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Leseprobe Locke, John Zweite Abhandlung über die Regierung Kommentar von Ludwig Siep © Suhrkamp Verlag Suhrkamp Studienbibliothek 7 978-3-518-27007-3 Suhrkamp Verlag

Suhrkamp Verlag · schließt der Kommentar von Ludwig Siep den historischen wie theoretischen HorizontdesWerkes. Alle erforderlichen Informatio-nen werden in kompakter und bersichtlicher

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Leseprobe

Locke, John

Zweite Abhandlung über die Regierung

Kommentar von Ludwig Siep

© Suhrkamp Verlag

Suhrkamp Studienbibliothek 7

978-3-518-27007-3

Suhrkamp Verlag

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Suhrkamp Studienbibliothek 7

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Dieser Band der Reihe Suhrkamp Studienbibliothek (stb) bietetJohn Lockes Zweite Abhandlung �ber die Regierung in einer zuver-l�ssig edierten, detailliert kommentierten und kompetent interpre-tierten Neuausgabe. In hçchst lesbarer und informativer Weise er-schließt der Kommentar von Ludwig Siep den historischen wietheoretischen Horizont des Werkes. Alle erforderlichen Informatio-nen werden in kompakter und �bersichtlicher Weise geb�ndelt.Der Band eignet sich daher nicht nur als erste Orientierung f�rTheorieeinsteiger, sondern stellt auch eine ideale Grundlage f�rLekt�rekurse an Schule und Universit�t dar.

Ludwig Siep ist Professor f�r Philosophie an der Westf�lischenWil-helms-Universit�t M�nster.

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John LockeZweite Abhandlung �ber

die Regierung

Aus dem Englischenvon Hans Jçrn Hoffmann,

durchgesehen und �berarbeitetvon Ludwig Siep

Kommentar vonLudwig Siep

Suhrkamp

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� f�r den deutschen Text von John Locke:Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1977

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte Daten sind im Internet �ber

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Suhrkamp Studienbibliothek 7� Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007

Erste Auflage 2007Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,

des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragung durch Rundfunkund Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes

darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andereVerfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyUmschlag: Werner Zegarzewski

ISBN 978-3-518-27007-3

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Inhalt

I. John Locke: Zweite Abhandlung �ber die Regierung 7

II. Ludwig Siep: Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1971. Einleitung (Bedeutung der Schrift und des

Autors heute) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2012. Historische Einf�hrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2073. Pr�sentation des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2144. Rezeptionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3085. Positionen der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3126. Stellenkommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3217. Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3828. Biographischer Abriß und Zeittafel . . . . . . . . . . . 3909. Kommentierte Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . 394

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

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I.

John LockeZweite Abhandlung �ber

die Regierung

�ber den wahren Ursprung, die Reichweite undden Zweck der staatlichen Regierung

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Die zweite der beiden Abhandlungen �ber die Regierung von JohnLocke tr�gt den Titel �ber den wahren Ursprung, die Reichweiteund den Zweck der staatlichen Regierung und wird hier in der �ber-setzung von Hans Jçrn Hoffmann abgedruckt. Der Text folgt derAusgabe: John Locke, Zwei Abhandlungen �ber die Regierung,Frankfurt a. M. 1977, S. 63-65 und S. 200-354, die 1977 im Suhr-kamp Verlag erschien. Diese Textgrundlage wurde unter Heranzie-hung der Edition des englischen Originaltextes in der kritischenEdition von Peter Laslett (John Locke, Two Treatises of Govern-ment, 2. Aufl., Cambridge University Press 1970) �berarbeitet. Zen-trale Begriffe des englischen Originals wurden in Klammern hin-zugef�gt (unter Beibehaltung der Groß- und Kleinschreibung desOriginaltextes). Die Pfeile am Textrand verweisen auf den Stellen-kommentar S. 321-381.

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Inhalt

1. KapitelEinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2. KapitelDer Naturzustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

3. KapitelDer Kriegszustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

4. KapitelDie Sklaverei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

5. KapitelDas Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

6. KapitelDie v�terliche Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

7. KapitelDie politische oder b�rgerliche Gesellschaft . . . . . . 67

8. KapitelDie Entstehung von politischen Gesellschaften . . . . 82

9. KapitelDie Ziele der politischen Gesellschaft undder Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

10. KapitelDie verschiedenen Staatsformen . . . . . . . . . . . . . . . 107

11. KapitelDie Reichweite der legislativen Gewalt . . . . . . . . . . 109

12. KapitelDie legislative, exekutive und fçderative Gewaltdes Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

13. KapitelDie Rangordnung der Gewalten im Staat . . . . . . . . 122

14. KapitelDie Pr�rogative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

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15. KapitelDie v�terliche, politische und despotische Gewaltzusammen betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

16. KapitelEroberung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

17. KapitelUsurpation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

18. KapitelTyrannei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

19. KapitelDie Auflçsung der Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Anhang:Vorwort [zu Zwei Abhandlungen �ber die Regierung] . . . 194

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[II.] �ber den wahren Ursprung,die Reichweite und den Zweck der

staatlichen Regierung

1. KapitelEinleitung

§ 1. Nachdem in der vorangehenden Abhandlung gezeigtworden ist,

1. daß Adam weder durch das nat�rliche Recht der Vater-schaft noch durch positive Schenkung Gottes eine solche Au-torit�t �ber seine Kinder oder Herrschaft �ber die Welt besaß,wie behauptet wird;

2. daß, selbst wenn er sie besessen h�tte, seine Erben den-noch kein Recht darauf gehabt h�tten;

3. daß, wenn seine Erben sie besessen h�tten, das Recht derErbfolge und somit auch das Recht auf die Herrschaft nichteindeutig h�tten bestimmt werden kçnnen, da es weder einGesetz der Natur noch ein positives Gesetz Gottes gibt, dasf�r alle mçglichen F�lle genau festlegt, wer der rechte Erbe ist;

4. daß, selbst wenn das eindeutig bestimmt worden w�re,dennoch keine der menschlichen Rassen und Familien aufder Welt einem anderen gegen�ber irgendeinen Anspruch gel-tend machen kçnnte, dem �ltesten Haus anzugehçren und dasRecht auf Erbschaft zu besitzen, da die Kenntnis �ber die �lte-ste Linie der Nachkommenschaft Adams seit so langer Zeit vçl-lig verlorengegangen ist;

nachdem also, wie ich hoffe, diese Voraussetzungen hinrei-chend gekl�rt worden sind, ist es unmçglich, daß die jetzigenHerrscher der Erde aus dem, was als die Quelle aller Macht an-gesehen wird, n�mlich Adams persçnliche Herrschaft und v�ter-

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111. Kapitel: Einleitung

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liche Gerichtsbarkeit, irgendwelchen Gewinn ziehen oder auchnur eine Spur von Autorit�t ableiten kçnnen. Wer sich auseinem berechtigten Anlaß gegen die �berzeugung wehrt, daßalle Regierung auf der Welt nur das Produkt von St�rke undGewalt ist und das Zusammenleben der Menschen keinen an-deren Regeln unterworfen ist als das der Tiere, bei denen derSt�rkste die F�hrung gewinnt, was die Grundlage f�r dau-ernde Unordnung und Unheil, Aufruhr, Empçrung und Re-bellion schafft (wogegen gerade die Anh�nger jener Hypotheseso lautstark protestieren), muß deshalb einen anderen Ur-sprung der Regierung, einen anderen Ursprung politischerMacht und eine andere Mçglichkeit ausfindig machen, ihreTr�ger zu bestimmen und zu erkennen, als es uns Sir RobertFilmer gelehrt hat.

§ 2. Zu diesem Zweck ist es meiner Meinung nach wohl nichtunangebracht, darzulegen, was ich unter politischer Gewaltverstehe. Denn die Gewalt der Obrigkeit �ber einen Untertanist durchaus zu unterscheiden von der eines Vaters �ber seineKinder, einesHerrn �ber seinen Diener, eines Ehemannes �bersein Weib und eines Herrn �ber seinen Sklaven. Da es zuwei-len vorkommt, daß alle diese unterschiedlichen Gewalteneinem einzigen Menschen zufallen, wennman ihn unter diesenverschiedenen Aspekten betrachtet, so wird es uns doch weiter-helfen, diese verschiedenen Formen von Gewalten voneinan-der abzugrenzen und den Unterschied zwischen dem Herr-scher eines Gemeinwesens, einem Familienvater und einemGaleerenkapit�n deutlich zu machen.

§ 3. Unter politischer Gewalt verstehe ich dann ein Recht, f�rdie Regelung und Erhaltung des Eigentums Gesetze mit To-desstrafe und folglich auch allen geringeren Strafen zu schaf-fen, wie auch das Recht, die Gewalt der Gemeinschaft zugebrauchen, um diese Gesetze zu vollstrecken und den Staatgegen fremdes Unrecht zu sch�tzen, jedoch nur zugunstendes Gemeinwohls.

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2. KapitelDer Naturzustand

§ 4. Um politische Gewalt richtig zu verstehen und sie von ih-rem Ursprung abzuleiten, m�ssen wir erw�gen, in welchemZustand sich die Menschen von Natur aus befinden. Es istein Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzendes Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und �berihren Besitz und ihre Persçnlichkeit so zu verf�gen, wie es ih-nen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubniszu bitten oder vom Willen eines anderen abh�ngig zu sein.

Es ist dar�ber hinaus ein Zustand der Gleichheit, in dem alleMacht und Rechtsprechung wechselseitig sind, da niemandmehr besitzt als ein anderer: Nichts ist einleuchtender, alsdaß Geschçpfe von gleicher Gattung und von gleichem Rang,die ohne Unterschied zum Genuß derselben Vorteile der Na-tur und zum Gebrauch derselben F�higkeiten geboren sind,ohne Unterordnung und Unterwerfung einander gleichgestelltleben sollen, es sei denn, ihr Herr und Meister w�rde durcheine deutliche Willens�ußerung den einen �ber den anderenstellen und ihm durch eine �berzeugende, klare Ernennungein unzweifelhaftes Recht auf Herrschaft und Souver�nit�t ver-leihen.

§ 5. Diese nat�rliche Gleichheit der Menschen ist in den Au-gen des scharfsinnigen Hooker so selbstverst�ndlich und außeraller Frage, daß er sie als Grundlage f�r jene Verpflichtung zurgegenseitigen Liebe unter den Menschen ansieht, auf der er diePflichten, die sie einander schuldig sind, aufbaut und von derer die großen Maximen der Gerechtigkeit und Barmherzigkeitableitet. Seine Worte sind:

Der gleiche nat�rliche Beweggrund hat die Menschen zu derErkenntnis gebracht, daß es ihre Pflicht sei, die anderen ebenso-sehr zu lieben wie sich selbst, denn sie sahen, daß gleiche Dingeauch notwendigerweise das gleiche Maß haben m�ssen. Wenn

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132. Kapitel: Der Naturzustand

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ich w�nschen muß, aus der Hand eines jeden Menschen sovielGutes zu empfangen, wie es ein jeder in seinem Herzen nur w�n-schen kann, wie kçnnte ich auch nur eine teilweise Erf�llungmeines Wunsches erwarten, wenn ich nicht selbst darauf bedachtbin, den gleichen Wunsch auch einem anderen Menschen zu er-f�llen, den er zweifellos hegt, da wir von einer Natur sind? Ih-nen etwas anzubieten, was diesem Wunsch zuwiderl�uft, mußsie in jeder Hinsicht ebenso schmerzen wie mich, so daß auchich leiden muß, wenn ich anderen Schaden zuf�ge, denn es gibtkeinen Grund, weshalb andere mir ein grçßeres Maß an Liebe er-weisen sollten, als ich ihnen entgegengebracht habe. Mein Verlan-gen also, von denen, die von Natur aus meinesgleichen sind, sostark wie mçglich geliebt zu werden, legt mir die nat�rlichePflicht auf, ihnen genau dieselbe Zuneigung entgegenzubringen.Welche verschiedenen Regeln und Vorschriften die nat�rlicheVernunft aus dieser Gleichheit zwischen uns und denen, die sindwie wir, f�r die Lebensf�hrung aufgestellt hat, ist jedem be-kannt. Eccl. Pol. Lib. I.

§ 6. Aber obgleich dies ein Zustand der Freiheit ist, so ist esdoch kein Zustand der Z�gellosigkeit. Der Mensch hat in die-sem Zustand eine unkontrollierbare Freiheit, �ber seine Personund seinen Besitz zu verf�gen; er hat dagegen nicht die Frei-heit, sich selbst oder irgendein in seinem Besitz befindlichesLebewesen zu vernichten, wenn es nicht ein edlerer Zweckals seine bloße Erhaltung erfordert. Im Naturzustand herrschtein nat�rliches Gesetz, das jeden verpflichtet. Und die Ver-nunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit,wenn sie sie nur befragen will, daß niemand einem anderen,da alle gleich und unabh�ngig sind, an seinem Leben und Be-sitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zuf�gen soll.Denn alle Menschen sind das Werk eines einzigen allm�chti-gen und unendlich weisen Schçpfers, die Diener eines einzi-gen souver�nen Herrn, auf dessen Befehl und in dessen Auf-trag sie in die Welt gesandt wurden. Sie sind sein Eigentum,da sie sein Werk sind, und er hat sie geschaffen, so lange zu be-

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stehen, wie es ihm, nicht aber wie es ihnen untereinander ge-f�llt. Und da sie alle mit den gleichen F�higkeiten versehenwurden und alle zur Gemeinschaft der Natur gehçren, so kannunter uns auch keine Rangordnung angenommen werden, dieuns dazu erm�chtigt, einander zu zerstçren, als w�ren wir ein-zig zumNutzen des anderen geschaffen, so wie die untergeord-neten Lebewesen zu unserem Nutzen geschaffen sind. Wie einjeder verpflichtet ist, sich selbst zu erhalten und seinen Platznicht vors�tzlich zu verlassen, so sollte er aus dem gleichenGrunde, und wenn seine eigene Selbsterhaltung nicht dabeiauf dem Spiel steht, nach Mçglichkeit auch die �brige Mensch-heit erhalten. Er sollte nicht das Leben eines anderen oder, waszur Erhaltung des Lebens dient: Freiheit, Gesundheit, Gliederoder G�ter wegnehmen oder verringern – es sei denn, daß aneinem Verbrecher Gerechtigkeit ge�bt werden soll.

§ 7. Damit nun alle Menschen davon abgehalten werden, dieRechte anderer zu beeintr�chtigen und sich einander zu be-nachteiligen, und damit das Gesetz der Natur, das den Friedenund die Erhaltung der ganzen Menschheit verlangt, beobachtetwerde, so ist in jenem Zustand die Vollstreckung des nat�r-lichen Gesetzes in jedermanns H�nde gelegt. Somit ist ein je-der berechtigt, die �bertreter dieses Gesetzes in einem Maßezu bestrafen, wie es notwendig ist, um eine erneute Verletzungzu verhindern. Denn das Gesetz der Natur w�re, wie alle ande-ren Gesetze, die den Menschen auf dieser Welt betreffen, nich-tig, wenn im Naturzustand niemand die Macht h�tte, diesesGesetz zu vollstrecken, um somit den Unschuldigen zu sch�t-zen und den �bertreter in Schranken zu halten. Wenn in die-sem Naturzustand jeder einzelne den anderen f�r ein began-genes Unrecht bestrafen darf, so d�rfen es auch alle. Denn indiesem Zustand vollkommener Gleichheit, wo es von Naturaus weder eine �berlegenheit noch eine Rechtsprechung deseinen �ber den anderen gibt, m�ssen notwendigerweise alledazu berechtigt sein, was irgendeinem in der Verfolgung diesesGesetzes erlaubt ist.

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§ 8. So kann im Naturzustand ein Mensch die Macht �bereinen anderen erlangen. Er hat jedoch keine absolute und will-k�rliche Gewalt, einen Verbrecher, der in seine H�nde gefallenist, so zu behandeln, wie es seiner hitzigen Leidenschaft undder unbegrenzten Z�gellosigkeit seines Willens vielleicht ent-spricht, sondern er darf nur soweit Vergeltung an ihm �ben,wie es ihm ruhige �berlegung und sein Gewissen vorschreibenund wie es in einem ausgewogenen Verh�ltnis zu der �bertre-tung steht, d.h., wie es der Wiedergutmachung und der Ab-schreckung dienen kann. Denn das sind die einzigen Gr�nde,aus denen ein Mensch einem anderen rechtm�ßig Schaden zu-f�gen darf. Das nennen wir Strafe.Mit seiner �bertretung desnat�rlichen Gesetzes erkl�rt der Misset�ter, nach einer ande-ren Vorschrift als der der Vernunft und allgemeinen Gleichheitzu leben, die Gott den Menschen zu ihrer gegenseitigen Sicher-heit als Maßstab f�r ihre Handlungsweise gesetzt hat. Er wirdeine Gefahr f�r die Menschheit, denn er lockert und zerreißtjenes Band, das sie vor Unrecht und Gewaltt�tigkeit sch�tzensoll. Da dies einem Vergehen gegen das ganze Menschenge-schlecht gleichkommt, gegen seinen Frieden und seine Sicher-heit gerichtet ist, die vom Gesetz der Natur festgelegt wurden,darf aus diesem Grunde jeder Mensch kraft seines Rechtes,die Menschheit im allgemeinen zu sch�tzen, Dinge, die ihmschaden, abwehren oder, wenn nçtig, zerstçren. Er darf somitjedem, der dieses Gesetz �bertreten hat, so viel Schaden zuf�-gen, wie es notwendig ist, ihn seine Tat bereuen zu lassen,um dadurch ihn und durch sein Beispiel auch andere davonabzuhalten, ein gleiches Unrecht zu begehen. In diesem Fallund aus diesem Grund ist also jeder berechtigt, den Misset�terzu bestrafen und somit das Gesetz der Natur zu vollstrecken.

§ 9. Das mag zweifellos manchem als eine sehr seltsame Lehreerscheinen. Aber bevor er sie verurteilt, bitte ich ihn, die Fragezu entscheiden, nach welchem Recht irgendein F�rst oderStaat einen Fremden f�r ein Verbrechen, das er in seinem Ter-ritorium begeht, hinrichten oder bestrafen kann. Es steht fest,

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daß die Sanktion seiner Gesetze, die sie durch den verk�nde-ten Willen der Legislative erhalten, einen Fremden nicht errei-chen kann. Sie sprechen nicht zu ihm. Aber selbst wenn sie est�ten, ist er nicht verpflichtet, ihnen zu gehorchen. Die gesetz-gebende Gewalt, durch die sie in dem jeweiligen Gemeinwe-sen f�r die Untertanen in Kraft treten, hat �ber ihn keineMacht. Diejenigen, die in England, Frankreich oder Hollanddie hçchste Gewalt haben, Gesetze zu verabschieden, sindf�r einen IndianerMenschen wie alle anderen auch – n�mlichMenschen ohne Autorit�t. Wenn deshalb durch das Gesetz derNatur nicht jeder Mensch die Macht hat,Vergehen gegen jenesGesetz so zu bestrafen, wie es nach seinem n�chternen Sach-verstand der jeweilige Fall erfordert, dann kann ich nicht ein-sehen, warum die Obrigkeit irgendeiner Gemeinschaft einenAusl�nder bestrafen darf, da sie doch �ber ihn keine andere Ge-walt haben kann, als jeder Mensch von Natur aus �ber den an-deren hat.

§ 10. Abgesehen von dem Verbrechen der Gesetzesverletzungund des Abweichens vom rechten Wege der Vernunft, wo-durch der Mensch entartet und erkl�rt, von den Prinzipiender menschlichen Natur abzuweichen und ein sch�dliches Ge-schçpf zu sein, wird gewçhnlich nur dem einen oder anderenein Unrecht zugef�gt, und irgend jemand erleidet durch die�bertretung dieses Gesetzes einen Schaden. In diesem Falleerh�lt derjenige, dem irgendein Schaden entstanden ist, außerdem Recht der Bestrafung, das er mit allen anderen Menschengemeinsam hat, noch ein zus�tzliches Recht, von dem, der ihngesch�digt hat,Wiedergutmachung zu verlangen. Und jeder an-dere, der es f�r richtig h�lt, mag sich mit dem Gesch�digtenverbinden und ihm helfen, von dem �belt�ter so viel wiederzu-erlangen, wie es f�r die Wiedergutmachung des erlittenenSchadens erforderlich ist.

§ 11. Durch diese beiden unterschiedlichen Rechte – einerseitsdas allen gemeinsame Recht, das Verbrechen zu bestrafen, um

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abzuschrecken und dem gleichen Vergehen vorzubeugen, ande-rerseits das Recht aufWiedergutmachung, das nur dem gesch�-digten Teil zusteht – ist es der Obrigkeit, der eben als Obrig-keit das allgemeine Recht der Bestrafung in die H�nde gelegtist, bei kriminellen Handlungen, wenn das çffentliche Wohldie Vollstreckung des Gesetzes nicht verlangt, oftmals erlaubt,durch ihre eigene Autorit�t von einer Bestrafung abzusehen.Aber sie kann nicht die Entsch�digung erlassen, auf die ein Pri-vatmann Anspruch hat, wenn ihm ein Schaden zugef�gtwurde. Der Gesch�digte hat das Recht, eine solche Entsch�di-gung in seinem eigenen Namen zu fordern, und nur er alleinkann auf sie verzichten. Diese Gewalt, den Besitz oder dieDienstleistungen des �bertreters zu beanspruchen, hat die ge-sch�digte Person durch ihr Recht auf Selbsterhaltung, wie einjeder durch das Recht, die Menschheit zu erhalten und alleszu tun, was vern�nftigerweise zu diesem Ziel f�hrt, die Machthat, das Verbrechen zu bestrafen, um damit zu verhindern, daßes noch einmal begangen werde. Und deshalb hat im Naturzu-stand jeder Mensch die Macht, einen Mçrder zu tçten, einer-seits um durch das Beispiel der Bestrafung, die ihm von jedemdroht, andere von der Ver�bung des gleichen Verbrechens ab-zuschrecken, f�r das es keine Wiedergutmachung gibt, ande-rerseits um die Menschen vor den Angriffen eines Verbrecherszu sch�tzen, der die Vernunft, die den Menschen von Gott alsgemeinsame Regel und Richtschnur gegeben wurde, durch dieungerechte Gewalt- und Bluttat, die er an einem Menschenbegangen, verleugnet hat und damit der gesamten Menschheitden Krieg erkl�rt und deshalb wie ein Lçwe oder Tiger umge-bracht werden darf, wie eines jener wilden Raubtiere, mit de-nen der Mensch weder in Gemeinschaft noch in Sicherheit le-ben kann. Und darauf begr�ndet sich das große Gesetz derNatur: Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durchMenschen vergossen werden. Und Kain war so vollst�ndig da-von �berzeugt, daß jeder ein Recht habe, einen solchen Verbre-cher unsch�dlich zu machen, daß er nach der Ermordung sei-nes Bruders ausruft: So wird’s mir gehen, daß mich totschlage,

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wer mich findet. So klar war das den Menschen ins Herz ge-schrieben.

§ 12. Aus demselben Grund darf ein Mensch im Naturzu-stand auch geringere Verletzungen dieses Gesetzes bestrafen.Man wird vielleicht fragen, ob mit dem Tode? Ich antwortedarauf: Jede �bertretung darf in dem Maße und mit genauder Strenge bestraft werden, wie erforderlich ist, daß sie demVerbrecher teuer zu stehen komme und ihn zur Reue bewege,daß sie andere aber gleichzeitig davon abschrecke, eine �hnli-che Tat zu begehen. Jedes Verbrechen, das im Naturzustandbegangen werden kann, darf im Naturzustand genauso undmit derselben Strenge wie in einem Staate bestraft werden.Denn wenn es sich auch von meinem gegenw�rtigen Ziel ent-fernen w�rde, auf die Einzelheiten des Gesetzes der Naturoder sein Strafmaß einzugehen, so ist es doch sicher, daß esein solches Gesetz gibt. Das ist f�r ein vernunftbegabtes Wesenund f�r jemanden, der �ber dieses Gesetz einmal nachgedachthat, ebenso verst�ndlich und klar wie die positiven Gesetze derStaaten, ja vielleicht sogar noch klarer, da die Vernunft leichterzu begreifen ist als die Einf�lle und verwickelten Kunstgriffeder Menschen, die in schçnen Worten doch nur widerspr�ch-liche und versteckte Interessen verfolgen. Denn wahrhaftigso verh�lt es sich mit einem großen Teil der staatlichen Gesetzevon L�ndern, die nur insoweit gerecht sind, als sie auf dem Ge-setz der Natur beruhen, nach dem sie zu ordnen und auszule-gen sind.

§ 13. Gegen diese seltsame Lehre, n�mlich daß im Naturzu-stand jeder die vollziehende Gewalt des Gesetzes der Natur inne-hat, wird man ohne jeden Zweifel einwenden, es sei unver-n�nftig, daß die Menschen Richter in eigener Sache seien,und die Eigenliebe werde sie sich selbst und ihren Freundengegen�ber parteiisch machen. Andererseits w�rden sie sich inder Bestrafung anderer durch ihre Bosheit, Leidenschaft undRache zu weit hinreißen lassen. Die Folge davon werde nur

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192. Kapitel: Der Naturzustand

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Verwirrung und Unordnung sein, und Gott habe sicherlichdeshalb Regierungen eingesetzt, um die Parteilichkeit unddie Gewaltt�tigkeit der Menschen in Schranken zu halten.Ich gebe gern zu, daß eine b�rgerliche Regierung das geeigneteHeilmittel gegen die Nachteile des Naturzustandes ist, die ge-wiß ganz erheblich sein m�ssen, wenn die Menschen Richterin eigener Sache sind. Denn man kann sich doch wohl kaumvorstellen, daß jemand, der so ungerecht war, seinem Brudereinen Schaden zuzuf�gen, jemals so gerecht sein wird, sichselbst daf�r zu verurteilen. Aber ich mçchte diejenigen, dieeinen solchen Einwand machen, doch bitten, sich einmaldaran zu erinnern, daß auch absolute Monarchen nur Men-schen sind. Wenn die Regierung also das Heilmittel f�r jene�bel sein soll, die sich unmittelbar als Folge ergeben, wenndie Menschen Richter in eigener Sache sind, was den Naturzu-stand so unertr�glich macht, dann mçchte ich doch gern wis-sen, wie jene Regierung beschaffen ist und weshalb sie besserist als der Naturzustand, in der ein Mensch, der viele andereMenschen beherrscht, die Freiheit hat, in eigener Sache seinRichter zu sein, und mit allen seinen Untertanen tun darf,was er will, ohne daß es irgend jemandem auch nur gestattetw�re, von denjenigen, die tun, was ihnen beliebt, Rechenschaftzu fordern oder sie zu kontrollieren? Wo man gehorchen muß,was er auch immer anordnet, gleichg�ltig, ob er dabei von Ver-nunft, Irrtum oder Leidenschaft geleitet wird? Da haben es dieMenschen im Naturzustand doch viel besser, wo sie nicht ge-zwungen sind, sich dem ungerechten Willen eines anderenzu unterwerfen, und wo jeder, der in eigener oder fremder Sa-che falsch urteilt, der gesamten Menschheit gegen�ber daf�rverantwortlich ist.

§ 14. Als gewichtiger Einwand wird oft die Frage gestellt: Wosind oder wo befanden sich jemals Menschen in einem solchenNaturzustand? Darauf mag vorl�ufig als Antwort gen�gen:Da sich alle F�rsten und Herrscher von unabh�ngigen Regie-rungen auf der ganzen Welt in einem Naturzustand befinden,

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20 Zweite Abhandlung �ber die Regierung