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Suhrkamp Verlag Leseprobe Grimbert, Philippe Ein Geheimnis Roman. Geschenkausgabe Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch 4791 978-3-518-46791-6

Suhrkamp Verlag · Er trug den Stolz der Rebellen zur Schau, die sich über alles hinwegsetzten, der Pausenhofhelden, die dem Ball hinterherflogen, der Eroberer, die über die Zäune

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Suhrkamp VerlagLeseprobe

Grimbert, PhilippeEin Geheimnis

Roman. GeschenkausgabeAus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller

© Suhrkamp Verlagsuhrkamp taschenbuch 4791

978-3-518-46791-6

suhrkamppocket

Als Einzelkind hat es Philippe nicht leicht. Schmächtig ister, nicht der talentierte, kräftige Sohn, den seine Eltern –beide begeisterte Sportler – gern gehabt hätten. Auch dergroße Bruder, den er sich in seinen Tagträumen herbei-phantasiert, kann nicht helfen: Kein Stolz, nur Enttäu-schung und Leere liegen im Blick des Vaters.

Philippe ist 15, als ihm Louise, eine enge Freundin derFamilie, ein über lange Jahre gehütetes Geheimnis enthüllt.Die Grimberts sind Juden. Und sie haben das Leben imbesetzten Paris keineswegs so unbeschadet und ereignis-los überstanden, wie sie ihren Sohn glauben machen wol-len. Behutsam wird Philippe an eine vor seiner Geburt lie-gende, von allen verdrängte Vergangenheit herangeführt,in der es den großen Bruder seiner Phantasie tatsächlichgegeben hat.

Aus der Sicht des Nachgeborenen erzählt Philippe Grim-bert die dramatische Geschichte einer jüdischen Familieim Paris der deutschen Besatzung – seine Geschichte.

Philippe Grimbert wurde 1948 in Paris geboren und lebtdort als Autor und Psychoanalytiker. Er erforscht an denbeiden Instituten Médico-Éducatifs in Asnières und Co-lombes autistische und psychotische Heranwachsende.

Philippe GrimbertEin Geheimnis

Roman

Aus dem Französischen vonHolger Fock und Sabine Müller

Suhrkamp

Die französische Originalausgabe erschien 2004unter dem Titel Un secret

bei Éditions Grasset & Fasquelle, Paris.

Erste Auflage 2017suhrkamp taschenbuch 4791

Suhrkamp Verlag Berlin© Éditions Grasset & Fasquelle, 2004

© der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag Frankfurtam Main 2006

Suhrkamp Taschenbuch VerlagAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlagfoto: Thurston Hopkins/Hulton Archives/getty imagesUmschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

nach Entwürfen von Regina Göllner und Hermann MichelsSatz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Druck und Bindung: Kösel, AltusriedPrinted in Germany

ISBN 978-3-518-46791-6

Ein Geheimnis

Für Tania und Maxime,für Simon.

I

Als Einzelkind hatte ich lange Zeit einen Bruder.Meine Ferienbekanntschaften, meine Spielgefährtenmußten mir aufs Wort glauben, wenn ich ihnen die-ses Märchen auftischte. Ich hatte einen Bruder. Schö-ner als ich, stärker als ich. Einen älteren Bruder, er-folgreich und unsichtbar.

War ich bei einem Freund zu Besuch, wurde ichimmer neidisch, wenn die Tür aufging und ein ande-rer erschien, der ihm ein wenig ähnelte. ZerzaustesHaar, ein spöttisches Lächeln, mit zwei Worten wur-de er mir vorgestellt: »Mein Bruder.« Ein Rätsel, die-ser Eindringling, mit dem alles geteilt werden mußte,sogar die Liebe. Ein echter Bruder. Einer, dem manähnlich sah, in dessen Gesicht man gemeinsame Zü-ge entdeckte, eine widerspenstige Strähne oder einenWolfszahn, ein Zimmergenosse, den man in- undauswendig kannte, dessen Stimmungen, Vorlieben,Schwächen, Gerüche einem vertraut waren. Für mich,der ich allein über das Reich unserer Vier-Zimmer-Wohnung herrschte, ein wunderliches Wesen.

Obwohl ich die Liebe und Zärtlichkeit meiner Elternmit niemandem teilen mußte, schlief ich unruhig,wälzte mich mit schlimmen Träumen im Bett. Ich

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weinte, sobald die Lampe ausgeknipst wurde, ichwußte nicht, wem die Tränen galten, die über meinKopfkissen liefen und in der Nacht versanken. Daich mich schämte, ohne die Ursache dafür zu ken-nen, mich oft grundlos schuldig fühlte, zögerte ichden Augenblick des Einschlafens hinaus. Meine Kin-derwelt lieferte mir täglich Anlässe zu Traurigkeitund Ängsten, die ich in meiner Einsamkeit hegte. Esmußte jemand her, der diese Tränen mit mir teilte.

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Eines Tages war ich dann nicht mehr allein. Ich hattemich nicht davon abbringen lassen, meine Mutter indas alte Dienstmädchenzimmer unter dem Dach zubegleiten, das wir als Abstellkammer benutzten undwo sie ein wenig aufräumen wollte. Ich entdeckte die-ses unbekannte Zimmer mit seinem muffigen Ge-ruch, seinen wackligen Möbeln und Stapeln von Kof-fern mit rostigen Schlössern. Sie hatte den Deckeleines Koffers angehoben, in dem sie alte Modemaga-zine zu finden hoffte, die früher ihre Zeichnungenveröffentlicht hatten. Als sie dort auf einem StapelDecken einen kleinen Hund mit Bakelitaugen liegensah, zuckte sie kurz zusammen. Der Plüsch war ab-gewetzt, die Schnauze staubig, und er trug ein ge-stricktes Hundedeckchen. Ich hatte ihn mir sofortgeschnappt und an die Brust gedrückt; als ich aberdas Unbehagen meiner Mutter spürte, verzichtete ichdarauf, ihn in mein Zimmer mitzunehmen, und leg-te ihn wieder zurück.

In der darauffolgenden Nacht preßte ich zum er-sten Mal meine nasse Wange an die Brust eines Bru-ders. So war er in mein Leben getreten, und ich wür-de ihn nie mehr allein lassen.

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Seit jenem Tag lebte ich in seinem Schatten, wandel-te ich auf seinen Spuren wie in einem zu großen An-zug. Er begleitete mich zum Spielplatz, in die Schule,und jedem, den ich traf, erzählte ich von ihm. ZuHause erfand ich sogar ein Spiel, damit er an unse-rem Familienleben teilhaben konnte: Ich bat darum,auf ihn zu warten, bevor wir uns zu Tisch setzten,ihm einzuschenken, bevor man mir einschenkte, sei-ne Feriensachen einzupacken, bevor meine gepacktwurden. Ich hatte mir einen Bruder geschaffen, hin-ter dem ich mich verstecken konnte, einen Bruder,dessen Last ich mit ihrem ganzen Gewicht trug.

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So mager, kränklich und blaß ich auch war, ich woll-te unbedingt der Stolz meines Vaters sein. Von mei-ner Mutter wurde ich abgöttisch geliebt, schließlichwar ich der einzige, der unter ihren durchtrainier-ten Bauchmuskeln herangewachsen, zwischen ihrensportlichen Schenkeln zur Welt gekommen war. Ichwar der erste und der einzige. Vor mir, niemand.Bloß eine Nacht, ein Meer von Dunkelheit, ein paarSchwarzweißfotos, auf denen die Begegnung zweierruhmreicher, in allen Disziplinen der Leichtathletikgestählter Körper festgehalten war, die später denBund fürs Leben schlossen, um mich zu zeugen, michzu lieben und mich zu belügen.

Ihren Erzählungen nach hatte ich schon immer die-sen in unserem Land sehr gebräuchlichen Namen.Meine Abstammung verurteilte mich nicht mehrzum sicheren Tod, ich war nicht mehr jener dürreZweig an der Spitze eines Stammbaums, den es zukappen galt.

Meine Taufe fand so spät statt, daß ich mich nochgut erinnern kann: an die Handbewegung des Prie-sters, den Abdruck des nassen Kreuzes auf meinerStirn, das Gefühl, als ich mich an den Priester schmieg-

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te und unter dem bestickten Ende seiner Stola ausder Kirche hinaustrat. Ein Bollwerk, das mich vordem himmlischen Zorn bewahren würde. Sollte derSturm von neuem losbrechen, würde mich der Ein-trag ins Taufregister schützen. Ich wußte davon nichts;still und gehorsam spielte ich das Spiel mit, bemühtemich wie alle, die mit mir feierten, zu glauben, daßwir nur ein Versäumnis nachholten.

Das unauslöschliche Zeichen, das mein Geschlechts-organ trug, schrumpfte zur Erinnerung an einen not-wendigen chirurgischen Eingriff. Da war nichts mehrvon einem Ritual, es war eine ganz normale Entschei-dung, getroffen aus rein medizinischen Gründen. So-gar unser Nachname hatte seine Narben: Auf Ersu-chen meines Vaters waren zwei Buchstaben amtlichausgewechselt worden, und durch die andere Schreib-weise schlug er tiefe Wurzeln auf französischem Bo-den.

So setzte sich das Vernichtungswerk im verborge-nen fort, das die Schlächter einige Jahre vor meinerGeburt betrieben hatten: Es begrub alles unter sich,was geheimgehalten und verschwiegen wurde, ver-stümmelte die Familiennamen, erzeugte Lügen, dieScham blieb. Obwohl die Verfolger besiegt waren,triumphierten sie noch immer.

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Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen kam die Wahrheitzum Vorschein. Es waren Kleinigkeiten: ein paarScheibchen ungesäuerten Brots, die in goldbraun ge-backenes Rührei getaucht wurden, ein Samowar inmoderner Gestaltung auf dem Kaminsims im Wohn-zimmer und, im Büfett verschlossen, ein Kerzenleuch-ter zwischen dem Tafelgeschirr. Und immer wiederdiese Fragen: Regelmäßig erkundigte man sich nachder Herkunft des Namens Grimbert, machte sich Ge-danken über seine richtige Schreibweise; man grubdas »n« aus, das durch ein »m« ersetzt worden war,man stöberte das »g« auf, das von einem »t« verdrängtwerden sollte, und wenn ich zu Hause von solchenMutmaßungen berichtete, wischte mein Vater sie miteiner Handbewegung beiseite. Wir hätten immer sogeheißen, hämmerte er mir ein, diese Selbstverständ-lichkeit dulde keinen Widerspruch: Die Spur unseresFamiliennamens sei bis ins Mittelalter zurückzuver-folgen, hieß nicht eine Figur des Roman de Renart*schon Grimbert?

Ein »m« für ein »n«, ein »t« für ein »g«, zwei winzi-ge Veränderungen. Aber das »aime« (liebe) hatte das»haine« (Haß) verdeckt; da ich des »j’ai« (ich habe)beraubt war, gehorchte ich von nun an dem Gebotdes »tais« (schweig).* Ich stieß zwar ständig gegendiese schmerzhafte Mauer, hinter der meine Eltern

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sich verschanzt hatten, aber ich liebte sie zu sehr, umdas Wagnis einzugehen, die Grenzen zu überschrei-ten, an alte Wunden zu rühren. Ich war entschlossen,nichts zu erfahren.

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Lange Zeit hat mein Bruder mir bei der Überwin-dung meiner Ängste geholfen. Ich spürte den Druckseiner Finger an meinem Arm, seine Hand, die durchmein Haar fuhr, und schöpfte daraus die Kraft, Hin-dernisse zu überwinden. Wenn ich auf der Schul-bank seine Schulter an meiner spürte, fühlte ich michsicher, und wenn ich abgefragt wurde, flüsterte ermir oft die richtige Antwort ins Ohr.

Er trug den Stolz der Rebellen zur Schau, die sichüber alles hinwegsetzten, der Pausenhofhelden, diedem Ball hinterherflogen, der Eroberer, die über dieZäune kletterten. Unfähig, mich mit ihnen zu mes-sen, lehnte ich mit dem Rücken an der Wand, bewun-derte sie und wartete auf das befreiende Klingeln,um endlich wieder zu meinen Heften zu kommen.Ich hatte mir einen siegreichen Bruder ausgesucht.Niemand konnte ihn übertreffen, er gewann in al-len Disziplinen, während ich meinem Vater meineSchwäche zeigte und die Enttäuschung ignorierte, diein seinem Blick lag.

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Meine innig geliebten Eltern: Jeder Muskel an ih-nen glänzte wie die Statuen, die mich in den Gängendes Louvre betörten. Meine Mutter machte Turm-springen und Bodenturnen, mein Vater Ringen undGeräteturnen, beide spielten Tennis und Volleyball.Zwei Körper, die wie dazu geschaffen waren, sich zubegegnen, zu vermählen, fortzupflanzen.

Ich war die Frucht dieser Sportlichkeit, aber miteiner morbiden Freude pflanzte ich mich vor demSpiegel auf, um meine Mängel aufzulisten: spitzeKnie, ein hervorspringendes Becken, spindeldürreArme. Und ich regte mich über das Loch unter mei-nem Solarplexus auf, in das eine Faust hineingepaßthätte, das meinen Brustkorb aushöhlte, als hätte einSchlag ihn für immer eingedrückt.

Arztpraxen, Ambulanzen, Krankenhäuser. Der Des-infektionsmittelgeruch überlagerte kaum den desbeißenden Angstschweißes, eine verderbliche Atmo-sphäre, zu der ich mein Scherf lein beitrug, indemich unter dem Stethoskop hustete, meinen Arm fürdie Spritze freimachte. Jede Woche ging meine Mut-ter mit mir zu einer dieser mir schon vertrauten Un-tersuchungen, half mir beim Ausziehen, um mich mit

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meinen Symptomen einem Spezialisten zu überlas-sen, der sich anschließend zu einem leisen Zwiege-spräch mit ihr zurückzog. Gefaßt saß ich auf demUntersuchungstisch und wartete auf das Urteil: einEingriff in nächster Zeit, eine langwierige Behand-lung, bestenfalls Vitamine oder Inhalationen. Ich ha-be Jahre mit der Behandlung dieser schwächlichenAnatomie verbracht. Unterdessen protzte mein Bru-der auf unverschämte Weise mit seinen breiten Schul-tern, der sonnengebräunten Haut unter seinem blon-den Flaum.

Reck, Trainingsbank, Sprossenleiter, mein Vater trai-nierte täglich in einem Zimmer unserer Wohnung,das er in einen Turnraum umgewandelt hatte. Auchwenn meine Mutter weniger Zeit dort zubrachte,machte sie doch ihre Aufwärmübungen, lauerte aufdie geringste Erschlaffung, um ihr sofort entgegen-zuwirken.

Beide führten zusammen einen Großhandel in der Ruedu Bourg-l’Abbé, in jenem Karree eines der ältestenStadtviertel von Paris, das dem Handel mit Triko-tagen und Strickwaren vorbehalten war. Die meistenSportbekleidungsgeschäfte ließen sich von ihnen mitTrikots, Turnanzügen und Sportunterwäsche belie-fern. Ich setzte mich an die Kasse neben meine Mut-

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ter, um die Kunden zu begrüßen. Manchmal half ichmeinem Vater, trippelte ihm hinterher in das eineoder andere Lager, sah zu, wie er mühelos Stapel vonKartons anhob, die mit Sportfotos geschmückt wa-ren: Turner an den Ringen, Schwimmerinnen, Speer-werfer, die sich in den Warenregalen auftürmten. DieMänner trugen das leicht gewellte, kurze Haar mei-nes Vaters, die Frauen hatten die dunkle, wallendeund von einem Band gebändigte Haarpracht meinerMutter.

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