21
Leseprobe Levi, Mario Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Roman © Suhrkamp Verlag 978-3-518-42226-7 Suhrkamp Verlag

Suhrkamp Verlag - bücher.de · 2015. 12. 23. · wurde der Text in Zusammenarbeit mit dem Autor leicht berarbeitet und gekrzt. Fr die Fçrderung der bersetzung danken wir dem Trkischen

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • Leseprobe

    Levi, MarioWo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

    Roman

    © Suhrkamp Verlag978-3-518-42226-7

    Suhrkamp Verlag

  • SV

  • Mario LeviWo wart ihr, als die Finsternishereinbrach? Roman

    Aus dem T�rkischen vonBarbara und H�seyin Yurtdas

    Suhrkamp Verlag

  • Originaltitel: Karanlık �çkerken NeredeydinizDie t�rkische Originalausgabe erschien 2009bei Doğan Kitap, Istanbul.

    F�r die vorliegende deutsche Fassungwurde der Text in Zusammenarbeit mit dem Autorleicht �berarbeitet und gek�rzt.

    F�r die Fçrderung der �bersetzung danken wirdem T�rkischen Ministerium f�r Kultur.

    � der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2011� Mario Levi� Kalem Literary AgencyAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das des çffentlichen Vortragssowie der �bertragung durch Rundfunk und Fernsehen,auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.Satz: H�mmer GmbH, Waldb�ttelbrunnDruck: Pustet, RegensburgPrinted in GermanyISBN 978-3-518-42226-7

    1 2 3 4 5 6 – 16 15 14 13 12 11

  • Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach?

  • Gewidmet der Generation der 78er, die daran geglaubt hat,daß dieses Land ver�ndert werden kann . . .Wegen der Lauterkeit der Proteste . . .*

  • Mein Dank gilt Yuda Siliki, Kemal Sayar, K�mil Kasacı, Mete Ako-ğuz, Ece Erdoğuş sowie den Straßen dieser Stadt, ihrer Geschichte,ihren Kr�nkungen, ihren Liedern und Gedichten, die mich zu demMenschen gemacht haben, der ich bin . . .

  • Der Gang in die Hçlle

    Jahrelang verfolgte mich ein Traum in seiner ganzen Uner-bittlichkeit . . . Doch es dauerte sehr lange, ehe ich soweitwar, zu erkennen, was der Traum mir sagen wollte. Auch jetztbin ich mir noch nicht sicher, inwiefern mir das gelungen ist.Inzwischen hallen nur noch die Stimmen und das Gel�chterin mir nach. Der unvergeßliche Bçsewicht aus Cowboyfilmen,Lee Van Cleef, in seiner schwarzen Kleidung mit dem langenJackett schaute mich mit seinen Adleraugen und einem un-heilverk�ndenden Grinsen an, das eine seiner Bosheiten an-k�ndigte; mit seiner langl�ufigen Pistole schoß er gerade mei-nem Vater, der ein wenig von mir entfernt stand, in die Stirn.Noch immer habe ich vor Augen, wie mein Vater schmerzhaftgetroffen zusammenbricht und sich mitten auf seiner Stirnein rotes Loch auftut. Wo befanden wir uns? . . . Warum wa-ren wir dorthin gekommen? . . . Was wurde von mir verlangtoder erwartet? . . . Der Ort glich einem der Str�nde meinerKindheit. Doch gleichzeitig war es totenstill wie in einemHorrorfilm. Womçglich war es ganz fr�h am Morgen. Diepassende Zeit f�r eine Hinrichtung. Auf dem unendlich aus-gedehnten Strand waren nur vereinzelt Menschen. Sie saßenweit voneinander entfernt. Ich erinnere mich, daß mich einMann quasi mißbilligend ansah, mich ver�chtlich, ja sogar l�-cherlich zu finden schien. Und auch an eine �ltere Dame mitvom Sonnenbrand ziemlich gespannter Haut erinnere ichmich. Sie �hnelte einer Freundin meiner Großmutter m�t-terlicherseits, mit der sie sich an bestimmten Wochentagenzum Conquen-Spielen traf. Sie stand auf und sagte mit Blick

    9

  • auf meinen am Boden liegenden Vater best�rzt: »On l’a tu�le pauvre.« (Man hat den Armen getçtet.) Die Frau achtetenicht auf mich. Es war auch nicht klar, an wen in jener unend-lichen Leere sie diese Worte richtete. Etwas weiter abseitssaßen noch drei M�nner und unterhielten sich lachend. Alsh�tten sie von dem Vorfall weder etwas gehçrt noch gesehen.Ich jedoch stand daneben. Ich schaute �ngstlich, aber mit demVersuch eines L�chelns den immer noch grinsenden Lee VanCleef an, der den Rauch von der M�ndung seiner Pistole weg-pustete. Das war alles . . . Danach wachte ich auf . . .

    Den Traum habe ich vor zehn Jahren getr�umt. Damals warmein Vater schon lange gestorben. Anfangs konnte ich keinenSinn darin erkennen, warum ich ihn zum ersten Mal nach allden Jahren in einer solchen Situation sah. Dann habe ich ver-standen. Eigentlich war ich es selbst, der den Mord ver�bte.Aber weil ich das selbst nat�rlich nicht fertigbrachte, habe ichdiesen Menschen, dessen Anwesenheit ich noch in sp�terenJahren bei jedem Schritt, den ich tat oder unterließ, sp�rte,durch den �rgsten Bçsewicht tçten lassen, den ich mir vorstel-len konnte. Dieser Bçsewicht war einer von den Filmhelden,die uns in weit zur�ckliegenden Zeiten in den gemeinsam an-geschauten Filmen am meisten beeindruckt hatten. WievielZeit lag dazwischen, wie viele Menschen . . . Wie viele Ge-f�hle, wie viele Worte, wie viele Bilder . . . Ich hatte Angst,wieder einmal Angst. Ich f�rchtete mich aufzufallen, ›allzu-sehr‹ wahrgenommen zu werden . . . Ich kam ja aus einer Ge-schichte voll tiefgehender Bedrohungen, die mich diese Angstsp�ren ließen und mein Schweigen erwarteten und n�hrten . . .Diese Geschichte, die mich ohne mein Zutun umfing, wargleichzeitig die Geschichte meiner Einsamkeit, die ich zwangs-l�ufig durch meine eigenen Schritte gestaltet hatte. Es war dieGeschichte, die mich an meine ganz privaten Dunkelheitenerinnerte, an meine Sexualit�t, an mein Gesicht, das ich jahre-lang nicht im Spiegel sehen mochte, und es war außerdem die

    10

  • Geschichte meiner Sprachen, durch die ich mich selbst ken-nengelernt hatte, die Geschichte meines Landes und meineralten Stadt . . . Warum waren jene weiter entfernten M�nnerwohl dem Mord gegen�ber derart unbeteiligt geblieben? . . .Wieso hatte die Dame auf diese ›fremdartige‹ Weise rea-giert? . . . Und was war mit dem Mann, der mich geradezu ver-urteilend angeblickt hatte? . . . Wer war dieser Mann? . . . Warer eine der Gestalten aus meiner Hçlle, die ich mir durchmeine Isolierung geschaffen hatte, eine der Personen, die ichmir in verschiedenen Abschnitten meines Lebens in unter-schiedlichem Gewand vorgestellt hatte, die mich mit ihrenDrohungen stets irgendwie zur�ckhielten und die ich unaus-weichlich wie Feinde wahrnahm, erlebte? . . . War ich vielleichtselbst dieser Mann? . . . Diese Fragen h�tten mich wiederumzu ganz anderen, unerwarteten Fragen und Mçglichkeitenf�hren kçnnen. Doch ich konnte sie nicht weiterverfolgen.Dieser Mord reichte mir. Endlich war es mir gelungen, mei-nen Vater zu tçten . . .

    Am Morgen nach dem Traum erinnerte ich mich nicht nuran bestimmte Momente mit Vater in manchen Szenen in sei-nem Laden, der f�r ihn fast so etwas wie ein Tempel gewesenwar, sondern auch an seine Worte, die sich im Laufe der Jahretief in mir eingegraben hatten: »Du wirst mal ein Nichtsnutzwerden!« . . . Wenn ich �ber die Werte nachdachte, auf dieer sein Leben gegr�ndet hatte, sollte es mir eigentlich nichtviel ausmachen, von ihm als Nichtsnutz angesehen zu werden.Vielmehr rechtfertigte es sogar noch meine Protesthaltung,wenigstens in meinen Augen, wenn eine derartige Lebensweisef�r mich als passend angesehen wurde. Um den Geschmackdieses Protests bis zuletzt auszukosten, brauchte ich nebendiesen Worten auch das Gef�hl des Abgelehntwerdens, umnoch mehr an mich zu glauben . . . Doch wenn ich die Sacheunter einem anderen Aspekt betrachtete, war ich unweiger-lich aufs neue konfrontiert mit der Wunde, die mir das Gef�hl

    11

  • meiner Bedeutungslosigkeit geschlagen hatte. Das war es, wo-mit ich nicht fertig wurde: f�r bedeutungslos zu gelten . . .Wahrscheinlich war es das, was mich lange Zeit am meistengeschmerzt hat. Wer mçchte nicht auf irgendeine Weise Ge-hçr finden?

    Ich hatte die Universit�t gerade abgeschlossen und tat allesin meiner Macht Stehende, das Leben zur�ckzuweisen, dasman mir bieten oder besser gesagt aufzwingen wollte. Nach-geben bedeutete ungef�hr soviel wie in den Tod einwilligen.Es bedeutete, besiegt zu werden, klein beizugeben und – amschlimmsten – sich auszusçhnen . . . Das erlaubten damalsweder meine Gef�hle noch meine politischen �berzeugun-gen . . . Denn unsere Zeit damals bezog ihre Kraft aus demGeist des Wandels, ja des Umsturzes . . . So verkaufte ich zumBeispiel als Zeichen des Widerstands die Goldst�cke, dieich zu meiner Bar-Mitzwa geschenkt bekommen hatte unddie zu Hause in einer Schublade in einem schwarzen Samt-beutel sorgf�ltig f�r ›bedeutsame Tage‹ aufbewahrt wurden.Mit diesem Geld in der Tasche ging ich, unter dem Vorwand,mein Studium fortzusetzen, nach London, wo ich mich her-umtrieb, wie es mein Vater von mir erwartete, mich mit ir-gendwelchen Phantasien selbst betr�gend. Meine Eltern hat-ten sich sehr dagegen gewehrt, das Gold zu verkaufen. Dochgerade dieser Widerstand reizte mich. Einerseits wollte ichihnen weh tun, andererseits das Gef�hl erleben, mich ohnedie Unterst�tzung meines Vaters auf und davon zu machen.Und ich wollte ihnen sagen, daß jene Tage f�r mich ›bedeut-samst‹ waren, mit anderen Worten, daß ich sehr glaubw�rdi-ge Motive hatte, an deren Berechtigung ich glaubte. So fandensie kaum noch Einw�nde dagegen. Außerdem kam sowiesonicht viel Geld zusammen; nach meinen Berechnungen konn-te ich damit in dieser Stadt, wo nicht nur Fakten, sondern auchIllusionen sehr teuer gehandelt wurden, lediglich sechs Mo-nate auskommen. Danach . . . Von dem, was danach kam, konn-

    12

  • te man lediglich tr�umen und die Erregung genießen, dieaus diesem Traum erwuchs. Wenn mein Geld fast verbrauchtw�re, w�rde ich mich einem unbekannten Abenteuer �berlas-sen, und in der Hoffnung, irgendwie durchzukommen, w�rdeich diverse Jobs annehmen als Kellner, Tellerw�scher, Putz-kraft im Hotel oder als Kassierer in Superm�rkten, die nachtsgeçffnet hatten, ohne darauf zu schauen, ob sie in arabischerHand waren oder nicht. So w�rde ich mein Auskommen si-chern und beweisen, daß ich in der Fremde auf eigenen F�-ßen stehen konnte, und wenn es soweit war, w�rde ich zur�ck-kehren mit dem Gef�hl des Sieges, das ich so nçtig hatte . . .Wann das soweit sein sollte, wußte ich nicht. Vielleicht w�rdeich auch gar nicht zur�ckkehren. Schließlich war ich ja wieviele meiner ›N�chsten‹ von dem brennenden Wunsch be-seelt, viele Werte abzulehnen, und ich liebte aus ganzer Seeleden Kampf, in den mich dieser Wunsch verstrickte . . . Dochnach einigen Monaten merkte ich, daß ich eine falsche Ent-scheidung getroffen hatte. Die Tatsachen waren ziemlich ent-mutigend. An der London School of Economics, wo ich aneinem Zertifizierungskurs teilnahm, gab es so viele Lehrkr�fte,die sich selbst und ihre Kenntnisse wichtig nahmen, daß ichunter Druck geriet. Mit dem wenigen Geld, das ich in denvon Zypernt�rken gef�hrten Restaurants verdienen konnte,w�rde es mir nicht mçglich sein, aus dem Leben meines Va-ters zu verschwinden. Zudem erlebte ich noch andere Ent-t�uschungen. Das England, das ich erleben mußte, war nichtnur das Land jener schçnen H�user mit G�rten. Außerdemsprach in diesem Land nicht jeder ein gutes Englisch, und un-gl�ckliche, frustrierte Menschen gab es mehr, als ich erwartethatte. Das konnte man in der Londoner Metro leicht beob-achten. Der Westen, den ich dort sah, war erschçpft und mit-leidlos, ein hinter seinen Lichtern verborgener, sehr finstererWesten. Ein Westen, der seine Fremden zermalmte und aufunterschiedliche Weise umbrachte . . . Das war eine der grçß-

    13

  • ten Krisen meines Lebens. Gleichzeitig erkannte ich plçtz-lich, daß ich nicht ohne Istanbul w�rde leben kçnnen . . . Nungut . . . Auch diese tiefe Entt�uschung, die mir zugleich eineradikale Selbsterkenntnis bescherte, liegt inzwischen langezur�ck. Damals bin ich heimgekehrt. Oder bin ich ein wei-teres Mal geflohen? Es schien, als h�tte ich in London einenTraum zur�ckgelassen, der sich aus L�gen n�hrte. Als h�tteich irgendwo eine Chance begraben . . . Jedoch ohne zu ver-stehen, was ich wie ermordet hatte . . . Und ohne eine Ahnungdavon, wie teuer mich dieser stille, lautlose Mord einmal zustehen kommen w�rde . . . Damals war ich noch weit entferntvon der Begegnung und dem Konflikt, der mein Leben vonGrund auf ersch�ttern sollte.

    �ber meine R�ckkehr freuten sich die Daheimgebliebenenin unterschiedlicher Weise. Nat�rlich konnte ich mich dieserFreude unmçglich anschließen. Meine Mutter wiederholte un-aufhçrlich, daß ihre Gebete erhçrt worden seien, mich miteinem M�dchen ›von hier‹ und ›aus unseren Kreisen‹ zu ver-heiraten, und sie versuchte nach Kr�ften, mich, der ich nunauch dieses Abenteuer unversehrt und ohne Schaden �berstan-den hatte, in ihre eigene Welt hineinzuziehen, in ein Leben,das sie f�r das richtige hielt, das in den Bahnen der Traditiongeordnet ablief. Zweifellos verband sie mit diesen Worten kei-nerlei schlimme Absicht. Ich jedoch h�tte sie aus dem Gef�hlheraus, nicht wirklich wahrgenommen, akzeptiert zu werden,am liebsten geohrfeigt. Doch eigentlich war nicht sie es, dieich schlagen wollte, sondern die unverzichtbaren Werte, diesie vertrat.

    Mein Vater begn�gte sich damit, diesen Szenen wortlos, ein-fach nur l�chelnd zuzuschauen. Auch er genoß nat�rlich sei-nen Sieg. Ich konnte nicht sagen, was ich in London zur�ck-gelassen hatte. Ich wußte es selbst nicht genau. Ich f�hltenur einen tiefen Schmerz, eine Mattigkeit in mir. Auch vondiesem Gef�hl h�tte ich ihm nichts erz�hlen kçnnen. Wir

    14

  • konnten nichts f�r uns Wichtiges offen miteinander bespre-chen. Vielleicht bem�hte ich mich deshalb in jenen Tagen, sein›geistreiches‹ Urteil �ber mich als Nichtsnutz weiter zu ver-st�rken. Kurze Zeit nach meiner R�ckkehr ging ich einesMorgens zu ihm in den Laden und verk�ndete ihm, ich wolleein kleines Restaurant erçffnen. Ein kleines, gem�tliches,legeres Restaurant. Genau wie das Leben, das ich zu f�hrenertr�umte . . . Hinter diesen Worten verbarg sich nat�rlichauch die Bitte um finanzielle Hilfe. Doch dieser Kr�mer, derjahraus jahrein Drogeriewaren hergestellt, Sommersprossen-mittel, Schwefelseife, Talkumpulver, Enthaarungspaste, Pr�-servative aus China, Brillantine und Rasierpinsel verkauft, derstets zu rechnen gewußt hatte und sich r�hmte, er habe nie-mals einen Wechsel zu Protest gehen lassen, war unmçglichvon diesem Gesch�ft zu �berzeugen, und erst recht nichtwollte er darin investieren. Er hatte wieder einmal Gelegen-heit, mich an meiner verwundbarsten Stelle zu treffen. An-stelle von Geld bekam ich Vorhaltungen, anstelle von unter-st�tzenden Worten mußte ich mir noch einmal eine seinerwohlbekannten Ansprachen anhçren. Wie viele Jahre ichnutzlos Wirtschaftswissenschaften studiert h�tte. F�r das Ge-sch�ftsleben w�re die wahre Universit�t sowieso die Straße.Dieses Vorhaben h�tte weder Hand noch Fuß, und es k�meihm so vor, als wollte ich ihn immer nur ruinieren. Diese Re-den brachte er �berdies in Ladino vor. Das bedeutete, sowohlsein Zorn als auch seine Besorgnis waren echt. Immer wenner sehr w�tend war, benutzte er diese Sprache. Ebenso, wenner sich sehr freute oder unbedingt ein Geheimnis mitteilenwollte . . . Er glaubte, sich in dieser Sprache sowohl zwang-loser als auch wirkungsvoller auszudr�cken. Es war mir egal.Genauso wie es mir egal war, daß er mir erneut meine Nichts-nutzigkeit vorhielt. Als ich an jenem Morgen den Laden ver-ließ, war ich nicht so sehr traurig �ber das, was ich gehçrthatte, sondern daß ich keinen Ausweg wußte. Daß ich keinen

    15

  • Ausweg wußte und daß ich immer noch den Vater zur Ver-wirklichung meiner Tr�ume brauchte . . .

    Diesen Konflikt h�tte ich auch anders lçsen kçnnen. Viel-leicht h�tte ich ein Leben unter h�rteren Bedingungen w�h-len kçnnen. Doch jedes Alter und jede Epoche haben ihreeigenen Realit�ten. Heute kann ich diese Tatsache viel eherakzeptieren. Mit der Zeit schwenkte ich, �hnlich wie so viele,die gleich mir derartige Widerspenstigkeiten durchgemachthatten, auf meine Art die Fahne der Kapitulation. Ich sah recht-zeitig den Abgrund, der sich vor meinen Bestrebungen auftat.Anfangs kam ich in den Laden, indem ich mir weismachte, ichkçnnte meine Hoffnungen f�r eine Weile aufschieben. MeinVater verlangte von mir nichts weiter. Da war das Gesch�ft,das er praktisch aus dem Nichts begr�ndet und mit großenM�hen aufgebaut hatte, und ich war sein einziger Sohn . . .Das war die Realit�t. Auch schaffte ich es, mir einzureden, we-sentlich weniger kompliziert leben zu kçnnen, wenn ich michf�r das entschied, was mir mein Vater seit Jahren zur Wahlstellte.

    Manchmal fiel es mir schwer, mich zu erkennen und zuertragen. Da halfen mir die Lçsungen, besser gesagt die Be-t�ubungsmittel, die mich meine Jugend finden ließ. Ich warfest davon �berzeugt, noch ein sehr langes Leben vor mir zuhaben, und ebenso �berzeugt, mich eines Tages diesem Lebengegen�ber st�rker f�hlen zu kçnnen. Dann w�rde ich auchmeine Tr�ume verwirklichen kçnnen, ohne irgendeinen an-deren um Hilfe bitten zu m�ssen. Ich war in einem Alter, indem ich nicht verstehen konnte, wie wichtig die Gegenwartwar. Damals war es mçglich, Dinge aufzuschieben. Vielleichterlebte ich aber eine weitere Flucht. Es war eine Flucht, aufder ich mich bewußt versteckte, die aber, wie ich glaubenwollte, mich st�rker mit dem Leben verband. Ich steckte ge-nau zwischen den eigenen Pr�ferenzen und den Forderungendes Vaters. Vielleicht hatte ich meine anf�ngliche Kampfkraft

    16

  • verloren. Vielleicht wollte ich mir auch aus jenem Gef�hlder Niederlage eine Zuflucht bauen, in der ich mich sichererf�hlen konnte. Manchmal war Leid ja auch eine Art Bet�u-bung . . .

    Wenn ich damals in den Laden ging, war das ganz andersals in meiner Studentenzeit. Ich wollte andere Menschen se-hen. Ich wollte mir auch einreden, ich kçnnte mit anderenMenschen neue Spiele spielen und es �berdies in diesen mei-nen Spielen zur Meisterschaft bringen. Die Verbindungen zuden Helden eines Spiels, das mit jedem Tag meines Lebensin weitere Ferne r�ckte, zu meinen Freunden, waren endg�l-tig abgebrochen, besser gesagt, ich hatte sie abbrechen m�s-sen. Wir hatten uns in alle Winde verstreut. Ich dachte, daßauch sie genau wie ich hofften, sich in ihrem neuen Lebeneher selbst zu finden. Ich hatte seit langer Zeit nichts mehrvon ihnen gehçrt. Ich hatte keine Ahnung, wo sie alle waren,mit wem sie zusammen waren, was sie erlebten. Offen gesagt,ich wollte es auch nicht wissen, nicht erfahren. Ich glaubtenun einmal, daß ich das Ganze nur mit so einem Bruch durch-stehen konnte. Wenn man daran denkt, was wir zur�ckge-lassen, miteinander geteilt hatten, war das schwer erkl�rlich.Doch hatte sich nun einmal jeder entschieden, einen Weg zuw�hlen und diesen alleine zu gehen. Ich zweifelte nicht, daßsie sich auch hin und wieder an mich erinnerten. Doch ichzweifelte auch nicht daran, daß sie nicht mit mir in Verbin-dung treten w�rden. Die Schauspieler der tollen Truppe, diewir die ›Schauspieltruppe‹ genannt hatten, von denen jedereinzelne mir seine eigene Geschichte hinterlassen hatte, soll-ten wohl nun f�r eine sehr lange Zeit, vielleicht sogar bis zumeinem letzten Atemzug, die Helden eines Traumspiels blei-ben, das f�r mich niemals enden, dessen Vorhang niemals fal-len w�rde . . . Es erf�llte mich mit trauriger Freude und gabmir zugleich Kraft, wenn ich mir ausmalte, wie sie ihre an-deren Leben lebten und was sie erleben w�rden.

    17

  • Es war auch gar nicht so einfach, das Gef�hl der Niederlageauszuhalten. Der Kampf war zu Ende. Es schien, als w�re einLastwagen �ber uns hinweggefahren. Wenigstens ich f�hltemich so. Es wurde wieder von einem Wandel* geredet. Dochdieser Wandel war so einsch�chternd, so schmerzlich, ganzanders, als wir ihn uns einst ertr�umt hatten . . . Trotzdemmußten wir weiterleben. Die neuen Wçlfe waren mit neuemHunger in die Stadt herabgestiegen . . . Diejenigen, die dasaushalten konnten, w�rden schon sehen, was danach kam.Diejenigen allerdings, die einen Ausweg hatten finden kçn-nen, w�rden – soweit sie konnten – das herausholen, woransie glaubten, was �briggeblieben war von den K�mpfen jenerMenschen, dem Erbe und den �berresten, die sie nicht nurin der Erde dieses Landes, sondern auch in der Geschichteihrer Gef�hle beerdigt hatten. Nat�rlich w�rden die Wundenauch wieder verbunden werden. Sie w�rden verbunden wer-den, aber sie w�rden sich nie mehr schließen, ihre Schmer-zen w�rden f�r diejenigen, die nicht vergessen konnten, aufimmer zu sp�ren sein . . . Das konnte ich sogar damals se-hen . . .

    In so einer Verfassung war es gar nicht leicht, zum Mili-t�rdienst einzur�cken. Gerade dort wurde mir wieder einmalklar, was f�r eine starke Waffe Schweigen manchmal sein konn-te. Doch ich mçchte an diesen Abschnitt meines Lebens amliebsten nicht mehr denken. Ich mçchte mich nicht daranerinnern, obwohl ich damals auch lernte, daß ich gewisse Pro-bleme ganz alleine lçsen mußte und daß der Mensch in schwe-ren Zeiten in sich selbst eine erstaunliche Durchhaltekraftfinden kann. Das Abenteuer meiner ›Fremdheit‹ setzte sichin gewisser Weise dort fort . . . Es war ein sehr verletzendesAbenteuer . . . Wieder mußte ich mich bestimmten Realit�tenstellen . . . Selbst die oberfl�chliche Erinnerung schmerzt denMenschen. Immerhin dauerte dieser Alptraum nur kurze Zeit.Die Gesetze gaben mir nur f�r kurze Zeit Gelegenheit, mit

    18

  • den Waffen zu leben, die ich nie akzeptieren werde. Als ichzur�ckkehrte, hatte ich das Gef�hl, aus einer ganz anderenWelt zur�ckzukehren . . .

    Unter diesen Umst�nden konnte ich mich trotz all meinerEntt�uschungen und Tr�ume immerhin leichter an den Ladenund die Gesch�ftswelt anpassen. Mit der Zeit gelang es mirsogar, dort mit meiner Andersartigkeit nicht mehr aufzufal-len. Durch Zusehen lernte ich sogar, ein guter tavla-Spielerzu werden, und ich lernte, verschiedene Menschen zu spie-len, f�r den Bankdirektor einen anderen als f�r einen Lasten-tr�ger oder einen Ladenbesitzer. Noch entscheidender war,daß es mir gelang, den Laden, in dem ich einstmals nur ein Be-sucher und in vieler Hinsicht ein Fremder gewesen war, sei-nen Regeln entsprechend zu leiten, so daß ich das Gesch�ftin einer Weise entwickelte, daß ich mich manchmal selbstnicht wiedererkannte . . . Schließlich blieb keine Spur mehrvon dem einst einfachen, altmodischen Laden. Genauso wievon den Waren, die immer weniger den Bed�rfnissen der Zeitentsprachen . . . Wir importieren jetzt Essenzen f�r Industrie-unternehmen. Ich allein bin der Inhaber und Leiter des Ge-sch�fts. Denn mein Vater ist vor langen Jahren unerwartet amTisch sitzend an einem Herzinfarkt gestorben.

    An jenem Tag habe ich nicht geweint. Wir mußten den To-ten sowieso in aller Eile beerdigen. Es war ein Donnerstag.Die Zeremonien mußten unbedingt am n�chsten Morgenstattfinden. Denn am Freitagnachmittag w�ren wir in den Be-ginn des Schabbath hineingeraten. Freilich h�tten wir bis zumSonntag warten kçnnen. Doch meine Mutter bestand aus ir-gendeinem Grund darauf, die Sache sofort zu Ende zu f�hren.Mein Vater mußte in der Erde an seiner letzten Ruhest�tteFrieden finden. Ich vermute, ihre Worte hatten weder mitdem Glauben noch mit der Tradition zu tun. Wahrscheinlichwar sie vçllig durcheinander, weil sie diesen Tod nicht aushal-ten konnte . . . F�r mich war es jedoch egal. Ich beobachtete

    19

  • das Geschehen wie ein Zuschauer. Als w�re der zu Beerdigen-de nicht mein Vater. Ich stand den Ereignissen vçllig unbe-teiligt, vçllig beziehungslos gegen�ber. Die Formalit�ten wa-ren leichter erledigt, als ich erwartet hatte. Ich trauerte nicht.Ich f�hlte nur Bitterkeit. Eine Bitterkeit, die ich mit der Zeitbesser verstehen und an einem anderen Platz in meinem Le-ben einordnen konnte . . . Vielleicht dachte ich erstmals anmeinen eigenen Tod, vielleicht glaubte ich, daß zwischenuns noch eine Rechnung offen war; vielleicht f�hlte ich denSchmerz, auch wenn ich nicht zugab, daß ich durch diesenVerlust gezwungen wurde, noch ein wenig erwachsener zuwerden. Ich war nun ein Mann ohne Vater . . . Diese Bitterkeitwar schließlich da und wurde mir, ob ich es wollte oder nicht,auf bestimmte Weise sp�rbar . . . Die Trauerfeier war trotz derganzen Hektik und Eile stark besucht. Angesichts dieserMenschenmenge mußte ich zugeben, daß er nach Ansicht vie-ler Menschen in seinem Umfeld rechtschaffen gelebt hatte.Nachdem die sieben Trauertage vorbei waren, sammelte ichseine persçnlichen Sachen im Laden ein. Und genau an jenemTag geschah es . . . An jenem Tag mußte ich plçtzlich bitter-lich weinen. Sein kleines braunes, in Leder gebundenes Heft,in das er seine Schulden und Außenst�nde sorgf�ltig einge-tragen hatte, lag in einer der Schubladen des Tisches . . . DieZeit war dort stehengeblieben . . . Als w�re dieses Heft die Zu-sammenfassung seines Lebens . . . Wahrscheinlich war das derTag, an dem ich ihn begrub, endg�ltig begrub . . .

    Nach diesem Tag ver�nderte sich das Gesicht des Ladensschneller. Jetzt gibt es nur noch ein Bild, das von jenen altenTagen erz�hlt. Eine kleine Ecke . . . Dort stehen die altenGlaszylinder voll Kçlnisch Wasser mit Zitronen- und Laven-delduft, die mein Vater so gerne zusammengemischt hatte.Neben diese alten Zylinder legte ich jenes braune Heft. WerAugen hat, sieht es, wer sich erinnern will, erinnert sich. War-um ich das tat, fragte ich mich nicht. Vielleicht wollte ich mich

    20

    Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach?Der Gang in die Hölle