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Suhrkamp Verlag Leseprobe Olguín, Sergio Die Traummannschaft Roman Aus dem Spanischen von Matthias Strobel © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch 3766 978-3-518-45766-5

Suhrkamp Verlag · Es ist Weihnachtszeit in Argentinien und Hochsommer. Dem 14jähri-gen Ariel, der nach der Schule im Gemüseladen »Mein Gefühl« jobbt und am liebsten …

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Suhrkamp VerlagLeseprobe

Olguín, SergioDie Traummannschaft

RomanAus dem Spanischen von Matthias Strobel

© Suhrkamp Verlagsuhrkamp taschenbuch 3766

978-3-518-45766-5

suhrkamp taschenbuch 3766

Es ist Weihnachtszeit in Argentinien und Hochsommer. Dem 14jähri-gen Ariel, der nach der Schule im Gemüseladen »Mein Gefühl« jobbtund am liebsten mit seinen Freunden Fußball spielt und über Frau-en fachsimpelt, stehen besonders heiße Tage bevor: Er ist verliebt inPatricia, ein Mädchen aus einem ärmlichen Stadtviertel, das Arielnoch nie betreten hat, und er erlebt alle Höhen und Tiefen der erstenLiebe. Doch dann geschieht etwas Ungeheuerliches: Der größte Stolzvon Patricias Vater, der Fußball, mit dem der begnadete Diego Mara-dona als Kind gespielt hat, wird von einer Bande Krimineller geklaut.Ariel und seine Freunde beschließen, den Ball zurückzuholen – unddamit zum erstenmal ihre behütete Welt zu verlassen und sich in einwahrlich lebensbedrohendes Abenteuer zu stürzen.

Mit tiefgründigem Witz und charmanter Leichtigkeit erzählt SergioOlguín vom Zauber der ersten Liebe, von Fußballtoren, die bessernicht geschossen worden wären, von Unrecht und Willkür, Solida-rität und Hoffnung.

Sergio OlguínDie Traummannschaft

RomanAus dem Spanischen von

Matthias Strobel

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem TitelEl equipo de los sueños

bei Grupo Editorial Norma, Buenos Aires.© Sergio S. Olguín und Editorial Norma, 2004

Die Übersetzung aus dem Spanischen wurdemit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt

durch die Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika,Asien, Lateinamerika e. V.

3. Auflage 2019

Erste Auflage 2006Deutsche Erstausgabe

suhrkamp taschenbuch 3776© der deutschen Ausgabe

Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2006Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages

reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Printed in GermanyUmschlag: hißmann, heilmann, hamburg

ISBN 978-3-518-45766-5

Die Traummannschaft

Für Luis Chaparro, Daniel Cholakian,Fabio Cholakian,

Carlos Prado und Pablo Santos

Sie, das werdet ihr sein einst,in stets erneuerten Leben,neu, wie jeder Tagesanbruch neu ist.

Ernesto Cardenal

Der Ball bleibt immer sauber.Diego Maradona

Erster Teil

Der Waagenjunge erzählt seine Geschichte

Letztes Jahr, mit vierzehn, waren die drei Kilo Orangenmein größter Stolz. Ein Kilo kann jeder abwiegen, aberdrei Kilo, das ist schon schwieriger. Wenn ein Kunde meinLieblingssonderangebot haben wollte (viel mehr Angebo-te gab’s auch nicht im Gemüseladen, um ehrlich zu sein),nämlich die drei Kilo Orangen zu einem Peso, nahm icheine große Plastiktüte, ging zur Kiste und packte die Tütevoll mit blassen, ja fast schon bleichen Orangen. Deshalbhaben sie auch nur einen Peso gekostet. Die waren abernicht schlecht, vom Geschmack her, meine ich, und saftigwaren sie auch, obwohl sie so blutarm aussahen. Na ja,ich packte also die Tüte voll und brauchte sie nicht zuwiegen: Ich wußte, daß ich genau drei Kilo reingetan hat-te. Trotzdem stellte ich die Tüte auf die Waage, damit derKunde auch mitbekam, was für ein gutes Händchen ichhatte. Die meisten Leute bemerkten gar nicht, daß sie ge-rade Zeuge eines Wunders geworden waren. Nur ein paargratulierten mir, weil ich exakt drei Kilo abgepackt hatte,keine zehn Gramm mehr, keine zehn Gramm weniger. DerTrick bestand nicht darin, die Orangen abzuzählen, dazuwaren sie von der Größe her zu unterschiedlich. Der Trickwaren meine Arme, mein ganzer Körper, der die Gabehatte, die drei Kilo zu erspüren. Eine menschliche Waage.

Nicht daß Sie jetzt denken, ich hätte mein Leben langnichts anderes getan, als Obst zu verkaufen. O nein, ichmochte überhaupt kein Grünzeug, außer Bananen undKartoffeln in allen Variationen hatte ich in einem Gemü-seladen noch nie was entdeckt, das mich interessiert hätte.Seit gut einem Monat arbeitete ich in dem Gemüseladen»Mein Gefühl«. Für das Gefühl und den Gemüseladen

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war mein Onkel Roberto zuständig, der Türke, wie sieihn überall nannten. Und mich nannten sie den kleinenTürken, den Türken Ariel oder den Sohn der Türkin. DieTürkin, das war meine Mama, die Schwester meines On-kels. Dabei waren wir gar keine Türken. Meine Großel-tern mütterlicherseits waren Armenier. Ich hab mich niedarüber aufgeregt, daß sie Türke zu mir sagten, aber icherinnere mich noch gut daran, daß mein Opa, als er nochlebte, regelmäßig ausrastete, wenn jemand aus der Nach-barschaft ihn Türke nannte. Dann schimpfte er los, undzwar in seiner Muttersprache, und er hatte wohl einigebeleidigende Sprüche drauf, zumindest lief meine Oma je-desmal rot an und schimpfte ihn dann ihrerseits aus. Viel-leicht brachten sie mir deshalb nie Armenisch bei, damitich ja nicht die Schimpfwörter verstand, die mein Opa davon sich gab.

Mein Onkel Roberto hatte immer irgendein Geschäftam Laufen. Er lebte vom Geschäftemachen. Er kaufte einStück Land, stellte ein Fertighaus drauf und verkaufte eswieder. Er kaufte ein Schrottauto, reparierte es, lackiertees schwarz-gelb und fuhr damit Taxi. Als sie ihm verbo-ten, Leute zu befördern, weil seine Papiere nicht in Ord-nung waren, nahm er es nicht weiter tragisch. Er lackierteden Wagen kurzerhand blau, setzte eine lügenhafte Anzei-ge in die Zeitung (»Juwel von Auto, nie Taxi«, nie legalesTaxi, hätte er schreiben müssen) und verkaufte es. Erkaufte auch Taschenlampen in großer Stückzahl, chine-sische Minischeren, thailändische Nadeln und T-Shirtsim Once-Viertel. Er verkaufte, verkaufte weiter, kaufte,tauschte. Er verdiente einen Haufen Geld, verlor aberauch jede Menge. Ihn trieb nicht der Wunsch an, Millio-när zu werden, was ihn am Geschäftemachen reizte, warvielmehr die Herausforderung.

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Ich weiß nicht, wer ihn davon überzeugte, daß ein Ge-müseladen das große Geschäft war. Jedenfalls entschieder sich unter den zig Möglichkeiten, Waren gegen Geld zutauschen, am Ende für einen Laden, nicht zu klein, aberauch nicht zu groß, in der Avenida Ejército de los Andes.Für mich ist die Avenida Ejército de los Andes die AvenidaSan Martín, die mein Onkel wiederum Avenida Santa Fenennt. Es ist nämlich so, daß die Avenida in Lanús, in demViertel, in dem wir wohnen, Santa Fe oder San Martínheißt. Avenida Ejército de los Andes heißt sie erst, wennman nach Lomas de Zamora reinfährt.

Wenige Häuserblocks entfernt von einer Ausfallstraße,die wegen der schlechten Beleuchtung Camino Negroheißt, und gerade mal drei Querstraßen weg vom Arme-leuteviertel Villa Fiorito machte mein Onkel also einenGemüseladen auf. Sicher, in dieser Gegend gab’s nochkeinen Gemüseladen, aber wenn wir schon dabei sind, esgab auch keine Videoläden, Tierärzte oder Eisenwarenge-schäfte. Trotzdem hatte er sich in den Kopf gesetzt, einenGemüseladen aufzumachen.

»Dafür gibt’s eine ganz einfache Erklärung«, sagtemein Onkel, während er sich ein Glas Wermut genehmig-te und den Grill anwarf, eine Sonntagsbeschäftigung, zuder er sich verpflichtet fühlte, seit mein Vater vor knappzwei Jahren »in den Urlaub gefahren war«, ohne Mamaund mich. »Die vier Säulen der Familienernährung sind:der Laden an der Ecke, die Metzgerei, die Bäckerei undder Gemüseladen. In dieser Gegend hier gibt es vier Le-bensmittelgeschäfte, zwei Metzgereien und drei Bäcke-reien, aber nur einen winzigen Gemüseladen am Eingangzu Villa Fiorito, und der hat nur wenig Angebot und istauch noch teuer. Ich hab da einen Freund, der besorgt mirgute Ware vom Markt in Turdera, und die verkaufen wirdann zu einem guten Preis.«

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»Und der kleine Kiosk?« sagte ich.»Was soll sein mit dem Kiosk?« fragte mein Onkel

leicht gereizt, weil seine Erläuterung bei mir kein bewun-derndes Echo gefunden hatte.

»Na, die fünfte Säule der Familienernährung ist derKiosk. Süßigkeiten, Zigaretten, Limos. Findest du nicht?«

Ohne auf mich einzugehen, nahm mein Onkel einenSchluck Wermut, schüttelte den Kopf und stocherte in derGrillkohle herum. Ein toller Typ, mein Onkel. Ein biß-chen hitzköpfig, aber ein toller Typ.

Meine Mutter hielt es für eine Schnapsidee. Daß ihr Bru-der wenige Häuserblocks entfernt vom Camino Neground nur ein paar hundert Meter weg von einem Armeleu-teviertel einen Gemüseladen aufmachen wollte, kam ihrfahrlässig vor. Und als er auch noch vorschlug, daß ihrSohn, also ich, dort als Verkäufer arbeiten könnte, hieltsie ihn endgültig für übergeschnappt.

»Jetzt hör mir mal zu, Amelia«, sagte mein Onkel, »dasViertel ist ruhiger als diese Gegend hier.« Er breitete seineArme weit aus, um offenbar sowohl Catamarca als auchResistencia mit einzuschließen. »Ist ihm bestimmt recht,wenn er ein paar Pesos verdienen kann. Er wird allmäh-lich erwachsen und möchte über sein eigenes Geld verfü-gen.«

»Er geht noch zur Schule, Roberto, und das wird auchso bleiben.«

»Er soll ja auch nur nachmittags arbeiten.«»Nachmittags hat er Sport.«»Dann kommt er eben an diesen Tagen nicht. Außer-

dem sind bald Ferien.«Da hatte er recht. Es war bereits Ende Oktober, das

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Schuljahr dauerte nur noch einen Monat. Was die Notenanging, war alles paletti. Nur in Geographie hatte ich imSchnitt nicht genügend Punkte, und da würde die Nach-prüfung obendrein erst im März sein. Dadurch ging es imletzten Monat um nichts mehr, ich mußte ihn nur nochhinter mich bringen, damit diese unerträgliche neunteKlasse endlich geschafft war.

Es ist mir nach wie vor ein Rätsel, wieso mir meineMutter erlaubt hat, in dem Gemüseladen anzufangen.Wir vereinbarten, daß ich montags, dienstags und don-nerstags von drei Uhr bis zum Geschäftsschluß um achtarbeiten würde, und samstags von neun bis drei. Mitt-wochs und freitags konnte ich ebenfalls hin, vorausge-setzt, ich hatte kein Sport. Er würde mir zwölf Pesos proTag zahlen, dazu den Bus, und außerdem durfte ich so viel Obst und Gemüse mit nach Hause nehmen, wie ichwollte. Manchmal denke ich, daß es letzteres war, wasmeine Mutter überzeugt hat. Nicht so sehr, weil wir da-durch das Geld für Äpfel und Tomaten sparen konnten(was uns nicht ungelegen kam bei dem Lohn, den sie alsVerkäuferin in einem Kurzwarenladen erhielt), sondernweil sie sich nicht selber zu dem Laden bemühen mußte.Sie haßte Einkaufen. Und ich auch.

»Unser kleiner Türke wird jetzt also auch Gemüsehänd-ler«, sagte Ezequiel in der Pause, nachdem ich erzählt hat-te, daß ich nächsten Montag anfangen würde zu arbeiten.

»Da wirst du deine wahre Berufung entdecken«, ermu-tigte mich Pablo hinterfotzig, während er, ohne uns davonanzubieten, Alfajorkekse mampfte.

Ezequiel und Pablo sind meine besten Freunde. Pablound ich sind schon seit der Grundschule Kumpel, und

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Ezequiel haben wir in der neuen Schule kennengelernt, alswir in die achte Klasse kamen. Wir hängen immer zusam-men rum. Ezequiel und Pablo sind völlig verschieden.Ezequiel spielt in der Jugendmannschaft von El Porvenir,in Sport ist er ein As, da hat er eine Zehn. Dafür muß erim Dezember in vier und im März in drei weiteren Fä-chern in die Nachprüfung gehen. Er hatte schon so etwadrei Freundinnen, und wenn er wollte, könnte er mit je-dem Mädchen der ersten Oberstufenklasse gehen. Na ja,nicht mit jeder. Carolina hat sich nie für ihn interessiert.

Pablo hingegen ist ein Intelligenzbolzen, Sieben ist seineniedrigste Note, er liest den ganzen Tag, und wenn ihm einMitschüler blöd kommt, von wegen weil er so schwachauf der Brust wirkt, dann schaut er ihn dermaßen ver-ächtlich an, daß es mehr weh tut als die stets einsatzberei-ten Fäuste von Ezequiel. In der achten Klasse hatten siePablo auf dem Kieker, da hat er einige Prügel einsteckenmüssen. Nicht mal die Freundschaft mit Ezequiel hat ihmdamals was genützt. Aber in der Neunten wurde alles an-ders. Eine aus der Klasse wurde fünfzehn, und auf ihremgroßen Fest hat Pablo eine Schachtel Zigaretten rausge-holt und eine geraucht. Seither haben alle Angst vor ihm,weil sie vermuten, daß er ein ausschweifendes Lebenführt. »Junkie«, rufen sie ihm nach, oder »Perversling«,und niemand außer Ezequiel und mir weiß, daß er nureinmal geraucht hat, und das war auf diesem Geburtstag.

Ich bin nicht wie Ezequiel und ich bin auch nicht wiePablo. Eigentlich weiß ich nicht so genau, wie ich bin. Anmanchen Tagen fühle ich mich so stark wie Ezequiel undso intelligent wie Pablo. Und an anderen Tagen fühle ichmich so wehrlos wie Pablo und so überfordert wie Eze-quiel bei einer Mathematikaufgabe. Vor einem Jahr hinges rein und ausschließlich von dem ab, was Carolina zu

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mir sagte, ob ich von dem einen Zustand in den anderengeriet. Auf sie komme ich später zurück.

Wir drei sind wirklich sehr verschieden. Zu allemÜberfluß ist Ezequiel für River, Pablo für Independiente,und ich bin für Boca. Wir haben aber auch was gemein-sam (neben dem hellblau-weiß gestreiften Trikot), undzwar sind wir alle drei auch Fans von El Porvenir. In derRegionalliga Primera B ist das unser Fußballclub, ohneWenn und Aber, so wie man eben auch für die Natio-nalmannschaft ist. Jeden zweiten Samstag gehen wir ins Stadion von El Porve, ab und zu gehen wir auch hin, um Ezequiel spielen zu sehen, und wann immer irgendwo ge-kickt wird, wir sind dabei. Mit Pablo habe ich schon vonklein auf gespielt, bei ihm auf dem Hof, und als wir grö-ßer waren, haben wir immer Köpfen geübt, mit einem Le-derball, der ein bißchen platt war, wobei wir aufpassenmußten, daß kein Blumentopf zerdeppert wurde. Die be-sten Doppelpässe habe ich daheim bei Pablo mit der Hof-mauer gespielt.

Niemand, der uns allein sieht, würde denken, daß wirenge Freunde sind. Vor allem Pablo und Ezequiel. Manch-mal frage ich mich selbst, wie einer, der an nichts anderesals ans Trainieren denkt, und einer, der Geschichten überMänner liest, die sich in Kakerlaken verwandeln, so vielZeit miteinander verbringen können. Und trotzdem ist esso; ob ich dabei bin oder nicht, die beiden quatschen überFußball oder eine Sendung im Fernsehen, über irgendei-nen Film, den sie auf Video gesehen haben, oder die Um-triebe des Serienmörders, den sie gerade geschnappt ha-ben. Vielleicht liegt es daran, daß, wenn wir drei zusam-men sind, Ezequiel keine Tormaschine ist, Pablo keinBüchernarr und ich kein schwatzhafter Pterodaktylus.Am Ende glaube ich selbst noch, daß wir uns ähnlich sind.

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Carolina: In der achten Klasse wurden wir gezwungen,die Schulbank mit einem Mädchen zu teilen. Ich mußtemich neben Carolina setzen. Natürlich hätte ich lieber ne-ben Pablo gesessen. Es gab einige Proteste. Sie führtenaber zu nichts, weil wir eben nicht einfach machen durf-ten, was wir wollten, also teilten wir schließlich die abge-wrackte Schulbank mit den immer irgendwie nervigenMädchen.

Was jetzt kommt, wirft ein schlechtes Licht auf mich,ich weiß: In diesem Jahr hatte ich es immer eilig, in dieSchule zu kommen, weil ich dann da sitzen konnte, linksvon ihr. Ich mochte es, sie neben mir zu spüren, in ihremmakellosen weißen Kittel, mit ihren Haaren, die in einenlangen Zopf mündeten.

Carolina sieht toll aus, ist aber auch intelligent. Sie hatviel Ahnung von Musik und Kino, vom Fernsehen redetsie immer ganz abschätzig. Am Anfang haben wir unsnicht gut verstanden. Ich wußte nicht, wie ich mit ihr um-gehen sollte, ich glaube, ich habe mich manchmal ganzschön blöd benommen. Aber dann wurde es besser, wirhaben uns irgendwie zusammengerauft, und am Ende wa-ren wir fast Freunde. In der neunten Klasse durften wiruns aussuchen, neben wem wir sitzen wollten, und ichhätte ein Auge geopfert, um neben ihr sitzen zu dürfen.Ein Auge ja, aber nicht meine Ehre. Ich hätte mich zumGespött all meiner Klassenkameraden gemacht, wenn ichgesagt hätte, ich will neben einem Mädchen sitzen. Diehätten mich wie eine Schwuchtel behandelt. Also habe ichmir schnell Pablo als Sitznachbarn ausgesucht. Sie hatsich neben ein anderes Mädchen gesetzt, nie wieder habenwir eine Bank geteilt, außer manchmal in der Pause, wennwir uns zusammengesetzt haben, um noch einige Haus-aufgaben für die nächste Stunde zu erledigen. Ab und zukam sie auch zu mir und sagte:

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»Ach, Ariel, wie ich deine Ellbogenrempler vermisse!«Nicht daß man jetzt was Falsches denkt, ich wußte,

daß sie mir damit nichts Komisches sagen wollte. Es war keine Liebeserklärung. Ich wußte ganz genau, in wen sie verliebt war. Am Anfang dachte ich, sie würde auf Ezequiel stehen, wie fast alle Mädchen, aber dann hat siemir mal gesagt, daß sie Ezequiel für einen Grobklotz hältund gar nicht begreifen kann, warum Vero auf ihn steht,eine Freundin von ihr, die für den Großen Equi schwärm-te. Carolina – das habe ich sofort gemerkt – war hinterPablo her. Ständig hat sie mich nach ihm gefragt, wolltewissen, welche Bücher er las, ob er gern ins Kino ging, ober Musik hörte. Ich hab immer nur geantwortet:

»Warum fragst du ihn nicht selber? Ich bin nicht seinStellvertreter.«

Dann sah sie mich vorwurfsvoll an und wechselte dasThema. Aber sie hat sich nie getraut, Pablo zu fragen,überhaupt redeten sie kaum miteinander, vielleicht mal,um nach einem Bleistift zu fragen oder Hausaufgabenauszutauschen. Im Grunde hatte sie ebenfalls Angst vorihm, weil Pablo diesen undurchsichtigen Typen so über-zeugend spielte.

»Die Faszination der Beute vor einer Klapperschlange«,erklärte mir mal mein Onkel, ich weiß nicht mehr, wa-rum. »Die Angst lähmt dich, du bist fasziniert von dem,was dich gleich verschlingen wird. Wenn du überlebenwillst, mein lieber Neffe, mußt du diese Faszination bre-chen, das ist genauso wichtig, wie die Angst zu überwin-den.«

Damals wußte ich es noch nicht, aber es war ein Rat,den ich schon bald gut würde gebrauchen können.

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Die Idee, im Gemüseladen zu arbeiten, stammte von mir,nicht von meinem Onkel. Ich habe es ihm vorgeschlagen,nachdem er mir seine Theorie über die vier Säulen der Fa-milienernährung erläutert hatte. Er stocherte gerade inder Grillkohle herum, in aller Ruhe, wie einer, der weiß,daß er seine Sache gut macht, als ich zu ihm hinging undsagte:

»Onkel, ich würde gern im Gemüseladen bedienen.«Zehn Minuten später verkaufte er meiner Mutter die

Idee als seine eigene und kämpfte so lange für sie, bis erihr zum Triumph verholfen hatte. So ist mein Onkel eben.Als er mich fragte, warum ich arbeiten wollte, sagte ich,ich wollte Geld sparen, um mir einen Computer zu kau-fen. Und das stimmte, aber ich wollte auch wissen, wiesich Arbeiten so anfühlt. Ich wollte zur Welt der Erwach-senen gehören, eigenständig sein, rauskommen aus denvier schützenden Wänden, ob nun der Schule oder vondaheim.

Um zum Gemüseladen zu gelangen, nahm ich den247er in der Avenida San Martín und stieg drei Querstra-ßen vor dem Geschäft aus. Dort bog der Bus nämlich vonder Avenida ab, so daß ich noch ein Stück an Villa Fioritoentlanggehen mußte, um zum Laden zu kommen.

Auf meinen Onkel wartete immer irgendein neues Ge-schäft, und damals verhandelte er gerade mit der Gemein-de von San Justo, weil er ihr fünfundzwanzig Parkbänkeverkaufen wollte, die er aus Deutschland importiert hatte.Ich bediente während der vereinbarten Arbeitszeiten imGemüseladen. Für die restliche Zeit wurde also noch einanderer Junge eingestellt. Er war achtzehn oder neun-zehn, ziemlich klein, sehr blaß, und er hatte eine Mords-nase. Deswegen nannten ihn alle Pinocchio. Ganz schönviel Kraft hatte er auch, die Obstkisten hob er hoch, als

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