-3-518-58717-1

Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

Suhrkamp VerlagLeseprobe

Beckert, JensImaginierte Zukunft

Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des KapitalismusAus dem Englischen von Stephan Gebauer

© Suhrkamp Verlag978-3-518-58717-1

Page 2: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

SV

Page 3: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch
Page 4: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

Jens BeckertImaginierte Zukunft

Fiktionale Erwartungen und die Dynamik desKapitalismus

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Suhrkamp

Page 5: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

Titel der Originalausgabe:Imagined Futures. Fictional Expectations and Capitalist Dynamics

First Edition was originally published in English in by HarvardUniversity Press.

Erstmals erschienen bei Harvard University Press.

Copyright © by the President and Fellows of Harvard College

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage © dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortragssowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch

einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie,Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriliche Genehmigungdes Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer

Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,Waldbüttelbrunn

Druck: Pustet, RegensburgPrinted in Germany

ISBN ----

Page 6: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

Für Annelies und Jasper– die so viel Glück in mein Leben gebracht haben.

Page 7: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch
Page 8: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I Entscheidungen in einer ungewissen Welt Die temporale Ordnung des Kapitalismus . . . . . . . . Erwartungen und Ungewissheit . . . . . . . . . . . . . . . Fiktionale Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II Bausteine des Kapitalismus Geld und Kredit: Das Versprechen zukünigen Werts Investitionen: Imaginierte Gewinne . . . . . . . . . . . . Innovation: Imaginationen der technologischen

Zukun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsum: Wert durch Bedeutung . . . . . . . . . . . . . .

III Instrumente der Imagination Prognosen: Die Erschaffung der Gegenwart . . . . . . .

Wirtschastheorien: Kristallkugeln für dieBerechnung der Zukun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Schluss: Die verzauberte Welt des Kapitalismus . . . .

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Page 9: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch
Page 10: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

Vieles von dem, was wir erleben, hängt weniger von dentatsächlichen Umständen des Augenblicks als von den

vorweggenommenen zukünigen Ereignissen ab.

William Stanley Jevons, e eory of Political Economy

Page 11: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch
Page 12: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

1Einleitung

Die längste Zeit in der Geschichte der Menschheit änderte sichwenig am wirtschalichenWohlstand. Erst in der industriellenRevolution begann dieser dramatisch zu steigen. Die rasantwachsende wirtschaliche Produktion brachte uns beispiello-sen Reichtum (siehe Abb. .). Diese Entwicklung war anfangsauf wenige europäische Länder und Nordamerika beschränkt,aber im Lauf des . Jahrhunderts erfasste sie fast sämtlicheWeltregionen. Heute ist die wirtschaliche und gesellscha-liche Entwicklung fast der gesamten Welt von der kapitalisti-schen Dynamik bestimmt, in der Form vonWachstum als auchsich periodisch wiederholenden Krisen. Wie ist die außerge-wöhnliche Dynamik der kapitalistischen Wirtscha zu erklä-ren?

Die Forscher des Kapitalismus führen den rasanten Wohl-standszuwachs seit demEnde des . Jahrhunderts auf eineViel-zahl von Faktoren zurück, darunter technologischer Fortschritt,institutioneller Wandel, Arbeitsteilung, Ausweitung des Han-dels, Kommodifizierung,Wettbewerb, Ausbeutung,Wachstumder Produktionsfaktoren und kulturelle Entwicklungen.1 Dietiefen Krisen, in die der Kapitalismus wieder und wieder stürzt,werden auf Überakkumulation,Versagen der Regulierung, man-gelnde Investitionen und schwachen Konsum, psychologischeFaktoren sowie Fehleinschätzungen von Risiken zurückge-führt.2

So umfassend diese Erklärungen sind, lassen sie doch einenweiteren, nicht weniger wichtigen Aspekt der kapitalistischenDynamik weitgehend außer Acht: ihre temporale Struktur.Ver-änderungen der zeitlichen Orientierung der Akteure und die

11

Page 13: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

Erweiterung des Zeithorizonts in eine unbekannte wirtscha-liche Zukun sind wesentliche Bestandteile der Entstehungder kapitalistischen Ordnung und ihrer Dynamik. Das giltfür wirtschaliche Expansions- und Krisenphasen gleicherma-ßen.DerKapitalismus ist ein System, in demdieAkteure – seiensie Unternehmer, Investoren, Arbeitskräe oder Konsumen-ten – ihre Aktivitäten auf eine Zukun ausrichten, die sie alsoffen und ungewiss wahrnehmen, auf eine Zukun, die sowohlunvorhersehbare Chancen als auch unkalkulierbare Risikenbirgt.

Das Wachstum von Wettbewerbsmärkten und die Auswei-tung der Geldwirtscha haben diese temporale Ausrichtungauf eine offene Zukun in das institutionelle Gewebe vonWirt-scha und Gesellscha eingeflochten. Aber sie ist auch in dereinzigartigen Fähigkeit des Menschen verankert, sich eine zu-

0

1000

2000

3000

4000

5000

6000

0 200 400 600 800 1000 1200 1400 1600 1800 2000

Dollar

Jahr

Abb. .:Wachstum des globalen Pro-Kopf-BIP. Datenquelle: Mad-dison (: S. , Schaubild B-).

12

Page 14: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

künige Welt vorzustellen, die anders sein wird als die gegen-wärtige. In dem Bemühen, Gewinne zu erzielen, ihr Einkommenzu erhöhen oder ihren sozialen Status zu verbessern, erzeugenAkteure Imaginationen einer wirtschalichen Zukun und rich-ten ihre Entscheidungen danach aus, ob sie diese Zukun ver-wirklichen oder vermeiden wollen. Wir müssen die zeitlicheDisposition der wirtschalichen Akteure in Bezug auf die Zu-kun und die Fähigkeit, diese Zukun mit kontrafaktischenwirtschalichen Imaginationen zu füllen, unbedingt berücksich-tigen,wennwir verstehenwollen,wie sich der Kapitalismus vonvorhergehenden Wirtschasordnungen unterscheidet und wieseine Dynamik möglich wird. In diesem Buch untersuche ichdie Bedeutung imaginierter Zuküne für die Dynamik des Ka-pitalismus.

Die Zukun zählt

Indem wir Bildern der Zukun eine tragende Rolle in unseremVerständnis des Kapitalismus zuweisen, weichen wir von denAnsichten ab, die die meisten zeitgenössischen Soziologen undPolitikwissenschaler der Analyse wirtschalicher Abläufe zu-grunde legen. In den letzten dreißig Jahren ist der Grundsatz»Die Geschichte zählt« zum Schlachtruf des historischen Insti-tutionalismusundTeilender Soziologie geworden.ZurErklärunggegenwärtiger Resultate untersuchen die historischen Institu-tionalisten langfristige strukturelle Pfade, die Entwicklungsli-nien formen und gegenwärtige Entscheidungen prägen (Maho-ney ). Die institutionellen Pfade unterscheiden sich vonLand zu Land, doch es ist nicht leicht, einen einmal eingeschla-genen Pfad zu verlassen: Im Allgemeinen ändern nur externeSchocks seinen Verlauf. Die soziologischen Institutionalistenbetonen zwar die Bedeutung vonKognition, richten ihren Blickjedoch ebenfalls in die Vergangenheit, indem sie den gesellscha-lichen Wandel als Prozess der isomorphen Anpassung an exis-

13

Page 15: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

tierende institutionelle Modelle betrachten (DiMaggio und Po-well ).3 Politikwissenschaler und Soziologen sind sich dar-in einig, dass die gegenwärtigen Ereignisse von den vergange-nen Geschehnissen geprägt sind.

Aber nicht alle sozialwissenschalichen Disziplinen stimmender Einschätzung zu, die Gegenwart werde imWesentlichen vonder Vergangenheit bestimmt. In seiner Auseinandersetzung mitdem Konzept der Temporalität in der Soziologie hat AndrewAbbott darauf hingewiesen, dass Soziologen und Ökonomengegensätzliche Strategien verfolgen, um gegenwärtige Ereignis-se zu erklären. »Während die Soziologen die gegenwärtigenEreignisse als Ergebnis vergangener Geschehnisse betrachten,schließen die Ökonomen von der Zukun rückwärts auf dieGegenwart: Die Entscheidungen werden anhand des gegen-wärtigen Werts der erwarteten zukünigen Belohnungen er-klärt.« (Abott : ) Arjun Appadurai (: ) sieht esähnlich: »Die Ökonomie hat sich als wichtigstes sozialwissen-schaliches Feld etabliert, in dem modelliert und vorausgesagtwird, wie Menschen ihre Zukun konstruieren.«Während diewirtschaswissenschaliche Forschung demnach die Zukunin ihren Erklärungsmodellen berücksichtigt (siehe Kapitel ),ist dies in den soziologischen und politikwissenschalichen Ana-lysen des wirtschalichen Handelns nicht der Fall. Ich argumen-tiere in diesemBuch, dass die Fähigkeit zur Imagination zuküni-ger Zustände in der Soziologie und der politischen Ökonomieeine sehr viel größere Rolle spielen sollte, insbesondere fürdie Untersuchung der kapitalistischen Wirtschasordnung.

Selbstverständlich existiert die Fähigkeit des Menschen, sicheine Vorstellung von einer möglichen Zukun zu machen, un-abhängig vom Kapitalismus. Imaginationen zuküniger Zu-stände sind unerlässlich, um die Entwicklung der Moderne imAllgemeinen zu verstehen, und sie existieren (wenn auch in un-terschiedlicher Form) auch in traditionellen Gesellschaen.Beispielsweise entwir die religiöse Eschatologie Zukunsvor-stellungen, die von der wirtschalichen Entwicklung unabhän-

14

Page 16: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

gig sind. Desgleichen ist die Ausrichtung der kapitalistischenWirtscha auf eine offene wirtschaliche Zukun nicht aufdie Ebene der Handlungsorientierung beschränkt: Die kapita-listische Wirtscha institutionalisiert bestimmte Formen dessystemischen Drucks, die eine temporale Ausrichtung auf wirt-schaliche Chancen und Risiken in der Zukun erzwingt. Umden Einfluss der temporalen Ausrichtung der Akteure auf diewirtschalichen Abläufe wirklich verstehen zu können, müs-sen wir diesen institutionalisierten Druck genau untersuchen.

Im Kapitalismus erzwingen insbesondere zwei institutionel-le Mechanismen eine Ausrichtung der Akteure auf die Zukun:Wettbewerb und Kredit. Der mit der Ausbreitung des Wettbe-werbs auf dem Markt einhergehende unablässige Wandel derUmwelt zwingt die Akteure,wachsam zu bleiben und auf Bedro-hungen anderer Akteure zu reagieren, die von den gängigen Prak-tiken abweichen. Sie müssen nach neuen Chancen Ausschauhalten und andereWege suchen, um sich gegen die wahrgenom-menen Bedrohungen zu wehren. Sie müssen sich unentwegtweiterentwickeln, um nicht zurückzufallen. Der Wettbewerbzwingt die Unternehmen, ihre Produktion effizienter zu gestal-ten und unablässig neue Produkte auf den Markt zu bringen.Wenn ein Unternehmen seine Produktivität erhöht und neueProdukte anbietet, zwingt es seine Konkurrenten, ebenfalls In-novationen voranzutreiben, ihre Produktionsmethoden effizien-ter zu gestalten und noch bessere Produkte zu entwickeln. DerWettbewerbsdruck ist auch auf die Beschäigten übertragenworden, deren berufliche Aussichten und sozialer Status von ih-rem Erfolg auf dem Arbeitsmarkt abhängen. Der Wettbewerbzwingt sie, neue Erfordernisse auf dem Arbeitsmarkt zu erken-nen sowie markttaugliche Fähigkeiten zu erwerben und zuerhalten (Kapitel ). Der Druck wird ebenfalls auf die Konsu-menten ausgeweitet, die ihren sozialen Status durch den Erwerbimmer neuer Konsumgüter bekräigen (Kapitel ).

Die »expansive Dynamik des Kapitalismus« (Sewell )wird darüber hinaus durch die Kreditfinanzierung der Investi-

15

Page 17: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

tionen institutionalisiert. Kredit verschawirtschalichen Ak-teuren den Zugang zu Ressourcen, auf die sie keinen »normalenAnspruch« haben (Schumpeter [] : ). Begründetwird der Anspruch nur durch den zukünigen Erfolg. Der Kre-dit ist eine tragende Säule des kapitalistischen Wachstums, denner gibt den Unternehmen die Möglichkeit, ansonsten unmögli-chen wirtschalichen Aktivitäten nachzugehen, indem sie inder Gegenwart Geld einsetzen, das sie erst noch verdienenmüs-sen. Gleichzeitig zwingen die Zinsen, die für die Kredite zu zahlensind, die Unternehmen, Produkte zu erzeugen, deren Markt-wert die Kosten der zu ihrer Erzeugung erforderlichen Investi-tionen übersteigt. Den »Anspruch« auf Kapital muss man durcheine Vergrößerung des wirtschalichen Werts erwerben. Aufdiese Art eröffnet der Kredit Wachstumschancen und erzwingtzugleich dasWachstum.Unternehmen, die nicht imstande sind,ausreichende Überschüsse zu erwirtschaen, verlieren den Zu-gang zu Kreditkapital und werden schließlich aus ihremMarktgedrängt.

Der wirtschaliche und gesellschaliche Wettbewerb sowiedas Finanzsystem eröffnen Chancen und erfordern gleichzeitigdynamische Veränderungen. Die Akteure sind gezwungen, denChancen nachzugehen, die sie in der imaginierten Zukun se-hen. Diese »Rastlosigkeit« (Sewell ) sorgt für ein »dynami-schesUngleichgewicht« indenkapitalistischenVolkswirtschaen(Beckert ), welches durch die dezentralisierten Entschei-dungen derMarktteilnehmer, die innerhalb der institutionellenGrenzen von Wettbewerbsmärkten und Geldwirtscha han-deln, in Bewegung gehalten wird. Die kapitalistischen Volks-wirtschaen destabilisieren und stabilisieren sich selbst, indemsie ihre historisch gewachsene Struktur ständig aushöhlen: DieUnternehmen suchen unermüdlich nach neuenMöglichkeiten,Gewinne zu erzielen, ihre Beschäigten versuchen, auf der Kar-riereleiter nach oben zu klettern, die Verbraucher streben nachneuen Konsumerfahrungen.Um in einer Umgebung zu überle-ben und Erfolg zu haben, deren gegenwärtige Gestalt nicht lan-

16

Page 18: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

ge Bestand haben wird, müssen Unternehmen, Arbeitnehme-rinnen und Konsumenten ihren Blick unablässig in eine unge-wisse Zukun richten.

Obwohl die Ausrichtung auf die Zukun ein grundlegenderBestandteil des Kapitalismus ist, spielt sie in der Erforschungdes Kapitalismus keine zentrale Rolle. Sie wird in der populärenKultur sehr viel häufiger aufgegriffen als in den Sozialwissen-schaen. Der »amerikanische Traum« ist die vielleicht bedeut-samste kulturelle Ausprägung von Zukunsimaginationen, diesich auf die wirtschaliche Einstellung und Motivation auswir-ken. Der Traum von auf Chancengleichheit beruhender sozia-ler Aufwärtsmobilität ist ein zentraler Motivator und ein Integ-rationsfaktor in der amerikanischen Gesellscha. Aber trotzder offenkundigen Bedeutung solcher Zukunsbilder sind nurwenige Soziologen zu dem Schluss gelangt, dass diese Imagina-tionen ein zentraler Bestandteil der kapitalistischen Dynamiksind. Zwei wichtige Ausnahmen sind Max Webers Untersu-chungen der protestantischen Ethik ([] ) und PierreBourdieus Analysen (, ), insbesondere seine Darstel-lung des gesellschalichen und wirtschalichenWandels in Al-gerienMitte des . Jahrhunderts (siehe Kapitel ). Gelehrte ausanderen Fächern haben sich mit der Rolle von Zukunsbildernim Allgemeinen und der Rolle der Imaginationen im Besonde-ren befasst. In der Wirtschaswissenscha hat George Shackle() der wirtschalichen Funktion der Imaginationen eineherausragende Bedeutung beigemessen und damit viele derin diesem Buch vorgebrachten Argumente vorweggenommen.In jüngster Zeit hat Richard Bronk () dieese aufgestellt,dass unsere Vorstellungen von der unbestimmten Zukun we-sentlich zur Strukturierung unseres wirtschalichen Verhal-tens beitragen. Bronk setzt sich eingehend mit den Arbeitenwichtiger Ökonomen und Philosophen seit der Aufklärungund mit der Rolle der Imaginationen in ihrem Denken ausein-ander. Der Anthropologe Arjun Appadurai (, ) hat dieAufmerksamkeit auf die Bedeutung fiktionaler Zukunserwar-

17

Page 19: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

tungen für die Entstehung des modernen Subjekts und für diepolitische Partizipation gelenkt. Benedict Anderson beschäigtsich in seinemmittlerweile klassischenWerkDie Erfindung derNation () mit der Rolle von Imaginationen im Prozess derNationenbildung, aber er konzentriert sich nicht auf die Zu-kun, sondern auf Vergangenheit und Gegenwart. Es hat auchVersuche gegeben, das Konzept der imaginierten Zukun in dieallgemeine Soziologie einzuführen (siehe Kapitel ).4 Hier sindinsbesondere die Arbeiten vonAlfred Schütz (), Niklas Luh-mann () und Cornelius Castoriadis () zu nennen. Injüngerer Zeit hat AnnMische (, ) das Projekt einer So-ziologie der Zukun in Angriff genommen und diejenigen so-ziologischen Ansätze kritisiert, die das gegenwärtige Handelnder Menschen ausschließlich im Licht der vergangenen Gescheh-nisse erklären.5 Schließlich findet in einigen soziologischen Spe-zialgebieten eine intensive Auseinandersetzung etwa mit derFrage statt,wie sich Vorstellungen von der Zukun auf die Ent-stehung neuer Technologien auswirken (siehe Kapitel ). Dieseentwickeln sich auf der Grundlage von Imaginationen weiter,die »eine kulturelle Ressource sind, die eine neue Lebensfüh-rung ermöglichen, indem sie positive Ziele projizieren und ver-suchen, diese zu erreichen« (Jasanoff und Kim : ).

In diesem Buch argumentiere ich gestützt auf diese grundle-genden Beiträge, dass Imaginationen der Zukun ein unver-zichtbares Element der kapitalistischen Entwicklung sind, unddass die kapitalistische Dynamik von den Zukunserwartun-gen abhängt. Selbstverständlich sind die institutionellen Pfade,die aus derVergangenheit in dieGegenwart führen, relevant, aberausgehend von den zuvor erwähnten Beiträgenwären die Sozio-logen gut beraten, der Zukun und insbesondere den Vorstel-lungen, die sich die Akteure davon machen, größere Aufmerk-samkeit zu schenken. Dabei sind die temporale Ausrichtungder Akteure und ihre Vorstellungen von der Zukun weit überden in diesem Buch untersuchten Bereich der Wirtscha hin-aus bedeutsam und könnten zur Grundlage eines neuen sozio-

18

Page 20: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

logischen Paradigmas werden. Dies ist die zentrale Hypothesedieses Buches: »Die Geschichte zählt«, aber die Zukun ist nichtweniger wichtig.

Mikrogrundlagen

Die Untersuchung wirtschalicher Phänomene ist ein wich-tiger soziologischer und politikwissenschalicher Forschungs-bereich. Aber die Wirtschassoziologen und die politischenÖkonomen wählen o unterschiedliche Analyseebenen. DieWirtschassoziologen untersuchen zumeist die »Einbettung«des wirtschalichen Handelns, um zu zeigen, dass wirtscha-liche Resultate nur imKontext des sozialen Lebens – in ihrer Be-ziehung zur Gesellschasstruktur, zu den Institutionen und zurKultur – erklärt werden können, und um herauszuarbeiten,wiedas soziale Leben die wirtschalichen Möglichkeiten und dieÜberzeugungen der Akteure prägt.Owird Einbettung alsMit-telzurVerringerungvonUngewissheitbetrachtet.DieWirtschas-soziologie konzentriert sich auf die Analyse derMikro- undMe-soebene und arbeitet häufig mit Fallstudien, die Aufschluss überdie unterschiedlichen Formen der Einbettung des wirtscha-lichen Handelns in einem konkreten Bereich der zeitgenössi-schen Wirtscha geben.

ImGegensatz dazu zielt der Zugangder politischenÖkonomieauf die Erklärung der Phänomene auf der Makroebene. Unter-sucht wird die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschasord-nung in ihrer Beziehung zum Staat und zu den vorherrschendenInteressengruppen. In zahlreichen einschlägigen Studien wurdeversucht, die institutionellenUnterschiede zwischen den entwi-ckelten kapitalistischen Systemen und die makroökonomischenAuswirkungen dieserUnterschiede zu erklären (Hall und Soski-ce b). In jüngerer Zeit weckt die Untersuchung des Kapita-lismus als solchem (erneut) beträchtliches Interesse (Streeck).

19

Page 21: Suhrkamp Verlag · 1 Einleitung DielängsteZeitinderGeschichtederMenschheitändertesich wenigamwirtscha lichenWohlstand.Erstinder industriellen Revolution begann dieser dramatisch

Einige institutionentheoretische Ansätze der politischenÖkonomie beruhen auf der Annahme, zur Beschreibung vonVeränderungen auf der Makroebene – im Rechtswesen, in derKonsumnachfrage, in der Inflation, in der Verteilung desWohl-stands oder in den Technologien – sei keine spezifische Unter-suchung des Verhaltens der Akteure erforderlich (elen undSteinmo ).Mit anderenWorten:DieseAutoren sehen keineNotwendigkeit, auf die sozialen Interaktionsprozesse einzuge-hen, die den beobachteten Entwicklungen auf der Makroebenezugrunde liegen. Beispielsweise werden individuelle Entschei-dungen und kollektive Ergebnisse unter Rückgriff auf die Ver-teilung von Machtressourcen erklärt (Hall und Taylor ;Korpi ). In anderen eorien zur politischen Ökonomiespielen die mikroökonomischen Grundlagen der wirtscha-lichenDynamik sehr wohl eineRolle, aber sie beruhen auf derAn-nahme, die Akteure handelten durch und durch rational oderfolgten kognitiv determinierten Skripten (Hall und Taylor ;Korpi ; McDermott ; Shepsle ).

Die von der politischen Ökonomie untersuchte kapitalisti-sche Entwicklung ist auch dasema dieses Buches,6 jedoch lie-fert es weder eine neue strukturelle Erklärung der kapitalistischenDynamik noch eine verfeinerte rationale Entscheidungstheorie,eine Verhaltenstheorie oder eine Machtressourcentheorie.Stattdessen untersuche ich,wie die Makrodynamiken in der so-zialen Interaktion und den Interpretationen der gesellscha-lichen Wirklichkeit verwurzelt sind. In diesem Sinn stützt sichdas Buch auf jene wirtschassoziologischen Untersuchungen,die sich auf die Interaktionsebene konzentrieren, die aber hierlediglich der Ausgangspunkt für den Versuch ist, die kapitalis-tische Dynamik an sich zu verstehen und zu erklären.

Ich gehe also von einer Mikroperspektive aus und nutze dieHandlungstheorie als Ausgangspunkt. Jede Analyse der kapita-listischen Dynamik, die der Offenheit der Zukun Rechnungträgt, muss, so behaupte ich, von den sozialen Interaktionenin derWirtscha ausgehen. EineAnalyse vonZukunsimagina-

20