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Leseprobe Borowski, Mateusz / Sugiera, Malgorzata Theater spielen und denken Polnische Texte des 20. Jahrhunderts Herausgegeben von Mateusz Borowski und Malgorzata Sugiera. Aus dem Polnischen von Steffi Arnold, Bernd Hartmann, Ulrich Heiße, Peter Oliver Loew, Bettina Mecke, Rainer Mende, Sven Sellmer und anderen © Suhrkamp Verlag 978-3-518-41974-8 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Borowski, Mateusz / Sugiera, Malgorzata

Theater spielen und denken

Polnische Texte des 20. Jahrhunderts

Herausgegeben von Mateusz Borowski und Malgorzata Sugiera. Aus dem Polnischen von

Steffi Arnold, Bernd Hartmann, Ulrich Heiße, Peter Oliver Loew, Bettina Mecke, Rainer

Mende, Sven Sellmer und anderen

© Suhrkamp Verlag

978-3-518-41974-8

Suhrkamp Verlag

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DENKEN UND WISSENEINE POLNISCHE BIBLIOTHEK

Herausgegeben von Dieter BingenDeutsches Polen-Institut Darmstadt

Redaktion: Peter Oliver Loew

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Theater spielenund denkenPolnische Texte

des 20. Jahrhunderts

Herausgegebenvon Mateusz Borowskiund Małgorzata Sugiera

Aus dem Polnischen vonSteffi Arnold, Friedrich Griese,

Bernhard Hartmann, Ulrich Heiße,Peter Oliver Loew, Bettina-DorotheeMecke, Rainer Mende, Sven Sellmer

und anderen

Suhrkamp Verlag

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Das Erscheinen wurde gefordert durch das Auswartige Amt.

c© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des offentlichen Vortrags sowie der Ubertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfaltigt oder verbreitet werden.Satz: fio & flo, Thorn/Polen

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in GermanyErste Auflage 2008

ISBN 978-3-518-41974-8

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Inhaltsubersicht

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Theater spielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37Theater miterleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39Theater zerstoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191Theater neu entwerfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Theater denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

Zu den Autoren und ihren Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503

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mateusz borowski, małgorzata sugieraspielen als denken / denken als spielenPerformativitat als Paradigma des polnischen Theaters

Der Titel der vorliegenden Anthologie, Theater spielen und den-ken, suggeriert unzweideutig, daß ihr Gegenstand das Thea-ter ist, betrachtet auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Erstensdas Theater als Schauspiel, als kunstlerisches Erzeugnis einerkollektiven Anstrengung von Buhnenkunstlern oder auch alsTreffpunkt »hier und jetzt« von Ausfuhrenden und Rezipien-ten. Zweitens das Theater als Thema theoretischer Erorterun-gen sowie systematisierender Spekulationen von Kritikern undAkademikern, als Erzeugnis eines wissenschaftlichen Diskur-ses, der mit der ersten Ebene vieles gemein haben kann (abernicht muß). Und tatsachlich, die von uns konzipierte Antho-logie vereint erstmals im deutschen Sprachgebiet in einer solchbreiten Auswahl die Gedanken polnischer Kunstler, Kritikerund Theaterwissenschaftler des letzten Jahrhunderts uber dasTheater mit seinen beiden grundlegenden Ebenen. Es stelltsie nebeneinander, doch trennt es bereits in der vorgeschlage-nen Gliederung des Materials scheinbar klar die Aussagen vonPraktikern der Feder und der Buhne von jenen, die von Kri-tikern und Theaterwissenschaftlern geschrieben wurden.Doch genugt es, die von uns ausgewahlte Zusammenstellungvon Autoren und ihrer zur Lekture empfohlenen Texte etwasnaher zu betrachten, und schon stellt sich heraus, daß der ersteEindruck wohl getauscht hat. Denn die vom Titel nahegelegteLogik der Unterteilung in Theaterschopfer und Kommenta-toren wurde mehrfach durchbrochen. Das ist keineswegs einVersaumnis oder ein Irrtum der Herausgeber. In bezug auf daspolnische Theater des 20. Jahrhunderts ist es schließlich nichtso leicht, die Praktiker von den Theoretikern zu trennen oderjene, die aktiv an der Entstehung von Theatervorstellungenbeteiligt waren, von jenen, die ihnen lediglich beiwohnten, sie

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kritisierten und dabei utopische Visionen von einer besserenZukunft der Buhne entwickelten.Als Kronzeuge in dieser Frage mag Leon Schiller dienen, ei-ner der bedeutendsten Theaterschopfer der Zwischenkriegs-zeit, auf der einen Seite Regisseur einer der monumentalstenInszenierungen des nationalen polnischen Theaters, auf deranderen Seite hingegen ein Schopfer, der aktuelle Problemedes engagierten Schauspiels aufgriff, das er mit dem deutschenBegriff »Zeittheater« bezeichnete. Schiller aber machte nichtnur Theater, sondern er schrieb auch daruber. So verfaßte erein umfangreiches Portrat Stanisław Wyspiańskis, den er alswahren Theaterkunstler im modernen Verstandnis dieses Wor-tes darstellte, ein Text voller glanzender Analysen von Dra-men und Inszenierungen, der in Edward Gordon Craigs Zeit-schrift »The Mask« erschien. Das ist noch nicht alles. Schillergebuhrt auch der ehrenvolle Titel eines Vaters der polnischenTheaterwissenschaft. Er hat nicht nur vielfach in Pressepole-miken als Anhanger einer autonomen Theaterkunst das Wortergriffen, sondern ebensooft auch auf die Notwendigkeit ei-ner neuen Gattung der Wissenschaft hingewiesen, wo endlichdie geeigneten Werkzeuge ausgearbeitet werden sollten, wel-che es erlauben wurden, sowohl die Geschichte als auch dieGegenwart des Theaters zu erforschen. Dabei vergaß er wedersolche zeitlich und raumlich weit entfernten Vorfahren wiedas persische Theater noch seine heimische Entwicklung inGestalt der verschiedenen Formen von Volks- und Ritualthea-ter. In der hier prasentierten Skizze Eine neue Richtung inder Theaterwissenschaft von 1913 ist sehr deutlich zu sehen,daß wir es nicht mit einem Kunstler zu tun haben, der sichnur zufallig in ein ihm nicht vertrautes Gebiet verirrt hat.Ganz im Gegenteil. Schiller schreibt ganz bewußt und hochstkompetent vom Standpunkt und in der Sprache eines Vollblut-Theaterforschers, der die Gegenwart der eigenen Kultur unterdem Blickwinkel einer langen Entwicklung sieht. Dabei istdas nur eines von vielen moglichen Beispielen fur die gelunge-ne Ubertragung der Erfahrungen eines Theaterpraktikers, umvom Standpunkt der Theatergeschichte aus wichtige und me-

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thodisch zusammenhangende theoretische Uberlegungen an-zustellen.Der von Schiller als erster polnischer Theaterkunstler ange-sehene Dramatiker und Maler Stanisław Wyspiański war mitseiner Studie uber Shakespeares Hamlet in mancherlei Hin-sicht ebenfalls den Thesen der zeitgenossischen Shakespeare-Forschung voraus. Er nahm hier eigene Ubersetzungen derMonologe der Titelgestalt auf und fuhrte den Plan eines fina-len Duells aus, nach dem diese Szene im polnischen Theaterbis heute gespielt wird. Diese Tradition der Verbindung akti-ver Theaterkunst mit dem Schreiben uber das Theater wurdeanschließend zum Beispiel von Stanisław Ignacy Witkiewiczfortgesetzt, der seine Theorie uber die reine Form in einemTraktat uber historiosophische und philosophische Bestrebun-gen auslegte. Ahnlich sieht Tadeusz Różewicz seine Stuckenicht nur als Ort, um bissige Polemiken mit seinen Vorgan-gern und zeitgenossischen Theaterleuten zu fuhren, sondernebenso gern baut er die Didaskalien zu wahren Vorlesungenuber die Poetik des traditionellen und des avantgardistischenDramas sowie uber Situation und Funktion der Kunst in derheutigen Welt aus. Dagegen hat die Theatergruppe »Gardzieni-ce« in ihren beiden letzten, auf Euripides’ Texte Elektra sowieIphigenie in Aulis gestutzten Auffuhrungen auf die neuestenwissenschaftlichen Rekonstruktionen antiker Musik und Iko-nographie zuruckgegriffen (vor allem auf Handbewegungenund ihre Symbolik). Diese Aufzahlung konnte noch fortge-setzt werden. Doch sollen diese wenigen Beispiele genugen,um zu begrunden, daß wir – paradoxerweise – nur deshalb ei-ne traditionell akzeptierte Unterteilung des ausgewahlten Ma-terials in Texte von Theaterschaffenden sowie von Kritikernund Theaterwissenschaftlern vorgenommen haben, um dieProblematik einer solchen Unterteilung aufzuzeigen und umin bezug auf das polnische Theater gar nachzuweisen, daßsie unbegrundet ist. Und zwar nicht nur fur das Theater des20. Jahrhunderts.Die in dieser Anthologie vorgeschlagene Abfolge der Texte hateine noch tiefere Begrundung, die viel wichtiger ist als der

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Wunsch, die Erwartungen unserer Leser zu befriedigen, dieeinen anderen Blick auf das Theater, seine Schopfer und aufdie Theaterwissenschaftler gewohnt sind. Mit Ausnahme derdas Ganze einleitenden sogenannten Lektion XVI von AdamMickiewicz – ein fur das Verstandnis der Besonderheiten desgesamten gegenwartigen polnischen Theaters zentraler Text –haben wir Essays, Manifeste und wissenschaftliche Artikel auf-genommen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts entstanden sind.Als wir sie aussuchten und zu vier thematischen Blocken zu-sammenstellten, dachten wir nicht nur daran, daß die hierprasentierten Autoren reprasentativ fur die wichtigsten Ten-denzen im polnischen Theater sein sollten, sondern daß ihreTexte auch als zentral fur die Entwicklung dieser Stromungenund ihrer Merkmale anzusehen waren.Schon die Titel der beiden Hauptteile – Theater miterleben,Theater zerstoren, Theater neu entwerfen und Theater denken –signalisieren deutlich die von uns vorgeschlagene Perspekti-ve auf die vorherrschenden Tendenzen im polnischen Thea-ter und Drama des 20. Jahrhunderts. In die vier thematischmiteinander verbundenen Blocke wollten wir Texte aufneh-men, die fur die verschiedenen Bestrebungen der polnischenTheaterschaffenden so symptomatisch wie moglich sind. DieseTheaterschaffenden bemuhten sich, die traditionellen Formen,Stile und szenischen Konventionen entweder zu verwerfen odererheblich zu modifizieren, und bezweckten die Schaffung neu-er Theaterasthetiken. Diese sollten nicht nur im Hinblick aufdie geplanten asthetischen Strukturen und Elemente der Insze-nierung neu sein, sondern auch – und vor allem – im Hinblickauf die von den neuen Formen vorgeschlagene Art des Kon-takts zwischen Buhne und Publikum, wodurch zugleich diesoziale Funktion des Theaters neu definiert wurde.Die in diesem Band vereinten Texte belegen die vielfaltigenund eigentlich das gesamte 20. Jahrhundert uber unternom-menen Versuche, die Beziehung zu den Zuschauern neu zu de-finieren, Versuche, sie in eine Interaktion mit der Buhnenwelteinzubeziehen und auf unterschiedlicher Grundlage zu Mit-wirkenden des Theaterereignisses werden zu lassen. Man kann

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somit ohne weiteres sagen, daß wir uns bemuht haben, nichtnur ein glaubwurdiges Bild davon zu geben, wie in den letz-ten hundert Jahren in Polen Theater gemacht und uber dasTheater gedacht wurde. Das entstandene Bild ist auch vor demHintergrund der neuesten theaterwissenschaftlichen Tenden-zen zu sehen oder, breiter gefaßt, vor dem Hintergrund derForschungen zur zeitgenossischen Kultur. Die von uns aus-gewahlten Texte zeigen das polnische Theater insofern in ei-nem neuen Licht, als sie es erlauben, die Vorschlage polni-scher Kunstler, Kritiker und Wissenschaftler in den Kontextallgemeinerer Paradigmenwechsel zu stellen, die spatestens seitdem Beginn der 1990er Jahre diskutiert und meist mit demSammelbegriff »performative Wende« (performative turn) be-zeichnet werden.1

Diese Paradigmenwechsel, welche die Grundlagen der zeitge-nossischen Reflexion uber kulturelle und gesellschaftliche Pro-zesse ganz allgemein beruhren, haben zu weitreichenden Neu-formulierungen der prinzipiellen Begriffe gefuhrt, die sich aufdie Funktion des kunstlerischen Schaffens beziehen, vor allemauf die Rolle des Rezipienten als notwendigen Partners desKunstlers und aktiven Mitschopfers des Werks. Der seit den1970er Jahren in den Geisteswissenschaften als Bezeichnungfur das neue Denkparadigma verwendete Begriff der »Perfor-mativitat« hat langsam das von Strukturalismus und Semio-tik vererbte Verstandnis der Kultur als eines Textes verdrangt,der von Sendern kodiert und von den Empfangern dekodiertwird. In diesem alteren semiotischen Verstandnis, das in denGeisteswissenschaften bis in die Mitte der 1980er Jahre domi-nierte, wurden alle kulturellen Phanomene, darunter auch diekunstlerischen, als Texte behandelt, die eine bestimmte, vonihrem jeweiligen Kontext – also auch von der Intention undden kognitiven Moglichkeiten der Rezipienten – unabhangi-ge Struktur besitzen. Von den Thesen des Sprachphilosophen

1 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Asthetik des Performativen, Frankfurt am Main2004, S. 31-41; Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungenin den Kulturwissenschaften, Hamburg 2006, S. 104-133.

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J. L. Austin beeinflußt, stellten sich die neuen Sozialwissen-schaften diesem alten Konzept entgegen, nach dem die Kulturunaufhorlichen Anderungen und Veranderungen eines Bundelsvon Praktiken unterliegt, deren Ergebnis uberhaupt nicht vonden von vornherein aufgezwangten Regeln abhangt und ei-ne zusammenhangende, im Grunde unveranderliche Strukturbildet. Ganz im Gegenteil. Jedes im Rahmen einer perfor-mativ verstandenen Kultur aufgenommene Handeln hat dieChance, diese schopferisch zu verandern, indem es Teil ei-nes bestimmten kognitiven Horizonts und gesellschaftlichenKontextes wird und diese damit modifiziert.Die Vorstellung von der Kultur als einem unaufhorlich er-folgenden Prozeß, die also nicht ausschließlich passiv auf dasAblesen eines Textes uber die von ubergeordneten Denkstruk-turen und -codes garantierten Bedeutungen wartet, hat auchbewirkt, daß sich Art und Ziel der weit verstandenen geistes-wissenschaftlichen Arbeitsweise anderten. Anstelle einer Er-forschung kultureller Phanomene als Einheit, die keinen gro-ßeren Veranderungen der Zeichensysteme unterliegen, habensich die im Geist der Performativitat schreibenden Kulturtheo-retiker vor allem damit befaßt, die Abhangigkeit zwischendem weit verstandenen »Ereignis« (zum Beispiel einer histori-schen Tatsache, einer einzelnen mundlichen oder schriftlichenAußerung bzw. einer Theaterauffuhrung) und konkreten hi-storischen und kulturellen Voraussetzungen zu erkunden, un-ter denen dieses zu ihrem integralen Bestandteil wurde – al-so zwischen dem Artefakt und seinen Rezipienten, zwischenText und Kontext. Dieser neue Ansatz hing auch mit der Be-rucksichtigung eines Elementes zusammen, das die Kulturwis-senschaft semiotischer Provenienz bis dahin ohne großerenErfolg auszugrenzen versucht hatte, eine Kulturwissenschaft,welche sich auf die Rekonstruktion abstrakter Zeichenstruktu-ren konzentrierte, die auf binaren Oppositionen basieren. Esstimmt, die semiotische Kulturwissenschaft nahm die Existenzeines konkreten, an einem bestimmten Ort, in einer bestimm-ten Zeit und in einem bestimmten sozialen Kontext befind-lichen Nutzers und Rezipienten kultureller Verlautbarungen

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zur Kenntnis, berucksichtigte ihn aber in seinen Erwagungennicht. Sie betrachtete ihn als eine Invariante ohne Einfluß aufden Sinn des jeweiligen Textes und seine Funktionen. Dabeiist es doch vor allem der konkrete Nutzer, der – wenn man dieneuen Erkenntnisse der performativen Theorie berucksichtigt –die letzte Instanz ist, die uber die Bedeutung der jeweiligenAussage entscheidet. Wenn aber der Begriff der Performati-vitat auf alle Gebiete der Kunst ausgeweitet wird, so wird derRezipient, der bei Performance und Happening zur direktenInteraktion mit den Ausfuhrenden aufgefordert wird, auch inanderen Formen des modernen Theaters – vor allem jenen,die von ihm eine geringere physische Mitwirkung verlangen –zu einem ebenso notwendigen Mitschopfer der vom Autor in-itiierten realen Handlungen. Der Rezipient erwirbt dadurcheine gleichberechtigte Position gegenuber dem bisher eindeu-tig privilegierten Schopfer oder Artefakt; er wird zum Mit-urheber und Mitwirkenden eines in einer gemeinschaftlichen,rituellen Handlung initiierten Ereignisses.An dieser Stelle ist von Bedeutung: Die polnische Theaterwis-senschaft ist an der Wende zum 21. Jahrhundert diesen neuenmethodischen Angeboten gegenuber nicht gleichgultig geblie-ben, sondern hat weitere Versuche unternommen, den gelten-den Kanon des polnischen Theaters und Dramas neu zu lesen.Dies geschah sowohl in bezug auf die dazugehorigen Texte wieauch in bezug auf das allgemein anerkannte Bild vom An-fang des polnischen Theaters, seine historischen Veranderungenund zeitgenossischen Entwicklungstendenzen eingeschlossen.Ein sichtbarer Beleg dafur, daß neue geisteswissenschaftlicheEntwicklungen auch Impulsgeber fur die Revision eines sol-cherart verstandenen polnischen Theaterkanons wurden, istdie Rezeption des Buches Postdramatisches Theater (1999) vonHans-Thies Lehmann, das fur polnische Verhaltnisse sehrschnell ubersetzt und veroffentlicht wurde – nur sechs Jah-re nach der Originalausgabe.Der Versuch, eine neue theoretische Kategorie auszuarbeiten,zugleich aber die mit ihr einhergehende Periodisierung derGeschichte des neuesten Theaters nach Hans-Thies Lehmann

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zu ubernehmen, wurde von den polnischen Kritikern undTheaterwissenschaftlern mit gemischten Gefuhlen betrachtet.Auf der einen Seite wurde der Begriff des »postdramatischenTheaters« sofort akzeptiert, auch wenn man seine ubergroße»Dehnbarkeit« bemangelte. Dabei wurde meist betont, daßLehmann die Kategorie des postdramatischen Theaters so be-schrieben habe, daß sie uneinheitliche, oft asthetisch oder welt-anschaulich sehr weit voneinander entfernte Dinge vereine,die lediglich durch ihre negative Einstellung gegenuber demtraditionellen Drama und dem Illusionstheater miteinanderverbunden seien. Auf der anderen Seite begann eine (vor al-lem fur Polen) grundsatzliche Debatte uber die vorgeschla-gene zeitliche Grenze zur Unterteilung des Theaters in eindramatisches und ein postdramatisches, die von Lehmann indie siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts gelegt worden ist. Eshieß, daß bereits die meisten Werke der polnischen Roman-tiker und ihrer Nachfolger deutliche Merkmale der im Post-dramatischen Theater beschriebenen Asthetik getragen hatten,sowohl hinsichtlich der Form der geschriebenen Texte, diedie Literaturgattungen frei miteinander verbanden und lockerkomponiert waren, als auch in bezug auf die durch diese Formgeplante andere Art von Kontakt mit dem Zuschauer und aufdie gesellschaftlichen Funktionen des Theaters. Deshalb wur-de die aus Deutschland importierte Kategorie der »Postdrama-tizitat« in Polen vor allem als »guter Ausgangspunkt fur dieArbeit an der Erschaffung von Sprache und Werkzeugen [gese-hen], um die sinnvolle Rede daruber zu ermoglichen, was sichin der traditionellen Begrifflichkeit nur durch die paradoxeWendung ›nichtdramatisches Drama‹ ausdrucken laßt«.2 Vordem Hintergrund einer so verstandenen kritischen Revisionhaben wir auch die Texte fur die vorliegende Anthologie aus-gewahlt. Wir haben hier die bereits zum Kanon gehorendenAußerungen von Autoren wie Stanisław Ignacy Witkiewicz,

2 Dariusz Kosiński: »Przeciąg, czyli o pożytkach z myślenia o teatrze post-dramatycznym« [Durchzug, oder: Uber den Nutzen des Nachdenkens uberdas postdramatische Theater], in: Dialog 2006, Nr. 4, S. 89.

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Tadeusz Różewicz, Witold Gombrowicz, Jerzy Grotowski oderTadeusz Kantor aufgenommen. Einige von ihnen sind bereitsfruher ins Deutsche ubersetzt worden und weiteren deutsch-sprachigen Kreisen sicherlich bekannt. Gleichzeitig aber stel-len wir diese auch im Ausland gut bekannten Texte in denKontext anderer, die bislang nicht in den globalen Kanon uber-nommen worden sind, obschon sie ein wichtiges Element derpolnischen Tradition von Theater, Drama und Theaterwissen-schaft darstellen. Die einen wie die anderen wurden deshalbausgewahlt, um uberzeugend zeigen zu konnen, inwiefern dieHaupttendenzen des polnischen Theaters und Dramas im20. Jahrhundert Merkmale von Performativitat tragen. ImLichte der in den letzten Jahren direkt vor unseren Augenerfolgten Revision und Neuinterpretation des Kanons des pol-nischen Theaters und Dramas ist deutlich zu sehen, daß un-abhangig davon, wie treffend Lehmanns Thesen in bezug aufdie Entwicklung des polnischen Theaters und Dramas sind,die Rezeption seines Buchs und die dadurch ausgelosten Aus-einandersetzungen es nicht nur gestattet haben, Theater undDrama an sich aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Siehaben auch dazu ermuntert, die in den polnischen Theater-wissenschaften des 20. Jahrhunderts vorherrschenden metho-dischen und wissenschaftlichen Standpunkte zu uberprufen.Die im Postdramatischen Theater eingefuhrte Terminologie unddie Perspektivierung auf grundlegende Probleme von Buhnen-theorie und -praxis in der zweiten Halfte des 20. Jahrhundertshaben es ermoglicht, Dinge zu erfassen, die bislang meist außer-halb des traditionellen dramatischen Paradigmas und außerhalbder traditionell verstandenen Beziehung zwischen Text undTheaterbuhne angesiedelt wurden.Die polnische Rezeption von Lehmanns Buch wurde vor al-lem durch eines erleichtert: Die Uberlegungen der polnischenTheatertheoretiker des letzten halben Jahrhunderts uber dieszenische Kunst und die Werkzeuge zu ihrer Erforschung ha-ben eine gute Grundlage geschaffen, um das Konzept der Hi-storizitat des Theaters und der fur das Theater geschriebenenTexte zu ubernehmen. Wie die im Kapitel Theater denken ver-

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einten Texte zeigen, war die polnische Theaterwissenschaft ei-gentlich seit ihrem Beginn als universitare Disziplin von derviele Jahre hindurch fortgesetzten Diskussion uber die Bezie-hung zwischen dem dramatischen Text und seiner szenischenAuffuhrung beherrscht. Die Aktualitat dieser Problematik, dieinspirierte, den Horizont der polnischen Theoriediskussionjedoch auch zu stark einschrankte, hing mit dem besonderenCharakter des polnischen Theaterkanons zusammen, in demsich vor allem Texte der polnischen Romantiker und Neo-romantiker befinden, wahrend vorbildhafte szenische Reali-sierungen dieser Texte (die einstimmig fur solche befundenwerden) fehlen.Es verwundert deshalb kaum, daß der Ausloser theaterwissen-schaftlicher Auseinandersetzungen jedesmal die Frage war, inwelchem Verhaltnis die sogenannte Buhnentreue der Kunstlerzu der im Text enthaltenen Vision seiner Realisierung im Thea-ter steht. Die polnischen Theoretiker konzentrierten ihre Auf-merksamkeithauptsachlichdarauf,kaumangreifbareMethodenzu finden, um zur sogenannten semantischen Geste des Autorsvorzudringen, also zu einer »objektiv« im Text selbst enthal-tenen Vision der Inszenierung. Und sie waren bestrebt, ver-schiedene »objektive« Prinzipien zu erarbeiten, um die Bezie-hungen zwischen dieser Vision und der konkreten Inszenierungzu uberprufen. Dies fuhrte unter anderem dazu, daß innerhalbder auch in den polnischen Theaterwissenschaften bestehen-den strukturalistisch-semiotischen Richtung das interessante,in der Praxis jedoch kaum anwendbare Konzept der interse-miotischen Ubersetzung von Literatur in szenische Ausdrucks-mittel entstand. Der in dieser Tradition aufgewachsene JerzyZiomek, der sich in seinem hier aufgenommenen spaten Textmit dem Problem des Projekts des Auffuhrenden im litera-rischen Werk beschaftigt, ist jedoch nur noch einen Schrittdavon entfernt, die performative Dimension des Dramas zubeschreiben. Und dieser Text belegt besser als alle anderen,daß Lehmanns Postdramatisches Theater vor allem die notwen-dige Terminologie zur Bezeichnung von Dingen und Tenden-zen geliefert hat, von deren Existenz die polnischen Thea-